Scheol – Reich der Toten - Simon Weipert - E-Book

Scheol – Reich der Toten E-Book

Simon Weipert

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Beschreibung

Die Musikstudentin Rebecca und ihr Freund Christian brechen zusammen mit einem ehemaligen Schulfreund zu einer Bootstour nach Australien auf. Die Fahrt in einer Motoryacht wird zur Odyssee und zu einer Reise an die Grenzen dieser Welt.

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Nach jahrzehntelanger, leiderfüllter Irrfahrt jenseits der Grenzen dieser Welt erblickte der einsame Seefahrer die nebelverhangene Küste eines fernen Landes. War es die ersehnte Heimat oder ein abweisender, ungastlicher Ort, an dem das fremde Schiff ihn im Schlaf zurückgelassen hatte? Je länger er grübelte, desto stärkere Verzweiflung übermannte ihn, bis ihn schließlich tiefe Benommenheit von seiner Qual erlöste. Als er die Augen öffnete, hatte der Nebel sich zu lichten begonnen, und die ersten Sonnenstrahlen durchdrangen das Grau des Himmels. Ohne dass er sie zuvor bemerkt hätte, hatte sich ihm eine großgewachsene, schwarzhaarige Frau genähert, die ihn mit ihren runden, ausdrucksvollen Augen ansah und fragte: »Erkennst du die Insel, den Hafen, den Baum und die Grotte neben der Einfahrt, die steilen Berge?« Nachdem er diese Worte vernommen hatte, vergoss der Seefahrer Tränen der Rührung, fiel auf die Knie und küsste den Strand seiner Heimat. Als er aufstand, war die geheimnisvolle Frau verschwunden, doch zeigte sich ihm die Landschaft vor seinen Augen in immer größerer Klarheit. Auch wenn sich in den Jahren seit seiner Abreise vieles verändert hatte, war es doch das Land seiner Jugend, in dem er in ein neues Leben zurückkehren würde …

Als Rebecca aus ihrem kurzen Schlaf erwachte, steckte sie das Buch in die Tasche vor ihrem Sitz und blickte aus dem Fenster auf die graue Wolkendecke unter ihr. Der Tag ihrer Amerikareise hatte für sie und ihren Freund Christian früh begonnen, und die Karte auf dem Bildschirm vor ihr zeigte, dass ein großer Teil des Fluges von Frankfurt nach Boston noch vor ihnen lag.

»Ich habe ein wenig geschlafen, nachdem wir heute Morgen so früh aufgestanden sind«, sagte Rebecca zu Christian.

»Ich auch«, antwortete Christian und fuhr fort: »Gut, dass du wenigstens genug Lesestoff mitgenommen hast.«

»Stimmt. Die Odyssee passt ja auch ganz gut zu unserer heutigen Reise.«

»Richtig. Bis zu unserer Ankunft in Ithaka wird es aber noch etwas dauern, so dass du viel Zeit hast, dich in die Geschichte zu vertiefen.«

»Ja«, erwiderte Rebecca, und beide lachten.

Es war ihre erste gemeinsame Reise, die sie einige Monate nach dem Abitur und kurz vor dem Beginn ihres Studiums unternahmen, nachdem Rebeccas Großmutter sie zu einem Besuch nach Amerika eingeladen hatte. Rebecca lebte seit einigen Wochen in einer eigenen kleinen Wohnung in Frankfurt, nachdem sie im Frühsommer die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule bestanden hatte und damit ihrem Plan, Pianistin zu werden, einen wesentlichen Schritt nähergekommen war. Auch Christian hatte ein Zimmer in einem Studentenwohnheim im Osten Frankfurts gefunden und bereitete sich auf sein Studium der Fächer Anglistik und Geschichte vor.

Während ihrer Schulzeit hatte Rebecca nach der Scheidung ihrer Eltern mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Judith bei ihrem Vater gelebt, der vor 25 Jahren mit Rebeccas Mutter nach Frankfurt gekommen war, um eine Stelle als Mathematikprofessor anzutreten, während ihre Mutter Dozentin am Konservatorium war und ab und zu als Pianistin Konzerte gab.

Christians Eltern lebten zwar noch gemeinsam in einem Haus in Bad Homburg, doch war ihre baldige Trennung absehbar, und auch Christian war froh gewesen, als er nach dem Abitur von zu Hause ausziehen konnte.

