Nachrichten aus einem unbekannten Universum - Frank Schätzing - E-Book
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Nachrichten aus einem unbekannten Universum E-Book

Frank Schätzing

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Beschreibung

Ein Ozean an Wissen und Witz. Frank Schätzings packendes Panorama unserer fremd gewordenen Heimat: der Meere Über viereinhalb Milliarden Jahre geheimer Geschichten, wuchtiger Dramen, verblüffender Wendungen und seltsamer Erfindungen wie Photosynthese, Sex oder Menschen. In seinem neuen Buch erzählt Frank Schätzing grandios vom Universum unter Wasser – und wie es unsere Zukunft bestimmt. »Ist der Hai grausam, weil er den Menschen frisst? Ist der Mensch grausam, weil er die Auster isst? Wird dem Hai das Leiden des Opfers bewusst, wenn dieses schreit? Oder nimmt er das Schreien als erfreuliches Indiz für die Frische der verzehrten Ware, so wie wir wohlwollend das Zucken der Auster betrachten, wenn wir ihr Fleisch mit Zitronensaft beträufeln?«Nebenbei, dies ist kein Plädoyer gegen den Verzehr von Austern.Mensch und Meer. Eine merkwürdige Beziehung, geprägt von Liebe, Hass, Unkenntnis, Romantisierung, Neugier und Ignoranz. Wie funktioniert dieses gewaltige System, dem wir entstammen und über das wir weniger wissen als über den Outer Space? Wie konnte im Urozean Leben entstehen, woher kam überhaupt das ganze Wasser? Warum ist die Evolution ausgerechnet diesen Weg gegangen und keinen alternativen? Denn ebenso gut hätte sie uns in intelligente, flüssigkeitsgefüllte Luftmatratzen verwandeln können. Einmal hat sie es jedenfalls versucht – und beinahe geschafft. Überraschung! Frank Schätzing hat ein Sachbuch geschrieben. Eines, das so spannend ist wie sein Thriller Der Schwarm. Mit Sachverstand und Ironie spannt Schätzing den Bogen vom Urknall bis in die kommenden 100.000 Jahre, nimmt uns mit in das unbekannte Universum unter Wasser, versetzt uns in Erstaunen, Entzücken und Entsetzen. Danach sieht man die Ozeane mit anderen Augen.Nachrichten aus einem unbekannten Universum ist die höchst unterhaltsame Chronik unserer Herkunft, unserer Gegenwart und unserer Zukunft. Ein Muss für alle, die den Schwarm lieben – und auch für solche, die ihn gar nicht kennen. Mit einem unveröffentlichten Kapitel, das ursprünglich den Schwarm einleiten sollte: »Die Entstehung des Universums«.

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Frank Schätzing

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Eine Zeitreise durch die Meere

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Frank Schätzing

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Frank Schätzing

Frank Schätzing, geboren 1957, veröffentlichte 1995 den historischen Roman »Tod und Teufel«. Nach zwei weiteren Romanen und einem Band mit Erzählungen erschien 2000 der politische Thriller »Lautlos«, 2004 der internationale Bestseller »Der Schwarm«. Frank Schätzing lebt und arbeitet in Köln. 2002 erhielt er den KölnLiteraturpreis, 2004 den Corine-Preis und 2005 den Deutschen Science Fiction Preis. Die Gesamtauflage seiner Bücher, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, beträgt 6,5 Millionen Exemplare.

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Über dieses Buch

»Ist der Hai grausam, weil er den Menschen frisst? Ist der Mensch grausam, weil er die Auster isst? Wird dem Hai das Leiden des Opfers bewusst, wenn dieses schreit? Oder nimmt er das Schreien als erfreuliches Indiz für die Frische der verzehrten Ware, so wie wir wohlwollend das Zucken der Auster betrachten, wenn wir ihr Fleisch mit Zitronensaft beträufeln? Nebenbei, dies ist kein Plädoyer gegen den Verzehr von Austern.«

Mensch und Meer. Eine merkwürdige Beziehung, geprägt von Hass, Unkenntnis, Romantisierung, Neugier und Ignoranz. Wie funktioniert dieses gewaltige System, dem wir entstammen und über das wir weniger wissen als über den Outer Space? Wie konnte im Urozean Leben entstehen, woher kam überhaupt das ganze Wasser? Warum ist die Evolution ausgerechnet diesen Weg gegangen und keinen alternativen? Denn ebenso gut hätte sie uns in intelligente, flüssigkeitsgefüllte Luftmatratzen verwandeln können. Einmal hat sie es jedenfalls versucht – und beinahe geschafft.

Mit Sachverstand und Ironie spannt Schätzing den Bogen vom Urknall bis in die kommenden 100.000 Jahre, nimmt uns mit in das unbekannte Universum unter Wasser, versetzt uns in Erstaunen, Entzücken und Entsetzen. Danach sieht man die Ozeane mit anderen Augen. Ein Sachbuch, das so spannend ist wie Schätzings Thriller »Der Schwarm«. Von der Zeitschrift bild der wissenschaft wurde es als Wissenschaftsbuch des Jahres 2006 in der Kategorie »Unterhaltung« ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorgestern

Berlin

Gestern

Regenzeit

Land in Sicht

Die Handtasche der Evolution

Eine Zelle macht Karriere

Sex

Von Schneebällen und Luftmatratzen

Zu den Waffen!

Heißkalt

Die spinnen, die Geologen!

Frischer Fisch

Exitus

Willkommen im Jurassic Park

U-Boote vor Gondwana

Zu viele Könige

Das Fiasko mit dem Fiasko

Waltag

Der Tag, als das Meer verschwand

Tod eines Killers

Heute

Hinterm Mond

Beulen im Meer

Wellensalat

Betrachtungen über ein Desaster

Stau am Kap der Guten Hoffnung

Warum Bakterien keine Vornamen haben

Kleindarsteller

Ein Tag in der Stadt

Die Typen mit der großen Klappe

Gejagte Jäger

Das Imperium der Armleuchter

Im Tiefgeschoss der Schöpfung

Ist da jemand?

Intelligenzbestien

Akte X

Morgen

Paddy und die virtuellen Lämmer

Heile Welten

Kleine Wattwanderung

Technolution

Die Reise der Aquanauten

Lurchis Rückkehr

Wasserwelten

Übermorgen

Das unbekannte Universum

Glossar

Dank

Empfohlene Links

Å så svinger vi på seidelen igjen – hei skå l!

 

Für Solo und Loy

Vorgestern

Berlin

Vorgestern.

Was war noch gleich vorgestern?

Drei Männer in einer Bar. Berlin, Radisson Hotel, morgens um vier, bei der Verkostung geistiger Getränke. Genau genommen ist es ein Jahr her, dass die drei dort saßen. Dennoch scheint es mir, als habe sich das folgende Gespräch erst vor zwei Tagen zugetragen.

 

»Sag mal, deine Recherchen für den Schwarm«, meint Hannes, »hast du die eigentlich jemals alle verwerten können?«

Hannes ist Herausgeber der Wissenschaftszeitschrift PM. Ein Mann mit einem Glas in der Hand und einem Ansinnen.

»Einen Teil davon«, sage ich. »Zehn bis 20 Prozent.«

»Also 80 Prozent brachliegendes Wissen. Schade drum. Hättest du nicht Lust, mal was für uns zu schreiben? Eine Fingerübung. Du müsstest nur in deine Unterlagen schauen. Was Schönes über die Meere.«

Auch ich halte ein Glas in der Hand. Männer, die einander zuprosten, sind grundsätzlich generös gestimmt.

»Klar«, sage ich. »Was soll’s denn sein? Tiefseetechnik? Wasserkraftwerke? Meeresströmungen? Riesenwellen? Korallenriffe? Evolution, Entstehung des Lebens, Mikroorganismen, kambrische Artenvielfalt? Oder doch lieber Haie?«

»Ja, genau. Genau das.«

»Was denn nun?«

Hannes zögert. »Vielleicht schreibst du ja nicht nur einen Artikel. Ich dachte eher an eine Serie. An drei oder vier Folgen.«

Ich lasse den Gedanken zirkulieren.

»Gut«, sage ich. »Warum nicht.«

»Das sind unterm Strich 50 bis 60 Manuskriptseiten«, meint Helge und nippt versonnen an seinem Wodka Martini. Helge ist der Verleger von Kiepenheuer & Witsch. »Ein ordentlicher Packen Papier. Aber ob das wirklich für ein Buch reicht?«

Helge tut so, als müsse er darüber nachdenken, die Sache überschlafen. Aber ich kenne meinen Freund. Ich weiß, dass der Samen im Acker seiner Vorstellungskraft bereits die allerschönsten Blüten treibt. »Du meinst, ein Begleitbuch zum Schwarm?«

»So was in der Art.«

»Ein Bändchen, dünn und handlich.«

»Ja, wegen der Fragen, die so oft gestellt werden: Wie viel im Schwarm ist real? Was ist Wirklichkeit, was ist Fiktion? Ich könnte ein paar Antworten geben. So, dass es zur nächsten Leipziger Buchmesse auf dem Markt ist.«

»Du weißt, wann Leipzig ist? Wir reden von einem Jahr.«

»Ist doch nur ein Bändchen. Maximal 150 Seiten. Kein Problem.«

Wir trinken noch was. Wodka ist ein bemerkenswertes Zeug. Es besteht aus Getreide, Alkohol und großen Mengen Problemlöser. In dieser Nacht ist nichts ein Problem. Hannes findet die Idee gut, Helge findet sie gut, ich finde sie gut. Also schustere ich auf Bierdeckeln und Servietten ein Inhaltsverzeichnis zusammen.

Es wird lang.

Es wird länger.

