Nachtglanz - Tanja Heitmann - E-Book

Nachtglanz E-Book

Tanja Heitmann

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Beschreibung

Paris 1889: Seit Adam in einer dunklen Gasse wieder zu sich gekommen ist, weiß er nicht mehr, wer er ist – oder jemals war. Dafür spürt er einen Dämon in sich, der nur ein einziges düsteres Verlangen kennt: Ihn dürstet nach Blut. Vergeblich kämpft Adam gegen den Eindringling, schließlich lässt er sich willenlos von ihm treiben. Bis er plötzlich, mitten im 20. Jahrhundert, Esther begegnet und alles sich verändert. Er entbrennt in leidenschaftlicher Liebe zu der jungen und zerbrechlichen Frau. Doch Esther, die von einer tragischen Vergangenheit gezeichnet ist, erwidert seine Gefühle nur zaghaft: Sie ahnt die dunkle Gefahr, die in Adam lauert. Denn der Dämon sieht in Esther lediglich Beute. Verzweifelt versucht Adam gegen den Dämon und für seine Liebe zu kämpfen. Ein tödliches Ringen um Esther beginnt ...

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Seitenzahl: 623

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Über das Buch:

Paris 1889: Seit Adam in einer dunklen Gasse wieder zu sich gekommen ist, weiß er nicht mehr, wer er ist – oder jemals war. Dafür spürt er einen Dämon in sich, der nur ein einziges düsteres Verlangen kennt: Ihn dürstet nach Blut. Vergeblich kämpft Adam gegen den Eindringling, schließlich lässt er sich willenlos von ihm treiben. Bis er plötzlich, mitten im 20. Jahrhundert, Esther begegnet und alles sich verändert. Er entbrennt in leidenschaftlicher Liebe zu der jungen und zerbrechlichen Frau. Doch Esther, die von einer tragischen Vergangenheit gezeichnet ist, erwidert seine Gefühle nur zaghaft: Sie ahnt die dunkle Gefahr, die in Adam lauert. Denn der Dämon sieht in Esther lediglich Beute. Verzweifelt versucht Adam gegen den Dämon und für seine Liebe zu kämpfen. Ein tödliches Ringen um Esther beginnt ...

Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2015 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2010 by Tanja Heitmann

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Covergestaltung: Eden & Höflich, Berlin.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-785-1

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Den anderen verstehen, das heißt, sein Gefühl in uns nachzubilden.

FRIEDRICH NIETZSCHE

Prolog

Feuergeburt

Adam.

Eben war da nur Leere gewesen. Jetzt zerschnitt diese Stimme die Stille. Sie dröhnte, als habe man eine Bronzeglocke in einem zu kleinen Raum geschlagen, so dass die Wände bebten. Allmählich verklang ihr Echo. Stille breitete sich erneut aus, angenehm und betäubend.

Adam.

Da war sie wieder, diese lästige Stimme. Widerwillen regte sich, wo eben noch kein einziges Gefühl vorhanden gewesen war. Gefolgt von Wut. Dann verblassten die Empfindungen, und die Leere kehrte zurück. Ein süßes Nichts, das alles auslöschte.

Adam, wach auf.

Die Leere hob endgültig ihren Schleier und zeigte eine Welt, die aus einem blutroten Himmel und dieser aufdringlichen Stimme bestand. Keins von beiden war gut, auch nicht die sich langsam aufdrängende Vermutung, gefangen zu sein. Das alles sollte aufhören. Sofort.

Adam, wach endlich ...

»Nein!«

Das Wort war heraus, ehe er überhaupt eine Vorstellung davon hatte, Kehle und Mund zu besitzen, die sie hervorbringen konnten. Nun war es zu spät. Seine eigene tiefe, seltsam raue Stimme hallte ihm in den Ohren und brachte den Beweis, dass er tatsächlich eingesperrt war: in einem Körper. Und der Weg zurück in die Leere war verwehrt.

Ein verzweifelter Schrei kam über seine Lippen, die er mit einem Mal spürte, so wie er jeden einzelnen Teil seines Körpers spürte. Sein Brustkorb stand in Flammen, während sein Herz mit jedem Schlag Lava durch seine Venen jagte.

Er brannte lichterloh.

Qualvoll riss er die Augen in dem festen Glauben auf, nichts als ein Flammenmeer zu erblicken. Stattdessen sah er in den Himmel, eingerahmt von zwei Häusergiebeln. Morgenrot schimmerte in der Ferne, unerreichbar. Um ihn herum war alles Grau in Grau und Schwarz.

Aber woher stammte dieser unerträglich glühende Schmerz?

Mit einer Hand, die seinem Willen kaum gehorchte, griff er sich an die Brust, spürte Stoff, der klebrig und schwer war, und zerrte ihn beiseite. Seine tauben Fingerspitzen wanderten über kühle Haut.

Das konnte unmöglich sein. Seine Haut konnte nicht kalt sein, er brannte doch!

Obwohl ihm vor Anstrengung Funken vor den Augen aufstoben, zwang er seinen Kopf ein Stück nach oben, um auf seine freigelegte Brust zu starren, die wider Erwarten nicht in Flammen stand. Nicht einmal ein Glühen, nur das feine Heben und Senken war im diesigen Licht der Gasse auszumachen. Voller Unglauben grub er seine Fingernägel ins Fleisch, dort, wo er sein Herz schlagen und Feuer versprühen fühlte. Eine feine Spur dunklen Bluts drang hervor, während die aufgerissene Haut sich mit einem Kribbeln bereits wieder zusammenzog. Als er das Blut beiseitewischte, waren die Kratzspuren nicht mehr als rasch verblassende Linien.

Keine Schändung meines Tempels, wenn ich bitten darf.

Da war sie wieder, diese spöttisch klingende Stimme, die sich wie Säure zu ihm durchfraß. Wem gehörte sie bloß?

Stöhnend presste er die Hände auf die Ohren, konnte kaum dem Bedürfnis widerstehen, den Kopf auf den Boden zu schlagen. Es war nicht ausreichend Platz für sie beide vorhanden, verflucht. Jeden Augenblick würde sein Schädel regelrecht bersten, so groß war der Druck. Doch noch größer war seine Abneigung gegen den Quälgeist, der ihn gerufen hatte, um ihn in diesen gepeinigten Körper zu zwingen und zu verhöhnen.

Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich auf die Seite zu drehen, so dass sein Gesicht auf nassem, rauem Pflasterstein zum Ruhen kam. Er lag in einer Gasse, wie etwas Weggeworfenes. Es war ihm gleich, er würde einfach hier liegen bleiben. Darauf warten, dass es vorbeiging. Am besten alles.

Es ging auch vorbei, zumindest das bestialische Brennen. Nachdem es gewaltsam in jeden Winkel seines Körpers eingedrungen war, erlosch es nun langsam. Zurück blieb das unbestimmte Gefühl, gebrandmarkt worden zu sein. Als sei jede einzelne Zelle mit einer eigenen Markierung versehen worden, die den neuen Besitzer dieses auf dem nackten Boden in einer Hinterhofgasse liegenden Leibs auszeichnete.

Obwohl die Schmerzen sich endlich verflüchtigt hatten, blieb er reglos liegen, vor Erschöpfung außerstande, auch nur eine der Haarsträhnen, die an seiner Stirn klebten, fortzuwischen. Sehnsüchtig wartete er auf den Schlaf. Was danach kam, war ihm gleichgültig. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Stattdessen stieg eine prickelnde Energie auf, die darauf drängte, in Bewegung umgesetzt zu werden. Sein Geist mochte sich nach einer Auszeit sehnen, aber seine Glieder pulsierten vor Tatendrang.

Bewusst langsam zog er die Luft tief ein ... und musste sich jäh, beinahe wie elektrisiert, aufsetzen.

In seiner Hand hielt er ein Einstecktuch. Cremefarben an jenen Stellen, die nicht mit dem nassen Pflasterstein in Berührung gekommen oder von dunkelroten, fast braunen Schlieren befleckt waren. In einer Ecke zeigten sich die Initialen LS, in Blau gestickt. Was ihn allerdings wirklich an diesem kleinen Stoffeck faszinierte, war der überwältigende Geruch, der von ihm ausging. Unmöglich, dachte er, während er das seidene Rechteck zwischen seinen Fingern spannte. Nichts auf der Welt kann derartig intensiv und vielschichtig riechen.

Und doch verriet ihm der Stoff lauter Geheimnisse über seinen Besitzer, denn das Tuch gehörte zweifelsfrei jemand anderem – das war das Erste, was ihm sein Geruchssinn zutrug. Das Blut, das die dunklen, klebrigen Spuren hinterlassen hatte, war nicht sein eigenes. Genauso wenig wie das Blut, mit dem seine Weste und sein Hemd an der Brust durchtränkt waren. Als habe er zu gierig getrunken ... Angewidert verdrängte er dieses Bild und konzentrierte sich auf das, was seine Sinne ihm zuflüsterten. Es war eindeutig ein männlicher Geruch, eine Mischung aus feuchtem Stoff und einem nach Leder riechenden Aftershave. Außerdem nahm er frischen Schweiß wahr, der ganz unvermittelt hervorgebrochen war, als hätte der Besitzer eine enorme Anstrengung unternommen. Wer immer dieses Tuch verloren hat, er war erregt gewesen ... in so mancherlei Hinsicht.

