Nachfolge feiern - Richard Foster - E-Book

Nachfolge feiern E-Book

Richard Foster

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Beschreibung

Auf Facebook gibt es "Likes", auf Instagram "Follower" - doch wie weit geht das Interesse wirklich? In dem christlichen Klassiker "Nachfolge feiern" geht es nicht um Oberflächlichkeiten, sondern um echte, ernsthafte und freudige Nachfolge. Richard Foster entdeckt verschollene biblische Tugenden wieder und haucht ihnen neues Leben ein. Er zeigt, wie Sie geistliche Disziplinen leben und feiern können - und wie sie unser Leben und unsere Beziehung zu Gott bereichern.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22898-4 (E-Book)ISBN 978-3-417-26823-2 (lieferbare Buchausgabe)

Daten-Konvertierung: E-Book: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

Herausgeber: Ulrich Eggers

5. Gesamtauflage 2017 © der deutschen Ausgabe 1996 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Celebration of Disciplinebei Harper & Row. Publ., New York

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter // www.sonnhueter.comTitelbild: NEstudio (shutterstock.com) Satz und Abschnittszeichnungen: Christoph Möller, Hattingen

Inhalt

Über den Autor

Vorwort von Uli Eggers

Vorwort von Thomas Härry

1. Geistliche Übungen – Tor zur Freiheit

A. Übungen für das innere Leben

2. Meditation

3. Gebet

4. Fasten

5. Studieren

B. Übungen für das äußere Leben

6. Einfaches Leben

7. Einsamkeit

8. Unterordnung

9. Dienen

C. Übungen für das Leben in der Gemeinschaft

10. Beichte

11. Anbetung

12. Geführtwerden

13. Feiern

Anmerkungen

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Über den Autor

Richard Foster, Jahrgang 1942, ist Theologe, Universitätsprofessor und Autor zahlreicher Bestseller wie z. B. »Viele Quellen hat der Strom«. »Nachfolge feiern« zählt laut Christianity Today zu den einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts. Foster lebt in Denver, Colorado, und ist weltweit als Referent unterwegs.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort von Uli Eggers

Daunenfeder in Gottes Briese

Wenn jemand mich fragen würde, welches Buch über den christlichen Glauben man unbedingt gelesen haben sollte, dann fällt mir sofort dieser Titel ein: Nachfolge feiern von Richard Foster. Es wirkt auf mich wie eine praxiserprobte Betriebsanleitung für alle Lebensäußerungen des Glaubens – ein Funktionshandbuch auf der Basis der Gnade und Liebe Gottes. Foster schreibt über Glaubenserfahrungen quer durch die Jahrhunderte, öffnet einen Schatz an Weisheit und Erkenntnis. Wie kann sich der Glaube tief im Alltag verankern? Nachfolge feiern ist genau die Geh-Hilfe, die man dafür braucht: Glaube zum Einüben.

Warum einüben? Weil das Ziel des Glaubens Wachstum und Reife ist – ein Glaube, der sturmfest verwurzelt ist und saftige Früchte bringt. Deswegen beschreibt Foster den Glauben als einen Weg des Erwachsenwerdens – hin zu einem immer kindlicher werdenden Vertrauen, das von Jesus alles erwartet und mit offenen Augen lebt für die unsichtbare Gegenwart Gottes. Ein ambitioniertes Ziel, denn genau das ist unser Problem im Alltag: Zu rechnen mit einer Wirklichkeit, die wirksam ist – aber oft so unsichtbar und leise, dass wir in der glänzenden Oberfläche der sichtbaren Welt stecken bleiben.

Wenn man diesen Glauben nur mehr sehen und erfahren, spüren und erleben würde! Es gibt dieses »Mehr«, behauptet Foster. Aber es muss trainiert werden, eingeübt. Das klingt für Ohren hierzulande mühsam und beschwerlich. Deswegen müssen wir Fosters Kontrapunkt hören: Er spricht davon, dass man Nachfolge feiern kann – in großer Freiheit und auf genau dem Weg, der mir und meiner Persönlichkeit entspricht. Ansprechbar und erreichbar werden für Gottes Heiligen Geist, das ist das Ziel. Ein Ziel, das wir mit geistlichen »Disziplinen« erreichen – und dabei meint »Disziplinen« eben viel mehr als Disziplin. Es geht um verschiedene Lerngebiete, die uns helfen sollen, diesen erwähnten Freiraum für Gott zu schaffen – die uns aufmerksam, hörbereit und geistlich sehend machen sollen. Damit wir am Ende für Gott so beweglich und leicht zu steuern sind – so erzählt es Foster einmal – wie eine Daunenfeder in einer leichten Brise. Unser Leben, eine federleichte Daune im Wehen des Heiligen Geistes – das ist Nachfolge.

Foster kennt dabei unsere Vorbehalte gegen jede Form von Übung, Schule oder Disziplin – und er weiß sie mit seinem Buch zu überwinden. Denn es geht nicht um öde Pflichterfüllung, sondern um das Feiern der tiefen Zusammenhänge und Verheißungen, wie Glaube wachsen kann. Und die sind oft überraschend – ganz anders, als man das vielleicht erwartet. In einem anderen Zusammenhang erzählt er von einer Urlaubsreise ans Meer, wo er mit seiner Familie einige Wochen in einem alten Ferienhaus ohne Stromanschluss verbringt. Kein Computer, kein Fernsehen, keine CDs – nur ein altes Grammophon mit Kurbelaufzug. Und dazu eine einzige alte Platte mit einem nostalgischen alten Lied, das die Familie in diesem Urlaub immer wieder hört. Er berichtet: »Kaum ein anderes Lied ist mir so tief in das Bewusstsein gedrungen, löst so tiefe Gefühle von Meer und Freiheit und Glück aus, wie diese eine alte Grammophon-Platte.« Warum? Weil hier etwas vom Segen der geistlichen Disziplin »Einfachheit« und »Einsamkeit« deutlich wird. Konzentration statt Zerstreuung. Vertiefung und Wiederholung statt Oberfläche. Ein geistliches Lehrfach auf praktische Weise erlebt.

