Nacht und Tag - Virginia Woolf - E-Book

Nacht und Tag E-Book

Virginia Woolf

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Beschreibung

Virginia Woolfs subtile Gesellschaftskomödie aus viktorianischer Zeit Katharine Hilbery, wohlerzogene Tochter aus der Londoner Oberschicht, ist standesgemäß und langweilig verlobt. Doch sie erliegt der Faszination des jungen Rechtsanwalts und sozialen Aufsteigers Ralph, der sie liebt, aber seinerseits von der Frauenrechtlerin Mary verehrt wird. Katharine entscheidet sich gegen die Konventionen ihrer Herkunft und für ihre Liebe zu Ralph. Ihre Cousine Cassandra schwärmt hingegen für Katharines Verlobten und verzehrt sich deshalb in Gewissensnöten. Spionierende Tanten, verpasste Rendezvous, Eifersucht und gekränkte Eitelkeiten können nicht verhindern, dass die Verliebten zueinander finden.

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Virginia Woolf

Nacht und Tag

Roman

Herausgegeben von Klaus Reichert

Aus dem Englischen von Michael Walter

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungKapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IVKapitel VKapitel VIKapitel VIIKapitel VIIIKapitel IXKapitel XKapitel XIKapitel XIIKapitel XIIIKapitel XIVKapitel XVKapitel XVIKapitel XVIIKapitel XVIIIKapitel XIXKapitel XXKapitel XXIKapitel XXIIKapitel XXIIIKapitel XXIVKapitel XXVKapitel XXVIKapitel XXVIIKapitel XXVIIIKapitel XXIXKapitel XXXKapitel XXXIKapitel XXXIIKapitel XXXIIIKapitel XXXIVNachbemerkung

Für

VANESSA BELL

Doch als ich nach Worten suchte,

die neben Deinem Namen

stehen könnten,

fand ich keine.

Kapitel I

Es war ein Sonntagabend im Oktober, und gleich vielen anderen jungen Damen ihres Standes schenkte Katharine Hilbery Tee ein. Vielleicht ein Fünftel ihrer Gedanken war damit beschäftigt, der Rest nahm die kleine Hürde zwischen Montagmorgen und diesem eher gebändigten Moment und spielte mit den Dingen, die man freiwillig und normalerweise bei Tage tut. Doch obwohl sie schwieg, war sie offenkundig Herrin einer ihr hinlänglich vertrauten Situation und geneigt, sie ihren Gang gehen zu lassen, zum sechshundertsten Mal vielleicht, ohne eines ihrer ungenutzten Talente einzusetzen. Ein einziger Blick zeigte, daß Mrs Hilbery mit jenen Gaben, die Teegesellschaften älterer, distinguierter Herrschaften gelingen lassen, so reich gesegnet war, daß sie kaum der Hilfe ihrer Tochter bedurfte, vorausgesetzt, man befreite sie vom lästigen Umgang mit Teetassen, Brot und Butter.

In Anbetracht dessen, daß die kleine Gesellschaft noch keine zwanzig Minuten am Teetisch zusammengesessen hatte, machten die lebhaften Mienen und der gemeinsam erzeugte Geräuschpegel der Gastgeberin alle Ehre. Jemand, der in diesem Augenblick die Tür öffnete, schoß es Katharine plötzlich in den Sinn, würde denken, sie amüsierten sich; er würde denken: ›Da komme ich aber in ein ganz besonders nettes Haus!‹ und instinktiv lachte sie und sagte etwas, um den Lärm zu vermehren, zum Ansehen des Hauses vermutlich, denn sie selbst hatte sich nicht in Hochstimmung gefühlt. In ebendiesem Moment wurde, zu ihrem beträchtlichen Vergnügen, die Tür aufgerissen, und ein junger Mann trat ins Zimmer. Als Katharine ihm die Hand schüttelte, fragte sie ihn im stillen: »Nun, denken Sie, daß wir uns köstlich amüsieren?« … »Mr Denham, Mutter«, sagte sie laut, denn sie sah, daß ihre Mutter seinen Namen vergessen hatte.

Dieser Umstand war für Mr Denham ebenfalls merklich und steigerte noch die Verlegenheit, welche den Eintritt eines Fremden in ein Zimmer voll ungezwungener und sich in Wortschwällen ergehender Menschen unweigerlich begleitet. Zugleich schien es Mr Denham, als hätten sich zwischen ihm und der Straße draußen tausend weichgepolsterte Türen geschlossen. Ein feiner Dunst, die vergeistigte Essenz des Nebels draußen, schwebte deutlich sichtbar in dem weiten und ziemlich leeren Raum des Salons, ganz silbrig dort, wo sich die Kerzen auf dem Teetisch gruppierten, und dann wieder rötlich im Feuerschein. Noch ratterten in seinem Kopf die Omnibusse und Droschken, noch kribbelte sein Körper vom schnellen Gang durch die Straßen und dem Hin und Her zwischen Verkehr und Fußgängern, und so wirkte dieser Salon sehr abgeschieden und still, und die Gesichter der älteren Herrschaften wirkten abgeklärt und ein wenig distanziert voneinander und trugen einen sanften Schimmer, denn blaue Dunstfäden verschleierten die Luft. Mr Denham war eingetreten, als Mr Fortescue, der bedeutende Romancier,[1] eben in der Mitte eines sehr langen Satzes angelangt war. Er beließ diesen in der Schwebe, während der Neuankömmling Platz nahm, und Mrs Hilbery verband flink die zertrennten Teile, indem sie sich zu ihm beugte und bemerkte:

»Also, was würden Sie tun, wenn Sie mit einem Ingenieur verheiratet wären und in Manchester leben müßten, Mr Denham?«

»Sie könnte doch gewiß Persisch lernen«, unterbrach ein dünner, älterer Herr. »Gibt es denn in Manchester keinen pensionierten Schulmeister oder Gelehrten, bei dem sie Persisch studieren könnte?«

»Eine Cousine von uns hat nämlich geheiratet und ist nach Manchester gezogen«, erklärte Katharine. Mr Denham murmelte etwas, mehr wurde von ihm in der Tat auch nicht verlangt, und der Romancier fuhr da fort, wo er aufgehört hatte. Insgeheim verwünschte sich Mr Denham heftig dafür, die Freiheit der Straße mit diesem kultivierten Salon vertauscht zu haben, wo er, von anderen Unannehmlichkeiten ganz abgesehen, bestimmt nicht den vorteilhaftesten Eindruck erwecken würde. Er blickte in die Runde und sah, daß bis auf Katharine alle über Vierzig waren, und der einzige Trost bestand darin, daß Mr Fortescue so berühmt war, daß man sich morgen freuen mochte, ihm begegnet zu sein.

»Waren Sie schon einmal in Manchester?« fragte er Katharine.

»Noch nie«, erwiderte sie.

»Warum haben Sie dann etwas daran auszusetzen?«

Katharine rührte in ihrer Tasse und schien, so dachte Denham, Betrachtungen anzustellen über die Pflicht, jemand anderem Tee nachzuschenken, doch in Wahrheit fragte sie sich, wie sie diesen sonderbaren jungen Mann mit den übrigen Gästen in Gleichklang bringen sollte. Sie bemerkte, wie er seine Teetasse so fest zusammenpreßte, daß das dünne Porzellan eingedrückt zu werden drohte. Sie sah ihm seine Nervosität an; es stand ja zu erwarten, daß ein knochendürrer junger Mann mit vom Wind leicht gerötetem Gesicht und zerzaustem Haar in einer solchen Gesellschaft nervös wurde. Überdies mochte er diese Art Veranstaltung wahrscheinlich gar nicht und war nur aus Neugier gekommen, oder weil ihr Vater ihn eingeladen hatte – gleichviel, er würde nicht leicht mit den übrigen zu verbinden sein.

»Ich könnte mir vorstellen, daß man in Manchester einfach keinen Gesprächspartner findet«, erwiderte sie aufs Geratewohl. Mr Fortescue hatte sie einen oder zwei Augenblicke lang beobachtet, wie Romanciers zu beobachten pflegen, und bei dieser Bemerkung lächelte er und machte sie zum Thema einer weiteren kleinen Spekulation.

»Trotz eines geringfügigen Hangs zur Übertreibung trifft Katharine zweifellos den Nagel auf den Kopf«, sagte er und schilderte, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte, den undurchdringlichen, nachdenklichen Blick an die Decke geheftet und die Fingerspitzen aneinandergepreßt, zunächst die Schrecken von Manchesters Straßen, dann die kahlen, endlosen Moore in der Umgebung der Stadt, und dann das schäbige kleine Haus, in dem das Mädchen wohnen würde, und schließlich die Professoren und die armseligen, sich den anstrengenden Werken unserer jüngeren Dramatiker widmenden Studenten, die sie besuchen würden, und wie sich ihr Äußeres allmählich verändern und sie nach London fliehen würde, und wie Katharine sie würde herumführen müssen, so wie man einen gierigen Hund an der Kette an Reihen lärmerfüllter Metzgereien vorbeiführt – das arme Ding.

»Oh, Mr Fortescue«, rief Mrs Hilbery aus, als er geendet hatte, »ich habe ihr gerade geschrieben, wie sehr ich sie beneide! Ich dachte an die großen Parks und die netten alten Damen mit Fäustlingen, die nichts als den Spectator lesen und die Kerzen putzen. Sind sie denn alle verschwunden? Ich habe ihr erzählt, sie würde alle Annehmlichkeiten Londons vorfinden, ohne diese gräßlichen Straßen, die einen hier so deprimieren.«

»Es gibt die Universität«, sagte der dünne Herr, der zuvor die Existenz des Persischen kundiger Leute behauptet hatte.