Dieser Gedanke war verwirrend, aber bevor er ihm nachgehen konnte, bemerkte er noch eine andere, kaum vorhandene, fast verborgene Spur. Etwas, das wie frisch geriebener Muskat in der Nase brannte, sich ansonsten allerdings jeden Vergleich verbot. Ein fremder Geruch, den es auf dieser Welt nicht geben sollte. Trotzdem erkannte er den Geruch wieder. Denn seine Haut verströmte ihn ebenfalls, wenn auch in einer anders gefärbten Note.

Obwohl seine Beine nicht im Geringsten zitterten, richtete er sich langsam auf, da er der pulsierenden Kraft in seinen Gliedern nicht über den Weg traute. In den Händen hielt er das blutbesudelte Tuch, das für ihn wie ein aufgeschlagenes Buch war, eng bedruckt mit allen möglichen Informationen. Unablässig raunte der in der Seide gefangene Duft ihm Hinweise zu, so auch über die Geschehnisse, die sich in der schmalen Seitengasse abgespielt hatten. Nur wollte es ihm einfach nicht gelingen, all das in einen Zusammenhang zu stellen. Wie auch? Er begriff ja kaum, wie ihm geschah.

Mit einem Mal schlugen seine überempfindlichen Sinne an und wischten jeden Gedanken beiseite: Eine Spur des Mannes, dem das Einstecktuch gehörte, lag noch in der Luft. Allerdings wurde sie mit jeder Sekunde schwächer. Er musste sich beeilen, ihr zu folgen, damit sie ihn zu demjenigen führte, der ihn bewusstlos in dieser Gasse zurückgelassen hatte. Nur mit Mühe beherrschte er den Drang, loszustürmen. Denn wer sagte eigentlich, dass er wie ein Tier einer Spur nachjagen wollte, um am Ende einem Mann gegenüberzustehen, mit dessen Blut er beschmiert war?

Weil er dir etwas über das erzählen kann, was du jetzt bist.

Diese Stimme war also immer noch da.

»Ich brauche niemanden, der mir etwas über mich erzählt«, erwiderte er flüsternd, während er das Tuch in seiner Manteltasche verschwinden ließ. Leider ließ sich das Verlangen, der Fährte hinterherzujagen, nicht genauso einfach verstecken. »Ich brauche niemanden.«

Vollkommen unvermittelt bohrte sich ein tiefer Schmerz in seinen Leib. Ein Stöhnen unterdrückend, taumelte er gegen die dreckige Häuserwand, die Arme schützend um den Körper geschlungen. Doch gegen diese Pein, die aus seinem Inneren heraus entstanden war, konnte er nichts ausrichten.

Langsam, viel zu langsam ließ der Aufruhr in seinem Inneren wieder nach.

Wenn du niemanden brauchst, der dir erklärt, wer du bist – wer bist du dann?

»Adam ...« Die Antwort klang zögerlich und verriet, dass er sich da keineswegs sicher war. Doch es musste sein Name sein, weil es das Einzige war, was ihm geblieben war. Das Einzige, woran er sich erinnerte.

Ich habe dir den Namen gegeben und dich gerufen, denn du gehörst mir.

»Ich bin kein Hund, dem man einen Namen gibt, damit er auf einen hört.«

Ach nein? Dann verrat doch endlich einmal, wer du bist.

»Niemand, der dir gehört«, sagte Adam leise, und es klang wie ein Versprechen. Nicht einmal das höhnische Lachen der Stimme vermochte es in seiner Verbindlichkeit zu mindern. »Nein, dir gehöre ich nicht.«

TEIL I

Stadt der Liebe

1

Fremde Haut

Die aufkommende Kühle kündigte den Abend an. Es lag noch ein Hauch von Winter über Paris. Der Frühling war zwar auf dem Vormarsch, wie die Triebe der Alleebäume bewiesen, aber die Nächte waren nichtsdestotrotz kalt.

Kein Wunder, schließlich ist es erst Mitte März, sagte Adam sich und schlug eine Ausgabe von Le Parisien auf, die jemand auf einer Parkbank zurückgelassen hatte. Dabei interessierte ihn vor allem eine Information, auf die vermutlich kaum ein anderer Leser geachtet hätte: das Datum. Mehr noch als der Wochentag fesselte ihn das Jahr, denn Adam hatte nicht die geringste Ahnung, in welchem Jahrzehnt er sich befand.

Laut der Zeitung war es das Jahr 1889 – für ihn war es nur eine Zahl.

Seitdem er am Morgen in dieser Gasse zu sich gekommen war, war er wie ein Gejagter durch die Straßen gelaufen. Erst mit der einbrechenden Dämmerung hatte er begonnen, sich Gedanken um seine Umgebung zu machen. Obwohl ihm Häuser und Plätze vertraut vorkamen, hätte er keineswegs sagen können, wo er sich befand. Er verstand zwar die Verwünschungen, die sich die Straßenjungen zuwarfen, genau wie ihm Kleidung und Umgangsformen bekannt waren. Trotz alledem hatte er nicht das Gefühl, dass irgendetwas davon mit ihm zu tun hatte. Als wäre er nur ein Zuschauer, der versehentlich auf die Bühne und zwischen die Darsteller geraten war.

Adam blieb gegen eine Hauswand gelehnt stehen und gab vor, sich in die Zeitung zu vertiefen. Dabei überflog er lediglich die Schlagzeilen, unter deren Themen er sich vage etwas vorstellen konnte. Politik, Wirtschaft ... Er wusste, worum es ging, ähnlich einem Reisenden, der bei einem Zwischenstopp eine Zeitung kauft und sich sagt »ja, ja, die Franzosen und dieser Georges Boulanger. Das kann doch nicht gutgehen.« Dass es unweigerlich dunkel zu werden drohte, interessierte Adam dann jedoch mehr. Denn er wusste weder, wer er war, noch, wo er die Nacht verbringen sollte. Der ganze Tag war nicht mehr als ein böser Traum gewesen, und es sah nicht danach aus, als ob er bald endete.

Mit einem Schaudern dachte Adam daran, wie er im Morgenrot aus der Gasse gestolpert war, das Lachen dieser bösartigen Stimme noch in den Ohren, sämtliche Sinne betäubt von dem Blutgeruch eines fremden Mannes. Augenblicklich war ihm, als wäre er wieder dort, so lebendig stand ihm die Erinnerung vor Augen.

Der Geruch des Blutes ... die fordernde Stimme in seinem Kopf ... beseelt von dem Entschluss, seinem Jagdinstinkt auf keinen Fall nachzugeben, ganz gleich, wie drängend er sein mochte. Niemand anders würde für ihn entscheiden, verflucht noch einmal! Er würde exakt den Weg einschlagen, der von der Fährte des Mannes, dessen Blut an ihm haftete, wegführte.

Kaum hatte er der Gasse den Rücken zugedreht, setzte jener schreckliche Schmerz erneut ein, als werde er für seine widerspenstige Entscheidung bestraft. Trotzdem hielt er nicht inne, sondern taumelte voran, immer weiter, die ihn anstarrenden Menschen ignorierend.

Erst als sein Körper leidlich zur Ruhe kam, blieb er stehen und fand sich auf einem Platz wieder, der eigentlich eher eine breite Straße war. Die umstehenden Häuser waren vier, manchmal sogar fünf Stockwerke hoch. Jede Stelle freien Mauerwerks war mit Schriftzügen bemalt, die auf die Läden verwiesen. »Vins & Liqueurs« las er im dunstigen Morgenlicht, »Pâtisserie« und noch mehr »Vin«. Während er die kunstvollen Schriftzüge und Plakate betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er selbst Wein niemals »Vin« genannt hätte. Welche andere Sprache er bevorzugt hätte, welche vielleicht sogar seine Muttersprache war, fiel ihm jedoch nicht ein. In was für einer Sprache hatte eigentlich diese aufdringliche Stimme zu ihm gesprochen? Kein Französisch, wenn er sich richtig erinnerte.

Über dieses Geheimnis nachsinnend, schritt er aus, wurde aber sogleich am Kragen gepackt und zurückgerissen. Nicht eine Armlänge von ihm entfernt trabte ein schwarzer Kaltblüter vorbei, der ein schwer beladenes Gespann hinter sich herzog.

»Bist du selbst zu dieser frühen Stunde noch nicht ausgenüchtert, du Säufer? Oder schon wieder betrunken?«, brüllte der rotwangige Kutscher ihn an. In seinem Mundwinkel hing eine Pfeife, die aufgeregt auf und ab hüpfte. Dann war er schon an ihm vorbeigefahren.

»Sie sollten vorsichtiger sein, Monsieur. Die Rue Mouffetard ist gewiss nicht der richtige Ort zum Flanieren oder gar zum Tagträumen. Der Morgen ist eine geschäftige Zeit, und diese Lieferanten fahren wie die Teufel.« Der ältere Herr, der Adam so umsichtig zurückgerissen hatte, damit er nicht unter die Hufe des Kutschpferdes geriet, strich sich über seinen grau melierten Bart. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie sich zurückziehen würden. Sie sehen etwas derangiert aus.«

»Rue Mouffetard?«, wiederholte Adam in der Hoffnung, sein Gedächtnis möge endlich wieder funktionieren.

Doch in diesem Augenblick meldete sich unvermittelt jener unwiderstehliche Instinkt, der bereits auf das blutbeschmierte Einstecktuch mit solcher Vehemenz reagiert hatte. Der Auslöser war ein rhythmisches Schlagen, das alle anderen Geräusche übertönte.

Adam sah sich suchend um.

