Nachtmeerfahrt - Simon Weipert - E-Book

Nachtmeerfahrt E-Book

Simon Weipert

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Beschreibung

Nach der Rückkehr von einer Australienreise erleidet der Literaturwissenschaftler Christian eine Sepsis und verliert das Bewusstsein. In seinen Träumen erlebt er eine ebenso erschreckende wie faszinierende Welt der Zukunft, die ihn mit seinen tiefsten unbewussten Ängsten konfrontiert.

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Seitenzahl: 84

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

I

Auf ihrem Flug in die Finsternis der Nacht bot sich den Passagieren ein Anblick wie in einem fernen Zukunftstraum, eine Insel des Lichts inmitten der Dunkelheit, überragt von einem Turm, der sich weit in den Himmel erhob, der Unendlichkeit des Alls entgegen, als ob er nicht mehr zum Diesseits gehöre.

Nach wenigen Augenblicken jedoch verlosch die Vision und wich der Dunkelheit der nächtlichen Wüste und des Indischen Ozeans, die die Reisenden von jetzt an in eine ferne Welt begleiten würde.

Unwillkürlich erinnerten die Bilder Christian an die Bücher, die er mit auf die Reise genommen hatte, an die Zukunfts-, Endzeit- und Jenseitsschilderungen der Antike, des Mittelalters und moderner phantastischer Erzählungen, die sich in seiner Vorstellung mit dem Gesehenen vermengten.

Als etwa eine Stunde nach dem Abflug von Dubai das Essen serviert wurde, lernten Rebecca und Christian ihre Sitznachbarin kennen, die zur selben Reisegruppe gehörte und wie sie in Frankfurt lebte.

»Ich bin Chemikerin und arbeite bei einem pharmazeutischen Unternehmen. Wir beschäftigen uns mit der Entwicklung von Medikamenten gegen Sepsis und neu entstehende Infektionskrankheiten«, sagte Susanne.

»Die Forschung in diesem Bereich ist sehr wichtig und wird vielen Menschen das Leben retten«, antwortete Rebecca.

»Das hoffen wir«, sagte Susanne und fragte anschließend Rebecca nach ihrem Beruf.

»Ich bin Pianistin und Dozentin an einer Musikhochschule … Und mein Mann Christian ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft. Er hat derzeit ein Forschungssemester und schreibt ein Buch.«

»Worum geht es in diesem Buch?«, fragte Susanne, während sie ihre rötlich-braunen Locken aus ihrem Gesicht strich.

»Um mittelalterliche Endzeit- und Jenseitsvisionen und einen Vergleich mit moderner phantastischer Literatur«, entgegnete Christian.

»Das ist kein ganz alltägliches Thema, aber es gefällt mir. Nach dem Abitur habe ich einmal daran gedacht, Anglistik zu studieren, bevor ich mich dann doch für Chemie entschieden habe. Meine Begeisterung für englischsprachige Literatur ist freilich erhalten geblieben«, erwiderte Susanne und nahm zwei Bücher aus der Reisetasche unter ihrem Sitz. »Diese Autoren kennen Sie sicher …«

»Edgar Allan Poe und Howard Phillips Lovecraft … Ja, natürlich. Beide gehören zu den Schriftstellern, die ich in meinem Buch behandle. Ihre Erzählungen stehen letztlich auch in der Tradition antiker und mittelalterlicher Jenseitsvisionen und moderner Romane und Kurzgeschichten, in denen es um einen Kosmos jenseits unserer naturwissenschaftlich determinierten Anschauungen geht.«

»Ich weiß nicht, warum, aber aus irgendeinem Grund ziehen mich solche Geschichten magisch an. Gerade Lovecrafts oft bizarre Erzählungen faszinieren mich irgendwie. Obwohl sie bisweilen grotesk sind, spürt man, dass der Autor sich stark mit seiner Phantasiewelt identifiziert und deshalb in der Lage ist, an das Unbewusste und die tiefsten Ängste seiner Leser zu appellieren. Eigentlich müssten mir als Naturwissenschaftlerin solche Bücher fremd sein, aber trotzdem kann ich mich oft nicht von ihnen trennen.«

»Unsere Persönlichkeit hat häufig ganz verschiedene Seiten … Ich habe gegen Ende der Schulzeit auch daran gedacht, Mathematik oder eine Naturwissenschaft zu studieren, und manchmal habe ich sogar davon geträumt, Astronautin zu werden, aber schließlich hat sich meine Leidenschaft für die Musik doch durchgesetzt«, sagte Rebecca.