»Ich weiß, daß es dort Moore gibt, weil ich neulich in einem Buch davon gelesen habe«, sagte Katharine.

»Ich bin betrübt und erstaunt über die Ignoranz meiner Familie«, bemerkte Mr Hilbery. Er war ein älterer Mann mit einem Paar ovaler, nußbrauner Augen, die recht leuchtend waren für sein Alter und sein massiges Gesicht milderten. Er spielte unablässig mit einem kleinen grünen Stein, der an seiner Uhrkette baumelte, wobei er lange und sehr sensible Finger sehen ließ, und er besaß die Angewohnheit, den Kopf sehr schnell hierhin und dorthin zu wenden, ohne die Position seines großen und ziemlich ausladenden Körpers zu verändern, so daß er sich bei geringstem Energieaufwand unablässig mit Stoff zur Unterhaltung und zum Nachdenken zu versorgen schien. Man durfte annehmen, daß die Jahre seiner persönlichen Ambitionen hinter ihm lagen oder daß er sie so weit wie möglich befriedigt hatte und seinen beträchtlichen Scharfsinn jetzt eher aufs Beobachten und Nachdenken verwandte, als darauf, irgendein Resultat zu erzielen.[2]Und während Mr Fortescue ein weiteres, abgerundetes Wortgebäude zusammenfügte, entschied Denham, daß Katharine sowohl Ähnlichkeit mit ihrer Mutter als auch mit ihrem Vater besaß, aber diese Elemente waren auf eigenartige Weise vermischt. Sie hatte die schnellen, impulsiven Bewegungen ihrer Mutter, die gleichen Lippen, die sich oft teilten, wie um etwas zu sagen, und sich dann wieder schlossen, und die dunklen, ovalen Augen ihres Vaters, hinter deren Glanz sich eine tiefe Traurigkeit verbarg; weil sie zu jung war, um sich bereits eine sorgenvolle Lebensanschauung erworben zu haben, könnte man sagen, daß weniger Traurigkeit dahintersteckte als vielmehr ein der Kontemplation und Selbstbeherrschung zugetanes Temperament. Ihr Haar, ihr Teint und ihre Züge machten sie bemerkenswert, wenn nicht sogar schön. Entschlußkraft und Gelassenheit prägten sie, eine Kombination von Eigenschaften, die einen sehr markanten Charakter formte, und einen, der nicht sonderlich geeignet schien, einem jungen Mann, der sie kaum kannte, die Befangenheit zu nehmen. Im übrigen war sie groß gewachsen und trug ein Kleid von unauffälliger Farbe mit alten, gelbgetönten Spitzen als Verzierung, dem das Funkeln eines altmodischen Juwels den einzigen roten Schimmer verlieh. Denham fiel auf, daß sie, obwohl sie schwieg, die Situation ausreichend beherrschte, um sofort zu reagieren, wenn ihre Mutter sie um Hilfe bat, und trotzdem merkte er, daß sie nur oberflächlich bei der Sache war. Er sah plötzlich, daß sie es hier am Teetisch, zwischen all diesen älteren Leuten, nicht leicht hatte, und er zügelte seinen Drang, sie oder ihr Verhalten als ablehnend zu empfinden. Das Gespräch hatte Manchester verlassen, nachdem man sich sehr eingehend damit befaßt hatte.

»Was war es doch gleich, die Schlacht bei Trafalgar oder die spanische Armada, Katharine?« wollte ihre Mutter wissen.[3]

»Trafalgar, Mutter.«

»Trafalgar, natürlich! Wie dumm von mir! Noch eine Tasse Tee mit einem Scheibchen Zitrone, und dann, lieber Mr Fortescue, erklären Sie mir bitte mein absurdes kleines Problem. Herren mit römischen Nasen muß man einfach glauben, selbst wenn man sie in Omnibussen trifft.«

Hier ergriff nun Mr Hilbery das Wort und erzählte, an Denham gewandt, allerhand Vernünftiges über den Anwaltsberuf und die Veränderungen, die er in seinem Leben gesehen hatte. Und Denham schickte sich brav in sein Los, eingedenk der Tatsache, daß sie ihre Bekanntschaft einem Artikel über irgendeine Rechtsangelegenheit verdankten, den er geschrieben und den Mr Hilbery in seiner Zeitschrift veröffentlicht hatte. Doch als einen Moment später Mrs Sutton Bailey angekündigt wurde, wandte er sich ihr zu, und Mr Denham saß schweigend und ein Gesprächsthema nach dem andern verwerfend neben Katharine, die ebenfalls schwieg. Da sie beinahe im selben Alter und beide unter dreißig waren, verbot sich ihnen der Gebrauch vieler dienlicher Phrasen, welche die Konversation in glattes Fahrwasser steuern. Das Zustandekommen eines Gesprächs wurde zudem verhindert durch Katharines maliziösen Entschluß, diesem jungen Mann, aus dessen aufrechtem und resolutem Betragen sie irgend etwas herauslas, das ihrer Umgebung feindlich gesinnt war, durch keine der üblichen weiblichen Artigkeiten behilflich zu sein. Und so saßen sie schweigend da, und Denham beherrschte sein Verlangen, etwas Schroffes und Aufbrausendes zu sagen, um sie hochzuschrecken. Doch Mrs Hilbery spürte sofort jedes Schweigen im Salon wie eine stumme Note in einer klingenden Tonleiter, beugte sich über den Tisch und äußerte in der eigentümlich zaghaft-freischwebenden Art, die ihre Sätze immer Schmetterlingen gleichen ließ, die von einem Sonnenfleckchen zum nächsten flattern: »Wissen Sie, Mr Denham, Sie erinnern mich so sehr an den guten Mr Ruskin[4] … Liegt das an seiner Krawatte, Katharine, oder an seinem Haar, oder an der Art, wie er im Sessel sitzt? Sagen Sie mir, Mr Denham, sind Sie ein Bewunderer von Ruskin? Irgend jemand sagte kürzlich zu mir: ›Oh nein, Ruskin lesen wir nicht, Mrs Hilbery.‹ Was lesen denn Sie? – Sie können doch nicht Ihre ganze Zeit damit zubringen, in Aeroplanen aufzusteigen und sich ins Erdinnere zu graben.«

Sie schaute Denham wohlwollend an, der nichts Vernehmliches sagte, und dann Katharine, die lächelte, aber auch nichts sagte, worauf Mrs Hilbery, offenbar von einer brillanten Idee ergriffen, ausrief:

»Ich bin sicher, Mr Denham würde gern unsere Sachen sehen, Katharine. Er ist bestimmt nicht so wie dieser schreckliche junge Mann, Mr Ponting, der mir erklärte, er betrachte es als unser aller Pflicht, ausschließlich in der Gegenwart zu leben. Aber was ist denn die Gegenwart? Zur Hälfte Vergangenheit, und meiner Meinung nach auch zur besseren«, ergänzte sie, wobei sie sich Mr Fortescue zuwandte.

Denham erhob sich, halb in der Absicht, zu gehen, wie auch in der Überzeugung, alles Sehenswerte gesehen zu haben, doch im gleichen Augenblick erhob sich Katharine, und mit den Worten: »Vielleicht möchten Sie die Bilder sehen«, ging sie durch den Salon voran zu einem kleineren Raum, der sich daran anschloß.

Dieser kleinere Raum glich der Kapelle einer Kathedrale oder der Grotte in einer Höhle, denn der in der Ferne brausende Verkehrslärm erinnerte an eine sanft wogende Brandung, und die ovalen Spiegel mit ihrer silbernen Oberfläche wirkten wie tiefe Teiche, die unter dem Licht der Sterne zittern. Aber der Vergleich mit einem Ort religiöser Verehrung war der treffendere von beiden, denn der kleine Raum barg zahllose Reliquien.

Als Katharine ein paar Schalter betätigte, flammten diverse Lampen auf und enthüllten erst eine quadratische Fläche rotgoldener Bücher, dann einen langen Rock, der in Blau und Weiß hinter Glas leuchtete, und dann einen Mahagonischreibtisch mit seinem ordentlichen Zubehör, und schließlich ein Bild über dem Tisch, dem eine eigene Beleuchtung gewährt wurde. Als Katharine diese letzten Lampen eingeschaltet hatte, trat sie zurück, wie um zu sagen: »Da!« Denham gewahrte, daß die Augen des großen Dichters Richard Alardyce[5] auf ihn herabblickten, und bekam einen kleinen Schreck, der ihn, hätte er einen Hut getragen, veranlaßt hätte, diesen abzunehmen. Die Augen blickten ihn aus den milden rosa und gelben Farbtönen mit göttlichem Wohlwollen an, das ihn umgab, und schweiften weiter, um die ganze Welt in ihre Betrachtung einzuschließen. Die Farbe war so verblaßt, daß wenig mehr erhalten war außer den schönen, großen Augen, die dunkel hervortraten in der Verschwommenheit des Bildes.