An der Seite des Herrn stand eine junge Frau, vielleicht seine Tochter. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und gab vor, mit großem Interesse die Auslagen eines Blumenstandes zu betrachten. Alles, was Adam von einem Moment zum nächsten wahrnahm, war die leichte Drehung ihres Halses, wodurch der Pulsschlag unter ihrer gespannten Haut sichtbar wurde.

Für einige Atemzüge gab es nur noch das ohrenbetäubende Schlagen ihres Herzens.

Beruhige dich. Das hier ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt für ein Opfer. Außerdem gefällt sie mir nicht.

Adam fuhr beim Klang der Stimme zusammen. So plötzlich, wie seine Sinne sich übersteigert hatten, so schnell verflog dieser Eindruck auch wieder. Zurück blieb nur ein Kribbeln in den Fingerspitzen, die sich fast auf den Hals der jungen Frau gelegt hätten. Zwar mochte er die Stimme verwünschen, aber soeben hatte sie ihn zweifelsohne vor einer Dummheit bewahrt.

Als der ältere Herr sich mit einem Nicken und einem äußerst beklommenen Ausdruck zum Gehen abwandte, brachte Adam gerade noch ein »Danke« hervor. Seine Zunge formte das Wort mühelos, trotzdem konnte er sich des Verdachts nicht erwehren, eigentlich auf eine andere Sprache zurückgreifen zu müssen. Dann lief er los, getrieben von dem Bedürfnis, möglichst viel Abstand zwischen sich und den unwiderstehlich schlagenden Puls dieser Frau zu bringen.

Etwas stimmte nicht mit ihm – ungeachtet der Tatsache, dass er nicht wusste, wer er war, und dass eine körperlose Stimme zu ihm sprach. Nein, etwas war grundlegend verkehrt, so verhielt sich kein Mensch, schlicht aus dem Grund, weil kein menschliches Wesen über solche empfindlichen Sinne verfügte.

Geschickt bahnte Adam sich einen Weg durch die belebten Straßen: Dienstmägde mit beladenen Körben in ihren Armbeugen, Gruppen von plaudernden Männern mit Schnauzern, Bärten und Pfeifen im Mund, und Kinder, die sich die Zeit mit Hüpfspielen auf den quadratischen Pflastersteinen vertrieben. Erstaunlich leichtfüßig umschiffte er Waren, die die Ladenbesitzer auf dem Gehweg aufgebaut hatten, und wich der Schnauze eines Straßenköters aus, der nach seiner Ferse schnappte. Erst als er das Gefühl hatte, sich wieder unter Kontrolle zu haben und auch die Fährte der jungen Frau nicht mehr auszumachen war, verlangsamte er seinen Schritt. Zu seiner eigenen Verwunderung war er trotz seines raschen Gangs nicht außer Atem gekommen, auch auf seinen Wangen spürte er keine Erhitzung. Das Laufen hatte ihm keine nennenswerte Anstrengung abverlangt.

Adam blieb vor einem Möbelladen mit großen Schaufenstern stehen und wagte einen Blick auf sein Spiegelbild. Unvermittelt setzte er einen Schritt zurück und blinzelte im festen Glauben, dass die Scheibe ihm einen Streich spielte. Zu seinem Entsetzen starrte ihm ein Fremder entgegen. Denn dieses durch die Spiegelung leicht unscharfe Gesicht konnte unmöglich ihm gehören! Es war ihm so unbekannt wie jedes beliebig andere, dem er bislang auf der Straße begegnet war.

Vorsichtig, als befürchtete er, sich zu verbrennen, tastete er nach seiner Wange. Dabei beobachtete er, wie sein Gegenüber die Bewegung exakt nachahmte. In dem Moment, als er seine Finger auf seinem Gesicht spürte, berührte auch das Spiegelbild die Wange des Fremden.

Schlagartig erfüllte Adam das Verlangen, die Scheibe mit der Faust einzuschlagen, zuzusehen, wie das Lügenbild in tausend Scherben zersprang. Und dann würde er flüchten, bevor er in einem der Bruchstücke erneut dieses unbekannte Gesicht entdeckte, das nun seins sein sollte. Doch trotz des Sturms in seinem Inneren gelang es ihm, sich zu beherrschen. Die Hände zu Fäusten geballt, stand er da und versuchte herauszufinden, mit was für einem Gesicht er eigentlich gerechnet hatte. Einige der Männergesichter, die seinen Weg gerade erst gekreuzt hatten, tauchten vor seinem geistigen Auge auf – lauter Gesichter, die anderen gehörten, genau wie das im Spiegel, das ihn ungeduldig ansah.

Es dauerte eine Weile, bis Adam sich eingestand, dass er keine Vorstellung davon hatte, wie er eigentlich aussehen sollte. Aber es sollte etwas sein, das zu seiner Selbstwahrnehmung passte, und dieser viel zu junge Mann mit den klassischen Zügen konnte das unmöglich sein. Zu edel, geradezu schön war dieses Gesicht, mit genau dem richtigen Bruch in der Perfektion, dass es nicht einer Maske glich. Der Mund einen Hauch zu sinnlich – zumindest aus Sicht eines Mannes ... eine griechische Nase ... Am meisten jedoch irritierte ihn der Blick aus den eindringlichen Katzenaugen, deren Grün sogar im trüben Fensterglas aufleuchtete.

Ich habe eine gute Wahl getroffen, nicht wahr? Du bist ein wahres Schmuckstück, sehr schön, wortwörtlich, brachte sich die Stimme voll Besitzerstolz ein.

Sofort lag Adam eine Erwiderung auf der Zunge, obwohl er kaum verstand, was die Stimme tatsächlich meinte. Aber trotz seiner Aufgebrachtheit war ihm klar, dass er mit einer an sein Spiegelbild gerichteten Antwort unnötig Aufmerksamkeit erregt hätte. Und davon erzielte er auch ohne hitzig geführte Selbstgespräche schon genug. Der Ladenbesitzer hatte sich auf der Innenseite des Schaufensters aufgebaut und machte keinen sonderlich glücklichen Eindruck. Nicht mehr lange, dann würde er durch die Tür treten und ihn auffordern, zu gehen. So, wie Adam aussah, verscheuchte er zweifelsohne die Kundschaft.

Sein Äußeres als »derangiert« zu bezeichnen, wie der ältere Herr es getan hatte, war milde ausgedrückt. Im Gegensatz zu den meisten Männern auf der Straße trug Adam nämlich weder einen Hut noch einen Zylinder, der eigentlich zu seinem eleganten Anzug gepasst hätte. Stattdessen stand sein dunkelblondes Haar zerzaust in alle Himmelsrichtungen ab. Sein Mantel war an der Schulter eingerissen, so dass die Füllung hervorquoll, seine Weste stand offen, genau wie sein zerknittertes und mit getrockneten Blutspuren übersätes Hemd. Von einem Plastron war nichts zu sehen, dafür jedoch seine ebenfalls mit dunklen Schlieren überzogene Brust. So viel Blut – und nichts davon gehörte ihm, wie seine Haut bewies: Nirgends war eine Schnittwunde zu entdecken.

Hastig machte Adam sich daran, alles, so gut es ging, in Ordnung zu bringen, wobei ihm die fehlenden Knöpfe einige Probleme bereiteten. Dann wandte er sich von dem Spiegelbild ab und ging mit gesenktem Kopf davon.

Von einer plötzlichen Erschöpfung heimgesucht, warf Adam die zerknüllte Zeitung aufs Pflaster und stieß sich von der Häuserwand ab. Da währte seine Vergangenheit erst einen Tag und machte ihm schon derartig zu schaffen. Vielleicht war Vergessen doch nicht das Schlimmste, das einem passieren konnte, dachte er zynisch.

Mit der einbrechenden Dämmerung ließ sich immer häufiger beobachten, wie die Leute ihre Mantelkragen aufstellten. Jedermann beeilte sich, von der Straße zu kommen, um in einem der Restaurants einzukehren oder zu Hause die Füße hochzulegen. Ihn jedoch berührte die aufziehende Kälte nicht, zu seiner Verwunderung wurden nicht einmal seine Hände klamm, wobei doch alle anderen Handschuhe zückten oder ihre Manteltaschen ausbeulten. Das Gefühl, sich außerhalb aller Regeln zu bewegen, verstärkte sich. Und noch eine andere Beobachtung setzte Adam zu: Immer wieder hatte er die Tafeln vor den unzähligen Bistros und Restaurants überflogen und stets damit gerechnet, dass sein Magen Hunger melden würde. Aber nichts dergleichen war geschehen.

Wenn ihm schon nicht kalt wurde und er auch keinen Hunger verspürte, so musste er doch wenigstens müde werden, verdammt! Aber er fühlte sich bloß ausgebrannt, sein Geist war erschöpft – mehr nicht. Während sein Körper anscheinend endlos weiterwandern konnte, fühlte er sich innerlich, als hätte er seit hundert Jahren nicht mehr geschlafen. Ganz gleich, wie die Dinge standen – er würde sich bald ein Quartier für die Nacht suchen müssen. Dann würde er sich unter den Decken verkriechen und sich mit ein paar ernsthaften Fragen auseinandersetzen. Aber erst nach einem ausdauernden Schlaf, das nahm er sich fest vor. Einige Stunden lang weder denken noch fühlen – das brauchte er.

Während er die von Gaslampen beleuchteten Straßen und mit ihnen das Menschentreiben hinter sich ließ, wurden die Häuser ärmlicher und schlichter. Die eben noch stolz herausgeputzten Läden wurden von verrammelten Schaufenstern abgelöst, das bunte Duftkaleidoskop der Küchen wurde von Kohlgeruch überlagert, und der überlaufende Rinnstein passte nicht zu dieser Weltstadt.