»Den Traum, ins All zu fliegen, hatte ich in meiner Jugend auch«, antwortete Susanne. »Später habe ich mich dann manchmal gefragt, ob ich nicht doch Anglistin hätte werden sollen, aber insgesamt bin ich mit meinem Beruf sehr zufrieden.«

»Ist diese Reise Ihre erste Australienreise?«, fragte Rebecca.

»Ja, ich habe schon lange mit dem Gedanken gespielt, und dieses Jahr habe ich beschlossen, diese Idee zu verwirklichen«, antwortete Susanne.

»Wir auch … Unsere Tochter ist mittlerweile fast erwachsen, und es hat sich jetzt eine gute Gelegenheit geboten. Rebecca hat mich beinahe ein wenig zu dieser Reise überredet«, sagte Christian.

»Stimmt«, erwiderte Rebecca mit einem Lächeln und fragte Susanne:

»Haben Sie Kinder?«

»Nein, leider nicht. Ich lebe allein. Häufig arbeite ich 80 oder mehr Stunden pro Woche. Da bleibt für Privates nicht viel Zeit.«

»Unter diesen Umständen ist eine solche Reise bestimmt eine willkommene Abwechslung«, entgegnete Christian.

»Richtig. Es ist wie ein Ausflug in eine andere Welt.«

Kurz darauf beschlossen die drei, ein wenig zu schlafen, weil sie schon einen langen Weg hinter sich hatten und doch wussten, dass ein großer Teil des Fluges noch vor ihnen lag. In Christians Träumen vermischten sich die Bilder der Reise, der Abschied von zu Hause und der Anblick von Dubai bei Nacht mit kurzen, vagen, rasch vergehenden Blicken in eine ferne, ebenso erschreckende wie atemberaubende Zukunft. Als er aufwachte, war es heller Tag, und unter ihnen erstreckte sich die Wüste Westaustraliens, deren leere Weiten unergründlich schienen, zumal sich nach einiger Zeit wieder die Dämmerung über die Einsamkeit der rötlichen Ebenen senkte und sie zu einem Teil eines unendlichen Kosmos werden ließ.

Als sie einige Stunden später in Sydney landeten, war es bereits tief dunkel, und doch wirkte ihre Ankunft in der Großstadt, die sie an europäische und amerikanische Metropolen erinnerte, wie die Rückkehr in eine vertraute Umgebung.

Nachdem die Reisegruppe am nächsten Vormittag, an einem Frühlingstag im September, die Innenstadt und den Hafen erkundet hatte, fuhren Rebecca, Christian und Susanne mit einer Fähre zu einem Park in der Nähe des Hafens. Während sie bei strahlendem Sonnenschein am Strand entlangliefen, brachten sie mehr übereinander in Erfahrung.

»Wo hast du studiert?«, fragte Christian Susanne.

»In Frankfurt, aber vor dem Examen habe ich ein Jahr an der Carnegie-Mellon University in Pittsburgh verbracht.«

»Auch ich habe mein Studium in Frankfurt absolviert, aber nach meiner Magisterprüfung war ich mit Rebecca für ein Jahr in New York … Sie war schon mit ihrem Studium fertig, wollte aber noch einmal etwas anderes kennenlernen, bevor ihre Karriere als Konzertpianistin wirklich begonnen hat.«

»Ja, ich habe in Amerika viel gelernt und meine Fähigkeiten weiterentwickelt«, sagte Rebecca.

»Was spielst du gerade?«, fragte Susanne.

»Derzeit bereite ich mich auf einen Auftritt mit dem zweiten Klavierkonzert von Brahms vor.«

»Schön … Ich habe leider nie ein Instrument gelernt, aber ich höre gerne Musik, vor allem romantische. Sie erinnert mich an die phantastischen Erzählungen, die ich gerne lese.«

»Das kann ich verstehen. Auch in mir weckt diese Musik oft solche Assoziationen«, antwortete Rebecca, bevor Susanne nach einem Augenblick fragte:

»Wo wohnt ihr genau?«

»In Kelsterbach. Wir haben dort vor 20 Jahren ein Haus gekauft, nicht zuletzt damit Rebecca ungestört üben kann«, erwiderte Christian, und Rebecca fügte hinzu:

»Ja … Das ist leider für Musiker ein gewisses Problem. Außerdem wollten wir, dass unsere Tochter genügend Platz hat.«

»Wie alt ist eure Tochter?«, fragte Susanne.

