Johannas Tod - Im Abgrund - Eine Welt - Simon Weipert - E-Book

Johannas Tod - Im Abgrund - Eine Welt E-Book

Simon Weipert

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Beschreibung

Drei Erzählungen, drei außergewöhnliche Erlebnisse und die Lebensgeschichten von Rebellinnen in verschiedenen Epochen: Die amerikanische Gaststudentin Sarah entdeckt während einer Frankreichreise ihr Interesse an Geschichte und insbesondere am Leben von Jeanne d´Arc und an ihrer Rebellion gegen die Autorität der Kirche. Eines Nachts erlebt sie im Traum den Prozess gegen Johanna und vor allem ihre Hinrichtung so hautnah mit, als sei sie selbst dabei gewesen. Einige Zeit später schließt Sarah Freundschaft mit der zurückgezogen lebenden Studentin Sylvia und entlockt ihr mit großem Einfühlungsvermögen die unglaubliche Geschichte ihrer Zeit in einer Kolonne von Zeitschriftenwerbern, in der Sylvias Freundin Steffi eine wichtige Rolle spielt. Mehrere Jahrzehnte danach findet sich Steffi in einer völlig veränderten Welt wieder, in der sie ihre Neigung zu Unabhängigkeit und Rebellion in einen fatalen Konflikt mit staatlichen Autoritäten und einem System sich steigernder Unterdrückung führt. Alle drei Erzählungen zeigen, wie stark sich grundlegende menschliche Verhaltensweisen unter den Bedingungen völlig unterschiedlicher Zeit- und Lebensumstände gleichen und wie gefährlich das Abweichen von vorgegebenen Pfaden war und bleiben wird.

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Inhalt

Johannas Tod

Im Abgrund

Eine Welt

Johannas Tod

Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den Nebel des zu Ende gehenden Oktobertages in ein rötlich-goldenes Licht. Nur die Türme der Kathedrale und einiger anderer Kirchen ragten über den dichten Dunst empor, der Rouen an jenem Tag im Herbst bedeckte. Sarah und Robert blickten von einem Hügel aus lange Zeit auf die vor ihnen liegende Stadt, bevor sie sich auf den Rückweg machten. Es war ihre erste Reise nach Frankreich, nachdem sie sich vor einem halben Jahr in Frankfurt kennengelernt hatten, wo beide studierten. Sarah war, wie Robert, vor einem Jahr als amerikanische Gaststudentin nach Deutschland gekommen und arbeitete seitdem an ihrer Dissertation über die Entstehung von Planetensystemen, während Robert seine Magisterarbeit in Mittelalterlicher Geschichte schrieb. Nachdem sie in die Stadt zurückgekehrt waren, verweilten sie noch mehrere Minuten auf der Place du Vieux Marché, wo sie am Nachmittag schon einige Zeit verbracht hatten. An dem milden Herbstabend waren in der langsam anbrechenden Dunkelheit noch immer viele Besucher unterwegs, die den Platz und die Cafés mit Leben füllten. Sarah und Robert betrachteten noch einmal die moderne Kirche, die an mittelalterliche Gebäude erinnernden Häuser, die Fundamente der Kirche Saint Sauveur und die Reste der Brandmauer des Scheiterhaufens.

»Wenn man diesen Platz heute sieht, fällt es schwer, sich vorzustellen, was hier vor 600 Jahren geschehen ist«, sagte Sarah.

»Das stimmt«, antwortete Robert. »Damals waren etwa 10.000 Menschen auf diesem Platz versammelt, hörten die Predigt und wurden Zeugen der Hinrichtung von Jeanne d´Arc, die nach den Worten des Henkers außergewöhnlich grausam war. Als sie tot war, wurden die Flammen zunächst gelöscht, damit alle sich davon überzeugen konnten, dass sie nicht mehr am Leben war. Danach wurde das Feuer wieder angefacht, bis die Leiche verbrannt war. Der Legende nach ließen sich aber Johannas Herz und ihre Eingeweide trotz aller Anstrengungen des Henkers nicht verbrennen…«