Weil dieses Buch voll ist mit großen, einfachen Gedanken, eignet es sich auch wunderbar, um es gemeinsam zu lesen – Stück für Stück. Um sich auszutauschen über die tiefen, großen, einfachen Dinge des Glaubens, den Gott uns anbietet. Ein Gnaden-Geschenk, dessen Realität wir einüben können. Dieses Buch ist ein Klassiker zu diesem Thema – kein Wunder, dass es in den USA schon mehr als eine Million Mal verkauft und von Christianity Today zu einem der zehn wichtigsten geistlichen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts ernannt wurde.

Ulrich Eggers Herausgeber AUFATMEN

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Vorwort von Thomas Härry

Dieses Buch hat, wie wenige andere christliche Titel, eine weltweite Bewegung ausgelöst. Als es 1978 in den USA unter dem Titel Celebration of Discipline erschien, waren viele der darin beschriebenen Ausdrucksformen christlicher Spiritualität fremd für evangelische Christen. Meditation, Fasten, Beichte usw. wurde vor allem in katholischen Kreisen praktiziert und von vielen Evangelischen als gesetzliches Bemühen um die Gunst Gottes abgetan. Das war nicht nur Ausdruck eines großen Missverständnisses, es kam auch einer Unterlassungssünde gleich: Weite Teile der Christenheit meinten, sie könnten diese in der Bibel und in der Geschichte der christlichen Kirche verankerten Ausdrucksformen des Glaubens ignorieren und als nicht relevant beiseiteschieben.

Dann kam Richard Fosters Buch und veränderte alles. Foster gehörte zu den Ersten, die ohne Berührungsängste diese Schätze des Glaubens aushoben und evangelischen Christen zugänglich machten. Er baute Brücken zwischen den großen Denominationen und zeigte, dass es bei den Ordnungen des geistlichen Lebens nicht um Etiketten wie »katholisch«, »evangelisch« oder »evangelikal« geht. Es geht um Jesus Christus, um Nachfolge und um konkrete Möglichkeiten, diese zu gestalten. Dieser Beitrag Fosters ist deshalb so wertvoll, weil er die Antwort auf eine Gefährdung ist, welcher die Christen der vergangenen Jahrzehnte in besonderer Weise ausgesetzt waren und immer noch sind: Die Tendenz zu Oberflächlichkeit. Fosters Nachfolge feiernweist den Weg in die entgegengesetzte Richtung und beschreibt, was Menschen kennzeichnet, die in die Tiefe wachsen und aus dieser Tiefe leben, reden und handeln.

Die Tür, die Foster damit aufstieß, ließ sich nicht mehr schließen. Hunderttausende nahmen seine Impulse auf. Sein Buch wurde über eine Million Mal verkauft und gilt als eines der einflussreichsten christlichen Bücher des 20. Jahrhunderts. Andere Autoren führen sein Anliegen weiter: Dallas Willard, Gordon MacDonald und Magnus Malm, um nur drei von ihnen zu nennen.

Ich bin begeistert davon, dass es dieses Buch noch immer auf Deutsch gibt. Wir brauchen es dringender denn je. Kaum einem Autor gelingt es so gut wie Foster, beim Thema »Spiritualität« im gleichen Maß im Wurzelgrund der Bibel, aber auch in dem der christlichen Tradition zu graben. Hier lernen wir die großen christlichen Persönlichkeiten der Geschichte kennen, die das Leben aus der Tiefe praktizierten. Wir werden darin angeleitet, wie wir uns manches von dem, was sie kennzeichnete, mit Gottes Hilfe selbst erschließen können: Wie wir still werden, hören und uns von Gottes Geist in unserem Innersten formen lassen können.

Ich wünsche mir, jede christliche Leitungsperson würde dieses Buch nicht nur lesen, sondern sorgfältig durcharbeiten: Jede Pastorin und jeder Pastor. Alle, die hauptberuflich oder ehrenamtlich für andere Verantwortung tragen. Denn jede gute Führung beginnt von innen. Sie schöpft aus dem Wirken Gottes im eigenen Herzen.

Ich wünsche mir, jede Mutter und jeder Vater würden dieses Buch durcharbeiten. Es würde ihnen helfen, gefestigte Persönlichkeiten zu werden. Nichts brauchen unsere Kinder dringender als gefestigte, im Glauben gut versorgte Eltern.

Ich wünsche mir, alle Berufstätigen würden dieses Buch lesen, als wertvoller Gegenpol zum flüchtigen Leben in einer Gesellschaft, in der alles immer schneller, höher, vernetzter wird. Hier würden sie lernen, wie man inmitten endloser Ansprüche das wiederfindet, was den meisten abhandengekommen ist: Ruhe, Besonnenheit, Kraft für die Seele.

Ich wünsche mir, junge Menschen würden dieses Buch lesen. Um schon jetzt die Ordnungen des christlichen Glaubens kennenzulernen und einzuüben, die sie durch ihr Leben zu tragen vermögen wie keine anderen Gewohnheiten. Denn das ist es, was ihnen hilft, in Gott verwurzelt zu bleiben, egal was kommt.

Ich selber werde dieses Buch erneut lesen. Betend, hörend, wieder neu lernend. Und ich werde es weitergeben, so viel und so oft ich kann.

Thomas Härry

PS: Vor wenigen Jahren interviewte eine Zeitschrift für Leitende Richard Foster. Der Interviewer fragte ihn, welche der beschriebenen Disziplinen er heute, fast vierzig Jahre nach Erscheinen seines Buches, für besonders nötig hält. Foster antwortet: »Stille und Einsamkeit!« – »Und für Pastoren?« Foster: »Einen Mentor haben, vor dem ich mein Leben öffne und der alles von mir weiß!«

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1. Geistliche Übungen – Tor zur Freiheit

Ich gehe durchs Leben als einer, der auf dem Weg zur Ewigkeit ist, geschaffen nach dem Bilde Gottes und trotzdem verdorben. Man muss mich lehren zu meditieren, anzubeten, zu denken.