»Sie feiert in einigen Wochen ihren zwanzigsten Geburtstag und wird ab dem Wintersemester in Freiburg Medizin studieren.«

»Das freut mich für euch …«, erwiderte Susanne mit einem Anflug von Melancholie und fuhr fort: »Ich lebe allein in einer Dreizimmerwohnung in Bad Homburg … Seit mein ehemaliger Freund Daniel vor mehr als 20 Jahren umgekommen ist, widme ich mich ausschließlich meinem Beruf.«

»Was ist mit deinem Freund geschehen?«, fragte Rebecca.

»Er hat, wie ich, Chemie studiert, und wir haben uns während des Studiums kennengelernt … Übrigens hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit dir«, antwortete Susanne, während sie Christian ansah. »Er war, wie du, etwas größer als ich und hatte braune Haare und blaue Augen … Kurz vor dem Examen hat er dann mit zwei Freunden eine Reise nach Afrika gemacht. Es war schon immer sein Traum gewesen, diesen Kontinent kennenzulernen. Ich konnte nicht mitkommen, weil ich mich damals um meinen kranken Vater kümmern musste. Außerdem wären die klimatischen Bedingungen in Afrika und das Leben in einem Zelt oder unter freiem Himmel nichts für mich gewesen … Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei Daniels Reiseplänen, aber ich kam mir damit lächerlich vor und wollte nicht mit ihm darüber sprechen … Auf jeden Fall ist er dann im Kongo eines Tages spurlos verschwunden. Die drei haben in der Wildnis in Zelten übernachtet. Abends ist er noch einmal allein aufgebrochen, um Tiere im Urwald zu beobachten, und nie zurückgekehrt. Niemand weiß, was ihm zugestoßen ist, und alle Nachforschungen sind ergebnislos geblieben. Nach seinem Tod habe ich mich dann immer stärker auf meine Arbeit konzentriert, zumal mich damals meine Dissertation sehr in Anspruch genommen hat. Trotzdem vermisse ich ihn auch nach all der Zeit noch immer, aber natürlich habe ich mich längst daran gewöhnt, ganz für meinen Beruf zu leben, der mich auch wirklich fast ganz ausfüllt, obwohl doch immer etwas fehlt …«

»Das tut mir leid … Es ist eine tragische Geschichte, die zeigt, wie nahe uns mitten im Leben der Tod ist«, antwortete Rebecca.

»Das stimmt leider«, sagte Susanne und fuhr, zu Christian gewandt, fort: »Diese Gegenwart des Todes im Leben hat auch etwas mit dem Thema deines Buches zu tun.«

»Ja, das kann man so sagen. Solche Gedanken kommen mir auch öfter, wenn ich an diesem Thema arbeite«, erwiderte Christian.

»Womit genau beschäftigst du dich derzeit?«, fragte Susanne.

»Mit der sogenannten Visio Tnugdali, die neben der Divina Commedia die bekannteste Jenseitsvision des Mittelalters ist. Auch hier spielt die plötzliche Begegnung mit dem Tod eine wichtige Rolle.«

»Worum geht es in dieser Erzählung?«

»Tnugdalus, ein Ritter, der die christlichen Tugenden nicht allzu ernst nimmt, fällt wahrscheinlich durch eine Krankheit in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf. In einem langen Traum führt ihn ein Engel durch die Hölle und das Paradies. In der Hölle begegnet Tnugdalus einer Vielzahl von furchtbaren Ungeheuern und Menschen, die für ihre Sünden grausam bestraft werden, bevor er schließlich ins Paradies geführt wird und seine Vision damit hoffnungsvoll endet. Nach drei Tagen kehrt seine Seele in ihren Körper zurück, und Tnugdalus erhält den Auftrag, anderen Menschen von seiner Vision zu berichten, um sie zu warnen und zu ermahnen.«

»Diese Jenseitsvision und vor allem die Beschreibung der Hölle erinnern mich an die Erzählungen von Edgar Allan Poe und Howard Phillips Lovecraft, in denen Menschen einsam einer bedrohlichen, ebenso unergründlichen wie übermächtigen Welt gegenüberstehen.«

»Ja … Auch wenn uns der Glaube des Mittelalters heute fernliegt, kehren diese Mythen doch in verwandelter Form immer wieder.«

»Fast könnte man meinen, dass in ihnen eine verborgene Wahrheit steckt«, sagte Susanne.

»Ja …«, entgegnete Christian, während die drei im Licht des langsam anbrechenden Abends ihre Wanderung entlang der Küste fortsetzten.