Obwohl es Adam widerstrebte, durchsuchte er abermals seine Manteltaschen. In den letzten Stunden hatte er ein ums andere Mal seine Kleidung nach Hinweisen auf seine Identität durchforstet, wobei er lediglich ein paar Münzen zum Klingen gebracht hatte. Fast schien es, als seien seine Taschen genauso leer wie seine Erinnerung. Jetzt konnte er sich nicht länger drücken, es sei denn, er wollte die Nacht auf der Straße verbringen. Und er wollte sich lieber nicht darauf verlassen, dass die Kälte ihm tatsächlich nichts anhaben konnte.

Für eine gründliche Tascheninspektion nutzte er die Gunst eines offen stehenden Tors und huschte in den dahinterliegenden Hinterhof. Falls ihm angesichts des Ergebnisses die Gesichtszüge entgleisen sollten, wollte er lieber für sich sein. Nun blickte er auf die Münzen in seiner Hand, und zu seinem Erstaunen konnte er ihre Konturen trotz des spärlichen Lichts bestens erkennen. Auch so eine Seltsamkeit, aber damit wollte er sich jetzt nicht auseinandersetzen. Farben konnte er kaum ausmachen, allerdings zeichnete sich die Prägung lesbar ab. Es handelte sich um italienische Lire.

Ein Lächeln schlich sich auf Adams Gesicht. Wenn er aus Italien stammen sollte, erklärte das zumindest schon einmal das nicht abzustreifende Gefühl, mit Frankreich und seiner Sprache lediglich vertraut zu sein, mehr aber auch nicht. Vielleicht war er ein Reisender auf Abwegen.

Adam versuchte bewusst, etwas auf Italienisch zu denken, als er die beiden Schatten bemerkte, die gerade das Tor hinter sich schlossen. Allerdings nicht, ohne zuvor noch einen prüfenden Blick auf die Straße zu werfen, ob sie dabei auch niemand beobachtete.

Während Adam mit den Münzen in der hohlen Hand klimperte, verengte er die Augen zu Schlitzen. Vermutlich war das gar nicht nötig, denn er konnte die beiden Männer auch so gut sehen, obgleich eine innere Stimme ihm verstört zuflüsterte, dass das in dieser Dunkelheit eigentlich unmöglich sein sollte.

Die Männer standen im lichtlosen Durchbruch, von wo aus sie ihn sehen konnten, während er bestenfalls ihre Umrisse erahnen müsste. Stattdessen sah er deutlich, dass der eine im besten Mannesalter war, obwohl nichts an ihm mehr gut aussah – weder sein zerquetschtes Nasenbein und die verquollene Augenpartie noch die krummen Finger, mit denen er sich unter der Schirmmütze kratze. Die Schultern breit, die Beine krumm. Ein ausgemachter Schläger, jemand, der sich in einem anderen Leben als Boxer verdingt haben mochte. Der Mann neben ihm war einige Jahre jünger und von einer Schlaksigkeit, die man vorschnell mit Kraftlosigkeit gleichsetzen konnte.

Doch Adam unterlief dieser Fehler nicht. Er sah den jungen Kerl nicht nur, er nahm ihn mit allen Sinnen wahr. Wie ein vielstimmiger Chor flüsterten sie ihm zu, dass es sich trotz der schlechten Ernährung um einen gesunden und muskulösen Kerl handelte. Und um einen flinkeren Gegner als bei dem Exboxer an seiner Seite.

Nicht Gegner – Opfer, meldete sich die Stimme zurück, freudig erregt wie ein Kind, das zum Jahrmarkt geht. Zugleich schwang unüberhörbar auch eine perverse Vorfreude auf den bevorstehenden Übergriff mit.

Adam keuchte auf, denn in den letzten Stunden hatte er zunehmend gehofft, dass die Stimme nur von dem Schrecken herrührte, als er in jener dunklen Gasse aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war. Sie nun plötzlich wieder hören zu müssen, schockierte ihn zutiefst.

Der Exboxer verstand sein Aufstöhnen jedoch falsch. »Der Herr braucht doch keine Angst zu haben«, setzte er in einem um Vertrauen heischenden Ton an. Betont nebensächlich schlenderte er auf Adam zu, wobei ihm ein abstoßender Gestank nach Kampflust und Habgier vorauseilte.

Der jüngere Mann hielt sich unterdessen zurück – eine vorbildliche Nachhut, die vermutlich davon ausging, nicht viel zu tun zu bekommen. Wie viel Widerstand konnte schon ein elegant gekleideter Herr leisten, der sich offensichtlich durch sämtliche Lokale getrunken hatte, bis ihm Zylinder und Halstuch abhandengekommen waren?

»Yves und ich wollten nur einmal nachsehen, ob bei Ihnen auch alles zum Besten steht«, plauderte der Exboxer weiter. »Die Hinterhöfe von Belleville haben nämlich keinen sonderlich guten Ruf. In der letzten Zeit sind hier einige Leichen gefunden worden. Blutleer, wie es heißt. Vermutlich nicht mehr als ein dreckiges Gerücht, aber niemand will ein Risiko eingehen. Sie doch ganz bestimmt auch nicht oder, Monsieur?« Er zeigte ein Lächeln voller Zahnlücken, während er den einen Arm hinter den Rücken hielt, als wolle er etwas verbergen. Adam ahnte, worum es sich handelte, denn er hatte das ledernde Geräusch gehört, das der Totschläger in der Hand verursacht hatte.

Reiß diesem wandelnden Abfall einfach die Kehle heraus, und dann widmen wir uns dem Jungen. Yves hat in seiner Kindheit gesungen wie ein Vögelchen. Es ist immer noch etwas von seiner Begabung spürbar. Bring ihn für mich zum Singen. Ich mag das.

In Adams Arm- und Rückenmuskulatur breitete sich ein warmes Kribbeln aus, dann spannte sie sich ohne sein Zutun an. Sein Körper glitt in eine Angriffshaltung, als bräuchte er gar nicht erst sein Einverständnis dafür. Als wäre ein Kampf die natürlichste Sache der Welt für ihn. Ehe er sichʼs versah, schenkte er dem Mann ein einladendes Lächeln.

»Ausgeblutete Leichen? Und niemand hat etwas von den Morden mitbekommen?«

»Nein, in Belleville kümmert man sich um seine eigenen Angelegenheiten, selbst wenn sich jemand im Hof die Seele aus dem Leib schreit. Ist auch besser so, wenn Sie mich fragen.«

Der Mann mit dem zerschlagenen Gesicht blieb eine Armlänge von Adam entfernt stehen. Mittlerweile machte er sich nicht einmal mehr die Mühe, sein Opfer mit einem Lächeln in Sicherheit zu wiegen. Hätte er nicht derartig auf seine Überlegenheit vertraut, wäre ihm vermutlich aufgefallen, dass Adam nicht sonderlich beunruhigt wirkte. Stattdessen ließ er sogar aufreizend die Münzen in seiner Hand klingen.

»Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, dass ich mir die Münzen mal genauer ansehe. Hab eine Schwäche für die klimpernden Dinger«, knurrte der Exboxer, während er eine herausfordernde Grimasse zog.

»Das glaube ich gern«, erwiderte Adam leichthin. Dann schleuderte er ihm die Münzen ins Gesicht.

Der Exboxer setzte mit einem Schrei zurück, mehr überrascht als verletzt, obwohl eine Münze sein Augenlid aufgeritzt hatte. Doch im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen und brachte den versteckten Totschläger zum Vorschein.

Damit hatte Adam gerechnet.

Nicht gerechnet hatte er damit, wie langsam der Angriff des Mannes sich in seiner Wahrnehmung vollzog. Er hätte die Bewegungsabläufe quasi mit dem Zeigefinger verfolgen können. Dadurch hatte er die Bahn des Schlages schon erkannt, kaum dass sich die Schulter des Mannes in Bewegung setzte. Wäre Adam darüber nicht so verwundert gewesen, hätte er den Angriff gleich im Keim ersticken können. So wehrte er den Totschläger erst im letzten Moment mit dem Unterarm ab.

Dieser Kampf war ein derart leichtes Spiel, dass Adam vor Überraschung die Augenbrauen hochzog. Er hatte fest damit gerechnet, der Aufprall des Schlagarms würde ihn zumindest ein Stück zur Seite taumeln lassen. Stattdessen stand er wie ein Fels da, während der Schmerz in seinem Arm aufflammte ... und sofort wieder erlosch. Restlos. Sein Angreifer dagegen jaulte qualvoll auf und ließ den Totschläger fallen, als besäße er plötzlich nicht mehr die Kraft, ihn zu halten.

Vermutlich hätte Adam weiterhin dagestanden und den fluchenden und gleichzeitig jammernden Mann beobachtet, aber der jüngere Kerl namens Yves attackierte ihn nun von der Seite. Es war ein geschickter und vor allem schneller Angriff, der ihm eigentlich hätte entgehen müssen. Aber nicht nur Adams Instinkte sprangen sofort an, sondern auch seine Beine setzten sich wie von Zauberhand in Bewegung.

Für Adam galten offenbar andere Zeitgesetze, als er sich drehte und so Yvesʼ Nierenhaken auswich. Der Junge hatte noch nicht richtig begriffen, dass sein Angriff daneben gegangen war, da schlug Adam ihm schon die Faust ins Gesicht. Während Yves ins Straucheln geriet, verpasste Adam dem Jungen einen Tritt in den unteren Rücken, woraufhin der in die Knie sank.