Katharine wartete, damit der Eindruck seine volle Wirkung auf ihn entfalten konnte, und sagte dann:

»Dies ist sein Schreibtisch. Er benutzte diese Feder«, und sie hob einen Federkiel hoch und legte ihn wieder zurück. Auf dem Schreibtisch sah man noch die alten Tintenspritzer, und die Feder war vom Gebrauch zerzaust. Dort lag die riesige Goldrandbrille griffbereit, und unter dem Tisch standen ein Paar abgetragene Pantoffeln, von denen Katharine einen mit der Bemerkung aufhob:

»Ich glaube, mein Großvater muß mindestens doppelt so groß gewesen sein wie irgend jemand heutzutage. Dies«, fuhr sie fort, als wisse sie auswendig, was sie zu sagen hatte, »ist das Originalmanuskript der ›Ode an den Winter‹. Die frühen Gedichte zeigen weitaus weniger Verbesserungen als die späteren. Möchten Sie es sich einmal anschauen?«

Während Mr Denham das Manuskript in Augenschein nahm, blickte sie zu ihrem Großvater auf und versank zum tausendstenmal in einen angenehmen, träumerischen Zustand, in dem sie die Gefährtin jener großen Männer zu sein schien, zumindest aber teilte sie deren Abstammung, und der unbedeutende gegenwärtige Augenblick bekam etwas Beschämendes. Dieses grandiose, geisterhafte Haupt auf der Leinwand hatte gewiß nie all die Trivialitäten eines Sonntagnachmittags gesehen, und es schien belanglos, was sie und dieser junge Mann miteinander sprachen, denn sie waren bloß kleine Leute.

»Dies ist ein Exemplar der Erstausgabe der Gedichte«, fuhr sie fort, ohne der Tatsache Beachtung zu schenken, daß Mr Denham noch mit dem Manuskript beschäftigt war, »das mehrere Gedichte enthält, die nicht nachgedruckt wurden, sowie Korrekturen.« Sie hielt für eine Minute inne, und fuhr dann fort, als seien alle diese Pausen kalkuliert.

»Diese Dame in Blau ist meine Urgroßmutter, gemalt von Millington. Hier ist der Spazierstock meines Onkels – er war Sir Richard Warburton, müssen Sie wissen, und er ritt mit Havelock zum Entsatz von Lucknow.[6] Und dann, warten Sie mal – oh, das ist der erste Alardyce, 1697, der Begründer des Familienvermögens, mit seiner Frau. Irgend jemand hat uns neulich diese Schale geschenkt, weil sie ihr Wappen und ihre Initialen trägt. Wir nehmen an, sie wurde ihnen anläßlich ihrer Silberhochzeit überreicht.«

Hier hielt sie einen Augenblick inne und fragte sich, warum Mr Denham keinen Ton sagte. Ihr Gefühl, er habe etwas gegen sie, das verflogen war, während sie an ihre Familienstücke dachte, kehrte so schneidend zurück, daß sie ihre Aufzählung abrupt unterbrach und ihn anblickte. Ihre Mutter, die ihn auf ehrenvolle Weise mit den großen Toten in Verbindung zu bringen suchte, hatte ihn mit Ruskin verglichen; und dieser Vergleich kam Katharine in den Sinn und veranlaßte sie, den jungen Mann kritischer zu betrachten, als hier angemessen schien, denn ein junger Mann, der im Cut einen Besuch abstattet, ist in einem ganz anderen Element als ein auf dem Höhepunkt seiner Ausdruckskraft gebannter Kopf, der unverwandt hinter einer Glasscheibe hervorstarrt, was denn auch alles war, was ihr von Ruskin blieb. Er hatte ein ungewöhnliches Gesicht, ein Gesicht, das eher für Raschheit und Entschlossenheit als für gewichtige Betrachtungen gemacht schien; die Stirn breit, die Nase lang und imposant, der Mund glattrasiert und zugleich verkniffen und sensibel, die Wangen schmal, in deren Tiefen Fluten roten Blutes strömten. Seine Augen, die jetzt die übliche maskuline Unpersönlichkeit und Autorität ausdrückten, mochten unter günstigeren Umständen subtilere Gefühle offenbaren, denn sie waren groß und von klarer brauner Farbe – sie schienen unerwartet zu zögern und zu grübeln; aber Katharine musterte ihn nur mit der Überlegung, ob sein Gesicht dem Ideal ihrer toten Heroen nicht näher gekommen wäre, hätte ein Backenbart es geschmückt. In seiner mageren Statur und den dünnen, doch gesunden Wangen erkannte sie Anzeichen einer schroffen und ätzenden Seele. In seiner Stimme bemerkte sie ein leichtes Beben oder Knarren, als er das Manuskript hinlegte und sagte:

»Sie müssen sehr stolz sein auf Ihre Familie, Miss Hilbery.«

»Ja, das bin ich«, antwortete Katharine, und sie setzte hinzu: »Ist daran irgend etwas falsch?«

»Falsch? Was sollte denn falsch daran sein? Obwohl es sicher langweilig wird, allen Besuchern Ihre Sachen zu zeigen«, fügte er nachdenklich hinzu.

»Nicht, wenn sie den Besuchern gefallen.«

»Ist es für Sie nicht schwierig, sich Ihrer Vorfahren würdig zu erweisen?« fuhr er fort.

»Zumindest sollte ich nicht versuchen, Gedichte zu schreiben«, erwiderte Katharine.

»Nein. Und genau das wäre mir ein Graus. Ich fände es unerträglich, von meinem Großvater ausgestochen zu werden. Und übrigens«, fuhr Denham fort und blickte, wie Katharine fand, ironisch um sich, »ist es ja nicht nur Ihr Großvater. Ringsum sticht man Sie aus. Ich denke, Sie stammen aus einer der bedeutendsten Familien Englands. Da sind die Warburtons und die Mannings – und mit den Otways sind Sie doch auch verwandt? Ich habe das alles in einer Zeitschrift gelesen«, ergänzte er.

»Die Otways sind meine Cousins und Cousinen«, erwiderte Katharine.

»Also«, sagte Denham in abschließendem Tonfall, als sei seine Behauptung bewiesen.

»Also«, sagte Katharine, »für mich ist damit gar nichts bewiesen.«

Denham lächelte auf eine eigentümlich provozierende Art. Es amüsierte und befriedigte ihn, daß er seine selbstvergessene und hochnäsige Gastgeberin wenigstens zu ärgern vermochte, wenn er sie schon nicht beeindrucken konnte; obwohl er es vorgezogen hätte, sie zu beeindrucken.

Er saß schweigend da, den kostbaren kleinen Gedichtband ungeöffnet in den Händen, und Katharine betrachtete ihn; der melancholische oder nachdenkliche Ausdruck in ihrem Blick verstärkte sich in dem Maße, wie ihre Verärgerung wich. Vielerlei schien ihr durch den Kopf zu gehen. Sie hatte ihre Pflichten vergessen.

»Also«, sagte Denham wieder und öffnete plötzlich den kleinen Gedichtband, als hätte er alles gesagt, was er sagen wollte oder, mit Anstand, sagen konnte. Er blätterte die Seiten mit solcher Entschiedenheit um, als beurteile er das Buch in seiner Gesamtheit, Druck, Papier und Einband ebenso wie die Verse, und dann, nachdem er sich von seiner guten oder schlechten Qualität überzeugt hatte, legte er es auf den Schreibtisch zurück und inspizierte das Malakkarohr mit dem Goldknauf, das dem Soldaten gehört hatte.

»Sind Sie denn nicht stolz auf Ihre Familie?« wollte Katharine wissen.

»Nein«, sagte Denham. »Wir haben nie etwas getan, worauf man stolz sein könnte – es sei denn, man ist stolz auf die Tatsache, daß man stets alle seine Rechnungen bezahlt hat.«

»Das klingt ja recht öde«, bemerkte Katharine.

»Sie würden uns schrecklich öde finden«, stimmte Denham zu.

»Ja, ich würde Sie vielleicht öde finden, aber ich glaube nicht, daß ich Sie lächerlich finden würde«, fügte Katharine hinzu, als hätte Denham ihrer Familie tatsächlich diesen Vorwurf gemacht.

»Nein – weil wir nicht im geringsten lächerlich sind. Wir sind eine ehrbare Familie der Mittelschicht, die in Highgate[7] wohnt.«

»Wir wohnen zwar nicht in Highgate, aber wir gehören auch zur Mittelschicht, vermute ich.«

Denham lächelte bloß, und nachdem er das Malakkarohr wieder in den Ständer gestellt hatte, zog er ein Schwert aus seiner reich verzierten Scheide.

»Das gehörte Clive, so behaupten wir jedenfalls«, sagte Katharine und nahm ihre Pflichten als Gastgeberin automatisch wieder auf.

»Ist das etwa gelogen?« erkundigte sich Denham.

»Eine Familienüberlieferung. Soviel ich weiß, können wir es nicht beweisen.«

»Sehen Sie, in unserer Familie gibt es keine Überlieferungen«, sagte Denham.

»Das klingt sehr öde«, bemerkte Katharine zum zweiten Mal.

»Eben Mittelschicht«, erwiderte Denham.

»Sie bezahlen Ihre Rechnungen, und Sie sagen die Wahrheit. Ich sehe keinen Grund, warum Sie uns verachten sollten.«

Mr Denham steckte vorsichtig das Schwert in die Scheide, von dem die Hilberys behaupteten, es habe Clive gehört.

»Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen; mehr habe ich nicht gesagt«, erwiderte er, als versuche er, seine Gedanken möglichst präzise zu formulieren.

»Nein, aber man möchte nie jemand anderes sein.«

»Ich schon. Ich wäre gern eine Menge anderer Leute.«

»Und warum dann nicht wie wir?« fragte Katharine.