Donald Coggan, Erzbischof von Canterbury

Oberflächlichkeit ist der Fluch unserer Zeit. Sofort zufriedengestellt werden wollen – das ist vor allem ein geistliches Problem. Was wir heute am nötigsten brauchen, sind nicht mehr intelligente und begabte Leute, sondern mehr Menschen, die aus der Tiefe heraus leben. Die klassischen geistlichen Übungen* fordern uns auf, durch die Oberfläche hindurchzudringen und in die Tiefen des Seins vorzustoßen. Sie laden uns dazu ein, die geistlichen Binnenräume zu erforschen. Sie drängen uns dazu, einer leeren Welt eine Antwort zu geben. John Woolman gab einmal den Rat: »Es ist gut für dich, unten zu bleiben, dann wirst du die Menschen verstehen und ihr Empfinden teilen können.«1

Denken Sie bitte nicht, dass solche Übungen nur für geistliche Profis gedacht sind oder für Menschen, die ihr ganzes Leben in Gebet und Meditation verbringen, und dass sie für normale Sterbliche ungeeignet wären. Im Gegenteil: Gott will, dass sich ganz gewöhnliche Menschen in ihr geistliches Leben einüben: Menschen, die berufstätig sind, die Kinder erziehen, Geschirr spülen und Rasen mähen. Im Alltag lassen sich diese Übungen sogar am besten anwenden. Wenn sie wirklich einen umwandelnden Effekt haben, dann muss sich das ja gerade in den alltäglichen Beziehungen zeigen: in der Ehe, unter Geschwistern und zwischen Nachbarn und Freunden. Wir sollten solche geistlichen Übungen auch nicht als schwere Last ansehen, die alles Lachen auf der Erde verstummen lässt. Der Grundton dieser Regeln ist Freude. Und die Zielsetzung dabei ist die Befreiung des Menschen aus der unterdrückenden Sklaverei durch Selbstsucht und Angst. Wenn ein Mensch innerlich von solchen Fesseln los wird, dann kann man darin doch wohl keine drückende Last mehr sehen. Singen und Lachen als Ausdruck großer Freude können durchaus Merkmale der Einübung ins geistliche Leben sein, der gefeierten Nachfolge Christi.

In einer Hinsicht sind diese geistlichen Übungen gar nicht schwer. Wir brauchen dazu nämlich keine besondere theologische Vorbildung zu haben. Selbst Menschen, die gerade erst ihr Leben an Jesus Christus übergeben haben, können diese Regeln anwenden. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist die Sehnsucht nach Gott. Der Psalmist schreibt:

»Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott« (PS 42,2.3).

Anfänger sind willkommen. Auch ich bin noch ein Anfänger, obwohl oder gerade weil ich mich schon ein paar Jahre lang in all diesen Regeln übe. »Wir sind nicht gerne Anfänger, und doch werden wir in unserem ganzen Leben nie etwas anderes sein.«2

Wer in sich den Ruf zu einem tieferen, erfüllten Leben gehört hat und sich wünscht, die Welt geistlicher Übungen auszukundschaften, sieht sich zwei Schwierigkeiten gegenüber. Die erste ist philosophischer Natur. Der materialistische Grundton unserer Zeit hat sich so weitgehend durchgesetzt, dass die Menschen heute von schweren Zweifeln geplagt werden, ob sie überhaupt noch in der Lage sind, die Grenzen des Sichtbaren und Messbaren zu überschreiten. Viele anerkannte Wissenschaftler haben diese Zweifel allerdings überwunden. Sie haben erkannt, dass man den Menschen nicht in einen Kasten aus Raum und Zeit einsperren kann. Doch der Durchschnittsbürger ist von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die eigentlich vom Stand der Forschung eine Generation hinterherhinken, so stark beeinflusst, dass er allem Nicht-Materialistischen gegenüber Vorbehalte hat.

Es ist kaum zu überschätzen, wie sehr wir von solchen »gängigen« Denkmodellen überflutet sind. Meditation zum Beispiel – falls man sie überhaupt als etwas Erlaubtes ansieht – wird nicht als Begegnung mit einer wirklichen geistlichen Welt angesehen, sondern als psychologische Manipulation. Eine kurze »Reise ins Innenleben« toleriert man eventuell noch, aber dann ist es auch höchste Zeit, sich den »Dingen der Wirklichkeit«, den »Realitäten« wieder zuzuwenden! Wir brauchen Mut, um gegen das Vorurteil unserer Zeit anzugehen und damit zu rechnen, dass es hinter der materiellen Welt noch einen anderen Bereich gibt. Intellektuell redlich, sollten wir entschlossen sein, ihn mit dem gleichen Eifer zu erforschen und kennenzulernen, mit dem wir uns irgendeinem anderen Forschungsgebiet widmen.

Die zweite Schwierigkeit ist praktischer Natur. Wir wissen einfach nicht, wie wir es anstellen sollen, mehr über diese inneren Bereiche des Lebens zu erfahren. Das war nicht immer so. Im ersten Jahrhundert und noch früher war es nicht nötig, den Menschen Anweisungen darüber zu geben, wie sie ihr geistliches Leben praktizieren sollten. In der Bibel werden die Menschen zum Fasten, zum Meditieren, zur Anbetung und zum Lobpreis aufgefordert, und es gibt fast keinerlei Anweisung dazu. Der Grund dazu liegt auf der Hand. Diese geistlichen Übungen wurden so häufig praktiziert und gehörten so weitgehend zum allgemeinen Leben, dass das »Wie« gar keine Frage war. Das Fasten zum Beispiel war eine so gewöhnliche Sache, dass keiner fragen musste, was er vorher essen dürfe oder wie das »Fastenbrechen« zu bewerkstelligen sei oder wie man ein Schwindelgefühl beim Fasten vermeiden könne.

Das kann man von unserer jetzigen Generation nicht mehr sagen. Heute herrscht eine tiefe Unwissenheit über die einfachsten und praktischsten Aspekte beinahe aller geistlichen Übungen. Das muss bei jedem Buch zu diesem Themenkreis berücksichtigt werden: Ohne praktische Anweisungen kommt man nicht zurecht. Ein Wort der Warnung ist zu Beginn jedoch angebracht: Dass wir die Technik solcher Übungen kennen, heißt noch nicht, dass wir sie dann auch praktizieren. Geistliche Übungen sind eine Sache des inneren Menschen und geistlicher Wirklichkeiten. Die Einstellung unseres Herzens ist viel entscheidender als die Technik der Durchführung, wenn man den Weg zu echtem geistlichen Leben finden will.