Eigentlich, denke ich, müsste man ja erklären, wie das Leben in den Meeren überhaupt entstanden ist. Wie es sich weiterentwickelte, wie aus Einzellern Vielzeller und aus Vielzellern die Wesen von heute wurden. Dann könnte man …

Nein, falsch. Erst müsste man erzählen, wie das ganze Wasser auf die Erde kam! Also mit der Entstehung unseres Planeten beginnen, dann das Leben porträtieren, sein Werden und Wirken, die wechselseitige Einflussnahme von Evolution und Umwelt, und so weiter, und so fort, bis in unsere Zeit. Das Buch würde einen ersten Teil haben, der in der Vergangenheit spielt, einen weiteren, der sich mit der Gegenwart auseinandersetzt, und einen dritten für die Zukunft. Natürlich wäre es wichtig, ein möglichst lückenloses Panorama des heutigen Lebens im Meer zu entwerfen und die komplizierten Abhängigkeitsgeflechte zu entwirren, die schon in einem einzigen Wassertropfen …

Genau. Es wird notwendig sein, Wasser an sich unter die Lupe zu nehmen. Und Meeresströmungen. Und Ebbe und Flut, die durch den Einfluss des Mondes …

Interessant. Wie sähe die Erde eigentlich aus, wenn es keinen Mond gäbe? Sie hätte wahrscheinlich eine andere Atmosphäre, weil …

Stichwort Atmosphäre. Ich muss unbedingt ein Kapitel über Mikroorganismen schreiben, die Sauerstoff freisetzen, den sie mit Hilfe von Sonnenlicht …

Sonne. Weltraum. Galaxien. Gibt’s auf anderen Planeten eigentlich auch Ozeane? Könnte sich dort Leben entwickelt haben? Außerirdisches Leben, das aussieht wie die Kreaturen aus dem Kambrium und …

Kambrium! Ein Kapitel übers Kambrium muss rein. Da gab es richtige Monster: Anomalocaris zum Beispiel, die kambrische Entsprechung des Weißen Hais …

Ach ja, Haie …

»Das ist kein Bändchen«, bemerkt Helge trocken. »Das ist ein Epos.«

»Macht nix. Ich schreibe das.«

»Bist du sicher? Wir reden von einem Jahr. Die Buchmesse ist sozusagen übermorgen.«

»Er hat doch seine Recherchen«, sagt Hannes sanft.

»Ja, eben. Ich schaffe das. Ich schreibe das! Bis übermorgen ist noch jede Menge Zeit. Gleich morgen lege ich los.«

Alle freuen sich.

»Na dann. Prost.«

Nun, drauf getrunken ist besiegelt. So gut wie Tinte unterm Vertrag. Vorgestern also gab ich ein Versprechen, das man nur morgens um vier in einer Bar geben kann.

 

Vorgestern.

Was war noch gleich vorgestern?

Der Urknall!

Vorgestern ist das Universum einem Punkt entsprungen, vor rund 13,7 Milliarden Jahren. So wenigstens stellt es sich uns dar. Es dehnte sich aus und erzeugte die Erde, auf der wir leben. Das war, nach kosmischen Maßstäben, gestern. Es prägt unsere heutige Existenz, als sei es eben erst geschehen. Vor nicht ganz einer Sekunde hat dann die Menschheit ihr »Cogito ergo sum!« in die Welt geschmettert.

Vor zwölf Monaten, die mir vorkommen wie zwei Tage und zugleich wie eine halbe Ewigkeit, habe ich den ersten Satz des nachfolgenden Kapitels geschrieben.

Aus den ursprünglich vorgesehenen 150 sind in dieser Ausgabe fast 650 Seiten geworden: eine Chronik der Meere und unserer Herkunft. Es ist die Geschichte, die ich mein Leben lang erzählen wollte, mir selbst und anderen. Sie hat so viele Kapitel, dass ich von meinen Recherchen für den Schwarm nur einen Bruchteil verwenden konnte. Vor 13,7 Milliarden Jahren beginnt diese Geschichte, als Raumzeit und Materie sich plötzlich ausbreiteten, bereits gesättigt mit den Grundbausteinen für spätere Sonnen, Planeten und Ozeane. Sie beginnt in einer Berliner Bar. Sie beginnt jetzt, da Sie zu lesen anfangen. Immer aufs Neue beginnt sie, und jedes Mal ein bisschen anders. Theorien werfen einander über den Haufen, andere Theorien vereinen sich, Daten und Fakten werden verschoben wie Figuren auf einem Spielfeld. Mit jeder neuen Erkenntnis fragen wir uns umso eindringlicher, woher wir kommen, was uns erwartet, wie wir handeln sollen. Im Kopf eines jeden Menschen urknallt es ohne Unterlass, expandieren Gedankenuniversen und erzeugen Galaxien, Sterne, Planeten und Leben. Unablässig gleichen wir den Stand unseres Wissens mit den Optionen unseres Handelns ab, wollen begreifen, einordnen, schlussfolgern, uns selbst finden oder wenigstens das Benutzerhandbuch für den Planeten Erde, in dem steht, wie wir mit unserer fremd gewordenen Heimat umzugehen haben – einer Heimat, die zu großen Teilen im Dunklen und Tiefen liegt, bis zu elf Kilometern unter der Wasseroberfläche.

Nein, Nachrichten aus einem unbekannten Universum versteht sich nicht als der Weisheit letzter Schluss. Den kann und wird es niemals geben. Vielmehr habe ich versucht, den Großteil aller bisher erzählten Geschichten über die Meere und unsere Rolle auf Erden in eine aktuell gültige Version zu fassen. In der Schule haben wir gelernt, dass Lehrerwissen absolutes Wissen ist. Doch Wissenschaft kann niemals absolut sein. Sie ist die Kunst der Annäherung. Sie definiert nicht, sondern kreist ein, zieht keine Trennlinien, sondern schafft Übergänge, kennt keine Dogmen, sondern Entwicklungen. Sie kann nichts verifizieren, sondern nur durch Wegstreichen von Variablen ein möglichst klares Bild entwerfen. Selbst die Naturgesetze sind streng genommen Hypothesen. Wenn der Apfel jedes Mal zu Boden fällt, sobald man ihn loslässt, drängen sich absolute Aussagen regelrecht auf. Im Grunde resultieren die entsprechenden Gesetze aber nur aus identischen Versuchsreihen, die bis heute ausnahmslos das gleiche Ergebnis lieferten.

Nein, Sie werden in diesem Buch nicht die absolute Wahrheit finden, sondern eine Geschichte von hoher Wahrscheinlichkeit, die vorläufige Essenz weltweiten Forschens. Beispielsweise erhebt keine Jahreszahl auf der geologischen Zeitachse, die sich im Anhang dieses Buches findet, Anspruch auf Absolutheit. Beim Blick ins Internet werden Sie feststellen, dass der Beginn der Erdzeitalter variiert, dass bisweilen sogar ganz neue Zeitalter hineingelangen, so wie erst kürzlich das Ediacarium. Suchen Sie bitte erst gar nicht nach ultimativen Daten, Sie würden keinen Erfolg haben. Mit jeder neuen Erkenntnis verändert sich die Skala. Die Zeitaltertabelle im Anhang gibt wieder, worauf sich in diesen Tagen das Gros der Fachleute einigt. Vielleicht haben Sie die Diskussion um den Tyrannosaurus Rex mitbekommen. Fast monatlich wird das Bild der Riesenechse korrigiert. Mal ist er ein fußlahmer Aasfresser, dann wieder ein schneller Läufer und aktiver Jäger, sogar einen Pflanzenfresser wollen Experten in ihm ausgemacht haben.

Es wird gerne behauptet, das Internet verdumme die Menschen, weil dort jeder etwas anderes zur selben Sache sage. Das stimmt keineswegs. De facto hat auch schon vor dem Internet jeder etwas anderes behauptet, nur bekamen wir in der Schule wenig davon mit. Wir hatten nicht die Möglichkeit des Vergleichs, lediglich eine Bezugsperson, die heilige Wahrheiten verkündete. Heute können wir Vergleiche ziehen und uns im Spektrum der Meinungen ein Bild machen. Wir können sehen, wie Erkenntnis entsteht: durch Annäherung und Verdichtung.

Das Panorama, vor dem sich unsere Geschichte abspielt, hat Unschärfen, ohne Zweifel.

Aber genau darum ist es so prachtvoll anzuschauen. Einige der lebendigsten Bilder aller Zeiten haben Impressionisten gemalt. Die Motive Claude Monets, Alfred Sisleys, Camille Pissarros oder Auguste Renoirs werden präzisiert durch die Phantasie des Betrachters, nicht durch den akkuraten Strich. Moderne Welterklärung ähnelt solchen Bildern, in denen nichts starr, sondern alles in Bewegung begriffen scheint. Viele Menschen fühlen sich dadurch verunsichert. Ich finde es ermutigend. Ist es nicht viel spannender, am Prozess der Erkenntnis teilzuhaben, als sich mit rohrstockstarren Fakten herumschlagen zu müssen? In der Bewegung liegt die Veränderung, in der Veränderung die Chance, in der Unschärfe die künftige Wahrheit. All unser Wissen über das Aussehen und Verhalten lebender und längst verschwundener Arten, über Naturereignisse, über das Kausalitätengeflecht in der Natur, über unsere Rolle und die Zukunft unserer Spezies lebt, atmet und entwickelt sich, häutet sich mitunter, wächst, durchläuft Stadien der Metamorphose, gewinnt an Kontur. Jeder ist eingeladen, diesen Prozess mitzuverfolgen – und mitzugestalten. Durch seine Neugier, seine Offenheit, seine Ideen.

Dies ist kein Lehrbuch. Kein Manifest. Es trägt keine Botschaften vor sich her. Es ist ein Thriller. Denn nichts anderes ist die Erdgeschichte, als eine ungeheuer spannende Story voller Wendungen und Überraschungen. Nichts in dieser Geschichte ist wirklich kompliziert, und schon gar nicht ist es langweilig. Es gibt nur Leute, die es gerne kompliziert und langweilig hätten. Jeder von uns kennt einige davon. Ihre Unterschriften zieren unsere Zeugnisse – zusammen mit den Signaturen derer, für die wir sogar noch nach dem Pausenklingeln sitzen blieben, um zu lauschen. Das waren die großen Erzähler, die Abenteurer, die Zeitreisenden.

Nachrichten aus einem unbekannten Universum will eigentlich nur eines: unterhalten und Lust machen auf mehr. Lesen Sie dieses Buch, wie Sie wollen. Kreuz und quer oder in einem Rutsch. Die meisten Kapitel funktionieren für sich.