Denham blickte sie an, wie sie im Lehnstuhl ihres Großvaters saß und sich das Malakkarohr ihres Großonkels durch die Finger gleiten ließ, während ihr Hintergrund zu gleichen Teilen aus leuchtendem Blau und Weiß und karmesinroten Büchern mit Goldlinien bestand. Die Vitalität und Gelassenheit ihrer Haltung, wie die eines buntgefiederten Vogels, der zwischen zwei Flügen ganz entspannt dasitzt, trieb ihn dazu, ihr die Beschränkungen ihres Geschicks aufzuzeigen. So bald, so leicht würde er wieder vergessen sein.

»Sie werden niemals etwas aus erster Hand erfahren«, begann er fast wütend. »Das haben andere bereits für Sie erledigt. Sie werden nie das Vergnügen kennen, Dinge zu kaufen, für die man gespart hat, oder Bücher zum ersten Mal zu lesen, oder Entdeckungen zu machen.«

»Nur zu«, meinte Katharine, als er innehielt und ihm plötzlich Zweifel kamen, als er seine eigene Stimme diese Tatsachen verkünden hörte, ob daran überhaupt etwas Wahres war.

»Ich weiß natürlich nicht, wie Sie Ihre Zeit verbringen«, fuhr er ein wenig steif fort, »aber vermutlich müssen Sie immer die Leute herumführen. Sie schreiben eine Biographie Ihres Großvaters, nicht? Und derlei« – er nickte zu dem anderen Zimmer hin, aus dem sich kultiviertes Gelächter vernehmen ließ – »muß eine Menge Zeit verschlingen.«

Sie schaute ihn erwartungsvoll an, so als dekorierten sie gemeinsam ein Figürchen, das sie selbst darstellte, und als sähe sie ihn beim Anbringen einer Schleife oder Schärpe zögern.

»Sie haben es beinahe getroffen«, sagte sie, »aber ich helfe nur meiner Mutter. Ich schreibe nicht selbst.«

»Gibt es überhaupt irgend etwas, das Sie selbst tun?« wollte er wissen.

»Ich verlasse nicht um zehn das Haus und komme um sechs zurück. Wenn sie das meinen«

»Das meine ich nicht.«

Mr Denham hatte seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen; er sprach mit einer Ruhe, die Katharine gespannt auf seine Erklärung machte, doch zugleich wollte sie ihn ärgern, ihn auf einer leichten Strömung von Spott oder Satire von sich wegtreiben, so wie sie es mit diesen jungen Männern zu tun pflegte, die periodisch im Schlepptau ihres Vaters auftauchten.

»Heutzutage tut niemand mehr etwas, was es wert wäre«, bemerkte sie. »Sehen Sie« – sie pochte auf den Gedichtband ihres Großvaters –, »wir drucken nicht einmal so gut wie sie, und was Dichter oder Maler oder Romanciers angeht – es gibt keine; ich bin also zumindest kein Einzelfall.«

»Nein, wir besitzen keine großen Männer«, entgegnete Denham. »Und darüber bin ich mehr als froh. Ich verabscheue große Männer. Die Anbetung der Größe im neunzehnten Jahrhundert scheint mir den Unwert dieser Generation zu erklären.«

Katharine öffnete die Lippen und holte Luft, wie um mit gleicher Heftigkeit zu antworten, da lenkte das Schließen einer Tür im Nebenzimmer ihre Aufmerksamkeit ab, und sie wurden beide gewahr, daß die Stimmen, die, bald lauter und bald leiser, vom Teetisch zu hören gewesen waren, nun schwiegen; sogar das Licht schien gedämpft. Einen Augenblick später tauchte Mrs Hilbery in der Tür des Vorzimmers auf. Sie stand da und blickte sie mit einem erwartungsvollen Lächeln an, als würde ihr zuliebe eine Szene aus dem Theater der jüngeren Generation aufgeführt. Sie war eine bemerkenswerte Frau, hoch in den Sechzigern, doch aufgrund ihrer zierlichen Gestalt und ihrer leuchtenden Augen schien sie über die Jahre dahingeschwebt zu sein, ohne unterwegs sonderlich Schaden genommen zu haben. Ihr Gesicht war eingefallen und adlerartig, doch wurde jede Spur von Härte sofort vertrieben von diesen großen blauen Augen, die, scharfsichtig und unschuldig zugleich, die Welt mit dem enormen Wunsch zu betrachten schienen, sie möge sich edel verhalten, und mit der grenzenlosen Zuversicht, daß sie es könnte, würde sie sich nur die Mühe machen.

Gewisse Falten auf der breiten Stirn und um die Lippen mochten als Anzeichen gelten, daß sie im Laufe ihres Lebens auch schwierige und ratlose Augenblicke erlebt hatte, ihr Vertrauen hatte darunter jedoch nicht gelitten, und sie war eindeutig noch immer bereit, jedem immer wieder eine neue Chance zu geben und generell im Zweifelsfall zu jemandes Gunsten zu entscheiden. Sie besaß große Ähnlichkeit mit ihrem Vater und erinnerte wie er irgendwie an den frischen Wind und die offene Weite einer jüngeren Welt.

»Nun«, sagte sie, »wie gefallen Ihnen unsere Sachen, Mr Denham?«

Mr Denham erhob sich, legte sein Buch hin, öffnete den Mund, sagte aber nichts, wie Katharine mit einigem Vergnügen beobachtete.

Mrs Hilbery nahm das Buch auf, das er abgelegt hatte.

»Es gibt Bücher, die leben«, sinnierte sie. »Sie sind mit uns jung, und sie werden mit uns alt. Mögen Sie Gedichte, Mr Denham? Aber was für eine absurde Frage stelle ich da! Also, der gute Mr Fortescue hat mich doch ziemlich ermüdet. Er ist so beredt und so geistreich, so tiefschürfend und gründlich, daß ich nach etwa einer halben Stunde am liebsten alle Lampen löschen würde. Aber vielleicht wäre er im Dunkeln noch wundervoller. Was meinst du, Katharine? Sollen wir eine kleine Gesellschaft in absoluter Dunkelheit geben? Für die Langweiler müßte es dann helle Räume geben …«

Hier streckte Mr Denham seine Hand aus.

»Aber wir haben Ihnen noch so viel zu zeigen!« rief Mrs Hilbery und nahm keine Notiz davon. »Bücher, Bilder, Porzellan, Manuskripte, und den Sessel, in dem Mary Stuart saß, als sie von Darnleys Ermordung erfuhr. Ich muß mich jetzt ein wenig hinlegen, und Katharine muß ein anderes Kleid anziehen (obwohl sie ein sehr hübsches trägt), aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, allein gelassen zu werden, um acht gibt es Abendessen. Ich glaube fast, Sie werden in der Zwischenzeit selbst ein Gedicht schreiben. Ach, wie ich diesen Feuerschein liebe! Sieht unser Zimmer nicht bezaubernd aus?«

Sie trat beiseite und bat die beiden, den leeren Salon zu betrachten, mit seiner prächtigen, abwechslungsreichen Beleuchtung, als die Flammen im Kamin loderten und flackerten.

»Oh, ihr lieben Sachen!« rief sie. »Geliebte Sessel und Tische! Wie sehr sie alten Freunden gleichen – treuen, stillen Freunden. Dabei fällt mir ein, Katharine, der kleine Mr Anning kommt heute abend, und Tite Street, und Cadogan Square.[8] … Denk daran, diese Zeichnung deines Großonkels hinter Glas setzen zu lassen. Tante Millicent hat es bemerkt, als sie letztes Mal hier war, und ich weiß, wie sehr es mich schmerzen würde, meinen Vater in einem gesprungenen Glasrahmen zu sehen.«

Sich hier zu verabschieden und zu entkommen, war, als risse man sich aus einem Irrgarten diamantglitzernder Spinnweben, denn bei jeder Bewegung fiel Mrs Hilbery noch etwas ein, über die Schurkereien von Rahmenmachern oder die Wonnen der Poesie, und einmal glaubte der junge Mann, er werde hypnotisiert, damit er tat, was sie von ihm zu wünschen vorgab, denn er konnte sich nicht vorstellen, daß sie irgendeinen Wert auf seine Anwesenheit legte. Katharine jedoch verschaffte ihm eine Gelegenheit zu gehen, und dafür war er ihr dankbar, so wie ein junger Mensch für das Verständnis eines anderen dankbar ist.

Kapitel II

Der junge Mann schlug die Tür heftiger zu als jeder andere Gast an jenem Nachmittag, ging schnellen Schritts die Straße hinunter und durchschnitt die Luft mit seinem Spazierstock. Er war froh, diesem Salon entronnen zu sein, den rauhen Nebel zu atmen unter dem gemeinen Volk, das nichts weiter beanspruchte, als daß man ihm seinen Anteil am Trottoir zugestand. Er dachte, hier draußen hätte er Mr, Mrs oder Miss Hilbery auf die eine oder andere Weise seine Überlegenheit spüren lassen, denn ihn ärgerte die Erinnerung an seine stockenden, unbeholfenen Sätze, mit denen er nicht einmal der jungen Frau mit den traurigen, aber insgeheim ironischen Augen eine Andeutung seiner Stärke hatte vermitteln können. Er versuchte, sich an den genauen Wortlaut seines kleinen Ausbruchs zu erinnern, und ergänzte ihn unbewußt mit so vielen Wörtern von weit stärkerer Ausdruckskraft, daß der Ärger über sein Versagen etwas schwand. Wie ein Dolchstoß traf ihn immer wieder die jähe, ungeschminkte Wahrheit, denn er neigte von Natur aus nicht dazu, sein Betragen in einem rosigen Licht zu sehen, aber teils durch den Takt seiner Schritte auf dem Pflaster und teils durch die flüchtigen Einblicke, die ihm halboffene Gardinen in Küchen, Eßzimmer und Wohnzimmer gewährten, die mit stummer Macht verschiedene Szenen aus verschiedenen Leben illustrierten, verlor seine eigene Empfindung ihre Prägnanz.