»Warum haben die Leute damals sich so etwas angesehen?«

»Im Mittelalter hatten die Menschen eine andere Beziehung zum Tod. Er war im Alltag in einem Maß gegenwärtig, wie wir uns das heute kaum noch vorstellen können, besonders während der großen Pest und zur Zeit des Hundertjährigen Krieges. Das hat die Mentalität der Menschen in der damaligen Epoche geprägt, die auch als Herbst des Mittelalters bezeichnet worden ist. Außerdem haben die Engländer alles getan, um die bevorstehende Hinrichtung überall bekanntzumachen. Sie wollten Johanna, die im Krieg eine so entscheidende Rolle gespielt hatte, vor aller Augen physisch vernichten, um nicht nur sie als Person, sondern auch jede Erinnerung an sie für immer auszulöschen. Alle sollten sehen, dass die junge Frau, die sich selbst Tochter Gottes nannte, ein elendes Ende gefunden hatte.«

»Trotzdem lebt sie in der Erinnerung bis heute weiter…«

»Ja. Die Hinrichtung hatte nicht den propagandistischen Erfolg, den sich die Engländer versprochen hatten. Im Gegenteil… Viele waren zutiefst erschüttert und glaubten, sie hätten eine Heilige sterben sehen.«

»Zumindest in dieser Hinsicht war ihr Tod also nicht das Ende«, sagte Sarah.

»Nein, in gewisser Weise ist sie noch immer lebendig«, antwortete Robert, bevor sie in ihr Hotel zurückkehrten.

Am nächsten Tag ging ihre Frankreichreise zu Ende, und sie bestiegen den Zug nach Paris, von wo aus sie noch am selben Tag nach Frankfurt fuhren. Während der Fahrt sagte Sarah zu Robert:

»Die Lebensgeschichte von Jeanne d´Arc und vor allem das Ende ihres Lebens lassen mich nicht los… eigentlich merkwürdig, weil das Ganze ja schon so lange her ist.«

»Die Vergangenheit ist eben niemals völlig vergangen«, antwortete Robert. »Nichts verschwindet einfach, ohne Spuren zu hinterlassen, und meistens sind diese Spuren tiefer, als es uns bewusst ist.«

»Bei mir spielt sicher auch eine Rolle, dass meine jüngere Schwester mit acht Jahren bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist. Dadurch wurde ich sehr früh und sehr eindringlich mit dem Tod konfrontiert, zumal sie mir sehr fehlte und alles so schnell gegangen war. Von einer Sekunde auf die nächste war sie auf der Straße von einem Auto erfasst worden. Ich habe mich immer ein wenig als ihre Beschützerin gefühlt, aber im entscheidenden Augenblick konnte ich ihr doch nicht helfen. Ich habe heute noch ihren letzten Schrei im Ohr…«

»Ja, es ist eine tragische Geschichte, die dich zutiefst erschüttert hat«, antwortete Robert und umarmte Sarah.

»Schon als Kind konnte ich nicht wirklich an die jüdische Religion glauben, obwohl meine Eltern ja sehr religiös waren«, fuhr Sarah fort. »Trotzdem war ich nie davon überzeugt, dass der Tod das Ende des Lebens ist.«

»Zumindest in der Erinnerung anderer und in den Genen unserer Kinder leben wir weiter. Das ist eine Tatsache. Alles andere ist natürlich Spekulation, aber seit jeher haben Menschen in nahezu allen Kulturkreisen an ein Leben nach dem Tod geglaubt, und auch in unserer heutigen, völlig säkularisierten Welt haben viele Menschen noch eine Ahnung davon bewahrt, dass es tatsächlich so etwas wie ein Weiterleben nach dem Tod geben könnte, auch wenn sie nicht unbedingt offen darüber sprechen. Außerdem ist unsere derzeitige, vom Materialismus geprägte Denkweise historisch gesehen nur ein kleiner Ausschnitt der Mentalitätsgeschichte, die vor fast unendlich langer Zeit begonnen hat. Auch diese Geschichte lebt in uns weiter, und niemand weiß, ob die heutigen Menschen mit ihren vermeintlich rationaleren Einstellungen klüger sind als ihre Vorfahren. Mit ihrem Glauben an ein Leben nach dem Tod waren frühere Generationen und nicht zuletzt die Menschen des Mittelalters vielleicht auf der Spur von etwas, was einen wahren Kern hat, dessen Kenntnis aber vielen von uns heute verlorengegangen ist.«