Mein Vorschlag wäre jedoch, gemeinsam zurückzureisen, so nah wie möglich an den Punkt null, um uns von dort mit der Zeit treiben zu lassen. Zwischendurch können Sie ruhig mal die Augen schließen und ein Nickerchen machen oder mit Freunden telefonieren, wenn wir durch physikalische und chemische Untiefen reisen, etwa im Kapitel über die Handtasche der Evolution. Manche dieser Exkursionen sind nicht zu vermeiden, aber vielleicht haben Sie ja gerade an so was Spaß. Beispielsweise an der Frage, wie es in einer Protozelle vor 3,5 Milliarden Jahren ausgesehen haben könnte. Falls Ihnen da jedoch zu viele Ionen, Isotope, Makromoleküle, Zucker und Fette, Säuren und Basen unterwegs sind, schalten Sie einfach ab. Ich wecke Sie schon, wenn die richtig guten Geschichten kommen. Niemand gibt hinterher Noten. Wir sind auf einer Reise, und reisen soll entspannen.

Hin und wieder tauchen Begriffe im Buch auf, die erst später ausführlich erklärt werden. Oder aber Sie lesen einen schon erklärten Begriff und fragen sich: Verdammt, was war das jetzt nochmal? Blättern Sie nicht zurück, sondern vor. Im Glossar sollten Sie eigentlich fündig werden. Möglicherweise werden Sie aber über ein bestimmtes Thema sehr viel mehr wissen als ich und Kenntnis von ganz neuen Forschungsergebnissen haben, die zum Zeitpunkt, als das Buch entstand, noch nicht vorlagen. In diesem Fall seien Sie versichert: Auch Bücher leben. Ich werde versuchen, die Nachrichten von Auflage zu Auflage so aktuell zu gestalten, dass Ulrich Wickert sie ohne Zögern verlesen würde.

 

Vorgestern.

Was war noch gleich vorgestern?

Richtig. Der Urknall.

Über den weiß man nicht so viel. Eigentlich nur, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach stattgefunden hat. Für die ersten paar Sekunden nach dem Big Bang gibt es ganz ansehnliche Modelle. Der Moment selbst, das Entstehen des Universums – die so genannte Singularität –, bleibt im Rahmen bekannter physikalischer Gesetze unerklärbar. Was vorvorgestern geschah, unmittelbar vor der Expansion von Raum, Zeit und Materie, und warum es überhaupt geschah, kann derzeit niemand sagen. Ich habe jedenfalls nicht den blassesten Schimmer.

Aber ich kann Ihnen erzählen, was gestern passiert ist.

Gestern

Regenzeit

Die Evolution muss außerordentlich zufrieden gewesen sein. So zufrieden, dass sie drei Milliarden Jahre weitestgehend verschlief.

Vielleicht blickte sie auch einfach voller Stolz auf ihr Werk, ohne sich zu Höherem berufen zu fühlen. Sicher, dieser Membransack mit dem Supermolekül im Kern hatte sich als Husarenstück erwiesen, auf das man sich durchaus was einbilden konnte. Aber dreieinhalb Milliarden Jahre nichts als Einzeller? Keine komplexeren Lebensformen, keine Beine, Zähne und Augen oder wenigstens was Kriechendes mit einem halbwegs erkennbaren Vorne und Hinten? Warum bloß hat sich die Evolution so lange Zeit gelassen, bevor sie daranging, das Experiment Leben fortzusetzen – um dann hastig immer komplexere Organismen zu entwerfen, als sei ihr plötzlich eingefallen, dass die Fertigstellungstermine überschritten sind: Hier bitte, der Auftragszettel, ich hatte für Anfang Kambrium einen Tyrannosaurus Rex bestellt. Was, Sie sind erst bei Muscheln und Schnecken? Jetzt aber dalli!

In der Geschichte des Lebens liest man nichts von Auftraggebern. Man kann die Frage darum auch anders stellen. Warum hat die Evolution überhaupt komplexeres Leben hervorgebracht? Denn einen Trend zur Komplexität im Sinne eines erkennbaren Fortschritts gibt es in der Natur eigentlich nicht, auch wenn wir es gerne so hätten und manches danach aussieht. Menschen sind intelligenter als Einzeller, gut, aber auch bei weitem anfälliger. Unsere hohe Komplexität lässt uns mental wie körperlich schwächeln, sobald es ein paar Grade zu kalt oder zu warm wird oder unerwartet die Börsenkurse fallen. Bakterien haben Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge überstanden, verkraften Hitze- und Kälteschocks und fühlen sich im Umfeld kochend heißer Tiefseequellen ebenso zu Hause wie in der Antarktis, im Innern von Gebirgsgestein oder auf Ihrem Frühstücksbrötchen. Gemeinhin machen sie sich weniger Sorgen als Menschen. Im Grunde sind sie das perfekte Endprodukt. Dennoch muss die Evolution Gründe gefunden haben, eine Entwicklung in Gang zu setzen, an deren Ende Zellkonglomerate Bücher schreiben, die von anderen Zellkonglomeraten gelesen werden.

Zum besseren Verständnis hilft es, die Evolution als das zu begreifen, was sie ist: ein einfallsreiches Opfer der Umstände, weit davon entfernt, Wesen mit Beinen, Zangen, Stielaugen oder Armani-Krawatten zu erschaffen, wie es ihr gerade passt. Zellen zur Serienreife zu entwickeln war eine schöpferische Meisterleistung, unbestritten. Doch was immer die Evolution bis heute unternahm, geschah als Folge vorgegebener Bedingungen. Und die diktierte der Planet – launisch wie eine Diva, mal unberechenbar bis destruktiv, dann wieder ein Muster an Fürsorge. Mitunter forderte er dem Leben Lösungen ab, die ihn selber nachhaltiger veränderten, ohne je Zweifel an seiner Autorität aufkommen zu lassen. Immer waren es klimatische, geologische und kosmische Einflüsse, die der Evolution Handlungsbedarf abforderten. Dass sie rund drei Milliarden Jahre lang erfolgreich Einzeller produzierte, verdient angesichts dessen uneingeschränkte Bewunderung. Denn an Versuchen, sich des aufkeimenden Lebens mit allen nur erdenklichen Tricks wieder zu entledigen, ließ es vor allem die junge Erde nicht mangeln. Außerdem ist Zelle nicht gleich Zelle, und da ist ja noch die Sache mit der Zeitgeschwindigkeit und dem Kausalitätenfilz, und überhaupt …

Langsam.

Gehen wir erst mal zurück, weit zurück, noch vor den Urknall. Was sehen Sie? Richtig, nichts. Erstens, weil es noch kein Universum gibt, zweitens, weil eben dieser Umstand das sofortige Ende Ihrer Existenz nach sich zieht. Der Mensch bemisst sich nun mal nicht allein nach Höhe, Breite und Länge. Auch aus Dauer ist er gemacht, so wie alle Materie. Zeit existierte aber vor dem Urknall nicht, oder sagen wir, sie war noch nicht geschlüpft. Und ohne Zeit kein Zeitreisender.

Dann plötzlich, vor etwa 13,7 Milliarden Jahren, geschieht etwas so Unfassbares, dass selbst Stephen Hawking in schwitzende Erklärungsnot gerät: Aus dem blanken Nichts expandieren Raum und Zeit und dehnen sich rapide aus. So vieles vollzieht sich in derart schneller Folge, dass alleine die ersten drei Sekunden im Leben des jungen Universums Bücher füllen. Vorsicht allerdings, wenn Sie nun glauben, damals sei einfach mehr los gewesen. Wir haben allen Grund zur Annahme, dass die Zeit selbst mit weit höherer Geschwindigkeit dahinraste als heute. Stellen Sie sich einfach einen Film im Zeitraffer vor. Sie sehen dieselbe Handlung wie in Originalgeschwindigkeit, nur dass alles dreimal schneller vonstatten geht. Das flottere Abspieltempo ist vergleichbar einer höheren Zeitgeschwindigkeit, ohne dass die Personen im Film dadurch in Stress gerieten. Für sie vollzieht sich alles ganz normal. Vielmehr würden sie – vorausgesetzt, sie wären sich ihrer filmischen Existenz bewusst – beim Blick auf uns Zuschauer den Eindruck gewinnen, in unserer Welt geschähe alles dreimal so langsam wie in ihrer. Zeit ist ein relatives Phänomen. Sie ist diversen Einflüssen unterworfen, Gravitation kann sie zerdehnen oder stauchen, krümmen und in sich selbst zurückführen. Auch heute verstreicht die Zeit in den einzelnen Regionen des Universums unterschiedlich schnell. Bewohner verschiedener kosmischer Zeitzonen empfinden ihre jeweilige Zeit als absolut, ein unabhängiger Beobachter hingegen würde erhebliche Unterschiede registrieren.

Ob ein Vorgang als schnell oder langsam, eine Zeitspanne als schier endlos oder besonders kurz empfunden wird, hat also ausschließlich mit der Perspektive des Beobachters zu tun – anders gesagt mit jemandem, der in der Lage ist, Zeit überhaupt zu messen. Da unabhängige Beobachter bis heute Geschöpfe der höheren Mathematik sind, müssen wir uns mit uns selbst begnügen und im Hinblick auf ein Menschenleben feststellen, dass drei Milliarden Jahre eine verdammt lange Zeit sind. Wo wiederum niemand zugegen ist, um ein Zeitmaß anzulegen, erübrigen sich Begriffe wie »schnell« oder »langsam«. Dauer wird irrelevant. Drei Sekunden oder drei Milliarden Jahre machen keinen Unterschied. Die Zeit bemisst sich nicht in Einheiten, sondern einzig an der Fülle der Ereignisse. Ein Effekt übrigens, den wir gut an uns selbst beobachten können. In Fällen großer Langeweile – etwa bei Festreden angehender Schwiegerväter oder Antworten von Politikern auf klar gestellte Fragen – empfinden wir zehn Minuten als quälende Öde. Ein Abend beim Flirt vergeht hingegen wie im Flug. So betrachtet sind drei Milliarden Jahre Zellentwicklung vielleicht ein Klacks, hingegen drei Sekunden, in denen die Grundvoraussetzungen für das ganze zukünftige Universum geschaffen wurden, eine Ewigkeit. Es wäre sinnlos, von einem Mittagsschläfchen der Evolution zu sprechen, bloß weil sie es den größten Teil der Erdgeschichte bei Bakterien beließ. Nein, es entsprach einfach den Umständen.