Nachdem Rebecca und Christian etwa eine Stunde lang Musik gehört hatten, wandte sich der Flugkapitän mit einer Information an die Passagiere:

»Vor uns liegt ein ausgedehnter Sturmwirbel, einer der herbstlichen Orkane, wie sie zu dieser Jahreszeit recht häufig sind. Da über dem Nordatlantik starker Verkehr herrscht, können wir unsere Route leider nicht ändern. Es kann also in den kommenden Stunden sehr turbulent werden. Ich möchte Sie deshalb bitten, stets angeschnallt zu bleiben und sich nur dann von Ihrem Platz zu entfernen, wenn es wirklich unumgänglich ist.«

Als Rebecca und Christian aus dem Fenster sahen, bemerkten sie, dass sie von dichtem, hellgrauem Nebel umgeben waren, während sich die ersten Turbulenzen bemerkbar machten, die rasch heftiger wurden. Nach wenigen Minuten war das Flugzeug von dunklen Wolken umhüllt, durch die nur wenig Licht drang, als ob sie einer immer tieferen Dunkelheit entgegenflögen. Gleichzeitig wurden sie wie auf den haushohen Wellen eines stürmischen Ozeans abwechselnd in die Höhe gehoben und in die Tiefe gerissen, während das Heulen des Sturms beinahe das Geräusch der Triebwerke übertönte.

Einige Zeit später meldete sich der Kapitän erneut: »Es tut mir leid, dass wir in diese Turbulenzen geraten sind. Unter uns tobt ein Orkan mit Windgeschwindigkeiten von über 250 Stundenkilometern. Sie brauchen keine Bedenken zu haben. Das Flugzeug ist für solche Belastungen ausgelegt.«

Obwohl Rebecca aus ihrer Erfahrung als Hobbypilotin wusste, dass er recht hatte, konnte sie doch zum ersten Mal an Bord eines Flugzeugs ein wachsendes Unbehagen nicht unterdrücken. Rebecca und Christian sahen sich an, und Rebecca drückte Christians Hand, während sie beide bemerkten, dass viele andere Passagiere leichenblass waren.

Je mehr Zeit verging, desto stärker spürten Rebecca und Christian, wie sehr sie inmitten des Sturms einer durch nichts zu beherrschenden Gewalt ausgeliefert waren, die sie mehr als je zuvor die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit ihres Lebens spüren ließ. Nach etwa einer Stunde ließ der Orkan kurz nach, doch der Kapitän warnte die Passagiere, dass eine Zone noch schwererer Turbulenzen vor ihnen liege, und bat sie dringend, auf keinen Fall ihren Sitzplatz zu verlassen.

Wenige Augenblicke später drückte eine heftige Bö eine Tragfläche weit nach oben, so dass das Flugzeug sich beinahe um 45 Grad drehte. Noch bevor Rebecca und Christian sich von dem Entsetzen befreien konnten, das sie befallen hatte, neigte sich der Flugzeugrumpf nach unten, und sie verloren immer rascher an Höhe, während die Wolken dichter und dichter und die Dunkelheit immer undurchdringlicher wurde und heftige Erschütterungen das Flugzeug beinahe zu zerreißen drohten. Rebecca schloss die Augen und fühlte sich inmitten der Schreie und des infernalischen Lärms, der die Kabine erfüllte, wie nie zuvor dem Ende ihres Lebens nahe. Nur Christians Anwesenheit spendete ihr Trost, während das Flugzeug dem Verderben entgegentaumelte. Christian ergriff Rebeccas Arm, und beide blickten einander mit einer Mischung aus Todesangst und Hoffnung an, als ihre Höllenfahrt plötzlich endete. Während sie langsam wieder an Höhe gewannen, sahen Rebecca und Christian, dass einige Passagiere ohnmächtig geworden waren, während sich in den Gesichtern der anderen die Erschütterung widerspiegelte, die die Begegnung mit dem Tod in ihrer Seele hinterlassen hatte. Rebecca versuchte, Christian Mut zuzusprechen, indem sie sagte: »Ich glaube, es ist vorbei.« Beide schauten einander mit einem Ausdruck tiefer Verbundenheit ins Gesicht, während der Kapitän die Reisenden mit einer kurzen Durchsage zu beruhigen versuchte:

»Wie Sie sicher bemerkt haben, befinden wir uns wieder in einer stabilen Fluglage und werden bald unsere Reiseflughöhe wieder erreichen. Zuvor haben extrem starke Fallwinde zu einem großen Höhenverlust geführt. Ich kann Ihnen aber versichern, dass jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit das Schlimmste hinter uns liegt und dass wir in etwa zwei Stunden auf dem schnellsten Weg Boston erreichen werden.«

Kurz darauf sahen Rebecca und Christian, dass die Wolken, die sie umgaben, langsam heller und dünner wurden und dass schließlich die Sonne den Nebel durchdrang. »Wir haben es geschafft«, sagte Rebecca und fuhr fort: »In den letzten Minuten hatte ich zum ersten Mal Angst um mein Leben, obwohl ich im tiefsten Inneren wusste, dass alles gut ausgehen würde.« Christian nickte, und beide umarmten einander, während viele Mitreisende vor Erleichterung weinten.