»Es ist schön, dass du das genauso siehst wie ich…«, antwortete Sarah mit einem Lächeln und fuhr fort: »Außerdem sind die Menschen heute oft gar nicht so rational, wie sie glauben. Viele Ideologien und ihre Auswirkungen in der Politik sind eigentlich kaum vernünftiger als die Irrwege der Vergangenheit, über die wir heute den Kopf schütteln. Insofern wage ich zu bezweifeln, dass es in der Geschichte so etwas wie wirklichen Fortschritt gibt.«

»Da hast du recht…«

»Nicht zuletzt werden auch Rebellen und Abweichler heute kaum weniger gern gesehen als in der Vergangenheit.«

»Das stimmt. Natürlich war auch Johanna eine solche Rebellin. Sie wurde ja nicht, wie viele glauben, wegen Hexerei verbrannt, und auch die Männerkleidung, die sie am Schluss wieder angezogen hat oder anziehen musste, war nicht wirklich das Entscheidende. Das Wichtigste war, dass sie glaubte, über die Stimmen ihrer Heiligen in unmittelbarer Verbindung zu Gott zu stehen, ohne auf die Vermittlung der Kirche angewiesen zu sein. Das sahen die kirchlichen Autoritäten als Bedrohung an und versuchten deshalb auch immer, Johanna dazu zu zwingen zuzugeben, dass ihre Stimmen sie getäuscht hätten. Das hat sie aber trotz allem nie wirklich getan, und am Tag ihrer Hinrichtung war klar, dass sie bis zum Ende an sie geglaubt hat. Diese unmittelbare Verbindung zu Gott jenseits aller Dogmen und Autoritäten war etwas sehr Persönliches und Individuelles, und es ist etwas, was wir heute sicher ganz gut verstehen können.«

»Richtig…«

»Außerdem war Johanna eine sehr willensstarke Frau, die sich mit vielen Mächtigen angelegt hat, vor allem mit den Engländern und den Burgundern.«

»Nicht zuletzt hat sie auch die traditionellen Rollen von Männern und Frauen in Frage gestellt.«

»Das stimmt. Auch das ist etwas sehr Modernes, und es hat natürlich bei ihrer Verurteilung eine Rolle gespielt.«

»Auch dieses Verständnis von der Rolle der Geschlechter ist etwas, was mich sehr berührt. Noch vor einigen Jahrzehnten wurden Frauen nur als Ehefrauen und Mütter gesehen und ansonsten kaum ernst genommen. Vor ein paar Generationen war es meistens noch undenkbar, dass Frauen nicht heirateten und stattdessen einen Beruf ausübten oder Karriere machten. Ich glaube manchmal, dass auch meine Mutter eigentlich lieber in ihrem Beruf gearbeitet hätte, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte.«

»Ja, du hast mir davon erzählt…«

»Auf jeden Fall fasziniert mich der Aspekt der Rebellion in Johannas Leben. Ich mag Menschen, die einen starken Drang zur Unabhängigkeit haben.«

»Den hast du sicher auch… Du hattest ja manche Probleme mit deinen Eltern wegen deiner Abwendung von der Religion und weil du unbedingt Physik statt Medizin studieren wolltest.«

»Das stimmt, aber glücklicherweise waren die Konsequenzen bei mir nicht so dramatisch«, sagte Sarah.

»Da hast du allerdings recht«, antwortete Robert mit einem Lächeln.

Nach einigen Stunden erreichten sie Frankfurt und fuhren mit der Straßenbahn zu dem Studentenwohnheim im Osten der Stadt, wo Sarah lebte. Es war ein 40-stöckiges Gebäude, in dem mehrere hundert Studenten untergebracht waren. Sarah wohnte weit oben, im 36. Stockwerk, von wo aus man bei gutem Wetter eine weite Fernsicht hatte, die oft bis zu den Spessartbergen im Osten reichte. Auch an diesem Tag war die lange Hügelkette in der Ferne deutlich zu erkennen.

»Der schöne Ausblick ist das Beste an meinem Zimmer hier«, sagte Sarah.

»Das stimmt. Darum kann ich dich nur beneiden. Von meinem Zimmer aus schaue ich auf einen leeren Hinterhof.«

»Ja, ich weiß…«, antwortete Sarah lachend, während sie ihre dunkelbraunen, lockigen Haare kämmte.

Nachdem sie ihren Koffer ausgepackt hatte, gingen beide in die Küche, die nur wenige Schritte entfernt war, und kochten Tee, während draußen langsam die Dunkelheit anbrach.