Nicht zu fest! Nicht zu fest!, krakeelte die Stimme wie ein überdrehtes Aufziehmännchen.

Dennoch hatte Adam den Verdacht, dass die Stimme vor Begeisterung aufjauchzen würde, wenn er dem am Boden liegenden Jungen seine Stiefelspitze in die Rippen rammte. Adam sollte Blut fließen lassen, darum ging es der Stimme. Je mehr Blut, desto besser. Augenblicklich fühlte Adam sich wie ausgenüchtert, ja, regelrecht angewidert.

Der Exboxer nutzte den günstigen Moment und ließ ein Klappmesser aufspringen. Adam konnte zwar den Rost auf dem Stahl riechen, hegte aber keinen Zweifel daran, dass die Klinge durchaus ihren Zweck erfüllte. Fasziniert bemerkte er das leichte Zittern der Hand, die das Messer in seine Richtung stieß. Dieses Mal gelang ihm keine Abwehr, sondern lediglich ein Ausweichmanöver. Mit einem reißenden Geräusch drang die Schneide durch den Mantel und streifte seinen Rippenbogen.

Wieder ein Aufflammen, dieses Mal ein wenig länger, dann erlosch auch dieser Schmerz. Adam griff in den klaffenden Schnitt im Mantel, spürte Blut und ertastete schließlich etwas wie einen frisch verheilten Schnitt.

»Das kann nicht sein«, brachte er atemlos hervor.

»Oh, doch«, sagte der Exboxer, wobei er nach Adams Mantelaufschlägen griff und ihm das Messer an die Kehle hielt. »Das kann es sehr wohl, du dreckige Ratte.«

Bevor er allerdings auch nur zum Schnitt ansetzen konnte, ging Adam in die Knie. Zu guter Letzt hatte er doch noch einen Nierenhaken von Yves einstecken müssen. Hinter ihm keuchte der Junge vor Befriedigung auf, ehe er ihm den Ellbogen in den Nacken rammte.

»Du gottverdammter Hurensohn, mir derartig in den Hintern zu treten. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du auf deinem nie wieder sitzen können.« Yves packte Adam ins Haar und zerrte seinen Kopf in den Nacken. Als sein Kompagnon erneut das Messer ansetzen wollte, verpasste er ihm einen leichten Schlag. »Steckt das verfluchte Messer weg, Benoit. Wenn du ihn auf diese Weise bearbeitest, geht ihm viel zu schnell die Puste aus. Und das will ich nicht. Nicht nach diesem verfluchten Tritt.«

Adam atmete weiterhin schwer, obwohl der Schmerz in seiner Nierengegend bereits nachließ. Fast war er versucht, den Jungen gewähren zu lassen, einfach um herauszufinden, wann die Grenze erreicht war, ab der der Schmerz sich nicht mehr in nichts auflösen konnte.

Das reicht jetzt. Nun klang die Stimme keineswegs mehr amüsiert, sondern ungeduldig, gar gereizt. Ich will meine Kraft nicht damit verplempern, dich zu heilen. Ich will diesen Jungen. Also?

»Was also?«, fragte Adam und fing zu lachen an, so verrückt war die ganze Situation.

Doch er hörte schlagartig auf, als Yves ihm den Arm auf den Rücken drehte und ihn hochzog. Kaum war er auf den Beinen, boxte Benoit ihm gezielt in den Magen. Mit dem Exboxer habe ich wohl Recht gehabt, dachte Adam, während ihm sämtliche Luft jäh aus den Lungen wich. Dann traf ihn der nächste Faustschlag.

Ein gehässiges Lachen erklang. »Sein Gesicht, das braucht unbedingt eine Spezialbehandlung«, ereiferte sich Yves, während er an Adams Unterarm riss, dass es im Schultergelenk knackte.

»Das hättest du dir alles ersparen können, du Schönling.« Benoits Vorfreude war offensichtlich.

Der Schlag traf Adam mitten ins Gesicht, und er hörte sein Nasenbein brechen. Zu seiner Überraschung verloschen die Schmerzen dieses Mal nicht. Dafür ließ das Gefühl nach, lediglich einen verrückten Traum zu erleben. Erleichterung machte sich breit ... und Wut, gepaart mit dem Bedürfnis nach Revanche.

Der Exboxer, dessen Erregung ihm widerwärtig in die Nase stieg, packte ihn am Kinn und erzwang seinen Blick. Adam sah das breite Grinsen nur eine Handbreit vor sich.

»Nun, hast du keinen Trick mehr auf Lager?«, fragte Benoit.

Adam leckte über seine Oberlippe, über die ein Rinnsal Blut floss. Dann stieß er seine Stirn schnell und hart ins Gesicht seines Gegners. Dessen Schmerzschrei erschallte, und im selben Moment hatte Adam sich aus Yvesʼ Griff gewunden. Ohne jedwede Hemmung drückte er dem erstaunt dreinblickenden Jungen den Kehlkopf mit den Fingerknöcheln ein. Yves riss die Augen auf und umschlang mit beiden Händen seinen Hals, als Adam dem blind um sich schlagenden Exboxer mit einer geschickten Bewegung das Messer abnahm. Geradewegs rammte er ihm die Klinge unterhalb des Brustkorbs in den Leib und ließ nicht zu, dass der niedersinkende Mann sich von ihr befreite.

Warmes Blut drang an seine Hände, benetzte seine Haut. Tief in seiner Brust schlugen plötzlich zwei Herzen, wobei das eine stetig langsamer wurde, bis es erlosch. Ein Gefühl von Erlösung streifte ihn, dann verflüchtigte es sich im Nachtwind.

Erst als Benoit nicht mehr zuckte, konnte Adam von ihm ablassen. Stolpernd hielt er auf den Jungen zu, dessen Züge im Tod zu einer grauenhaften Maske erstarrt waren.

Jetzt will ich ihn nicht mehr.

Die Stimme klang geradezu beleidigt. In diesem Moment hätte Adam alles dafür gegeben, ihr den Hals umzudrehen. Gereizt wischte er sich mit der Hand übers Gesicht, ungeachtet der Tatsache, dass sie blutverschmiert war. Dann erst blickte er sich um, doch niemand war auf den Hof gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Kein zufälliger Passant, kein Bewohner aus dem düsteren Mietshaus. In einer Hinsicht hatten die beiden toten Männer Recht behalten: In diesem Viertel scherten sich die Leute tatsächlich nicht darum, wenn sich jemand vor Angst und Schmerz die Lungen aus dem Leib schrie. Sogar die eben noch erleuchteten Fenster waren jetzt dunkel, als habe man rasch die Lichter gelöscht.

2

Nachtschwärmer

Die Nacht war schon weit vorangeschritten, als Adam sich in einem Viertel wiederfand, in dem auch zu dieser Uhrzeit noch reges Treiben herrschte. Bars, Lokale und Theater lockten mit bunten Lichtern und Stimmengewirr die Nachtschwärmer, und auch er konnte sich diesem Sog nicht entziehen. Literaturcafés konkurrierten mit Tanzlokalen, aus Kellern tönte Musik, Automobile polterten über die Pflastersteine. Die Atmosphäre war berauschend, die Garderoben der Damen waren hinreißend. Es wurde in verschiedenen Sprachen geflirtet, geschimpft und auch so manche intellektuelle Diskussion geführt. Die Straßen waren voller Leben – und genau das zog Adam fast gegen seinen Willen an. Einzutauchen in dieses pulsierende Leben war eine Versuchung, auch wenn es ihm vor Augen führte, dass er abseits dieser Melange aus Künstlern, Freudenmädchen und von Abenteuerlust heimgesuchten Bürgerlichen stand.

Seit er den Hinterhof in Belleville, ohne sich einmal umzudrehen, verlassen hatte, ließ er sich treiben. Die Suche nach einer Unterkunft hatte er aufgegeben, genau wie er sich weigerte, seine ramponierte Kleidung zu richten. Seine nicht müde werdenden Beine trugen ihn immer weiter voran. Die Leute wichen ihm aus, manche drehten sogar den Kopf nach ihm um, aber das kümmerte ihn nicht. Er befand sich in einem Zustand vollkommenen Desinteresses, denn das, was er wahrnahm, war nicht real.

Alles um ihn herum war eine einzige Lüge.

Davon war er überzeugt, seitdem seine Wunde sich von selbst verschlossen hatte, seinen Händen eine unnatürliche Kraft innewohnte und eine Stimme in seinem Inneren ihn zu überreden versuchte, ein Blutbad anzurichten. Dabei konnte er nicht einmal sagen, was ihn mehr verstörte: die Abweichungen seines Körpers von der Norm oder der Eindringling mit seinen Einflüsterungen. »Das ist doch völlig gleichgültig«, raunte er sich selbst zu.

Allem Anschein nach war er ein Geisteskranker, dem es gelungen war, seiner Obhut zu entkommen, und der nun ohne eine Erinnerung durch eine Stadt lief, die ihm fremd und vertraut zugleich war. Vielleicht war er ein Schizophrener, der verletzt umherirrte, während er in seinem Wahn glaubte, unversehrt aus dem Kampf hervorgegangen zu sein. Es konnte durchaus sein, dass ihm das Blut unvermindert aus seiner eingeschlagenen Nase lief, während er nur getrocknete Spuren und nicht einmal eine Schwellung ertasten konnte. Wer konnte schon sagen, ob der Kampf in Belleville überhaupt stattgefunden hatte?