Nach der Landung in Boston fragten Angestellte der Fluggesellschaft die Fluggäste, ob sie Hilfe benötigten und gegebenenfalls ihre Weiterreise auf den nächsten Tag verschieben wollten. Rebecca und Christian entschieden sich jedoch, sofort weiterzufliegen, und erreichten gegen Abend Ithaca im Staat New York, wo Rebeccas Großmutter sie am Flughafen abholte.

Auf der kurzen Fahrt zu dem Haus, in dem Rebeccas Großmutter allein lebte, nachdem ihr Mann vor einigen Jahren verstorben war, erzählte Rebecca ihr, was sich ereignet hatte. »Ich bin froh, dass ihr in Sicherheit seid«, erwiderte sie. »Ich auch«, sagte Rebecca mit Tränen in den Augen, bevor sie einige Minuten später das Haus erreichten, in dem sie die nächsten zwei Wochen verbringen würden. Es war ein älteres Gebäude mit einer rötlichen Backsteinfassade, vor dem sich ein Garten mit großen Laubbäumen erstreckte, deren Blätter in ihren herbstlichen Farben leuchteten. Nach ihrer Ankunft zeigte ihnen Rebeccas Großmutter das Haus und ihr Zimmer. Als Rebecca in den Spiegel im Bad blickte, sah sie, dass ihre dunkelbraunen Locken noch immer etwas zerzaust wirkten, obwohl sie sich nach der Ankunft in Boston kurz gekämmt hatte, und auch Christian war die Anspannung der letzten Stunden noch anzusehen. Rebecca war etwas kleiner als Christian und ähnelte mit ihrem zierlichen Körperbau und ihren braunen Augen ihrer Großmutter, während Christian seine blauen Augen und braunen Haare mit seinem Vater gemeinsam hatte. Nachdem sie geduscht hatten, fühlten sie sich besser und trafen Rebeccas Großmutter im Wohnzimmer zum Abendessen.

»Ich habe dich vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen«, sagte sie zu Rebecca. »Du bist inzwischen eine erwachsene junge Frau geworden … und hast männliche Verstärkung mitgebracht.« Anschließend fuhr sie, zu Christian gewandt, fort:

»Es freut mich, dich kennenzulernen. Rebecca hat schon oft von dir gesprochen … Übrigens, mein Name ist Susan. Du kannst mich gerne auch so nennen.«

»Ich habe auch schon viel von dir gehört und freue mich, dich zu sehen«, erwiderte Christian.

»Ich glaube, wir werden uns in den nächsten beiden Wochen einiges zu erzählen haben«, sagte Susan und fuhr fort: »Aber zuerst müsst ihr euch nach dem nervenaufreibenden Flug gründlich ausschlafen … Ich habe übrigens vorhin gelesen, dass auch andere Flugzeuge auf dieser Strecke mit starken Turbulenzen zu kämpfen hatten. Offenbar war der Sturm weit heftiger, als die Meteorologen es erwartet hatten. Aber euch hat es wohl leider besonders schlimm erwischt.«

»Ja«, entgegnete Rebecca. »Mir wird erst jetzt ganz bewusst, wie gefährlich die Situation war. Was uns da zugestoßen ist, zeigt, wie nahe wir manchmal mitten im Leben dem Tod sind.«

»Leider ist es so«, sagte Susan und fuhr fort: »Aber jetzt ist alles vorbei, und wir werden zwei schöne Wochen gemeinsam verbringen.« Rebecca und Christian nickten, bevor sie sich kurz darauf von Susan verabschiedeten und sich auf die Nacht vorbereiteten.

»Auch mir ist erst in den letzten Stunden klargeworden, wie knapp wir möglicherweise dem Tod entronnen sind«, sagte Christian. Beide umarmten einander lange, um sich zu trösten und zu beruhigen, bevor sie zu Bett gingen und bis zum nächsten Vormittag fest schliefen.

Am folgenden Tag erkundeten Rebecca und Christian mit Susan die Stadt und die Umgebung mit ihren Seen, Wasserfällen und Hügeln. Gemeinsam durchstreiften sie längere Zeit die ausgedehnten Laubwälder, deren herbstliche Farben in Rebecca ein Gefühl friedlicher Idylle und melancholischer Endlichkeit weckten, wie sie es seit ihrer Kindheit öfter empfunden hatte. Während ihrer kleinen Wanderung erzählten Rebecca und Christian Susan von ihren letzten beiden Jahren an einem Frankfurter Gymnasium, wo ihre Beziehung vor etwa neun Monaten begonnen hatte, und sprachen über ihre Pläne für die Zukunft. Während Christian noch nicht genau wusste, welchen Weg er später einschlagen würde, arbeitete Rebecca schon seit einiger Zeit an einer Karriere als Pianistin und hoffte, bald ein erstes größeres Konzert geben zu können.

»Was spielst du denn gerade?«, fragte Susan.

»Derzeit beschäftige ich mich vor allem mit der h-Moll-Sonate von Franz Liszt. Dafür werde ich wohl noch einige Zeit brauchen«, antwortete Rebecca.