Als sie wenig später beide in Sarahs Zimmer saßen, sagte sie:

»Ich habe zwar nicht viel freie Zeit, aber ich hoffe, dass ich in den nächsten Wochen die Gelegenheit habe, einige Bücher über Jeanne d´Arc zu lesen.«

»Ich glaube, das ist eine gute Idee. Ich kann dir sicher ein paar Tipps geben. Immerhin hat Johannas Geschichte ja einiges mit der Entwicklung des französischen Zentralstaats und mit dem Thema meiner Magisterarbeit zu tun.«

»Das stimmt… Mein erwachendes Interesse an Geschichte ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns«, antwortete Sarah, und beide umarmten sich. In diesem Augenblick hörten sie laute Schreie, die von draußen kamen. »Das sind Studenten, die auf dem Weg zu Partys sind. Wenn sie zurückkommen, schreien sie oft noch lauter… Ich weiß, es ist ein Ausdruck von Lebensfreude, aber manchmal geht mir der Lärm auf die Nerven, vor allem wenn ich einzuschlafen versuche. In manchen Nächten verfolgen mich die Schreie bis in meine Träume…«

»Ja… du kannst ohnehin oft nicht sofort einschlafen oder wachst im Lauf der Nacht wieder auf… In meinem Zimmer wiederum habe ich zwar keine Fernsicht, aber dafür ist es nachts ruhig. Nur ist es leider für uns beide viel zu klein, und es ist im Haus sonst keine Wohnung frei.«

»Es ist eben nichts ideal, aber vielleicht finden wir irgendwann eine Wohnung, in der wir nachts ruhig schlafen können und einen schönen Ausblick haben.«

»Das wäre natürlich das Beste«, antwortete Robert, bevor sie sich zum Abschied umarmten.

In den nächsten Wochen und Monaten fand Sarah neben der Arbeit an ihrer Dissertation ab und zu Zeit, sich mit Büchern über Jeanne d´Arc und ihre Zeit zu beschäftigen, und entwickelte dadurch auch mehr und mehr Interesse an der Geschichte ihrer eigenen Familie.

Während eines Spaziergangs sagte sie eines Abends zu Robert:

»Ich weiß, dass meine Urgroßeltern Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Ukraine nach Amerika ausgewandert sind. In letzter Zeit habe ich mich manchmal gefragt, wo meine entfernteren Vorfahren gelebt haben. Ich glaube, dass meine Ururgroßeltern in Galizien geboren wurden. Über die Zeit davor weiß ich nichts…«

»Woher frühere Generationen kamen, lässt sich oft nicht so einfach erforschen. Möglich ist freilich, dass deine Vorfahren vor langer Zeit aus Deutschland ausgewandert sind. Entlang des Rheins gab es im Mittelalter eine große Zahl von Juden, von denen viele während der Kreuzzüge und zur Zeit der großen Pest im 14. Jahrhundert vertrieben wurden. Die meisten sind nach Polen gegangen, wo sie damals freundlich aufgenommen wurden. Einige haben sich allerdings auch in Frankreich niedergelassen, wo vor allem im Elsass später viele Juden lebten, die deutsche Namen trugen.«

»Es ist ein faszinierender Gedanke, dass meine fernen Vorfahren vor mehreren hundert Jahren hier in dieser Gegend gelebt haben könnten.«

»Mit Sicherheit wirst du es wohl nie herausfinden können, aber es ist gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich.«

»Ich frage mich, wie ihr Leben ausgesehen hat und was sie damals erlebt haben…«

»Darüber kann man natürlich nur spekulieren und versuchen, es sich vorzustellen«, antwortete Robert, bevor sie sich auf den Rückweg machten.

Einige Monate später, im Frühjahr, liefen Sarah und Robert an einem Sonntagnachmittag am Fluss entlang in die Innenstadt und kehrten dann zu dem Wohnheim zurück, in dem Sarah lebte. Es war der Tag vor dem ersten Mai, und an dem warmen Frühlingsabend waren viele Spaziergänger unterwegs, die die Wärme des zu Ende gehenden Tages genossen. Als sie einen Platz überquerten, sagte Sarah:

»Schau mal, ein Maibaum… So etwas habe ich hier zum ersten Mal gesehen.«

»Stimmt«, antwortete Robert. »In Amerika gibt es diese Tradition nicht. Vielleicht soll sie an die Rückkehr des Lebens im Frühling erinnern...«