Die Versklavung unter eingewurzelte Gewohnheiten

Wir sind gewohnt, Sünde als die Summe einzelner Taten anzusehen, die aus dem Ungehorsam gegenüber Gott erwachsen. Das stimmt bis zu einem gewissen Grad, aber die biblischen Aussagen reichen weit darüber hinaus.** Besonders im Römerbrief bezieht sich der Apostel Paulus immer wieder auf die Sünde als etwas, das dem Menschen wesensmäßig zugehört und ihn quält (Z. B. RÖM 3,9-18). Diese Anlage zur Sünde zeigt sich im ganzen natürlichen Sein (RÖM 7,5). Es gibt keine andere Abhängigkeit, die man mit der Abhängigkeit von tief eingewurzelter Gewohnheit, zu sündigen, vergleichen könnte.

In Jesaja 57,20 wird uns gesagt: »Aber die Gottlosen sind wie das ungestüme Meer, das nicht still sein kann und dessen Wellen Schlamm und Unrat auswerfen.« Das Meer braucht sich dazu gar keine besondere Mühe zu geben – es ist einfach das Ergebnis seiner natürlichen Bewegung. Das Gleiche gilt für uns, solange wir unter der Herrschaft der Sünde stehen. Unsere natürlichen Regungen produzieren von selbst Schmutz und Unrat. Die Sünde ist Bestandteil unserer inneren Lebensstruktur. Es erfordert gar keine Anstrengung zu sündigen. Kein Wunder, dass wir uns oft vorkommen, als ob wir in einer Falle säßen. Normalerweise versuchen wir, mit der Sünde fertigzuwerden, indem wir einen Frontalangriff gegen sie starten. Um was es sich auch gerade handeln mag: Zorn, Bitterkeit, Schwelgerei, Stolz, sexuelle Anfechtungen, Alkohol, Angst – wir beschließen, uns niemals wieder davon fangen zu lassen. Wir beten, wir kämpfen, wir stemmen uns mit unserem ganzen Willen dagegen an. Aber alles ist vergeblich, und schließlich stehen wir wieder einmal vor unserem moralischen Bankrott; oder, was noch schlimmer ist, wir sind stolz auf unsere äußere Gerechtigkeit, und die »getünchten Gräber« aus den Reden Jesu sind dann noch eine schwache Beschreibung unserer Verfassung. Wir können unser eigenes Herz nicht befreien, indem wir unseren »Willen« anstrengen.3

Im Kolosserbrief zählt Paulus einige der äußeren Methoden auf, die viele dazu benutzten, um über die Sünde Herr zu werden: »Du sollst das nicht angreifen, du sollst dies nicht kosten, du sollst jenes nicht anrühren …« Dann fügt er hinzu, dass diese Dinge »einen Schein von Weisheit haben durch selbst erwählte Frömmigkeit und Demut …« (KOL 2,20-23). Selbst erwählte Frömmigkeit, Anbetung der Kraft des eigenen Willens – welch eine vielsagende Formulierung und wie bezeichnend für das menschliche Leben! Solange wir glauben, den Sieg über die Sünde durch die Kraft unseres Willens erkämpfen und behalten zu können, solange beten wir diesen unseren eigenen Willen an. Ist es nicht eine Ironie, dass Paulus unsere stärksten Bemühungen auf geistlichem Gebiet als Abgötterei bezeichnet: »selbst erwählte Frömmigkeit – Anbetung des eigenen Willens«?

Die Kraft unseres Willens reicht niemals aus, um mit der tief in uns verwurzelten Sünde fertigzuwerden. Emmet Fox schreibt, dass wir in dem Augenblick, wo wir irgendwelche unerwünschten oder widerwärtigen Umstände innerlich ablehnen, ihre Wirkung umso mehr verstärken. Mit vermehrter Kraft würden sie uns Not bereiten, sodass sich am Ende in eben demselben Maß unsere eigenen Quellen zum Widerstand verzehrt hätten.4 »Solange wir glauben, uns durch unsere Willenskraft selbst erlösen zu können, verstärken wir nur das Böse in uns« (H. Arnold).5 Diese Wahrheit haben alle bedeutenden Persönlichkeiten, die sich mit der Frage des geistlichen Wachstums befasst haben, erfahren, von Johannes vom Kreuz bis zu Evelyn Underhill.

Selbst erwählte Frömmigkeit mag vielleicht eine Zeit lang in der Lage sein, äußeren Erfolg aufzuweisen, aber in den großen Belastungen des Lebens wird unser tiefes Sündig-Sein immer wieder offenbar. Jesus schilderte diese Veranlagung des Menschen, als er von der zur Schau getragenen Gerechtigkeit der Pharisäer sprach: »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über … ich sage euch aber, dass die Menschen müssen Rechenschaft geben am Tage des Gerichts von einem jeglichen nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben« (MT 12,34-36). Mit unserer Willenskraft vermögen wir uns für eine Weile eine gute Fassade zuzulegen, aber früher oder später kommt der unbewachte Augenblick, in dem uns das »nichtsnutzige« Wort entschlüpft und die wahre Verfassung unseres Herzens offenbart. Wenn wir von Mitleid erfüllt sind, wird man es nach außen hin sehen, wenn Bitterkeit in uns steckt, wird das ebenfalls nicht verborgen bleiben.

Nicht dass wir so sein möchten! Wir möchten sicher nicht in Wut explodieren oder eine ekelhafte Arroganz zur Schau tragen, aber wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, kommt einfach heraus, was wir sind. Wenn wir es auch mit aller Macht zu verbergen suchen, verraten uns doch unsere Augen, unsere Sprache, unser Verhalten, unsere gesamte Mimik und Gestik. Die Kraft unseres Willens versagt gegenüber dem unbedachten Wort, dem unbeherrschten Augenblick. Unser Wille leidet an der gleichen Unzulänglichkeit wie das Gesetz – beide bewähren sich nur in äußeren Dingen. Die notwendige Wandlung des Herzens bringen sie nicht zustande.

Geistliche Übungen öffnen die Tür

Wenn wir endlich verzweifelt feststellen, dass menschliche Willenskraft und Entschlossenheit nicht imstande sind, die innere Wandlung herbeizuführen, dann sind wir offen für eine wundervolle neue Wirklichkeit: innere Gerechtigkeit ist eine Gabe Gottes, die nur als Geschenk empfangen werden kann. Der notwendige Wandel in uns ist Gottes Werk, nicht unseres. Es geht um eine innere Sache, und in diesen Tiefen kann nur Gott wirken. Wir können uns diese Gerechtigkeit, diese Rechtschaffenheit nach den Maßstäben des Reiches Gottes, nicht verdienen oder nehmen, sie ist eine Gnade, die uns gewährt wird.