Unvermittelt blieb Adam stehen, schlug die Hände vors Gesicht und stieß ein bitteres Lachen aus. Er sollte zusehen, dass ihn irgendjemand in die Nervenheilanstalt brachte, in die er zweifellos gehörte.

Reiß dich zusammen, fauchte die Stimme ihn an. Du erregst auch so schon viel zu viel Aufmerksamkeit.

»Der Gedanke an eine Nervenheilanstalt gefällt dir wohl nicht«, stellte Adam fest. Mittlerweile machte es ihm nichts mehr aus, lautstark mit einer nicht vorhandenen Person zu sprechen. Schließlich war er verrückt, warum sollte er das verbergen? »Wundert mich nicht. Sicherlich haben sie dort Mittel, dich zum Schweigen zu bringen. Meinetwegen können mir die Irrenärzte ruhig den Schädel aufstemmen, um dich aus meinem Kopf zu kratzen. Hauptsache, ich werde dich samt deiner Teufelskunst los.«

Das wäre gewiss eine interessante Erfahrung mit der Nervenheilanstalt, aber ich befürchte, ich habe andere Pläne mit dir.

Adam ersparte sich eine Entgegnung und sah sich stattdessen auf der belebten Straße um. Um diese Zeit waren jede Menge Betrunkene und Tunichtgute unterwegs. Die wenigen Passanten, die einen halbwegs anständigen Eindruck machten, wechselten die Straßenseite, bevor Adam sich dazu entschließen konnte, sie anzusprechen. Bei dem ganzen Rummel, der hier herrschte, musste es doch irgendwo in der Nähe eine Gendarmerie geben. Dort würde er einfach hineinmarschieren und seine Geschichte erzählen.

Während er diesen Entschluss fasste, trieb der Nachtwind ihm einen Geruch zu, der ihm wie Muskat in der Nase prickelte. Adam schauderte vor Erstaunen. Irgendwo in diesem Straßengeflecht war jemand unterwegs, der den gleichen Geruch trug, den er an dem Einstecktuch und auch an sich selbst bemerkt hatte. Allerdings mit einer anderen Note, die verriet, dass es sich keineswegs um den Besitzer des Tuches handeln konnte.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, verfiel Adam in einen leichten Lauf und folgte der Schleppe, die sich wie eine flüchtige Spur durch ein ganzes Labyrinth von Fährten zog. Wenn er nicht aufpasste, würde er sie verlieren ... schneller, er musste sich beeilen.

Abrupt blieb Adam stehen.

Das war nicht sein Entschluss gewesen, den Quell dieses Geruchs zu jagen. Allerdings hatte ihm auch die Stimme nichts zugeraunt. Es war eine Art Instinkt, die ihn dazu veranlasste, von einer ähnlichen Eindringlichkeit wie ein Abwehrreflex oder sogar wie das Bedürfnis, nach Luft zu schnappen.

Das wird ja immer verrückter, dachte Adam. Frustriert schlug er auf eine Häuserwand ein. Der raue Mauerstein biss in seine Handkante, doch der Schmerz verebbte sogleich. Adam stieß einen Wutschrei aus und schlug erneut und mit bedeutend mehr Kraft zu. Er würde so lange zuschlagen, bis der Schmerz, der ihm zustand, sich nicht länger fortstahl. Das würde er sich nicht nehmen lassen, von niemandem! Selbst wenn er dafür die ganze Häuserfront einreißen müsste.

Doch so weit kam Adam nicht, denn ein unvermittelter Schlag in den Rücken stoppte seine Rage. Er wurde gekonnt herumgeschleudert und gegen die Wand gepresst, das Ende eines Schlagstocks direkt unter seinem Kinn. Adam lächelte, als er seinen Angreifer erkannte. Nun, zumindest konnte er sich nun die Suche nach einer Gendarmerie sparen. Dieser uniformierte Herr, der ihn von oben bis unten musterte, konnte ihm sicherlich weiterhelfen.

Sag ihm, dass du dich jetzt beherrschen wirst. Oder verpass ihm einen ordentlichen Tritt und sieh zu, dass du fortkommst.

»Freut mich, Sie zu sehen«, brachte Adam wegen des Schlagstocks nur abgehackt hervor. »Mehr, als Sie für möglich halten.«

»Ist das so?« Der Gendarm, ein fülliger Mann, dessen Gesicht von unzähligen Nachtschichten gezeichnet war, machte eher einen gelangweilten als einen gereizten Eindruck. »Das Chat Noir scheint im Augenblick auch wirklich nur Irre anzuziehen. Was haben Sie getrunken oder geraucht, Monsieur, dass Sie derartig auf diese arme Wand einprügeln?«

»Ich wünschte, ich könnte es sagen, aber leider habe ich nicht die geringste Ahnung.« Adam begann trotz des Schlagstocks, der an Ort und Stelle blieb, zu lachen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit mir los ist. Seit ich in dieser Gasse zu mir gekommen bin ...«

»Sie sind also überfallen worden. Nun, das erklärt zumindest Ihren ramponierten Aufzug.« Der Gendarm nickte, als könne er sich nun alles selbst erklären. Ein übermütiger Reisender, der zum ersten Mal Absinth oder auch sonst irgendein Teufelszeug probiert und anschließend im berauschten Zustand die Bekanntschaft mit einigen Gaunern dieses Viertels gemacht hatte. Nicht der Erste und auch bestimmt nicht der Letzte, der in dieser Nacht eine solche Erfahrung machte. Vermutlich würde er dieses Erlebnis aus seinem Reisebericht über die Stadt der Liebe aussparen, wenn er mit Freunden am heimischen Kamin beisammensaß. »Wo ist denn Ihre Unterkunft? Falls sie nicht weit von hier liegt ...«

»Sie verstehen das falsch«, unterbrach Adam ihn harsch, als er begriff, worauf der Gendarm hinauswollte. Der wollte ihn schleunigst loswerden, anstatt ihn auf die Gendarmerie zu bringen, wo er ihm vermutlich nur Arbeit machte.

Bevor er den Gendarmen allerdings davon überzeugen konnte, dass man ihn auf keinen Fall länger allein durch die Straßen von Paris irren lassen durfte, wurde ihm schlagartig übel. Sein Magen drehte sich um, dass er gequält aufstöhnte, während seine Beine ihm, zum ersten Mal seit den durchwanderten Stunden, den Dienst zu versagen drohten. Er sank ein Stück in sich zusammen, woraufhin der Gendarm einen Schritt zurücktrat, als befürchte er, jeden Augenblick Adams Mageninhalt ausweichen zu müssen.

»Merde«, schimpfte der Gendarm und benutzte den Schlagstock nun nicht länger, um Adam in Schach, sondern um ihn auf den Beinen zu halten.

Hinter ihnen hielt eine Kutsche an. Adam bemühte sich verzweifelt, seinen krampfenden Magen unter Kontrolle zu bringen, als er plötzlich nichts anderes als Muskatduft wahrnahm, gemischt mit Papier, Sauberkeit und einem teuren Rotwein. Obwohl ihm wegen der Übelkeit der kalte Schweiß ausbrach, bestand seine ganze Welt nur noch aus diesem Geruch. Zugleich empfand er eine fast kindliche Freude darüber, dass seine Jagd doch noch erfolgreich gewesen war. Er hatte die Quelle des Duftes erreicht, wenn auch auf einem etwas krummen Weg.

»Mein Guter, habe ich Sie endlich gefunden!«, ertönte eine angenehme, geradezu singende Stimme.

Neben dem Gendarmen tauchte eine schmale Gestalt auf, ein älterer Herr in einem überaus eleganten Gehrock. Das schlohweiße Haar war ein wenig zu lang im Nacken, und trotz des modischen Schnurrbarts wohnte seinem Gesicht etwas Knabenhaftes inne. Er täuschte vor, Adam die Schulter zu tätscheln, berührte ihn in Wirklichkeit jedoch nicht. »Mein Gott, Sie sehen ja wirklich scheußlich aus. Das kommt davon, wenn man versucht, mit dein Kopf voran durch die Tür zu rennen, anstatt sie einfach zu öffnen. Was sind Sie nur für ein ausgemachter Trunkenbold!«

»Sie kennen den Monsieur und wissen, was ihm zugestoßen ist?«

»Natürlich kenne ich diesen Monsieur, schließlich ist er mein Neffe – wenn auch nur zweiten Grades. Er ist zur Eröffnung der Weltausstellung angereist. Wir haben uns mit einer Gesellschaft eine Vorstellung im Chat Noir angesehen und anschließend noch die eine oder andere Bar aufgesucht. Mein junger Verwandter hat die Wirkung, die unserem berühmten grünlichen Getränk zu eigen ist, unterschätzt und ist geradewegs gegen eine Tür gelaufen. Eigentlich wollte er nur etwas frische Luft schnappen ... Nun habe ich ihn ja wiedergefunden.«

Adam legte sich eine Hand über seine zitternden Lippen. Konnte es wirklich sein, dass er sich letzte Nacht betrunken und den Kopf gestoßen hatte? War alles, was er seitdem erlebt hatte, eine vorübergehende Verwirrung, bis sein Gehirn abschwoll? Hoffnung keimte in ihm. Deshalb die Übelkeit und die quälende Stimme. Und deshalb war er auch ausgerechnet in dieses Viertel gelaufen, all die vielen Kilometer, weil er hier schon einmal gewesen war. Als könne sich ein Teil von ihm doch an die Geschehnisse vor dem Morgen in der Gasse erinnern. Der Herr ... sein Onkel musste ihn also schon seit dem letzten Abend vermissen. Obwohl es eben so geklungen hatte, als habe alles heute Nacht stattgefunden.