Zurück zum Urknall. Raum und Zeit breiten sich weiter aus, und das Universum kühlt ab. Auch Abkühlung ist ein relativer Begriff. Immer noch 5.000 Grad Celsius ist es heiß, eine Temperatur, bei der Elektronen wild hin und her schießen, allerdings langsam genug, um dem Bann positiver Anziehungskräfte zu erliegen. Als Folge beginnt je ein Elektron ein einzelnes Proton zu umkreisen, und das Wasserstoffatom entsteht.

Vorher war das Universum unendlich dicht und homogen gewesen. Jetzt wird die Materie durchlässig, und Licht kann sich ungehindert von Materie ausbreiten. Mehr noch: Seitdem die Photonen, die Lichtteilchen, sich zwischen den festen Teilchen hindurchwinden können, müssen sie diese nicht mehr ständig anrempeln und auseinanderreißen. Erstmals kann sich Materie zu dauerhaften Strukturen zusammenballen. Wasserstoff bildet Wolken, die immer größer und mächtiger werden, bis sie unter ihrem eigenen Gewicht in sich zusammenstürzen. Sterne entstehen, Brennöfen, in deren Innerem ungeheurer Druck herrscht, sodass der Wasserstoff im Innern zu Helium verschmilzt. Drei solcher Heliumkerne verbinden sich zu Kohlenstoff. Der Kohlenstoffkern nimmt weiteres Helium auf und wird zu Sauerstoff. Damit sind die wesentlichen Bestandteile des heutigen Universums versammelt, und der Weltraum lichtet sich.

Mit zunehmender Abkühlung verwandeln sich weite Teile des Alls in öde Wüsten. So viel Leere, so wenig freie Atome, die sich im interstellaren Raum treffen. Was dennoch zueinander findet, wird vom harten Ultraviolett des Sternenlichts gleich wieder getrennt. In den Gaswolken hingegen herrscht das andere Extrem. So dicht sind die Materieteilchen dort gepackt, dass weder ultraviolettes noch anderes Licht eindringen kann. Darum sind die Wolken dunkel. Und kalt! Minus 240 Grad Celsius, das ist auf alle Fälle kalt genug für die Bildung von Molekülen, und dicht genug, um Sterne zu gebären.

Neugeborene sind unberechenbar. So stürzen viele der jungen Sterne unter ihrer eigenen Anziehungskraft unaufhaltsam in sich zusammen, bis ihre Masse sich nicht weiter verdichten kann. Ihnen bleibt nur eines: fulminant zu zerplatzen. Die Explosionen schleudern heißes Sternengas ins All und mitten hinein in träge Wasserstoffwolken, die noch aus der Zeit des Urknalls stammen und die schwereren Elemente aus den verendeten Sternen dankbar in sich aufnehmen. In Milliarden embryonaler Galaxien trifft erstmals Wasserstoff auf Sauerstoff. Ununterbrochen verbinden sich die beiden Elemente, bis sich auf der Oberfläche gefrorener Staubkörner Moleküle einer völlig neuen Art gebildet haben.

Wasser.

Flott vergehen neun Milliarden Jahre. Sterne werden geboren, Galaxien entstehen, die sich wie kosmische Räder zu drehen beginnen. Die Kinderstube des frühen Universums lässt zu wünschen übrig, ein einziges Gedränge ist das. Auch unsere Galaxis balgt sich um die besten Plätze, kollidiert mit anderen Galaxien, macht sich breit und bezieht Prügel. Einer der vielen Zusammenstöße erzeugt schließlich eine materiereiche Dunkelwolke. Vielleicht hat die Explosion eines nahen Sterns geholfen, jedenfalls kollabiert die Wolke und zündet einen neuen Brennofen in ihrem Zentrum, unsere Sonne. Was der Verschmelzung entgeht, vornehmlich mit Staub durchsetztes Gas, kreist um das neugeborene heiße Zentrum. Es ist die Zentrifugalkraft dieser Rotation, die das Gas-Materie-Gemisch davor bewahrt, auch noch von dem jungen Stern verschluckt zu werden. Stattdessen treibt es hinaus und bildet eine riesige, flache Scheibe aus Gesteins- und Eiskörnern.

Eine Scheibe mit einer Achse.

Die Sonnenachse.

Auch Wasser treibt in dem solaren, sich drehenden Nebel, zu Eis gefroren. In der Nähe der Achse allerdings, wo die Temperatur 1.200 Grad Celsius beträgt, kann es nicht überdauern. Nur im Innern von Gesteinskörnern hat es Bestand, an ihrer Oberfläche verdampft es. Der innere Ring, der sich um die Sonne gelegt hat, ist steinig, und ganz allmählich fügen sich die Steine zusammen, Stück für Stück, beginnend mit winzigen Staubpartikeln, die kollidieren und aneinander haften bleiben. Blitze zucken in dem wirbelnden Staubgemisch. Zu immer größeren Klumpen ballt sich die Materie, es entstehen Milliarden von Felsen, groß wie Asteroiden, und jeder strebt zum anderen.

Gälte es, das ultimative Liebeslied zu schreiben, müsste es der Gravitation gewidmet sein. Ein einziges Zueinander-hingezogen-Sein! Knapp eine Million Jahre, nachdem unser Stern geboren wurde, sind aus dem achsnahen Staub 30 Kleinplaneten entstanden, Günstlinge der Sonne, die sie in konzentrischen Bahnen umkreisen, Rivalen auf zu engem Raum. Natürlich kommen sie einander in die Quere. Sie verlassen ihre Bahnen, bewegen sich in Ellipsen aufeinander zu, kollidieren mit Zehntausenden von Stundenkilometern. Nur die Großen überstehen den Zusammenprall und verleiben sich die kleineren ein. 100 Millionen Jahre lang geht das so, dann verzeichnet der innere Ring vier vorläufige Sieger. Drei davon begnügen sich mit ungeliebten Provinzen, deren zwei der Sonne sehr nahe sind und die andere fern, auf vierter Position. Vier Hauptkonkurrenten, um einander eine Zukunft abzutrotzen, die nur einem vorbehalten ist. Dem dritten Planeten. Unserer Erde.

Anfangs ist sie eine heiße Hölle! Kleinere Körper, die an ihr zerschellen, lassen sie beständig wachsen. Selbst den kondensierten Wasserdampf aus dem Innern dieser Körper hält sie fest und schichtet ihn wie einen Mantel um sich. Im embryonalen Stadium beträgt ihre Masse gerade mal ein Drittel des heutigen Gewichts, aber wozu fliegen da jede Menge Himmelskörper rum? Immer neue Herausforderer stellen sich in den Weg, noch mehr Masse, noch mehr Wasser, und dann kommt einer, der zu gewaltig ist, um einfach weggesteckt zu werden.

Theia schlägt auf, ein marsgroßer Asteroid. Trümmer schießen in den Weltraum. Für die Dauer von 24 Stunden bildet sich ein saturnartiger Ring aus Schutt um den Planeten. Dann stürzen die meisten der Brocken zurück auf die junge Erde, vereinen sich mit ihr und fügen der neuen Welt Masse hinzu. Andere ballen sich im Schwerefeld zusammen und bilden fortan die Interessengemeinschaft Mond. So sind wir an unseren Trabanten gekommen. Durch Krawall im All.

Was das Ende hätte werden können, wird zu einem Anfang.

Nach der Karambolage mit Theia stabilisiert sich unser Planet, größer und mächtiger denn je. Allerdings müssen weitere 500 Millionen Jahre verstreichen, bis der Glutball, den wir heute so komfortabel bewohnen, eine halbwegs stabile Kruste gebildet hat. Ein unablässiges Bombardement kosmischer Projektile verhindert jeden Zusammenschluss organischer Moleküle, beschert der Erde dafür aber ihren inneren Aufbau. Elemente verschiedenen Gewichts gelangen mit Asteroiden und Meteoriten auf die Oberfläche, das schwere Eisen sammelt sich, der Masseanziehung folgend, im Erdkern, leichtere Materie formt sich zu Schichten, die den Kern ummanteln. Gewaltige Mengen Gas bahnen sich ihren Weg aus dem feurigen Brei nach draußen, Kohlendioxid, Stickstoff, Ammoniak, Methan, hauptsächlich aber Wasserdampf.

Aus den Tiefen des Weltraums kommt neues Wasser.

Es entstammt den äußeren Schichten, wo eine sphärische Wolke aus Materieteilchen, Körnchen und Brocken das gesamte Sonnensystem wie eine Schale umgibt. Während im inneren Ring der Konkurrenzkampf tobte, haben sich auch dort, fern von der Sonnenwärme, Planeten gebildet. Große Trümmer sind von ihrem Bau übrig geblieben, die zu gleichen Teilen aus Felsen und Eis bestehen: Kometen. Nun rasen sie heran und ersetzen das beim Zusammenprall mit Theia verloren gegangene Wasser. Die Dampfhülle verdichtet sich aufs Neue, bis sie wie eine Decke über dem Planeten liegt. Je dichter die Decke wird, desto weniger kann die Hitze der ständigen Explosionen entweichen. Der Planet kocht in sich selber. Seine Oberfläche beginnt zu schmelzen, bis gleißend rote Lava alles überzieht. 1.260 Grad Celsius herrschen an der Oberfläche, der Luftdruck beträgt einhundert Atmosphären. Zwei Ozeane bedecken den Planeten. Einer aus Wasserdampf und darunter einer aus flüssigem Gestein, der den Dampf allmählich absorbiert. Wann immer jetzt Felsbrocken einschlagen, fügen sie der Hülle keinen neuen Wasserdampf hinzu, weil die Lava ihn im selben Augenblick verschluckt.

Dann werden die Geschosse weniger.

Schon einmal, gleich nach ihrer Entstehung, hatte die Erde eine dünne Atmosphäre besessen, aber damals war der Planet kleiner und leichter gewesen. Seine Gravitation hatte nicht ausgereicht, um die Gashülle gegen die fortgesetzten Sonnenstürme zu verteidigen, die damals auf den Planeten einwirkten. Instabil, wie die junge Atmosphäre war, hatte der Zusammenprall, aus dem der Mond hervorging, sie schließlich ins All geschleudert. Jetzt sah die Sache schon besser aus. Schwer war der Planet geworden, was verhinderte, dass sich der neu gebildete, kochend heiße Mantel aus Dampf in den Weltraum verflüchtigen konnte. Weil zudem der Meteoritenhagel nachließ, bildete sich eine feste Kruste, und es wurde kühler. Was ein neues, bis dahin unbekanntes Phänomen auslöste.