Im Römerbrief äußert sich der Apostel Paulus ausführlich darüber. Fünfundvierzigmal benutzt er den Begriff der »Gerechtigkeit« in diesem Brief. Und jedes Mal endet er mit der Feststellung, dass menschliches Bemühen an dieser Stelle zu nichts führt. Eine der klarsten Aussagen steht in Röm 5,17: »… wie viel mehr werden die, welche empfangen die Fülle der Gnade und der Gabe zur Gerechtigkeit, herrschen im Leben durch den einen, Jesus Christus.« Diese Lehre finden wir aber nicht nur im Römerbrief, sondern durch die ganze Heilige Schrift hindurch. Sie ist ein Eckpfeiler christlichen Glaubens.

In dem Moment, in dem wir diese atemberaubende Sache begreifen, geraten wir allerdings in die Gefahr, uns nach der anderen Seite hin zu verirren. Wir kommen in die Versuchung zu glauben, dass wir überhaupt nichts mehr zu tun brauchen. Wenn alle menschlichen Bemühungen doch nur im moralischen Bankrott enden (und da wir es ausprobiert haben, wissen wir, dass das stimmt), und wenn die Gerechtigkeit doch nur eine gnädige Gabe Gottes ist (wie die Bibel eindeutig sagt), ist es dann nicht logisch, dass wir darauf warten müssen, dass Gott auf uns zukommt und uns verändert?

Merkwürdigerweise heißt die Antwort darauf: »Nein«. Die Analyse stimmt zwar: Menschliches Bemühen reicht nicht aus, und Gerechtigkeit ist eine Gabe Gottes. Die Folgerung aber ist falsch, denn zum Glück gibt es etwas, das wir tun können. Wir brauchen nicht in dem Dilemma stecken zu bleiben, uns entweder in eigenen Anstrengungen zu verzehren oder deren Sinnlosigkeit einzusehen. Gott hat uns die Möglichkeit geschenkt, uns ins geistliche Leben einzuüben, um seine Gnade zu empfangen. Diese geistlichen Übungen stellen uns vor Gott, sodass er uns umwandeln kann.

Paulus sagt: »Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten« (GAL 6,8). Ein Bauer ist niemals in der Lage, das Getreide wachsen zu lassen, er kann lediglich den Boden dafür vorbereiten und den Samen in die Erde legen. Alles Weitere übernimmt die Natur. So geht es auch mit geistlichen Übungen, durch sie wird der Boden für das Wirken des Heiligen Geistes vorbereitet. Wir selbst werden dabei in die Erde gelegt, dahin, wo Gott am besten an uns arbeiten und uns verwandeln kann. Die Übungen an sich haben keinen Wert, sie können uns nur dahin bringen, wo etwas an uns und mit uns geschehen kann. Sie sind ein Weg, auf dem Gott seine Gnade an uns wirken lassen kann. Die innere Gerechtigkeit, die wir suchen, wird nicht einfach über unserem Kopf ausgegossen. Gott hat uns das Einüben ins geistliche Leben verordnet als Mittel, um uns dahin zu bringen, wo er uns segnen kann.

Daher würden wir besser von dem Weg der »Einübung in die Gnade« sprechen. Es ist Gnade, weil es ein Geschenk ist. Es geht aber auch um Einübung, weil wir daran beteiligt werden sollen. Dietrich Bonhoeffer bringt in seinem Buch Nachfolge zum Ausdruck, dass Gnade immer umsonst ist, dass sie aber trotzdem nicht billig ist. Wenn wir klar erkannt haben, dass Gottes Gnade uns unverdient angeboten wird, und dann auf diesem Weg weiterkommen möchten, bleibt es uns nicht erspart, das bewusst in die Tat umzusetzen, sowohl im persönlichen Leben als auch innerhalb der Gemeinschaft mit anderen. Darum geht es bei den »geistlichen Übungen«.

Ein Bild mag das Gesagte veranschaulichen: Stellen Sie sich einen schmalen Grat vor, nach beiden Seiten fallen die Hänge steil ab. Das Abrutschen nach der einen Seite führt zum moralischen Bankrott durch menschliches Ringen um Gerechtigkeit. Historisch gesprochen hat man diesen Weg die Ketzerei des Moralismus genannt. Das Abrutschen nach der anderen Seite führt ebenfalls zum moralischen Bankrott, und zwar durch das Fehlen jeder menschlichen Bemühung. Man hat diesen Weg als die Ketzerei des Antinomismus, der Gesetzlosigkeit, bezeichnet. Der Weg auf dem Grat entlang ist der Weg der Einübung ins geistliche Leben, der Weg der Nachfolge Christi. Dieser Weg führt zu der inneren Umwandlung und der Heilung, die wir suchen. Ein Abweichen nach rechts oder links würde uns scheitern lassen. Der Weg ist voll von Schwierigkeiten, aber auch voller ungeahnter Freuden. Wenn wir ihn gehen, begleitet uns der Segen Gottes und gestaltet uns in das Bild seines Sohnes Jesus Christus um. Dabei sollten wir nie aus dem Auge verlieren, dass es nicht der Weg an sich ist, der die Umwandlung bewirkt. Wir befinden uns damit nur an der Stelle, wo die Veränderung an uns geschehen kann. Das ist Einübung in die Gnade.

In der Moraltheologie heißt es, dass »Tugend leicht sei«. Das gilt nur dann, wenn Gottes Gnade unseren Geist ergriffen hat und die tief in uns steckenden sündigen Gewohnheiten unseres Lebens umgeformt hat. Solange wir aber nicht dahin gekommen sind, ist Tugend etwas Schwieriges, etwas sehr Hartes. Wir mühen uns z. B. darum, liebevoll und barmherzig zu sein, aber es scheint, als ob wir diese Eigenschaften von irgendwo außerhalb von uns herholen müssen. Und dann kocht es plötzlich aus der eigenen Tiefe über, genau das, was wir nicht wollen: beißende Bitterkeit. Leben wir jedoch eine Zeit lang auf dem Weg, uns in die Gnade einzuüben, dann stellen wir fest, dass sich ein innerer Wandel bei uns vollzieht.