Also beschloss Adam, nach der einzigen Sache zu fragen, die er mit Bestimmtheit wusste: »Wie lautet mein Name?« Seine Stimme war so rau, dass er seine Worte selbst kaum verstand.

Auf dem Gesicht des eleganten Herrn zuckte es, dann wandte er sich mit einem einnehmenden Lächeln dem Gendarmen zu. »Es wird wohl das Beste sein, wenn ich ihn jetzt in meine Kutsche bugsiere, bevor auf offener Straße noch ein Unglück passiert. Diese fahle Gesichtsfarbe verspricht nichts Gutes.«

Obwohl der Gendarm den Schlagstock senkte, woraufhin Adam noch ein Stück tiefer zusammensackte, trat er nicht beiseite. »Es klang so, als sei der Monsieur überfallen worden«, gab er zu bedenken.

Der Herr, den jener rätselhafte Muskatduft umgab, musterte Adam angestrengt durch seine Brillengläser, dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er entschieden. »Er sieht genau so aus, wie er uns verlassen hat. Nur, dass das Blut mittlerweile getrocknet ist. Sein besudeltes Plastron und der Zylinder sind in der Bar zurückgeblieben. Die Nase sieht sogar erstaunlich gut aus. Nach dem Knall, den es beim Zusammenstoß gegeben hat, dachte ich eigentlich, sie wäre Mus. Mehr Glück als Verstand, wie man so sagt. Oh, ich befürchte, er bricht gleich zusammen.«

Mit einer erstaunlichen Gewandtheit packte der Herr Adam unter der Achsel und führte ihn zu dem Coupé. Als es Adam nicht gelingen wollte, den Tritt zu nehmen, verstärkte sich der Griff und hievte ihn hinauf. Das kann nicht sein, schoss es Adam durch den Kopf. Dieser zierliche Bursche kann unmöglich über eine solche Kraft verfügen. Er wollte die Kutsche bereits wieder verlassen und seinen Begleiter genauer in Augenschein nehmen, als ihm die Beine endgültig den Dienst versagten.

Nun gib endlich Ruhe!, herrschte ihn die Stimme an.

Dann wurde alles schwarz.

3

Wahn und Wahrheit

Klares Morgenlicht fiel durch hohe Fenster und weckte Adam. So jäh, als hätte man ihm einen elektrischen Schlag verpasst. Mit rasendem Herzen richtete er sich auf und versuchte, noch einen Blick auf die abrupt verlassene Traumwelt zu werfen. Doch da war nichts. Bloß reine Schwärze, als gäbe es keinen Ort mehr, an den seine Seele sich zum Ausruhen zurückziehen konnte. Falls er denn noch eine besaß.

Während er seine Beine vom Sofa, auf dem er gelegen hatte, schwenkte, kehrte die Erinnerung zurück. Allerdings brach sie nach wie vor in jener Gasse im Dämmerlicht ab, als habe sein Leben erst genau in diesem Moment begonnen.

Eigentlich hatte Adam erwartet, nach dem Aufwachen unter Kopfschmerzen oder zumindest einem gequälten Magen zu leiden. Stattdessen fühlte er sich energiegeladen. Lediglich der widerwärtige Gestank, der von seiner Kleidung ausging, machte ihm zu schaffen. Außerdem war da eine unbestimmte Unruhe, die an ihm nagte. Er hatte das Gefühl, er müsse etwas Dringendes erledigen, dabei jedoch vergessen, um was es sich handelte.

»Guten Morgen, mein Guter. Da sind Sie ja wieder. Haben dagelegen wie ein Toter. Ich hätte mir ernsthafte Sorgen gemacht, wenn nicht Ihr Atmen verraten hätte, dass Sie noch unter uns weilen.«

Die singende Stimme ließ Adam zusammenfahren. Schlagartig spannte er sämtliche Muskeln an, konnte aber den Drang beherrschen, in Angriffsstellung überzugehen. Womit er sich zweifelsohne auch nur blamiert hätte, denn der zierliche Herr saß entspannt mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel und las den Figaro. Die Seiten der Zeitung zitterten im Wind, der durch das offen stehende Fenster hereinwehte und den Duft vom ersten Grün des Jahres mit sich trug.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich bei Ihnen dafür bedanken soll, dass Sie mich hierhergebracht haben. Oder ob ich nicht besser umgehend eine Erklärung einfordern sollte«, setzte Adam an, während er die Miene seines Gastgebers studierte. Doch der lächelte nur gelassen, als ginge von Adam keinerlei Gefahr aus, obwohl er ihm bestenfalls bis zur Brust reichte.

»Was Sie brauchen, ist ein Bad und frische Kleidung. Blut stinkt für unsereins widerlich, wenn es erst einmal getrocknet ist. Schlimmer als jedes verrottete Stück Fleisch.« Demonstrativ zog er die Nase kraus. »Am Ende des Flurs befindet sich der Badesalon, dort liegt schon alles für Sie bereit. Die gute Seele des Hauses, Henri, wird bald mit einem frischen Hemd und neuen Hosen für Sie zurückkehren. Aus meinem Kleiderfundus werden Sie sich kaum bedienen können, dafür sind Sie eindeutig zu groß geraten.«

Obwohl Adam ebenfalls der scheußliche Geruch des Blutes quälte, weit mehr als der Dreck und Schweiß auf seiner Haut und Kleidung, verharrte er. »Zuerst möchte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«

»Dafür haben wir später noch alle Zeit der Welt.«

Adam überging diesen Zwischeneinwurf genau wie die Tatsache, dass sein Gastgeber gezwungen war, sich mit der Zeitung frische Luft zuzuwedeln.

»Wie lautet mein Name?« Diese Frage war ihm die wichtigste von allen.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Sie haben ihn mir nämlich noch nicht genannt.«

»Als mein Onkel sollten Sie ihn aber doch eigentlich kennen.«

Der weißhaarige Mann lachte nur amüsiert.

»Sie sind also keineswegs mein Onkel, auch nicht zweiten oder dritten Grades?« Adam formulierte es zwar wie eine Frage, aber strenggenommen war es eine Feststellung.

»Nein, Ihr Onkel bin ich tatsächlich nicht. Aber wir sind verwandt, wenn auch auf eine Weise, die alles andere als gewöhnlich ist. Mein Name ist Etienne Carrière, ich bin Literaturprofessor an der Sorbonne, deren Kapelle Sie vom Fenster aus bewundern können. Mit wem habe ich die Ehre?«

Adam zögerte. Auf der einen Seite wollte ihm die Antwort nicht ohne weiteres über die Lippen, auf der anderen fühlte er eine Wut aufsteigen, die er vor diesem beherrschten Mann nicht offenbaren wollte. Denn seine Wut verriet nur seine Hilflosigkeit. Wenn er auch nicht wissen mochte, wer er eigentlich war – dass er Hilflosigkeit bei sich selbst hasste, wusste er ganz genau.

»Ich bin Adam«, sagte er schließlich ein wenig steif.

Carrières feine Augenbrauen fuhren zusammen. Säuberlich strich er die Zeitung glatt und legte sie auf einen Beistelltisch, ohne den Blick von seinem Gast abzuwenden. »Nur Adam also ... Warum überrascht mich das nicht? Sie sind wohl leicht aus der Bahn geraten, nachdem Sie unserem namenlosen Freund begegnet sind, möchte ich meinen.«

»Sie wissen also, was mir zugestoßen ist? Hören Sie ebenfalls eine Stimme, die Ihnen ihren Willen aufdrängen will?«

»Hören Sie denn eine?« Als Adam lediglich ein drohendes Knurren ausstieß, hob Carrière abwehrend die Hände. »Wir werden später in Ruhe darüber reden. Jetzt nehmen Sie erst einmal ein Bad, ansonsten verleiden Sie mir Ihre Gegenwart noch vollkommen.«

Im Badezimmer mit einem angrenzenden und großzügig geschnittenen Waschraum wiesen die Fenster auf einen Hinterhof hinaus, in dem bereits eine Felsenbirne blühte. Tatsächlich lag alles für ein Bad bereit. Trotzdem konnte Adam sich zunächst nicht dazu durchringen, sich zu entkleiden, obwohl ihn sein Geruch anwiderte. Zögernd betrachtete er das florale Bodenmosaik, das in grünem Marmor eingefasste Emailbecken und die modernen Leitungen, die nicht nur fließendes, sondern sogar warmes Wasser versprachen. Nicht viele Wohnungen in Paris dürften über einen derartigen Luxus verfügen.

Kommt mir ein solcher Luxus vertraut vor, oder sehe ich so etwas zum ersten Mal?, fragte Adam sich unwillkürlich. Gemessen an seiner Kleidung, die trotz ihrer Zerschlissenheit und der unzähligen Flecken eindeutig von guter Qualität war, vermutlich Ersteres. Es änderte jedoch nichts daran, dass er sich in all diesem Wohlstand unbehaglich fühlte. Seit er in der Gasse erwacht war, hatte er schnell herausgefunden, dass er über hervorragende Jagdinstinkte, überempfindliche Sinne und einen kräftigen Schlag verfügte. Außerdem zeigte er verblüffend wenig Hemmung, einen Gegner zu attackieren und sogar zu töten. Wie allerdings ein passendes Zuhause für ihn aussehen mochte, davon hatte er nicht einmal eine rudimentäre Vorstellung. Er hatte einfach kein Bild von einem Menschen namens Adam – falls es den überhaupt gab.