Es begann zu regnen.

Beziehungsweise, Regen kann man das nicht nennen.

Es schüttete!

Kein Fernsehsender würde sich trauen, diesen Wetterbericht zu bringen. Über 300 Grad Celsius war dieser Regen heiß, die Temperatur, bei der Wasser kondensiert, wenn ein Druck von 100 Atmosphären herrscht. Es regnete weiter, Jahrtausende lang, das ultimative Hundewetter. Alles Wasser aus der Atmosphäre fiel auf die Oberfläche. Anderthalb Milliarden Billionen Tonnen rauschten hernieder. Nach dem ersten großen Niederschlag kühlte sich die Erde ab, Wolken entstanden, neuer Regen setzte ein. Und wieder Wolken. Und Regen. Wolken. Regen. Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Jahrmillionen lang.

Wasser, muss man sagen, ist ein molekulares Gedränge ohne Beispiel, schlimmer als die ersten hundert Reihen bei einem Robbie-Williams-Konzert. Eigentlich war es nur entstanden, weil dem Sauerstoff zu seinem Glück zwei Elektronen fehlten. Als er in die urzeitlichen Wolken gelangte, suchte er sich darum zwei Wasserstoffatome, und ein janusköpfiges Molekül entstand, die eine Seite negativ, die andere positiv aufgeladen. Ein Wassermolekül, dessen Protonen- und Elektronenpaare dazu neigen, ihre Gegenstücke in anderen Wassermolekülen anzuziehen und Brücken zu bauen. Diese Wasserstoffbrücken sind sehr viel schwächer als die Verbindungen zwischen Atomen in einem Molekül. Große Hitze kann sie zerreißen. Aber unter moderaten Bedingungen bilden sie flüchtige Verknüpfungen zu anderen Wassermolekülen, ein kurzes Berühren und wieder Loslassen, viele Milliarden Verknüpfungen pro Sekunde, ein unablässiger molekularer Partnertausch. Ordnung kann man das nicht gerade nennen, aber immerhin entsteht Zusammenhalt: flüssiges Wasser.

Nennenswerte Gebirge gab es damals noch nicht, die Erde erinnerte mit ihren Kraterfeldern an den Mond, und so geriet der ganze Planet gleichmäßig unter Wasser, bis nur noch die höchsten Vulkangipfel herauslugten. Zudem wuschen die Niederschläge Kohlendioxid aus der Atmosphäre, das mit der erstarrenden Lava reagierte und die darin gebundenen Mineralien freisetzte. So nämlich kam das Salz ins Meer – und nicht durch den Salzstreuer, von dem mein Vater mir weiszumachen suchte, er sei einem Matrosen ins Wasser gefallen, als der sein Frühstücksei würzen wollte. Geglaubt habe ich das schon damals nicht, bloß dass ich mit sechs Jahren keine bessere Theorie entgegenzusetzen hatte.

Ein Urozean entstand, bar jeden Lebens.

Niemand hätte darin baden wollen. Er war kochend heiß, im Schnitt dreieinhalb Kilometer tief und ein hauchdünner Film, verglichen mit dem Radius des Planeten, der sich auf immerhin sechseinhalbtausend Kilometer bemaß. Sein Wasser entstammte den Himmelskörpern des inneren Rings ebenso wie den Kometen aus der fernen Kälte. Alter und Herkunft beider Wasserarten waren verschieden. Einige der Moleküle waren noch vor dem Sonnensystem entstanden, irgendwo im interstellaren Raum. Zu Eiskörnern gefroren trieben sie in den äußeren Regionen des Solarnebels, bevor sie hierhergelangten. Aber was immer sie einmal waren und woher sie stammten, jetzt vermischte sich alles.

Es goss und goss.

An den Vulkanflanken nagte die Erosion. Der Regen spülte Basalt ins Wasser, das sich rund um die feurigen Inseln ablagerte und den Meeresboden sedimentierte. Immer neues Material folgte nach, bis die noch dünne Erdkruste unter dem Gewicht von Millionen Tonnen Sediment einbrach und schmolz. Ein Teil der Schmelze trieb zurück nach oben, durchsetzte nachdrängende Sedimentschichten und verband sich mit ihnen zu einem Stoff, der das Antlitz der Welt grundlegend verändern sollte. Granit entstand, leichter als Basalt, dafür von äußerster Härte. Ganze Platten formten sich aus dem neuen Gestein, manche von den Ausmaßen der Schweiz, andere nicht größer als ein Kinderspielplatz. Vorerst noch unter Wasser gelegen, folgten sie schließlich den Gesetzen des Auftriebs und strebten zur Oberfläche, einfach weil sie leichter waren als der Meeresboden. So erhoben sich vor vier Milliarden Jahren die ersten Inseln aus dem Meer, die nicht vulkanischen Ursprungs waren.

Mit ihrem Erscheinen endet die Ära des Urozeans.

Ein neuer Kreislauf aus Erosion und Landentstehung begann und setzte sich Millionen Jahre lang fort. Kilometerdicke Sedimentschichten legten sich über basaltenen Meeresboden, die leichteren Granitinseln wuchsen und begannen an ihrer schwereren Umgebung zu zerren. Schließlich riss die Kruste rund um die Inseln auf. Land trennte sich unwiederbringlich vom Meeresboden. Endlos wiederholte sich dieser Prozess, immer wieder brach die noch dünne Meereskruste ein, neue Schmelze verband sich mit Sediment, die granitenen Schollen wuchsen und wuchsen, bis sie einander in die Quere kamen. Weil keine wich, wurden sie von den langsam wandernden ozeanischen Platten ineinandergedrückt und verbanden sich zu einer einzigen, gewaltigen Landmasse in Äquatorhöhe. Kenorland hieß dieser erste Superkontinent, dem im Verlauf kommender Jahrmillionen weitere folgen sollten. Noch war nicht alles Land entstanden, das der Erde heute ihr Gesicht gibt. Zweieinhalb Milliarden Jahre vor unserer Zeit umfasste Kenorland im Wesentlichen das heutige Nordamerika und Australien, außerdem Teile Afrikas und ein bisschen frühes Europa. Leer und leblos, eine düstere, von gleißenden Magmaströmen durchzogene Gesteinswüste, hatte der erste Kontinent der Weltgeschichte dem Schöngeist wenig zu bieten.

In den Tiefen des Ozeans jedoch regte sich etwas.

Moleküle reckten und streckten sich, beschnupperten einander und schlossen Freundschaft. Schon mit dem Auftreten der ersten Splitter Kenorlands, vor vier Milliarden Jahren, war der Natur eine neue Mitarbeiterin zuteilgeworden. Geduldig hatte sie abgewartet, bis der schlimmste Trümmerhagel aus dem All nachließ. Immer noch wurde scharf geschossen im erdhistorischen Wilden Westen, stürzten Asteroiden ins Meer und auf die Inseln, manche winzig, andere von der Größe Mallorcas oder Siziliens. Doch aus den schlimmsten Flegeljahren schien die Erde raus zu sein. Die neue Mitarbeiterin schaute sich um, mit prüfendem Blick und voller Tatendrang. Nachdem sie die Überzeugung gewonnen hatte, dass der Erschaffung von Leben nichts mehr im Wege stand, machte sie sich an die Arbeit. Sie hieß Evolution, und sie hatte ein paar höchst elegante Ideen in petto.

Wie jede elegante Dame brachte sie ihre Handtasche mit.

Land in Sicht

Sie würden gerne reinschauen in die Handtasche? Kein Problem! Zuvor müssen wir uns aber noch ein wenig genauer mit dem Aufbau des Planeten auseinandersetzen. Denn was die gute alte Erde zusammenhält, ist zugleich das, was sie spaltet. Wir könnten keine Reise durch die Erdzeitalter unternehmen, das Leben wäre nie entstanden, hätte die Natur auf unserem Planeten nicht eines ihrer wichtigsten Patente zur Anwendung gebracht: die Plattentektonik.

Falls Sie als Kind Jules Verne gelesen haben, werden Sie ihm vielleicht atemlos zum Mittelpunkt der Erde gefolgt sein. Im wirklichen Leben würde die Reise weit weniger romantisch verlaufen. Ein Gefährt, um uns ins Herz des Planeten zu tragen, müsste enorm hitzeresistent sein und über eine unvorstellbar leistungsfähige Klimaanlage verfügen, außerdem könnte von Sightseeing keine Rede sein. Bei Monsieur Verne stoßen die Forscher auf labyrinthische Höhlensysteme, innerirdische Ozeane und seltsame Riesenpilze, im Film gesellt sich allerlei Urviech hinzu, bis eine Eruption das Team zurück zur Erdoberfläche befördert, geradewegs durch den Schlot eines Vulkans. In einer prähistorischen Opferschale aus einem brennenden Berg zu fliegen und unversehrt ins Meer zu plumpsen, das muss dem fabuliergewaltigen Franzosen erst mal einer nachmachen. Tatsächlich gelangten wir auf diese Weise kaum nach draußen, ebenso wenig wie wir gemütlich hineinspazieren könnten. Vielmehr müssten wir uns mit einem Superbohrer in die Lithosphäre, die starre Erdkruste, fräsen, und spätestens in 70 bis 100 Kilometer Tiefe würde es unangenehm warm.

Die marinen und kontinentalen Platten der Erdkruste sind Inseln vergleichbar, die auf einem Ozean ganz eigener Beschaffenheit treiben: Bis zu 200 Kilometer dick ist die Asthenosphäre, eine zähe, relativ weiche und leichte Schicht aus glühendem Gestein, die lähmend langsam dahinkriecht. Wie auf Sirup schwimmen die Teile der Erdkruste darauf, der Fließgeschwindigkeit entsprechend. Vorausgesetzt, unser Gefährt wäre resistent gegen diesen 1.200 bis 1.500 Grad Celsius heißen Backofen, könnten wir die Asthenosphäre durchqueren, allerdings würde uns als Nächstes der Erdmantel erwarten und damit noch schlimmere Hitze. 2.860 Kilometer dick, fester als die Asthenosphäre, schiebt auch er sich mit wenigen Zentimetern jährlich voran. Nicht allein die Temperaturen setzen unserem Bohrgefährt zu, sondern ebenso ungeheurer Druck. Wacker, wie wir sind, lassen wir uns davon nicht beeindrucken und bringen auch diese Etappe hinter uns, umgeben von eintönigem Lavarot, bis wir eine hellere Zone erreichen, den äußeren Kern. Bislang ging unsere Reise durch Gestein, nun kommen wir ins Reich flüssigen Metalls, vornehmlich Eisen mit ein wenig Nickel. Spätestens jetzt sollten Sie die Erfrischungstüchlein auspacken. Gnadenlose 4.000 Grad Celsius erwarten uns während der nächsten 2.250 Kilometer. Guter Dinge drücken wir auf die Tube – und knallen gegen etwas Festes.