Seine eigene Empfindung erlebte eine seltsame Veränderung. Sein Schritt verlangsamte sich, der Kopf sank leicht nach vorn, und wenn hin und wieder der Schein einer Laterne auf sein Gesicht fiel, wirkte es jetzt merkwürdig ruhig. Er war so in Gedanken versunken, daß, wenn er sich eines Straßennamens vergewissern mußte, er ihn eine Zeitlang ansah, bevor er ihn las; kam er an eine Kreuzung, schien er sich wie ein Blinder mit zwei oder drei tappenden Schlägen gegen den Bordstein nochmals versichern zu müssen; und als er den hellen Lichtkreis der Untergrundbahn-Station erreichte, blinzelte er, schaute auf seine Uhr, beschloß, daß er sich noch eine Weile der Dunkelheit hingeben durfte, und ging weiter.

Doch seine Gedanken waren noch immer dieselben, mit denen er aufgebrochen war. Er dachte noch immer an die Menschen in dem Haus, das er verlassen hatte; aber statt sich so genau wie möglich an ihr Aussehen und ihre Äußerungen zu erinnern, hatte er bewußt Abstand genommen von der reinen Wahrheit. Eine Straßenbiegung, ein vom Kaminfeuer erhelltes Zimmer, etwas Monumentales in der Abfolge der Laternenpfähle, wer vermag zu sagen, welches zufällige Spiel von Licht und Form plötzlich sein inneres Bild verändert hatte und ihn dazu brachte, laut zu murmeln:

»Mit ihr könnte es gehen … Ja, mit Katharine Hilbery könnte es gehen … Ich nehme Katharine Hilbery.«

Kaum hatte er dies gesagt, verlangsamte sich sein Gang, sein Kopf sank herab, sein Blick wurde starr. Der heftige Drang, sich zu rechtfertigen, quälte ihn nicht mehr, und wie von einem inneren Zwang befreit, ganz mühelos und ohne jede Anstrengung konzentrierten sich seine Gedanken, wie selbstverständlich, jetzt völlig auf die Gestalt von Katharine Hilbery. Es war erstaunlich, wieviel Nahrung sie dort fanden, in Anbetracht der destruktiven Kritik, die Denham in ihrer Gegenwart geübt hatte. Der Charme, den er zu leugnen versuchte, als er unter seinem Eindruck stand, die Schönheit, der Charakter, die Unnahbarkeit, die er kurz entschlossen ignoriert hatte, erfüllten ihn jetzt ganz; und als er, der Natur der Dinge gemäß, sein Gedächtnis erschöpft hatte, nahm er seine Phantasie zu Hilfe. Er wußte durchaus, was er tat, denn bei seiner ausgiebigen Beschäftigung mit Miss Hilberys Eigenschaften ging er irgendwie methodisch vor, als benötige er diese Vision von ihr zu einem bestimmten Zweck. Ihre Statur ließ er größer erscheinen, er tönte ihr Haar dunkler; doch körperlich gab es an ihr nicht viel zu ändern. Die gewagteste Freiheit nahm er sich bei ihrem Geist, den er sich, aus persönlichen Gründen, erhaben und unfehlbar und von solcher Unabhängigkeit wünschte, daß er ausschließlich im Fall von Ralph Denham von seinem hohen, raschen Flug abwich; nur wo es um ihn ging, da schoß sie, obwohl zunächst sehr wählerisch, schließlich von ihrer hohen Warte herab, um ihn mit ihrer Anerkennung zu krönen. Diesen köstlichen Details und all ihren Weiterungen würde er sich jedoch in seinen Mußestunden widmen; der Hauptpunkt war, daß es mit Katharine Hilbery gehen würde; es würde mit ihr für Wochen, vielleicht für Monate gehen. Indem er sie nahm, hatte er sich mit etwas versorgt, dessen Mangel für beträchtliche Zeit eine Leere in seiner Seele gelassen hatte. Er seufzte befriedigt; nun realisierte er auch wieder, daß er sich augenblicklich irgendwo in der Gegend von Knightsbridge befand, und bald raste er im Zug in Richtung Highgate.

Wenn auch gestärkt durch dieses Wissen um seinen neuen, wertvollen Besitz, war er doch nicht gegen die vertrauten Gedanken gefeit, die ihm die Vorstadtstraßen, die feuchten Büsche in den Vorgärten und die lächerlichen, mit weißer Farbe auf die Gartentüren gepinselten Namen eingaben. Sein Weg ging bergauf, und er dachte verdrießlich an das Haus, dem er sich näherte, wo er sechs oder sieben Geschwister, eine verwitwete Mutter und wahrscheinlich diese Tante oder jenen Onkel unter einer sehr hellen Lampe bei einer freudlosen Mahlzeit vorfinden würde. Sollte er die Drohung wahr machen, zu der er sich vor zwei Wochen angesichts einer solchen Versammlung durchgerungen hatte – die furchtbare Drohung, daß er, wenn sonntags Besuch käme, allein auf seinem Zimmer speisen würde? Ein Blick in Richtung von Miss Hilbery veranlaßte ihn, genau an diesem Abend auf seinem festen Standpunkt zu beharren, und nachdem er das Haus betreten hatte und Onkel Josephs Anwesenheit anhand einer Melone und eines sehr großen Regenschirms bestätigt fand, erteilte er dem Mädchen seine Anordnungen und begab sich nach oben in sein Zimmer.

Treppe um Treppe stieg er hinauf, und ihm fiel deutlicher auf als je zuvor, daß der Teppich immer schäbiger wurde, bis es schließlich gar keinen mehr gab; wie häßlich und verfärbt die Wände waren, manchmal von Feuchtigkeitsschlieren, manchmal von den Konturen mittlerweile entfernter Bilderrahmen; daß sich die Tapete in den Ecken gelöst hatte und ein großes Stück Verputz von der Decke gefallen war. Das Zimmer selbst, in das er zu dieser wenig verheißungsvollen Stunde zurückkehrte, war trostlos. Aus einem durchgesessenen Sofa würde, später am Abend, ein Bett werden; einer der Tische verbarg eine Waschgelegenheit; seine Kleider und Stiefel lagen lieblos zwischen Büchern, welche die Goldprägung von Universitätswappen trugen; und zur Dekoration hingen an der Wand Photographien von Brücken und Kathedralen und großen, wenig attraktiven Gruppen mangelhaft gekleideter junger Männer, die in Reihen übereinander auf Steinstufen saßen.[9] Die Möbel und Vorhänge wirkten armselig und schäbig, und es fehlte jegliche Spur von Luxus, ja sogar von kultiviertem Geschmack, es sei denn, die billigen Klassiker im Bücherschrank gaben ein Zeichen für eine diesbezügliche Bemühung. Der einzige Gegenstand, der etwas Licht auf den Charakter des Zimmerbewohners warf, war eine große Vogelstange, der Luft und Sonne wegen im Fenster plaziert, auf der eine zahme und anscheinend altersschwache Krähe stur von einer Seite auf die andere hüpfte. Durch Kraulen hinter dem Ohr ermuntert, ließ sich der Vogel auf Denhams Schulter nieder. Er entzündete seinen Gasofen und setzte sich in Erwartung seines Abendessens mit düsterer Geduld hin. Nachdem er einige Minuten so dagesessen hatte, streckte ein kleines Mädchen den Kopf ins Zimmer und sagte:

»Mutter läßt fragen, ob du nicht herunterkommst, Ralph? Onkel Joseph –«

»Sie sollen mir das Essen heraufbringen«, sagte Ralph kategorisch, worauf das Mädchen sofort wieder verschwand und in der Eile die Tür halb offen ließ. Nachdem Denham ein paar Minuten gewartet hatte, in deren Verlauf weder er noch die Krähe den Blick vom Feuer wandten, fluchte er leise, lief nach unten, fing das Hausmädchen ab und schnitt sich eine Scheibe Brot und kalten Braten ab. Während er dies tat, sprang die Eßzimmertür auf, eine Stimme rief »Ralph!«, aber Ralph schenkte ihr keine Beachtung und verschwand mit seinem Teller die Treppe hinauf. Er stellte ihn vor sich auf einen Stuhl und aß mit einer wilden Gier, die teils seinem Zorn, teils seinem Hunger entsprang. Seine Mutter war also entschlossen, seine Wünsche nicht zu respektieren; er galt in seiner Familie nichts; man schickte nach ihm und behandelte ihn wie ein Kind. Er überlegte mit wachsender Gekränktheit, daß beinahe jede einzelne seiner Handlungen, seit er die Zimmertür geöffnet hatte, der Familienordnung abgerungen worden war. Eigentlich müßte er unten im Wohnzimmer sitzen und seine Nachmittagserlebnisse schildern oder den Nachmittagserlebnissen anderer Leute lauschen; das Zimmer, der Gasofen, der Lehnstuhl – alles war erkämpft worden; der erbärmliche Vogel mit seinem halb ausgefallenen Gefieder und einem von einer Katze gelähmten Bein war unter Protest gerettet worden; was ihm seine Familie aber am meisten verübelte, überlegte er, war sein Wunsch nach Abgeschiedenheit. Allein zu Abend zu essen oder sich nach dem Essen allein hinzusetzen war glatte Rebellion, die mit allen Waffen, von verstohlener List bis hin zu offenem Appell, bekämpft wurde. Was verabscheute er am meisten – Täuschung oder Tränen? Aber wenigstens seiner Gedanken konnten sie ihn nicht berauben; sie konnten ihn nicht zwingen, zu sagen, wo er gewesen war oder wen er getroffen hatte. Das blieb seine Sache; das war wirklich ein Schritt in die absolut richtige Richtung, und während er seine Pfeife anzündete und für die Krähe die Überreste seiner Mahlzeit kleinschnitt, besänftigte Ralph seine übertriebene Gereiztheit und machte sich daran, über seine Zukunftsaussichten nachzudenken.