Mit dem Fuß schob er seine verdreckte Kleidung vor die Tür in der Hoffnung, dass dieser Henri tatsächlich bald mit frischen Sachen auftauchen würde. Den Gestank nach Blut wollte Adam jedenfalls keinen Augenblick länger mehr ertragen. Genauso wenig wie den Geruch der beiden Männer, der beim Kampf an ihm haften geblieben war und ihn daran erinnerte, dass er sie tot zurückgelassen hatte.

Lange Zeit sah er dem Wasser zu, wie es rötlich verfärbt im Abfluss verschwand. Selbst als es klar war, konnte er sich nur schwerlich von dem Anblick lösen, erwartete er doch geradezu, noch mehr Blut müsse folgen. Mit fest aufeinandergepressten Lippen wandte er sich schließlich den Seifen auf dem Badewannenrand zu, die für seinen Geschmack alle zu stark nach Gräsern, Hölzern oder irgendwelchen aufdringlichen Ölen rochen. Ihm gefiel der Gedanke nicht, einen künstlichen Duft an sich zu tragen, obwohl er viel dafür gegeben hätte, diesen penetranten Muskatduft zu übertünchen, der ihm aus jeder Pore strömte. Also griff er sich lediglich eine der Bürsten und machte sich an die Arbeit.

Eigentlich hätte es ihn nicht verwundern sollen, aber er fand an seinem ganzen Körper nicht eine einzige Kampfspur. Kein Bluterguss, keine Schramme, nicht die kleinste Andeutung einer Verletzung. Wären das Blut und die Gerüche der beiden Männer nicht gewesen, hätte er von einer Wahnidee ausgehen können. Aber so? Vielleicht war ja alles, was er erlebte, nichts anderes als die Wahnwelt eines Irren, dessen Geist in seinem Kopf eingesperrt war, während sein Leib wohl verwahrt in einem Hospitalzimmer dahinvegetierte.

Ein Stöhnen unterdrückend, stieg Adam aus der Wanne, schlang ein Tuch um die Hüften und näherte sich im Waschraum dem Spiegel, um den er bislang einen großen Bogen gemacht hatte. Da er noch etwas Zeit schinden wollte, inspizierte er die Rasierutensilien genau, rührte sorgfältig den Schaum an und zog das Rasiermesser über den Abziehriemen. Es gelang ihm sogar, sich zu rasieren, ohne einen genauen Blick auf sein Spiegelbild zu riskieren. Als er jedoch die Schaumspuren abwischte und dabei prüfend in den Spiegel sah, blitzten seine schillernd grünen Iriden auf. So anziehend wie zwei Edelsteine in einer verborgenen Schatulle.

Konnte man wirklich die eigene Augenfarbe vergessen?

Je länger er in dieses bestechend gut aussehende Gesicht schaute, desto fremder erschien es ihm. Auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hatte, wer er war – er war auf jeden Fall nicht dieser Mann im Spiegel. Es war ein Gesicht, das die Aufmerksamkeit erzwang, weil man sich seiner Attraktivität nicht entziehen konnte. Aber er fühlte sich keineswegs wie jemand, der sich nach Beachtung sehnte. Er wolle seinen Weg gehen können, ohne dass man sich den Hals nach ihm verdrehte. Zu ihm passte kein schönes Gesicht, so viel stand zumindest fest.

Mit einem Anflug von Zorn spülte er das Rasiermesser ab. Während er die scharfe Stahlklinge säuberte, verflüchtigte sich der Wunsch, hinauszugehen und jemanden für seine Verwirrung büßen zu lassen. Denn eigentlich hatte er ja schon jemanden gefunden: diesen Fremden, der ihn unentwegt aus seinen Katzenaugen beobachtete und sich anscheinend bestens über seine Konfusion amüsierte.

Herausfordernd betrachtete Adam erneut das Spiegelbild und fasste einen Entschluss: Wenn all das hier nur seinem kranken Geist entsprang, hatte folglich nichts von seinem Tun Konsequenzen. Sollte es jedoch die Realität sein, wollte er sie lieber schnell hinter sich lassen. Endgültig.

Ohne zu zögern, setzte Adam die Klinge an seinem Hals an, spürte, wie sie die Haut durchschnitt und mühelos ins Fleisch glitt, während er den Blick der Katzenaugen mit einem verächtlichen Lächeln erwiderte. Dunkles, samtig glänzendes Blut quoll hervor, roch nach Salz, Metall und Leben. In schnell breiter werdenden Rinnsalen floss es über seine Brust.

Wunderschön, flüsterte die Stimme.

Adam schrie auf, zog die Klinge mehr aus Wut als aus Verzweiflung quer über seine Kehle. Er taumelte zurück und stieß unerwartet heftig gegen den Ofensockel. Gegen seinen Willen versuchte er, durch seine aufgeschnittene Luftröhre zu atmen, was ihm jedoch nicht gelang. Es drang nur Blut ein, ließ ihn zunächst husten und dann keuchen.

Die Badezimmertür wurde nach einem kurzen Klopfen geöffnet, und Etienne Carrière trat ein. Adam blinzelte ihn an und konnte ihn zwischen den tanzenden schwarzen Flecken kaum noch ausmachen, während er langsam am Ofen hinabsank. Carrière ergriff eins der Badetücher und presste es ihm gegen die klaffende Halswunde. Adam versuchte, ihn abzuwehren und ein »zu spät« hervorzubringen, aber seine durchtrennte Kehle ließ keinen Laut zu.

Dafür gelang ihm zu seinem Entsetzen jedoch ein erster Atemzug, schmerzhaft wie bei einem Neugeborenen.

Dann noch einer.

Carrière lächelte, als würde der Anblick des fließenden Blutes ihn mehr verzücken als ein paar blasse Frauenschenkel, dann wurde seine Miene ernst.

»Der Schnitt schließt sich bereits wieder. Sie haben mein Badezimmer also ganz umsonst ruiniert. Hören Sie endlich auf, sich gegen meine Hilfe zu wehren, und drücken Sie das Tuch gegen die Wunde, damit nicht noch mehr Blut das Mosaik verdirbt. Das bekommt man nämlich nur schwer wieder aus den Fugen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Adam wollte verzweifelt auflachen, brachte allerdings nur ein blutersticktes Gurgeln zustande, während sich der Schnitt durch seine Kehle wie von Zauberhand immer weiter schloss. Bald würde er ein richtiges Lachen zustande bringen, wenn auch ein bitteres. Das hatte er jetzt endgültig begriffen. Aus seiner Welt – ob sie nun real war oder nicht – gab es keine Fluchtmöglichkeit. Er war ein Gefangener.

Du gehörst mir, sang die verhasste Stimme, für immer.

4

Tempelopfer

Nachdem sich die Halswunde geschlossen und Adam sich abermals gereinigt und angezogen hatte, war er Etienne Carrière im verschwenderisch breit angelegten Flur begegnet. Hier reihten sich Regale an Regale, alle bestückt mit aufwendig in Leder gebundenen Büchern. Die Professur in Literatur war allem Anschein nach eine wahre Berufung.

Carrière, mit Mantel und Zylinder, rückte seinen bereits perfekt sitzenden Kragen zurecht. »Ich sehe nun ein, dass es ein Fehler war, Sie nicht umgehend über Ihren Zustand aufzuklären, da er Ihnen doch zweifelfrei so viele Rätsel aufgibt. Ich werde mich aufrichtig bemühen, Ihnen zu helfen – aber eine leicht zu bewältigende Aufgabe wird es wohl nicht. Ihr psychisch labiler Zustand und die Rede von einer Stimme, die zu Ihnen spricht, verheißen nichts Gutes.«

Mit der behandschuhten Hand deutete Carrière auf seinen Hausdiener Henri, der noch zierlicher war als sein Herr und fast unter dem Mantel begraben wurde, den er für Adam bereithielt.

»Ein Cafébesuch wird genau das Richtige für unsere strapazierten Nerven sein«, verkündete Carrière strahlend, als würde allein die Vorstellung ihm schon das Herz erwärmen.

Zuerst wollte Adam protestieren, weil ihm jede weitere Zeitverzögerung zuwider war. Dann nahm er jedoch den Geruch seiner alten Kleider wahr, die noch irgendwo in dem Appartement ihrer Reinigung – oder wenn es nach ihm ging: Verbrennung – harrten. Plötzlich klang ein Cafébesuch sehr verführerisch. Vielleicht wäre das ja eine Art Neuanfang.

In der Nähe von Carrières Appartement, das sich in einem eleganten Wohnhaus befand, lag die Place Pigalle. Dort reihte sich ein Café an das andere, alle erstaunlich gut besucht. Zielstrebig steuerte Carrière auf ein besonders trubeliges Lokal zu. Mit seiner Kirschholzvertäfelung und dem mit Messing beschlagenen Tresen strahlte es Gemütlichkeit aus, genau wie die mit Samt bezogenen Sitzbänke und die von Tabakrauch durchsetzte Luft, die träge unzählige Gesprächsfetzen einhüllte. Allerdings übertrug sich diese Gemütlichkeit keineswegs auf die Gäste, die einander lärmend begrüßten und auch ansonsten unentwegt in Bewegung waren. In jeder Ecke schien jemand mit einer Zeitung zu rascheln, Schachfiguren niederzuknallen oder seinen Mantel auf einen der wenigen freien Stühle zu werfen. Trotz der herrschenden Enge gelang es Carrière, einen Holztisch in einer ruhigen Ecke zu ergattern.