Wer wohnt hier?

Niemand. Der innere Kern hat uns ausgebremst: metallisch wie der äußere, allerdings fest. Hier herrschen Druckverhältnisse, die keine Fließbewegung mehr zulassen. Um zu Vernes Mittelpunkt vorzustoßen, müssten wir erneut den Bohrer rotieren lassen und weitere 610 Kilometer hinter uns bringen, aber das sparen wir uns. Weiß glühend ist der Kern, der Druck in seinem Zentrum beträgt 3.600 Kilobar, was geologisch von höchstem Interesse sein mag, für Touristen jedoch langweiliger ist als Wolfsburg bei Nacht. Also drehen wir um und reisen heim. Zurückgekehrt, wissen wir nun immerhin so viel: Die Erde ist teils flüssig, ihr Inneres in ständiger Bewegung, entsetzlich heiß und mörderischen Druckverhältnissen unterworfen, eine in Zeitlupe vor sich hin kochende Hölle. An der Oberfläche dieser Hölle leben wir – und existieren einzig, weil die dünne Kruste nicht komplett geschlossen, sondern in Fragmente unterteilt ist, die auf dem zähen Ozean der Asthenosphäre treiben.

Was würde geschehen, wäre die Erde nicht so rissig? Nun, stellen Sie sich ein Ei im Kochtopf vor. Ein Kräftezerren setzt ein, Gase wollen entweichen, Materie stockt, vertikale und horizontale Effekte setzen der Schale zu. Halt ein ganz normales Frühstücksei. Würden Sie es nicht anstechen, bevor Sie es ins brodelnde Wasser gleiten lassen, es würde platzen. So aber kann es Dampf ablassen und ist nach wenigen Minuten fest geworden, hat also einen Zustand neuer Stabilität erreicht. Mit der Erde verhält es sich ähnlich, nur dass man sie nicht pellen und aufs Brötchen schneiden kann, weil sich unter der Schale immer noch dynamische Prozesse vollziehen, ein permanenter Kampf des Inneren gegen das Äußere. Eine in sich geschlossene Kruste müsste flexibel wie Gummi sein, um derartigen Bedingungen standzuhalten. Doch die Lithosphäre ist starr, also tat die Natur gut daran, sie in Schollen zu unterteilen, die mal auseinanderdriften, mal zusammenstoßen, sich über- und untereinanderschieben, sich heben und senken und den Druck aus dem Inneren ausgleichen.

Heute ist die Plattentektonik allgemein akzeptiert, sieht man von Gegenden im amerikanischen Mittelwesten ab, wo man schon für die Verkündung des Darwinismus auf dem Scheiterhaufen landet. Noch in den Sechzigern war längst nicht jeder Geologe von der Beweglichkeit der Platten überzeugt. Dabei hatte ein deutscher Polarforscher bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Beweis erbracht, dass die Natur Erfinderin des Puzzles ist. 1910 betrachtete Alfred Wegener stirnrunzelnd eine Weltkarte. Ihm schien, dass Südamerika und Afrika irgendwie ineinanderpassten. Im Folgenden unterzog er sämtliche Inseln und Kontinente einer genaueren Untersuchung und gelangte zu der Überzeugung, Teile eines einzigen gewaltigen Kontinents vor sich zu haben, der in ferner Vergangenheit auseinandergebrochen sein musste. Etwa zeitgleich machten Paläontologen die bemerkenswerte Entdeckung, dass Fossilien uralter Lebensformen diesseits und jenseits der Ozeane identische Züge aufwiesen. Wie konnte ein Tier aus Afrika zugleich in Südamerika gelebt haben? Wie war es dorthin gelangt? Sporen von Pflanzen, gut, die hatte der Wind übers Meer geweht, von Krokodilen und Skorpionen stand das weniger zu erwarten. Für Wegener der fundamentale Beweis, dass einst ein Riesenkontinent existiert haben musste, eine einzige zusammenhängende Landmasse, auf der sich das Leben frei in alle Himmelsrichtungen hatte verteilen können. »Ganze Erde« nannte Wegener seinen Kontinent, und weil Wissenschaftler einem kryptischen Zwang unterworfen sind, alles auf Griechisch oder Lateinisch auszudrücken, wurde daraus Pangaea – Gaea für Erde, Pan für Ganz.

Zum Leben des Visionärs gehört, ausgelacht zu werden. Wegener konnte das ertragen, obwohl er nur Hohn für seine These erntete. Zwecklos, die Fachwelt darauf hinzuweisen, schon zu Zeiten der Renaissance hätten scharfäugige Kartenleser Ähnliches herausgefunden. Allgemein hing man der Auffassung des österreichischen Geologen Eduard Suess an, dessen Schrumpfungstheorie sich damals großer Popularität erfreute. Demnach war die Erde einst heißer und damit voluminöser gewesen. Im Laufe der Jahrmilliarden hatte sie einen Teil ihrer Wärme abgestrahlt, wodurch sie kälter wurde und gemäß der Kontraktion in sich zusammenschnurrte wie ein schrumpeliges Äpfelchen. Gebirge seien auf diese Weise entstanden, erklärte Suess, ganze Landstriche hätten sich nach innen gefaltet, sodass Wasser in die entstandenen Becken floss und Ozeane bildete. Wegener hielt dagegen, verschrumpelte Äpfel wiesen keine kontinentalen Strukturen auf. Ein Planet, der gleichmäßig Hitze abgäbe, müsse auch gleichmäßig schrumpfen und würde zwar faltig, aber nicht schartig und buckelig. Außerdem sei Granit erwiesenermaßen leichter als Meeresgestein, woraus folge, dass Kontinente nicht versinken könnten, wie es die Schrumpfungstheorie forderte. Sie schwämmen obenauf und seien unzerstörbar und unsinkbar.

1915 war Wegener so weit, seine Theorie der Kontinentalverschiebung zu veröffentlichen. Wie zu erwarten, löste sein Buch Die Entstehung der Kontinente und Ozeane heftige Diskussionen aus. Suess führte erbittert Krieg gegen den Mann, den ehrbare Geologen seiner Meinung nach nie hätten ernst nehmen dürfen: Schließlich sei dieser Alfred Wegener einem Kuckucksei entschlüpft, weil eigentlich nur Astronom und Meteorologe. Den Siegeszug der Plattentektonik konnte der Schrumpelpapst indes nicht aufhalten. Dummerweise hatte Wegener nicht viel davon. Es ist den eisigen Temperaturen, möglicherweise auch einem Herzinfarkt geschuldet, dass Wegener 1930, an seinem 50. Geburtstag, in Grönland den Tod fand – ein mutiger und weitsichtiger Forscher, der nie vermocht hatte, seine Theorie stichhaltig zu begründen. Mal erklärte er, Sonne und Mond zerrten an den Landmassen, dann wieder fabulierte er über eine ominöse Polfluchtkraft, infolge derer alles Land zyklisch zum Äquator strebe. Hätte der Vater der Plattentektonik über die Messdaten eines Satelliten verfügt, um Langzeitbeobachtungen der Erdoberfläche durchzuführen, wären Suess’ Schrumpeljünger schnell in sich selbst zusammengeschrumpft: Aus Messungen wissen wir, dass die Kontinente jährlich drei bis fünf Zentimeter wandern. So aber musste Wegener sich als Märchenonkel verspotten lassen. Vielleicht – im Hinblick auf Scheherezade und die Gebrüder Grimm – mag er zeitlebens Trost darin gefunden haben, dass auch Märchenerzähler zu Weltruhm gelangen können.

Über das Erdinnere wusste Wegener ebenso wenig Bescheid, sonst wäre ihm klar gewesen, dass es die Konvektionsströme im Erdmantel sind, denen sich die Plattenbewegung verdankt. Unablässig wird dort flüssiges Mantelgestein um- und umgewälzt und dabei auf unterschiedliche Temperaturen erhitzt. Je heißer, desto leichter wird es, und was leicht ist, steigt nach oben. Weil das Defizit ausgeglichen werden muss, sinkt kühleres Gestein ab und hält den Strömungskreislauf in Gang. Die aufsteigende Schmelze bahnt sich ihren Weg, bis sie mit Wasser im Meeresboden reagiert und diesen durchbricht. Das Resultat sind Tausende von Kilometern lange klaffende Schluchten, Austrittszonen für Lava, die im kalten Tiefenwasser erstarrt, dem Meeresboden Masse hinzufügt und ihn langsam auseinanderpresst. Beiderseits dieser Spreizungsachsen haben sich so mit der Zeit poröse Gebirge aufgewölbt, Mittelozeanische Rücken, und weil immer neue Lava nachfloss, geriet der Meeresboden selbst in Bewegung und schob sich langsam auseinander. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Mit zunehmender Entfernung von den Schluchten kühlt er ab, wird fester und flacher. Viele Millionen Jahre später stößt er auf Land, was eine wichtige Frage aufwirft:

Wohin mit ihm?

Wir könnten uns den Bau von Küstenstädten sparen, käme da ständig Boden aus dem Meer gekrochen. Nun haben wir aber gesehen, dass Kontinente leichter sind als Meeresboden – alle Kontinente zusammen wiegen gerade mal 0,4 Prozent der gesamten Erdmasse. So schiebt sich die schwerere Meereskruste unter die kontinentale Platte, wird in den Erdmantel gedrückt und dort aufgeschmolzen. Man nennt dieses Phänomen Subduktion. Wie zum Beweis sind kontinentale Kerne bis zu 3,5 Milliarden Jahre alt, der älteste intakte Meeresboden hingegen lediglich 200 Millionen Jahre. Zögern Sie also nicht, schnell nochmal auf die Kanaren zu düsen. Inseln sind im Gegensatz zu Kontinenten Teil des Meeresbodens und werden von diesem mitgeschleppt. In einigen Millionen Jahren scheppern Lanzarote, Fuerteventura und so weiter gegen Marokko und zerbröseln am Gestade der Westsahara.