Der heutige Nachmittag war ein Schritt in die richtige Richtung, denn er gehörte zu seinem Plan, Menschen außerhalb des Familienkreises kennenzulernen, genauso wie es zu seinem Plan gehörte, diesen Herbst Deutsch zu lernen und für Mr Hilberys Critical Review juristische Fachbücher zu besprechen. Schon als kleiner Junge hatte er stets Pläne geschmiedet; denn Armut und die Tatsache, der älteste Sohn einer großen Familie zu sein, hatten es ihm zur Gewohnheit gemacht, Frühling und Sommer, Herbst und Winter nur als einzelne Stadien eines langwierigen Feldzugs zu betrachten. Obwohl er noch keine dreißig zählte, hatte diese Gewohnheit des Vorausplanens über seinen Augenbrauen zwei halbrunde Falten eingekerbt, die sich in diesem Augenblick in ihre übliche Form zu legen drohten. Doch statt nachzudenken, erhob er sich, nahm ein kleines Stück Pappe, auf dem in großen Buchstaben die Worte DRAUSSENBLEIBEN standen, und hängte es an seine Türklinke. Als dies getan war, spitzte er einen Bleistift, zündete eine Leselampe an und schlug sein Buch auf. Aber er zögerte noch immer, sich hinzusetzen. Er kraulte die Krähe, er trat ans Fenster, er schob die Vorhänge beiseite und schaute auf die Stadt hinab, die dunstig leuchtend unter ihm lag. Er blickte über die Nebelschwaden hinüber in Richtung Chelsea; blickte einen Augenblick unverwandt hin und kehrte dann zu seinem Sessel zurück. Doch trotz ihrer Dichte vermochte ihn die Abhandlung eines gelehrten Juristen über das Schadenersatzrecht nicht genügend abzuschirmen. Durch die Seiten hindurch sah er einen Salon, sehr leer und weitläufig; er hörte gedämpfte Stimmen, er sah die Gestalten von Frauen, er konnte sogar den Duft des Klobens Zedernholz riechen, der auf dem Kaminrost glühte. Er entspannte sich, und auf einmal hatte er all das deutlich vor sich, was er zuvor unbewußt aufgenommen hatte. Er konnte sich genau an Mr Fortescues Worte erinnern und an die rollende Betonung, mit der er sie von sich gab, und er begann zu wiederholen, was Mr Fortescue, in der ihm eigenen Manier, über Manchester gesagt hatte. Dann begann er, in Gedanken durch das Haus zu wandern, und er fragte sich, ob es noch andere Räume wie den Salon gab, und er dachte ganz unvermittelt daran, wie schön das Badezimmer sein mußte, und wie voller Muße es war – das Leben dieser vornehmen Leute, die zweifellos noch immer in demselben Raum saßen, nur hatten sie sich umgekleidet, und der kleine Mr Anning war da und die Tante, die es verübelte, wenn das Rahmenglas vor dem Bild ihres Vaters gesprungen war. Miss Hilbery hatte ein anderes Kleid angezogen (»obwohl sie so ein hübsches trägt«, hörte er ihre Mutter sagen), und sie sprach mit Mr Anning, der weit über vierzig war und kahl obendrein, über Bücher. Wie friedvoll und weitläufig es war; und es überkam ihn ein so völliger Friede, daß sich seine Muskeln entspannten, das Buch seiner Hand entglitt und er vergaß, daß die Arbeitsstunde Minute um Minute ungenutzt verrann.

Ein Knarren auf der Treppe schreckte ihn hoch. Mit einem schuldbewußten Ruck faßte er sich, runzelte die Stirn und starrte angespannt auf die sechsundfünfzigste Seite seines Buches. Die Schritte verhielten draußen vor seiner Tür, und er wußte, daß die Person, wer immer sie sein mochte, das Schild betrachtete und mit sich zu Rate ging, ob sie dem Dekret Folge leisten sollte oder nicht. Es war fraglos ein Gebot der Taktik, in autokratischem Schweigen still sitzen zu bleiben, denn eine Gewohnheit kann nur dann in einer Familie Wurzeln schlagen, wenn während der ersten sechs Monate jeder Verstoß dagegen schärfstens geahndet wird. Aber Ralph wußte um seinen ausdrücklichen Wunsch, gestört zu werden, und man merkte ihm seine Enttäuschung an, als er dann ein Knarren vom unteren Ende der Treppe hörte, als habe sein Besuch beschlossen, sich zu entfernen. Er stand auf, öffnete unnötig barsch die Tür und wartete auf dem Absatz. Gleichzeitig blieb die Person eine halbe Treppe tiefer stehen.

»Ralph?« fragte eine Stimme.

»Joan?«

»Ich war oben, aber ich habe dein Schild gesehen.«

»Na, dann komm schon rein.« Er verbarg seinen Wunsch hinter einem möglichst unwilligen Ton.

Joan kam herein, machte aber sogleich deutlich, indem sie aufrecht dastand, eine Hand auf dem Kaminsims, daß sie zu einem ganz bestimmten Zweck hier war, nach dessen Erledigung sie gehen würde.

Sie war drei oder vier Jahre älter als Ralph. Ihr Gesicht war rund, doch verhärmt, und es drückte jene tolerante, aber besorgte gute Laune aus, die das besondere Attribut älterer Schwestern in großen Familien ist. Ihre liebenswürdigen braunen Augen glichen denen Ralphs, nur nicht im Ausdruck, denn während er einen Gegenstand direkt und scharf anzusehen schien, war sie es offenbar gewöhnt, alles von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu betrachten. Dies ließ sie noch ein paar Jahre älter erscheinen, als tatsächlich zwischen ihnen lagen. Ihr Blick ruhte einen Augenblick auf der Krähe. Dann sagte sie ohne jede Einleitung:

»Es geht um Charles und um Onkel Johns Angebot … Mutter hat mit mir gesprochen. Sie sagt, sie kann es sich nach diesem Trimester nicht mehr leisten, weiter Schulgeld für ihn zu bezahlen. Sie sagt, sie wird ohnehin schon um einen Überziehungskredit bitten müssen.«

»Das stimmt einfach nicht«, sagte Ralph.

»Nein. Das dachte ich mir schon. Aber sie glaubt es nicht, wenn ich es sage.«

Als ahnte er, daß die familiäre Diskussion sich in die Länge ziehen würde, rückte Ralph seiner Schwester einen Stuhl zurecht und setzte sich selbst.

»Störe ich auch nicht?« erkundigte sie sich.

Ralph schüttelte den Kopf, und eine Weile saßen sie schweigend da. Über ihren Augen wölbten sich die halbrunden Fältchen.

»Sie begreift nicht, daß man etwas riskieren muß«, meinte er schließlich.

»Ich glaube, Mutter würde durchaus etwas riskieren, wenn sie sicher wäre, daß Charles davon profitieren würde.«

»Er ist nicht gerade auf den Kopf gefallen, oder?« sagte Ralph. Sein Tonfall hatte jene streitlustige Nuance angenommen, die seine Schwester vermuten ließ, daß ihn irgendein persönlicher Kummer zu diesem Standpunkt trieb. Sie fragte sich, was es wohl sein mochte, entsann sich aber, weshalb sie zu ihm gekommen war, und stimmte ihm zu.

»Obwohl er natürlich in mancherlei Hinsicht fürchterlich zurückgeblieben ist, verglichen damit, wie du in seinem Alter warst. Und zu Hause ist es auch schwierig mit ihm. Er läßt Molly für sich schuften.«

Ralph machte ein Geräusch, das ebendieses Argument herabsetzte. Joan war klar, daß sie ihren Bruder in denkbar schlechter Laune erwischt hatte und er gegen alles opponieren würde, was seine Mutter sagte. Er sprach von ihr als »sie«, das war Beweis genug. Sie seufzte unwillkürlich, und der Seufzer ärgerte Ralph; er rief gereizt:

»Ziemlich harter Kurs, einen Jungen mit siebzehn in ein Büro zu stecken!«

»Niemand will ihn in ein Büro stecken«, sagte sie.

Auch in ihr regte sich Ärger. Sie hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, mit ihrer Mutter über all die ermüdenden Einzelheiten einer Ausbildung und deren Kosten zu diskutieren, und sie war zu ihrem Bruder gekommen, weil sie Hilfe brauchte, irrationalerweise zu der Hoffnung auf seine Hilfe ermutigt durch den Umstand, daß er den Nachmittag über ausgegangen war, wohin, wußte sie nicht und wollte auch nicht danach fragen.