Wir tun nichts anderes, als ein Geschenk anzunehmen, und doch erkennen wir eine echte Wandlung. Das wird daran sichtbar, dass es plötzlich leicht für uns ist, mitzufühlen; Bitterkeit hingegen würde uns nun, im Gegensatz zu vorher, schwerfallen. Die Liebe Gottes erfüllt unser Inneres und überwindet unser gewohntes Verhalten. Und in »unbewachten Augenblicken« überflutet uns jetzt aus dem inneren Heiligtum unseres Lebens ein Strom der »Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Glaube, Sanftmut, Keuschheit« (GAL 5,22.23). Wir quälen uns nicht länger mit dem ermüdenden Versuch, unser Inneres vor anderen zu verbergen. Wir müssen uns nicht anstrengen, gut und freundlich zu sein – wir sind es einfach. Eher kostete es Überwindung, es nicht zu sein, weil diese Eigenschaften nun ein Teil unseres Wesens geworden sind. Wie unsere natürlichen Lebensäußerungen einst Schmutz und Unrat produzierten, so wächst jetzt die Frucht des Geistes daraus hervor – ungekünstelt und nicht erzwungen, wie es dem Wesen der Gnade entspricht. Und so geht es auch mit allen geistlichen Tugenden, wenn sie einmal die Herrschaft über unsere Persönlichkeit gewonnen haben.

Eine tödliche Gefahr: Wenn man aus geistlichen Übungen Gesetze macht

Geistliche Übungen sollen uns zum Guten dienen. Sie sollen den Glanz, die Kraft und die Freude Gottes in unser Leben bringen. Doch kann es geschehen, dass unversehens neue, uns innerlich lähmende Gebote daraus gemacht werden. Gesetzlich durchgeführte geistliche Übungen tragen immer den Hauch des Todes an sich.

Jesus lehrte, dass unsere Gerechtigkeit besser sein müsse, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer (MT 5,20). Trotzdem dürfen wir ihre Maßstäbe für Gerechtigkeit nicht unterbewerten. Es war keine Kleinigkeit, was sie auf sich nahmen. Sie hatten sich verpflichtet, Gott in einer Weise nachzufolgen, wie es nicht viele von uns schaffen würden. Doch trug ihre Gerechtigkeit immer ein zentrales Merkmal an sich: Sie betraf Äußeres, oft Äußerlichkeiten. Sie bestand in der Kontrolle über äußere Dinge und schloss oft die Manipulation anderer ein. Das macht Jesus in Mt 23 (BES. V. 23-28) und 15,11 beispielhaft deutlich. Wie weit wir über die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer hinausgekommen sind, wird in dem Maße erkennbar, wie unser Leben die Spuren der Arbeit Gottes an unserem Inneren, unserem Herzen zeigt. Zwar bringt dies auch äußerliche Ergebnisse mit sich, aber der Wandlungsprozess hat vorher im Innern eingesetzt. Beim Praktizieren geistlicher Übungen kann es leicht geschehen, dass wir in die äußerliche Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer zurückfallen.

Wenn aus den geistlichen Übungen wieder ein Gesetz gemacht wird, besteht die Gefahr, dass sie zur Manipulation anderer und zur Herrschaft über sie missbraucht werden. Wir greifen dann etwa bestimmte Forderungen heraus und sperren damit andere in ein inneres Gefängnis. Das Ergebnis solchen Missbrauchs der geistlichen Übungen ist einerseits Stolz und andererseits Angst. Stolz macht sich breit, weil mit der Zeit unsere Überzeugung wächst, dass nur wir auf dem rechten Wege seien. Und Angst breitet sich aus, weil die Manipulation anderer immer begleitet ist von der Furcht, die Herrschaft über sie zu verlieren, und von der Furcht, selbst von anderen beherrscht zu werden.

Wenn wir auf unserem geistlichen Weg dahin gelangen, dass die Übungen uns zum Segen statt zum Fluch werden, sind wir eines Tages in der Lage, den ständigen inneren Zwang, unbedingt andere beeinflussen zu wollen, ablegen zu können. Dieses Bedürfnis bringt uns nämlich mehr als alles andere in die Gefahr, aus einer geistlichen Übung ein Gesetz zu machen: Mit ihm hätten wir nämlich einen äußeren Maßstab, nach dem wir beurteilen könnten, wer den Anforderungen entspricht und wer nicht. Ohne solche Gesetzlichkeit aber sind die geistlichen Übungen vor allem eine innere Angelegenheit, die sich der äußeren Kontrolle entzieht. Wenn wir wirklich daran festhalten, dass die innere Umwandlung Gottes Werk ist und nicht das unsere, werden wir unsere Leidenschaft, andere zu maßregeln, zügeln können.

Wir müssen uns davor hüten, diese oder jene Einzelheit zum Gesetz zu erheben. Sonst fallen wir unter das harte Urteil Jesu über die Pharisäer: »Sie binden schwere Bürden und legen sie den Menschen auf den Hals; aber sie selbst wollen sie nicht mit einem Finger anrühren« (MT 23,4). Wir sollten uns an dieser Stelle die Worte des Apostels Paulus zu Herzen nehmen, »… Diener des neuen Bundes (zu sein), nicht des Buchstabens, sondern des Geistes … Denn der Buchstabe tötet – aber der Geist macht lebendig« (2KOR 3,6).

Doch sind wir angesichts der Gefahr der Gesetzlichkeit im Bereich geistlicher Disziplin nicht uns selbst überlassen. Jesus Christus hat versprochen, unser bester Lehrer und Führer zu sein. Seine Stimme ist leicht zu hören, seine Anweisungen sind nicht schwer zu verstehen. Er wird uns darauf aufmerksam machen, wenn wir in die Gefahr der Erstarrung geraten, seine Führung ist zuverlässig.

Laufen wir einer falschen Idee nach oder hängen wir an einer nutzlosen Gewohnheit, so wird er uns wieder auf den rechten Weg bringen. Wenn wir nur auf den himmlischen Wächter hören wollen, werden wir alle nötigen Weisungen erhalten.

Unsere Welt hungert nach Menschen, die eine echte Wandlung durchgemacht haben. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Bevor du dich daran machst, die Welt zu verändern, gehe dreimal durch dein eigenes Haus.«

Wir wollen zu denen gehören, die glauben, dass die innere Umwandlung unseres Lebens ein Ziel ist, das den Einsatz unserer besten Kräfte rechtfertigt.