Allerdings sind nicht alle Kontinentalränder automatisch Subduktionszonen. Vielmehr spricht die Geologie von aktiven und passiven Rändern. Man muss sich vorstellen, dass so ein Kontinent schwer in Bedrängnis ist. Nehmen wir exemplarisch Amerika, eingefasst vom Atlantik im Osten und vom Pazifik im Westen, beides Ozeane, in denen Meeresboden kontinuierlich auseinanderdriftet. Das heißt, Amerika bekommt von beiden Seiten Druck. Nun sind aktive Kontinentalränder immer Teil aufeinander zustrebender Platten, passive hingegen solche, wo zwei Platten sich voneinander wegbewegen. Dort wachsen die Kontinente flach ins Meer hinaus, lagern sich Sedimente an und tragen zu neuer Landbildung bei, während der enorme Druck auf der anderen Seite die Küsten bollwerkartig aufwölbt, Tiefseegräben und Vulkanketten formt und schwere Beben erzeugt. Beständig ruckelt es in der aktiven Zone, wenn sich unterseeische Berge unter dem Kontinentalsockel verhaken und schließlich losreißen. Dann kann es geschehen, dass riesige Teile Meeresboden einfach auseinanderbrechen, hochschnellen oder absacken, ein Phänomen, das Ende 2004 zum Tsunami in Südostasien führte.

In unserem Beispiel wird das amerikanische Festland, genauer gesagt, die Platte, auf der es liegt, gen Westen geschoben und kollidiert dort, im Pazifik, mit einer anderen Platte, die nach Osten will. Speziell dieses Kräftemessen sorgt in Amerika für einiges Kopfzerbrechen. Nicht von ungefähr warten die Bewohner der Westküste auf »The Big One«, das Beben aller Beben, unter dessen Wucht Städte wie San Francisco, Los Angeles oder Vancouver kollabieren dürften, um von der anschließenden Riesenwelle weggespült zu werden. Praktisch der komplette Pazifik ist durch aktive Kontinentalränder begrenzt, sämtliche angrenzenden Landstriche gelten als Erdbebengebiete.

Insgesamt sieben große und eine Vielzahl kleiner Platten kennen wir. In graphischer Darstellung geben sie der Erde das Aussehen einer zersprungenen Weihnachtskugel. Angesichts dessen gruselte sich unlängst eine große Zeitung über der Frage, ob es die Erde wohl bald auseinanderreißen mag. Überzogen von einem Craquelé tektonischer Ränder prangte sie auf der Titelseite und sah tatsächlich aus, als wolle sie beim nächsten seismischen Schluckauf in Stücke gehen. Seien Sie beruhigt: Es sind eben diese Risse, die relative Ruhe gewährleisten. Dass es bebt, wenn Platten aneinanderrempeln, ist das kleinere Übel, sozusagen geologischer Alltag. Andernfalls wäre unser Planet längst geplatzt.

Übrigens ist das tektonische Recycling auch der Schönheit zuträglich. Es führt dazu, dass sich Xenolithe, Gesteine aus einstmals 200 Kilometer Tiefe, in den Hälsen kontinentaler Vulkane ablagern, und Marylin Monroe hat Xenolith geliebt! Nicht, dass sie je davon gehört hätte. Dafür wusste sie umso besser, was man daraus machen kann, und hat es ausgiebig besungen. Xenolithe sind die Hauptquelle für Diamanten.

Natürlich fügen sich nicht nur Kontinente via Tektonik zu immer neuen Konstellationen, auch Meere entstehen und vergehen im Zuge der Erdkrustenbewegung. Am Grund der Ozeane driften die riesigen Platten auseinander, wuchern Gebirgsrücken entlang der Spreizungsachsen in bis zu 3.000 Meter Höhe, insgesamt 60.000 Kilometer lang, das größte Gebirge der Welt. Mit jedem der geologischen Umbauten ändern sich die Meeresströmungen und damit die Bedingungen für das Leben im Wasser und zu Lande. Denn auch auf das Klima hat das Meer erheblichen Einfluss. Später gehen wir näher darauf ein.

Jetzt aber dürfen Sie der Evolution in die Handtasche schauen.

Sie ist voller Leben!

Die Handtasche der Evolution

An Theorien, wie sich das Leben entwickelte, nachdem Einzeller die Meereshoheit erlangt hatten, herrscht kein Mangel. Evolutionsbiologen und Molekulargenetiker können plausibel ableiten, warum Vielzeller entstanden, warum sich Organismen zu Beginn des Paläozoikums Zähne, Zangen und Panzerplatten zulegten und warum jeder Mensch im Fotoalbum eigentlich ein Bild von Haikouella haben sollte, einem Vorläufer der Wirbeltiere, der einst durch kambrische Untiefen wuselte und ein bisschen anmutet wie der Urahn aller Weißwürste.

Schwieriger wird es, wenn die Frage nach der Henne und dem Ei aufkommt. Sprich, was war zuerst da, Stoffwechsel oder Zelle? Wie konnten Zellen überhaupt entstehen ohne Stoffwechsel? Wie fand Stoffwechsel ohne Zelle statt? Wo genau lag der Punkt, jenseits dessen aus anorganischer organische und aus organischer belebte Materie wurde? Ab wann galt: Jetzt ist es Leben?

Gab es überhaupt eine eindeutige Zäsur?

Unzählige Religionen geben darauf dieselbe Antwort: Höhere Wesen haben tote Materie belebt, indem sie eine Art Software einspeisten, Seele genannt, woraufhin sich das Geschöpf reckte und streckte und fortan den Herrn pries. In der Tat mutet die Vorstellung einer solchen Schöpfung erfreulich an. Wer will schon ernsthaft aus Bakterien hervorgegangen sein oder aus einem frühzeitlichen Wurstfisch? Die Sache hat nur einen Haken: Wenn die Evolution fließend geschah, also keine Kapitelüberschriften kennt, gibt es auch zwischen Mensch und Tier nicht so signifikante Unterschiede, wie wir es gerne hätten. Menschen wären demzufolge kein Endprodukt der Schöpfung, sondern allenfalls ein Zwischenstadium, eine von zig Varianten im Katalog des Lebens. Ausgestattet zwar mit stupenden kognitiven Fähigkeiten, genetisch jedoch nur vorläufiges Ende einer Kette, die vier Milliarden Jahre in die Vergangenheit reicht und sich in eine ungewisse Zukunft windet.

Vorausgesetzt, die Theorie von Gottes Software stimmt, müssen wir uns fragen, ob Leben gleich Seele ist, und ob auch Tiere eine Seele haben. Denn das wäre die Konsequenz: Leben wird toter Materie in Form der Seele sozusagen beigefügt, damit sie nicht als nutzloser Klumpen im Weg rumliegt. Weil auch der Affe im Dschungel lebt, atmet und sich kratzt, muss er ebenfalls von Gott beseelt sein. Vertreter vieler Glaubensrichtungen merken an, dass zu einer richtigen Seele ein Gewissen gehört, ethisches und moralisches Empfinden und Differenzierungsfähigkeit zwischen Gut und Böse, dass die Seele des Affen der menschlichen also keineswegs vergleichbar ist. Andererseits lassen sie keinen Zweifel daran, dass erst der Odem Gottes den Affen leben lässt, auch wenn das Tier die Gabe nicht zu würdigen weiß, sondern lieber Bananen frisst, als danke schön zu sagen. Die Meinung aller Theologen jedenfalls, mit denen ich gesprochen habe, war einhellig: Affen haben eine Seele, nur eben keine unsterbliche. Ähnliches gilt für Pudel, Goldhamster, Heringe, Fadenwürmer und alles, was da kreucht und fleucht und nicht der Spezies Homo angehört. In einem Punkt können wir also beruhigt sein: Stechmücken, Zecken und Skorpione werden uns im Himmel nicht so schnell begegnen.

Zwei Nüsse gibt es allerdings zu knacken. Erstens stellen wir beim Blick auf die Menschwerdung fest, dass unsere Ahnen, je weiter wir in die Vergangenheit reisen, immer äffischer werden. Es gibt offenbar keinen Punkt, an dem der Mensch eindeutig Mensch wurde. Jahrzehntelang haben Anthropologen nach dem berühmten missing link gesucht, dem definitiven gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffe und Mensch. Heute gilt der Schimpanse als unser nächster Verwandter, weshalb wir ihm gerne Hosen anziehen und alberne Hüte aufsetzen. Genetisch sind Mensch und Schimpanse zu 98,7 Prozent identisch. Man fand es nur logisch, dass in grauer Vorzeit ein gemeinsamer Urahn durch die Wälder geschlurft sein musste. Nach Berechnungen von Molekularbiologen lebte dieser Ahn vor etwa sechs Millionen Jahren. Kurz darauf, so glaubte man, erfolgte die Aufspaltung in Schimpansen und so genannte Hominide, also Menschenartige, sprich Träger unsterblicher Seelen. Im Grunde ging man von einer linearen Entwicklungslinie aus, vergleichbar mit den Baureihen von Autos.

Doch der Mensch ist keine S-Klasse. Überreste eines gemeinsamen Prototyps wollten sich partout nicht finden lassen. 1994 stieß man in Äthiopien auf 4,4 Millionen Jahre alte Fossilien eines Vormenschen, den man »Ardipithecus ramidus« taufte und euphorisch als missing link präsentierte. Er war es jedoch ebenso wenig wie »Ardipithecus ramidus kadabba«, dessen Zähne und Knochen vier Jahre später ausgegraben wurden und sich als mindestens 800.000 Jahre älter erwiesen. Auch »Orrorin tugenensis«, 2000 in Kenia entdeckt, konnte die alleinige Verantwortung für spätere Schimpansen- und Menschengeschlechter nicht für sich beanspruchen. Er wurde ausgestochen vom derzeit gesichtsältesten Knochenlieferanten »Sahelanthropus tchadensis« aus dem zentralafrikanischen Tschad. Der, so heißt es, habe schon vor 6,5 Millionen Jahren den aufrechten Gang geprobt. Ob all diese Herrschaften nun näher am Affen oder am Menschen gewesen sind, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Fest steht, dass ein einziger gemeinsamer Vorfahre nicht existiert. Die Entwicklung der Hominiden, der Übergang von den Affenartigen zu den Menschenartigen, vollzog sich fließend, zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Plätzen. Afrika ist die Geburtsstätte der Menschheit, ohne Zweifel, aber es gab weit mehr als eine Wiege.