Ralph mochte seine Schwester, und ihre Gereiztheit brachte ihn zu der Einsicht, wie unfair es war, ihr diese ganze Last aufzubürden.

»Die Wahrheit ist«, meinte er düster, »ich hätte Onkel Johns Angebot annehmen sollen. Inzwischen würde ich sechshundert Pfund im Jahr verdienen.«

»Das denke ich keinen Augenblick«, erwiderte Joan rasch und bereute ihre Verärgerung. »Für mich lautet die Frage, ob wir unsere Ausgaben nicht irgendwie kürzen können.«

»Ein kleineres Haus?«

»Weniger Personal vielleicht.«

Weder Bruder noch Schwester sprachen mit großer Überzeugung, und nachdem er einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, was diese vorgeschlagenen Reformen in einem peinlich sparsamen Haushalt bedeuteten, verkündete Ralph mit aller Entschiedenheit:

»Kommt nicht in Frage.«

Es kam nicht in Frage, daß sie sich selbst noch mehr Hausarbeit aufbürdete. Nein, die Entbehrungen mußte er auf sich nehmen, denn für ihn stand fest, daß seine Familie ebensoviel Gelegenheit haben sollte, sich auszuzeichnen, wie andere Familien – wie die Hilberys, zum Beispiel. Insgeheim, und mit einiger Halsstarrigkeit, weil es ein Umstand war, der sich nicht beweisen ließ, glaubte er fest daran, daß in seiner Familie etwas höchst Bemerkenswertes steckte.

»Wenn Mutter nichts riskieren möchte –«

»Du kannst von ihr wirklich nicht verlangen, daß sie wieder Wertpapiere verkauft.«

»Sie sollte es als Investition betrachten; aber wenn sie das nicht tut, müssen wir eben einfach einen anderen Weg finden.«

Dieser Satz barg eine Drohung, und ohne zu fragen, wußte Joan, wie diese Drohung lautete. Im Laufe seines Berufslebens, das sich jetzt über sechs oder sieben Jahre erstreckte, hatte Ralph vielleicht drei- oder vierhundert Pfund gespart. Angesichts der Opfer, die er gebracht hatte, um diesen Betrag beiseite zu legen, erstaunte es Joan immer, daß er ihn zum Spekulieren benutzte, Aktien kaufte und sie dann wieder verkaufte, ihn manchmal vermehrte, manchmal verringerte und ständig Gefahr lief, ihn an einem einzigen Unglückstag bis auf den letzten Penny zu verlieren. Doch obwohl sie sich darüber wunderte, kam sie nicht umhin, ihn wegen dieser sonderbaren Kombination aus spartanischer Selbstbeherrschung und, wie ihr vorkam, romantischer und kindischer Torheit nur noch mehr zu lieben. Ralph interessierte sie mehr als sonst jemand auf der Welt, und oft, auch wenn das Thema noch so ernst war, brach sie eine dieser finanziellen Diskussionen mittendrin ab, um über eine neue Seite seines Charakters nachzudenken.

»Ich fände es dumm von dir, dein Geld für den guten Charles zu riskieren«, meinte sie. »So sehr ich ihn mag, hochbegabt scheint er mir eben nicht zu sein … Außerdem, warum solltest du dich opfern?«

»Meine liebe Joan«, rief Ralph und reckte sich mit einer unwilligen Gebärde, »siehst du denn nicht, daß wir uns alle opfern müssen? Wozu es leugnen? Wozu dagegen ankämpfen? So ist es immer gewesen, und so wird es immer sein. Wir haben kein Geld, und wir werden niemals Geld haben. Wir werden einfach jeden Tag unseres Lebens in der Tretmühle gehen, bis wir tot umfallen, verbraucht, so wie die meisten Menschen, wenn ich es mir recht überlege.«

Joan blickte ihn an, öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, und schloß sie wieder. Dann sagte sie sehr zögernd:

»Bist du denn nicht glücklich, Ralph?«

»Nein. Du etwa? Vielleicht bin ich so glücklich wie die meisten Menschen. Weiß Gott, ob ich glücklich bin oder nicht. Was ist das, Glück?«

Er schenkte seiner Schwester trotz seines düsteren Ärgers ein halbes Lächeln. Sie machte wie stets den Eindruck, als wäge sie zwei Dinge gegeneinander ab und hielte sie nebeneinander, bevor sie sich für eins entschied.

»Glück«, sagte sie schließlich geheimnisvoll, als probiere sie das Wort, und machte dann eine Pause. Sie schwieg eine ganze Weile, so als vergegenwärtige sie sich das Glück in seiner ganzen Tragweite. »Hilda war heute da«, fuhr sie plötzlich fort, als wäre nie von Glück die Rede gewesen. »Sie hat Bobbie mitgebracht – er ist jetzt ein richtig prima Junge.« Ralph beobachtete, mit einem Vergnügen, das nicht einer gewissen Ironie entbehrte, wie sie sich jetzt schnell dieser gefährlichen Nähe zur Vertraulichkeit entzog, um zu Themen von generellem und familiärem Interesse überzugehen. Dennoch, überlegte er, war sie die einzige in seiner Familie, mit der es ihm möglich war, über Glück zu diskutieren, obwohl er mit Miss Hilbery gleich bei ihrer ersten Begegnung sehr gut hätte über Glück diskutieren können. Er musterte Joan kritisch und wünschte sich, sie sähe nicht so provinziell oder vorstädtisch aus in ihrem hellgrünen Kleid mit der verschossenen Borte, so geduldig, beinahe resigniert. In ihm regte sich der Wunsch, ihr von den Hilberys zu erzählen, um diese zu schmähen, denn in dem kleinen Krieg zwischen zwei rasch aufeinanderfolgenden Lebenseindrücken siegte das Leben der Hilberys über das Leben der Denhams, und er wollte sich vergewissern, daß es irgendeine Eigenschaft gab, in der Joan Miss Hilbery bei weitem übertraf. Er hätte spüren müssen, daß seine Schwester ursprünglicher war und mehr Vitalität besaß als Miss Hilbery; aber was ihn am meisten beeindruckt hatte bei Katharine, war gerade ihre starke Vitalität und Gelassenheit; und im Augenblick war ihm nicht ersichtlich, was die gute Joan durch die Tatsache gewonnen hatte, daß sie die Enkelin eines Ladenbesitzers war und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdiente. Die unendliche Trostlosigkeit und Schäbigkeit ihres Lebens bedrückte ihn trotz seiner unerschütterlichen Überzeugung, daß sie, als Familie, irgendwie bemerkenswert waren.

»Wirst du mit Mutter sprechen?« fragte Joan. »Die Sache muß nämlich jetzt entschieden werden, so oder so. Charles muß Onkel John schreiben, ob er da hingeht.«

Ralph seufzte ungeduldig.

»Ich denke, es ist so oder so ziemlich egal«, rief er. »Auf lange Sicht ist er doch zum Elend verdammt.«

Eine leichte Röte schoß Joan in die Wangen.

»Du weißt, daß du Unsinn redest«, sagte sie. »Es schadet keinem, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ich bin sehr froh, daß ich mir meinen selbst verdienen muß.«

Ralph freute sich, daß sie so empfand, und wünschte sich, sie würde weitersprechen, dennoch fuhr er verstockt fort:

»Kommt das nicht bloß daher, daß du vergessen hast, wie man sich amüsiert? Du hast nie Zeit für etwas Vernünftiges –«

»Was zum Beispiel?«

»Na, spazierenzugehen, oder Musik zu hören, oder Bücher zu lesen, oder interessante Menschen zu treffen. Du tust genauso wenig Sinnvolles wie ich.«

»Ich denke mir immer, du könntest dir dieses Zimmer viel hübscher einrichten, wenn du nur wolltest«, bemerkte sie.

»Welche Rolle spielt es, was ich für ein Zimmer habe, wenn ich die besten Jahre meines Lebens damit verbringen muß, in einem Büro Verträge aufzusetzen?«

»Vor zwei Tagen hast du gesagt, du fändest die Juristerei so interessant.«

»Das ist sie auch, wenn man es sich leisten könnte, etwas darüber zu wissen.«

(»Das ist Herbert, der erst jetzt ins Bett geht«, warf Joan ein, als eine Tür auf dem Treppenabsatz kräftig zuknallte. »Und morgens kommt er dann wieder nicht heraus.«)

Ralph blickte zur Decke und preßte die Lippen zusammen. Warum, so fragte er sich, konnte Joan ihre Gedanken nie auch nur einen Augenblick lang von den Nebensächlichkeiten des häuslichen Alltags lösen? Ihm schien, daß sie sich mehr und mehr darin verstrickte und nur noch zu immer kürzeren und selteneren Abstechern in die Außenwelt fähig war, und dabei war sie doch erst dreiunddreißig.

»Triffst du überhaupt noch jemanden?« fragte er abrupt.