* Vielleicht fragt sich mancher, warum die hier beschriebenen Übungen als klassisch bezeichnet werden. Das hat seinen Grund nicht nur darin, dass sie schon alt sind – Jahrhunderte hindurch wurden sie bereits praktiziert –, sie sind vielmehr klassisch, weil sie ins Zentrum geistlichen Lebens zielen. Immer wieder haben fromme Menschen ihre Notwendigkeit bestätigt.

** Sünde ist ein solch vielschichtiger Sachverhalt, dass im hebräischen Alten Testament dafür acht verschiedene Wörter verwendet werden.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

A. Übungen für das innere Leben

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2. Meditation

Echte Versenkung ist kein psychologischer Trick, sondern eine göttliche Gnade.

Thomas Merton

In der heutigen Gesellschaft benutzt der große Gegenspieler unseres Lebens für seine Ziele vor allem drei Dinge: den Lärm, die Hetze und die Menschenmassen. Wenn er uns durch Vielfalt und Vielerlei in Spannung halten kann, ist er befriedigt. Der Psychiater C. G. Jung stellte einmal fest: »Die Eile ist nicht vom Teufel – sie ist der Teufel.«1

Wenn wir die Oberflächlichkeit unserer heutigen Kultur überwinden wollen – einschließlich der im religiösen Bereich –, müssen wir bereit sein, in die schöpferische Stille hinabzutauchen, in die Welt des tiefinneren Nachsinnens und Sichversenkens. Alle Meister der Meditation bemühen sich in ihren Schriften darum, deutlich zu machen, dass das Universum viel größer ist, als wir wissen. Sie weisen auf weite, unerforschte Bereiche inneren Lebens hin, die aber genauso wirklich sind wie die uns umgebende, naturwissenschaftlich erfassbare Welt. Sie berichten uns von faszinierenden Möglichkeiten eines neuen Lebens der Freiheit. Sie rufen uns zu dem Abenteuer auf, als Pioniere in dieses Reich des Geistes vorzudringen. Es mag für moderne Ohren etwas merkwürdig klingen, aber ich meine, wir sollten uns nicht schämen, als Lehrlinge auf dem Gebiet des kontemplativen Gebetes zu beginnen.

Begreifliche Missverständnisse

Oft hört man die Frage, ob man Meditation als eine christliche Sache ansehen könne. Ist sie nicht vielmehr die exklusive Domäne der östlichen Religionen? Wo ich auch bei einem Vortrag oder im Gruppengespräch über die Meditation als typisch christliche Übung sprach, gingen ganz unvermeidlich die Augenbrauen hoch: »Ich war der Meinung, dass nur die Transzendentale Meditation mit solchen Methoden arbeitet …«, hieß es etwa.

Es ist schon betrüblich und sagt viel über das geistliche Niveau des modernen Christentums, dass uns schon das Wort »Meditation« derart fremd in den Ohren klingt. Meditation ist nämlich eigentlich immer ein klassischer und zentraler Bestandteil christlicher Frömmigkeit gewesen, eine entscheidende Vorbereitung und eine Hilfe zum Gebet. Kein Zweifel, dass das brennende Interesse an östlichen Religionen eine seiner Wurzeln darin hat, dass die Kirchen dieses Feld geräumt haben. Wie deprimierend für jemanden, der etwas über christliche Meditation erfahren möchte, zu entdecken, dass es so wenige Christen gibt, die den Bereich des kontemplativen Gebetes beherrschen, und dass fast alle ernsthaften Bücher über dieses Thema bereits sieben oder mehr Jahrhunderte alt sind. Kein Wunder, wenn sich dann der eine oder andere Zen, Yoga oder der Transzendentalen Meditation zuwendet.

Den Verfassern biblischer Schriften war die Meditation ganz bestimmt nicht fremd. »Und er (Isaak) war ausgegangen, um zu beten auf dem Felde gegen Abend« (1MO 24,63). »Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach« (PS 63,7). Diese Menschen lebten nahe am Herzen Gottes. Gott sprach mit ihnen, nicht weil sie besondere Fähigkeiten gehabt hätten, sondern weil sie bereit waren, zu hören, ihm zuzuhören. In den Psalmen finden sich kunstvoll gestaltete Meditationen, die von frommen Menschen über die Gebote Gottes gesungen wurden: »Ich wache auf, wenn’s noch Nacht ist, nachzusinnen über dein Wort« (PS 119,148). Der allererste Psalm ruft alle Menschen auf, es dem »gesegneten Mann« nachzutun, der »Lust hat am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht« (PS 1,2).

Christliche Autoren haben im Lauf der Jahrhunderte Wege beschrieben, wie man auf Gott hören, Gemeinschaft mit dem Schöpfer Himmels und der Erden haben und Erfahrungen mit dem ewigen, liebenden Gott der Welt machen könne. Zu diesen Denkern gehören Augustin, Franz von Assisi, Thomas von Kempen, François Fénelon, Madame Guyon, Bernhard von Clairvaux, Franz von Sales, Juliana von Norwich, Gerhard Tersteegen, Bruder Lorenz, George Fox, John Woolman, Evelyn Underhill, Thomas Merton, Frank Laubach, Thomas Kelly und viele andere.

Die Heilige Schrift sagt, dass, als Johannes seine Vision vom endzeitlichen Geschehen empfing, »der Geist (über ihn kam) an des Herrn Tag« (OFF 1,10). Könnte es sein, dass Johannes in einer Art und Weise des Hörens und Sehens geübt war, die wir nicht mehr kennen?

Es gibt ein Prophetenwort, dass eine Zeit kommen wird, in der ein Hunger im Lande herrscht, »nicht ein Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn, es zu hören« (AMOS 8,11). Mir will scheinen, dass diese Zeit gekommen ist.

Lassen Sie uns den Mut haben, uns auf biblischen Boden zu begeben und die alte (und doch zeitgemäße) Kunst der Meditation wieder zu lernen. Wir wollen den Weg des Psalmisten mitgehen und sprechen: »Ich aber sinne nach über deine Befehle« (PS 119,78).