Die Hominiden brachten ihrerseits Spezies hervor wie den Australopithecus und den Paranthropus. Irgendwann zwischendurch erhob die Gattung Homo ihren wulstigen Schädel und trollte sich als Homo rudolfensis, Homo habilis, Homo erectus und Homo sapiens neanderthalensis durch die Weltgeschichte. Auch ein gewisser Homo sapiens sapiens war darunter, der es mehr durch Zufall schaffte, bis heute durchzuhalten, und nachweislich der einzige Hominide ist, der seine Vorfahren zu Erkenntniszwecken aus der Erde buddelt. Weder lässt sich also eine erkennbare Zäsur zwischen Affe und Mensch nachweisen noch eine lineare Entwicklungslinie. Der Frankfurter Forscher Friedemann Schrenk sagt dazu:

»In den vielen hundert Millionen Jahren der biologischen Evolution gab es nie nur eine einzige Wurzel für eine neue Entwicklungslinie, sondern stets mehrere geographische Varianten. Warum hätte das bei der Evolution des Menschen anders sein sollen?«

Derzeit stellt es sich folgendermaßen dar: Vor sechs bis acht Millionen Jahren kippte in Afrika das Klima, was zu einem Niedergang der tropischen Regenwälder führte. Große Ebenen versteppten. Bis dahin waren die Affen hangelnd von Baum zu Baum gelangt. Manche hatten bereits die Fähigkeit entwickelt, aufrecht Äste entlangzulaufen, die waren nun fein raus. Als das Hangeln mangels Vegetation ein Ende hatte, half ihnen ihr spezielles Talent zu überleben: Am Boden erkennt man herannahende Raubtiere umso früher, je weiter man blicken kann. Also ging man fortan auf den Hinterbeinen und hatte beide Hände frei für andere Tätigkeiten, zum Beispiel für den Gebrauch von Werkzeugen.

Ist hier der Mensch zum Mensch geworden? Gab Gott uns den Faustkeil? Sorry, auch Schimpansen bohren mit Stöckchen nach leckeren Würmern. Der Gebrauch von Hilfsmitteln kam nicht über Nacht, sondern entwickelte sich sukzessive und regte die Hirntätigkeit an. Die aufrecht gehenden Affen wurden zwangsläufig klüger. Im Verlauf der nächsten Jahrmillionen liefen immer neue Varianten von Vormenschen durch Afrika, schlugen einander den Schädel ein oder paarten sich und entwickelten so etwas wie Kultur. Diverse Arten reichten ihren Abschied ein, andere passten sich den wechselnden Umweltbedingungen an, gewannen an Kreativität und Menschenähnlichkeit. Verschiedentlich wurde der aufrechte Gang neu erfunden, der Faustkeil, das Rad. Die moderne Anthropologie sieht sich ungeahnter Vielfalt gegenüber, nur vom Bild des klassischen Stammbaums hat sie sich verabschieden müssen. Allenfalls lässt sich von einem wirr verzweigten Busch sprechen, in dem die Grenzen zwischen Tier und Mensch endgültig verwischen.

Und wer kriegt nun die unsterbliche Seele?

Ebenso unmöglich wie zwischen Tier und Mensch lässt sich die Grenze zwischen belebt und unbelebt ziehen. Hat auch die Zelle eine Seele? Warum nicht, so eine kleine einzellige Seele müsste sich in Gottes Plan doch finden lassen. Aber auch die Zelle ist nicht vom Himmel gefallen, sie blickt vielmehr auf einen langen, abenteuerlichen Werdegang zurück, in dessen Verlauf sie diverse Stadien durchlief. Wollte man konsequent an der Seele als astrale Zutat festhalten, müsste auch jedes einzelne Molekül eine Seele besitzen und bei anständigem Betragen in den Teilchenhimmel kommen, und spätestens hier spielen die meisten Religionen nicht mehr mit.

Was also ist Leben überhaupt? Nicht nur Evolutionsbiologen würden die Korken knallen lassen, fänden sie darauf eine verlässliche Antwort. Ich schätze, es gibt kaum eine spannendere Frage. Sie stellt uns vor ähnliche Probleme wie die Phänomene der Unendlichkeit, des Kleinsten und des Größten, Anfang und Ende. Lässt man die Skalen beiseite, mit deren Hilfe wir gewohnt sind, Raum und Zeit zu unterteilen, offenbart sich uns ein Universum, in dem es keine abrupten Zustandswechsel gibt, das keine Kausalitätsketten erkennen lässt, sondern nur einen schier unentwirrbaren Kausalitätenfilz – ein Kosmos, in dem alles fließt. Für die Bewertung dessen, was lebt und lebenswert ist, hat diese Erkenntnis essenzielle Bedeutung, weil sie geeignet ist, die Cartesianer endgültig auf die Plätze zu verweisen – jene Anhänger des großen Rationalisten René Descartes, in deren Augen Tiere lediglich Automaten sind. Descartes hatte eine klare Grenze zwischen Mensch und Tier gezogen, indem er nichtmenschlichen Kreaturen jegliches Denken und Fühlen absprach. Ein Ansatz, der von Philosophen wie G.W.F. Hegel allzu bereitwillig aufgegriffen wurde – Hegel zufolge ist das Tier gemeinhin ein Verwertungsartikel. Über die Jahre pervertierte der cartesianische Ansatz zu blankem anthropozentrischem Zynismus. Was der Franzose aus innerer Überzeugung geäußert hatte, diente seinen Epigonen als Argument, bei Tierversuchen und Massenhaltung jede moralische Position ins Abseits zu stellen. Was zeigt, dass uns der rein naturwissenschaftliche Ansatz bei der Herausbildung ethischer Modelle nur bedingt weiterhilft. Weder Wissenschaftler noch Theologen finden darin eine Gebrauchsanweisung für ethisches Handeln. Zumal sich das, was wir als moralisch vertretbar empfinden, auch nur einer Skala verdankt, nämlich der Ethik-Skala, die dummerweise jeder anders anlegt.

Immerhin können wir sagen, seit wann das Leben auf der Erde nachzuweisen ist. Fossilien erster lebender Strukturen datieren aus der Zeit vor dreieinhalb bis vier Milliarden Jahren. Das wissen wir aus Funden von Einzellern, den frühesten Lebewesen, die sich als Abdruck im Gestein erhalten haben. Allerdings erlauben diese Funde keinerlei Aussage darüber, wann genau die eigentliche Entwicklung des Lebens begonnen hat. Ein solcher Beginn ist nur mittels einer Skala zu ersehen, die nachträglich Zäsuren einfügt, wo es in Wahrheit keine gab. Außerdem dürfte sich das frühe Leben mehrfach unabhängig voneinander entwickelt haben, möglicherweise viele Millionen Male. Prozesse vor der Erfindung des Zellmantels sind praktisch nicht zu dokumentieren. Wir tappen also im Dunkeln, und da sind wir richtig, denn die Tiefsee ist schwarz. Dort, wo die Umstände den Zusammenschluss komplexer Moleküle relativ früh zuließen, vollzieht sich eines der wahrscheinlichsten Szenarien, wie belebte Materie in die Welt gelangte.

Leben ist das Resultat von Allianzen. Chemische Verbindungen kommen aber nicht zustande, wenn die zarten molekularen Strukturen immer wieder auseinandergerissen werden. Und vor vier Milliarden Jahren war die Erde kein Platz, um es sich gemütlich zu machen. Hatten sich im weltumspannenden, durchschnittlich zehn Kilometer tiefen Ozean zwei Elemente, sagen wir Kohlenstoff und Wasserstoff, ineinander verguckt, donnerte der nächste Asteroid heran und machte dem jungen Glück ein jähes Ende. Romeo und Julia wurden davongewirbelt, jeder in eine andere Richtung. Der ganze Planet war ein Kochtopf, in den ständig Neues geworfen wurde, Ströme von Lava brachten das Wasser zum Brodeln, gewaltige Blitze zerrissen die Atmosphäre, Liebesgeschichten hatten keine Konjunktur.

Ganz tief unten war es auch nicht gerade komfortabel, wo sich die ozeanischen Platten unter dem Druck aufquellender Lava auseinanderschoben. Wenn diese zu porösen, kissenförmigen Strukturen abkühlte, sickerte Wasser ins Erdinnere, traf auf glühendes Magma, kochte auf, schoss wieder empor und trat als brodelnder, bis zu 400 Grad heißer Geysir aus dem frisch gebildeten Meeresboden. Jede Menge Gase und Mineralien brachte es aus dem Glutkeller mit, Wasserstoff, Schwefelwasserstoff, Ammoniak und anderes. Im freien Wasser reagierten diese Stoffe mit gelösten Metallen wie Eisen, Kupfer, Zink und Nickel und bildeten Schwefel-Metall-Ketten. Dadurch geschah zweierlei: Zum einen färbte sich das herausschießende Wasser schwarz. Meeresgeologen haben solche Quellen mehrfach besucht und unter Zuhilfenahme starker Scheinwerfer gefilmt, und tatsächlich sieht man eine turbulente, rußigschwarze Brühe emporsprudeln. Zum anderen sanken die schweren Verbindungen nach einem kurzen Höhenflug wieder zu Boden, lagerten sich ab und bildeten rund um die Austrittsstelle Kamine, die mit der Zeit mehr als 50 Meter hoch wurden. Man kennt solche Quellen als hydrothermale Schlote oder Schwarze Raucher.

Auch künftig wird ein komplettes Rauchverbot in der Tiefsee nicht durchzusetzen sein. Immer aufs Neue vollzieht sich der Kreislauf des absinkenden und aufsteigenden Wassers. Heute tummeln sich komplexe Biotope an den Kaminen, aber im Hadaikum gab es dort nichts, was krabbelte, wabbelte oder schwamm.

Noch nicht. Denn am äußeren Rand der Schlote lagerte sich Eisensulfid in mikroskopisch kleinen Bläschen ab.

Und die hatten es in sich!