»Ich habe nicht oft die Zeit dazu. Wieso fragst du?«

»Es könnte ganz gut sein, hin und wieder neue Leute kennenzulernen, darum.«

»Armer Ralph!« sagte Joan plötzlich mit einem Lächeln. »Du findest, deine Schwester wird sehr alt und sehr langweilig – stimmt’s?«

»Ganz und gar nicht«, sagte er tapfer, doch er errötete. »Aber du führst ein Hundeleben, Joan. Wenn du nicht gerade im Büro arbeitest, machst du dir Sorgen um uns. Und ich fürchte, ich bin dir auch keine große Hilfe.«

Joan erhob sich, wärmte sich im Stehen einen Augenblick die Hände und erwog anscheinend, ob sie noch etwas sagen sollte oder nicht. Ein Gefühl großer Vertrautheit verband Bruder und Schwester, und die halbrunden Falten über ihren Augenbrauen verschwanden. Nein, keiner von beiden hatte noch etwas hinzuzufügen. Joan strich ihrem Bruder im Vorübergehen über den Kopf, murmelte gute Nacht und verließ das Zimmer. Nachdem sie gegangen war, blieb Ralph noch ein paar Minuten lang still sitzen, den Kopf in die Hand gestützt, doch allmählich wurde sein Blick nachdenklich, und die Falte auf seiner Stirn erschien wieder, als die angenehme Wirkung von Kameradschaft und uralter Sympathie verflog und er mit seinen Gedanken allein zurückblieb.

Nach einer Weile schlug er sein Buch auf und las beharrlich weiter, wobei er ein- oder zweimal auf die Uhr schaute, als hätte er sich eine Aufgabe gestellt, die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu bewältigen war. Hin und wieder hörte er Stimmen im Haus und das Schließen von Schlafzimmertüren, woran sich zeigte, daß jede Zelle dieses Hauses, in dem er hier ganz oben saß, bewohnt war. Als es Mitternacht schlug, klappte Ralph sein Buch zu und stieg, mit einer Kerze in der Hand, ins Erdgeschoß hinab, um sich zu vergewissern, daß alle Lampen gelöscht und alle Türen verschlossen waren. Es war ein schäbiges, abgenutztes Haus, das er hier inspizierte, als hätten die Bewohner allen Reichtum und Überfluß bis an den Rand der Schicklichkeit abgegrast; und in der Nacht, bar allen Lebens, wurden die kahlen Stellen und die uralten Makel unangenehm sichtbar. Katharine Hilbery, dachte er, würde es auf Anhieb für abbruchreif erklären.

Kapitel III

Denham hatte Katharine Hilbery vorgeworfen, einer der bedeutendsten Familien in England anzugehören, und macht man sich einmal die Mühe, Mr Galtons Buch »Vererbtes Genie«[10] zu konsultieren, wird man feststellen, daß diese Behauptung nicht weit an der Wahrheit vorbeiging. Die Alardyces, die Hilberys, die Millingtons und die Otways scheinen zu beweisen, daß Intellekt ein Gut ist, das ein Mitglied einer bestimmten Gruppe einem anderen beinahe unbegrenzt zuwerfen kann, und augenscheinlich mit der Gewißheit, daß neun von zehn Menschen des privilegierten Geschlechts die brillante Gabe sicher auffangen und festhalten werden. Über Jahre hinweg stellten sie hervorragende Richter und Admirale, Anwälte und Diener des Staates, bis die Fruchtbarkeit dieses Nährbodens in der seltensten Blüte gipfelte, deren sich eine Familie rühmen kann, in einem großen Schriftsteller, einem herausragenden Dichter unter den Dichtern Englands, in einem Richard Alardyce; und nachdem sie ihn hervorgebracht hatten, bewiesen sie einmal mehr die erstaunlichen Tugenden ihres Geschlechts, indem sie unbekümmert mit ihrer gewohnten Aufgabe fortfuhren, ausgezeichnete Männer hervorzubringen. Sie waren mit Sir John Franklin zum Nordpol gesegelt und mit Havelock zum Entsatz von Lucknow geritten, und wenn sie nicht als auf festen Fels gebaute Leuchttürme zur Orientierung ihrer Generation aufragten, so waren sie stetige, dienstbare Kerzen, die den gewöhnlichen Zimmern des Alltags Licht spendeten. Welchen Berufsstand man auch immer nehmen mochte, stets fand man einen Warburton oder einen Alardyce, einen Millington oder einen Hilbery in Amt und Würden.

Man kann durchaus behaupten, daß es in der englischen Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, nicht unbedingt großer Verdienste bedarf, wenn man nur den richtigen Namen trägt, um eine Position zu erreichen, in der es im großen und ganzen leichter fällt, bedeutend zu sein als unbekannt. Und wenn dies für die Söhne zutrifft, so haben sogar die Töchter, sogar im neunzehnten Jahrhundert, die Möglichkeit, einflußreiche Positionen zu erlangen – als Philanthropinnen und Pädagoginnen, wenn sie ledig sind, oder als Ehefrauen bedeutender Männer, wenn sie heiraten. Es stimmt, daß es in der Alardyce-Linie mehrere beklagenswerte Ausnahmen von dieser Regel gab, was anzuzeigen scheint, daß die jüngeren Söhne solcher Häuser oft schneller auf die schiefe Bahn geraten als die Kinder gewöhnlicher Väter und Mütter, so als empfänden sie dies geradezu als Erleichterung. Doch im großen und ganzen hielten sich die Alardyces und ihre Verwandten in diesen ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts recht gut über Wasser. Man findet sie in den oberen Rängen akademischer Berufe, die Namen mit den Kürzeln von Titeln geschmückt; sie sitzen in den höchsten öffentlichen Ämtern, mit eigenem Privatsekretär; sie schreiben gediegene Bücher in dunklen Einbänden, die von den Verlagen der beiden großen Universitäten herausgebracht werden, und stirbt einer von ihnen, dann stehen die Chancen gut, daß ein anderer von ihnen seine Biographie verfaßt.

Nun war der Ursprung dieser Noblesse natürlich der Dichter, und seine unmittelbaren Nachkommen umgab deswegen ein größerer Glanz als die Nebenlinien. Kraft ihrer Position als einziges Kind des Dichters war Mrs Hilbery das geistige Oberhaupt der Familie, und Katharine, ihre Tochter, nahm unter all den Vettern und Verwandten einen höheren Rang ein, und dies um so mehr, weil sie das einzige Kind war. Die Alardyces hatten geheiratet und untereinander geheiratet, und ihre Nachkommen waren im allgemeinen zahlreich und trafen sich regelmäßig reihum in ihren Häusern zu Mahlzeiten oder Familienfesten, die einen halbsakralen Charakter angenommen hatten und so pünktlich eingehalten wurden wie Fest- und Fastentage in der Kirche.

Früher hatte Mrs Hilbery alle Dichter, alle Romanciers, all die schönen Frauen und bedeutenden Männer ihrer Zeit gekannt. Da diese nun entweder tot waren oder zurückgezogen lebten mit ihrem fragwürdigen Ruhm, machte sie ihr Haus zu einem Treffpunkt für die eigenen Verwandten, denen sie die Unwiederbringlichkeit der großen Tage des neunzehnten Jahrhunderts zu klagen pflegte, als in England noch jedes Gebiet der Literatur und Kunst durch zwei oder drei illustre Namen repräsentiert wurde. Wo sind ihre Nachfolger? pflegte sie zu fragen, und daß es heutzutage an Dichtern, Malern und Romanciers von echtem Format fehlte, war ein Thema, über das sie gerne nachsann, in einer Sonnenuntergangsstimmung gütiger Erinnerung, die, hätte es dessen bedurft, nur schwer zu stören gewesen wäre. Doch es lag ihr fern, die jüngere Generation ihre Minderwertigkeit vergelten zu lassen. Sie hieß sie herzlich in ihrem Haus willkommen, erzählte ihnen Geschichten, spendete ihnen Sovereigns und Eiscreme und guten Rat und umwob sie mit Romanzen, die gewöhnlich keinerlei Ähnlichkeit mit der Wahrheit besaßen.

Der Rang ihrer Geburt sickerte aus einem Dutzend verschiedener Quellen in Katharines Bewußtsein, sobald sie nur alt genug war, etwas zu begreifen. Über dem Kamin in ihrem Kinderzimmer hing eine Photographie vom Grab ihres Großvaters in Poets’ Corner,[11] und man erzählte ihr, in einem jener Augenblicke erwachsener Vertraulichkeit, die für das Kindergemüt so ungeheuer beeindruckend sind, er liege dort begraben, weil er ein »guter und großer Mann« gewesen sei. Später, an einem Jahrestag, wurde sie von ihrer Mutter mitgenommen, fuhr mit ihr im Hansom durch den Nebel und bekam einen großen Strauß leuchtender, süßduftender Blumen, um sie auf sein Grab zu legen. Die Kerzen in der Kirche, der Gesang und das Dröhnen der Orgel, all dies geschah, so glaubte sie, ihm zu Ehren. Immer wieder wurde sie in den Salon hinuntergebracht, um den Segen eines schrecklich bedeutenden alten Mannes zu empfangen, der sogar für ihren kindlichen Blick ein wenig abseits saß, hoch aufgerichtet und an einen Stock geklammert, im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Besucher im Lehnstuhl ihres Vaters, und ihr Vater war da, auch er anders als sonst, ein wenig aufgeregt und äußerst höflich. Diese ungeheuer alten Männer nahmen sie in den Arm, blickten ihr forschend in die Augen, segneten sie dann und ermahnten sie, folgsam und ein braves Mädchen zu sein, oder sie entdeckten in ihrem Gesicht einen Zug, der ein wenig an Richard als kleiner Junge erinnerte. Das trug ihr eine inbrünstige Umarmung ihrer Mutter ein, und sie wurde ins Kinderzimmer zurückgeschickt, sehr stolz und mit der mysteriösen Ahnung eines wichtigen und unerklärten Sachverhalts, der sich ihr mit der Zeit immer mehr enthüllte.