Manche Menschen glauben, dass die christliche Meditation und die Meditation, die in den östlichen Religionen praktiziert wird, sinnverwandt seien. In Wirklichkeit sind beide durch Welten voneinander getrennt. Meditation nach östlichem Verständnis ist der Versuch, den Geist völlig leer werden zu lassen. Nach christlichem Denken dagegen soll der Geist in der Meditation von allem, was ihn belastet, befreit werden, um gefüllt werden zu können. Diese beiden Wege sind grundsätzlich verschieden.

Alle östlichen Vorstellungen betonen die Notwendigkeit, sich von der Welt zu lösen. Es geht um ein Aufgeben der eigenen Persönlichkeit und Individualität, um sich mit dem Weltgeist zu vereinen. Man spürt eine Sehnsucht, von den Lasten und Anstrengungen des Lebens befreit und in der mühelosen und forderungslosen Seligkeit des Nirwana aufgefangen zu werden. Die persönliche Identität geht im Meer des kosmischen Bewusstseins unter. Loslösung, Unbeschwertheit ist das letzte Ziel östlicher Religionen. In Wirklichkeit ist das nichts anderes als die Flucht vor den Widrigkeiten des Lebens. Es gibt keinen Gott, zu dem man eine persönliche Beziehung hat und der einen hört.

Zen und Yoga sind die bekanntesten Ausprägungen dieser Richtung. Die Transzendentale Meditation hat die gleiche Wurzel, aber in ihrer westlichen Ausprägung weicht sie etwas davon ab. In ihrer populären Form ist sie Meditation für den Materialisten. Um sie zu praktizieren, braucht man nicht einmal an das Vorhandensein geistiger Bereiche zu glauben. Sie ist hauptsächlich eine Methode zur Kontrolle der Gehirnströme, um das physische und psychische Befinden des Menschen zu verbessern. Fortgeschrittenere Arten der TM schließen geistige Bereiche mit ein und nehmen damit die Merkmale aller anderen östlichen Religionen an.

Die christliche Meditation geht weit über das Ziel der Loslösung hinaus. Loslösung – der »Sabbat der Versenkung«, wie Petrus Cellensis, ein Benediktinermönch des zwölften Jahrhunderts, es nennt2 – ist zwar nötig. Aber darüber hinaus brauchen wir eine neue Zugehörigkeit. Die Loslösung von der Verwirrung überall um uns und in uns hat nur den Sinn, stattdessen eine ganz neue, feste Bindung an Gott und die Mitmenschen zu gewinnen. Christliche Meditation führt uns zum innerlichen Heilwerden, das notwendig ist, damit wir uns in Freiheit Gott ausliefern können. Gleichzeitig bringt sie uns geistliche Erkenntnisse, aufgrund derer wir uns der gesellschaftlichen Nöte unserer Zeit annehmen können.

Von daher gesehen ist die Meditation die praktischste aller geistlichen Disziplinen.

Es ist gefährlich, wenn das Denken nur um das Thema Loslösung und Befreiung kreist. Jesus zeigt das am Beispiel eines Menschen, von dem das Böse zwar ausgetrieben wird, der aber nicht gleichzeitig vom Geist Gottes erfüllt wird: »Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausfährt … dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister zu sich, die ärger sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie da, und es wird hernach mit demselben Menschen ärger als zuvor« (LK 11,24-26).

Manche fürchten, dass das Meditieren für sie zu schwierig sein könnte, zu kompliziert. Man solle das am besten den Fachleuten überlassen, die mehr Zeit haben, um die inneren Bereiche des Menschen auszukundschaften! Das stimmt aber keineswegs. Die anerkannten Fachleute auf diesem Gebiet sagen niemals, dass Meditation nur etwas für ein paar besonders Bevorzugte oder für geistliche Profis sei. Sie spürten vielmehr, dass ihr Tun etwas dem Menschen durchaus Natürliches ist – so natürlich und so wichtig wie das Atmen. Besondere Gaben oder psychische Kräfte sind nicht notwendig. Es genügt, wenn wir die verborgenen Fähigkeiten, die wir in uns tragen, anwenden und trainieren. Jeder, der Vorstellungskräfte entwickeln kann, kann auch meditieren. Wenn wir in der Lage sind, auf unsere Träume zu achten, haben wir schon den ersten Schritt getan. Thomas Merton, ein Mann mit großer Erfahrung, schrieb einmal: »Eigentlich ist es sehr einfach zu meditieren. Es bedarf keiner besonderen ›technischen‹ Anleitungen, die uns sagen, wie wir dabei vorzugehen haben.«3

Um nicht falschen Vorstellungen zum Opfer zu fallen, sollten wir uns klarmachen, dass es hier nicht um irgendwelchen Humbug geht. Wir rufen keine kosmischen Geister herbei. Das Meditieren ist eine ernsthafte und unter Umständen sogar gefährliche Angelegenheit. Es erfordert den ganzen Einsatz unserer Kräfte. Keiner sollte sich mit der Meditation nur zum Zeitvertreib beschäftigen oder weil andere es gerade auch tun. Wer nur mit halbem Herzen an die Sache herangeht, wird sicherlich Schiffbruch erleiden. »Die beste Vorbereitung für ein erfolgreiches Meditieren ist die persönliche Überzeugung von seiner Wichtigkeit und eine feste Entschlossenheit, die Übungen durchzuhalten.«4 Wie bei allem anderen ernsthaften Tun ist auch hier der Anfang am schwersten. Wenn wir uns einmal daran gewöhnt haben, wenn wir Fortgeschrittene geworden sind, dann wird es uns ebenso zur Gewohnheit wie andere Verhaltensweisen.

»Warten auf Gott ist keine bequeme Sache. Für jemand, der darin ungeübt ist, ist es schwerer als alles andere Tun« (Bernhard von Clairvaux). Es gibt auch Leute, die den Weg der Versenkung als weltfremd und dem 21. Jahrhundert nicht mehr angemessen empfinden. Man fürchtet, dass dieses Tun Persönlichkeiten hervorbringt, wie sie z. B. Dostojewski in seinem Buch »Die Brüder Karamasow« in dem asketischen Vater Ferapont schildert, einem strengen, starren, selbstgerechten Mann, der sich durch eigene Anstrengungen von der Welt löst und sie dann verflucht. Eine solche Meditation würde uns im besten Fall zu einer ungesunden anderen Weltlichkeit führen, die uns dem Leid der Menschheit gegenüber unempfindlich macht.