Nachdem sie kurz darauf in Sarahs Zimmer angekommen waren und eine Tasse Tee gekocht hatten, sagte Robert:

»Du hast mittlerweile eine ganze kleine Sammlung von Büchern über Jeanne d´Arc und das Mittelalter…«

»Ja, und außerdem hast du mir ja auch manches ausgeliehen… Vieles habe ich inzwischen gelesen und dabei auch einiges über das Leben der Menschen im Mittelalter erfahren… Dabei habe ich mich manchmal gefragt, wie Jeanne d´Arc ausgesehen haben könnte.«

»Mit Sicherheit ganz anders, als die meisten glauben.«

»Ja, das vermute ich auch… Sie war auch nicht unbedingt immer das, was wir uns unter einer Heiligen vorstellen.«

»Das stimmt natürlich. Zwar war sie in mancher Hinsicht sehr außergewöhnlich, aber letztlich eben doch ein Mensch mit Stärken und Schwächen wie wir alle…«

»Das ist sicher richtig«, antwortete Sarah und blickte aus dem Fenster.

»Ich glaube, heute Nacht wird ziemlich viel los sein. Wahrscheinlich werde ich ein paarmal wieder aufwachen…«

»Bis ich gehe, dürfte der größte Lärm vorbei sein… Oder ich bleibe hier, auch wenn die Matratze auf dem Boden nicht sehr bequem ist.«

»Das ist wahrscheinlich die beste Lösung«, antwortete Sarah, und beide umarmten sich.

Einige Stunden später, gegen Mitternacht, bereiteten sich Sarah und Robert auf die Nacht vor und schalteten kurz danach das Licht aus. Während Robert sofort einschlief, lag Sarah noch einige Zeit wach, bevor sie Schlaf fand.

Im Traum fand sie sich in das Haus ihrer Eltern in der Nähe von Washington versetzt. Sarah war 13 Jahre alt, und ihre fünf Jahre jüngere Schwester Joan war an einem Frühlingsnachmittag gerade aus der Schule zurückgekehrt, während ihre Eltern, die zusammen eine Arztpraxis führten, noch arbeiteten. Joan war, wie Sarah, für ihr Alter eher klein und zierlich und hatte lange, braune, glatte Haare. Beide gingen in die Küche und bereiteten einen Imbiss zu, weil sie wussten, dass ihre Eltern erst spät nach Hause kommen würden. Danach machten beide im Wohnzimmer ihre Hausaufgaben, bevor Joan das Haus verließ, um die Tochter einer Nachbarin zu besuchen. Sarah beobachtete, wie sie die von hohen Bäumen gesäumte Straße überquerte. Dann hörte sie plötzlich quietschende Reifen und einen lauten Schrei… Als sie aufwachte, drang das laute Gelächter von Studenten auf der Straße vor dem Wohnheim an ihr Ohr. Sie drehte sich um und sah, dass Robert fest schlief, während der Mond ein fahles Licht in ihr Zimmer warf. Sarah stand auf, ging zum Waschbecken und trank ein Glas Wasser, bevor sie sich wieder ins Bett legte. Auch dieses Mal dauerte es einige Zeit, bis sie einschlafen konnte.

Schließlich jedoch fand sie sich in einer fremden, fernen Welt wieder. Sie war 18 Jahre alt und trug, wie ihre 13-jährige Schwester Judith, ein langes, grünes Kleid, während sie beide mit ihren Großeltern vor dem Kaminfeuer in einem karg eingerichteten Haus mit groben Steinwänden saßen. Beide hatten bereits zu Abend gegessen, während ihr Vater, ein jüdischer Kaufmann, noch mit seiner Arbeit beschäftigt war und ihre Mutter sich um die jüngeren Geschwister kümmerte.

Nach einer Weile sagte Sarah zu ihrem Großvater: »Du hast mir gestern von deinen Großeltern und Urgroßeltern erzählt. Wie sind sie eigentlich hierher nach Chinon gekommen?«

»Ich weiß nur, was mir meine Mutter und mein Großvater vor langer Zeit erzählt haben… Die Großeltern meiner Mutter haben vor etwa 80 Jahren in einem Dorf bei Speyer gelebt und und haben schließlich diesen Ort verlassen, als die Juden zur Zeit der großen Pest verfolgt wurden… Sie selbst waren noch nicht Opfer von Angriffen geworden, aber sie wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es geschehen würde. Sie hatten von der Verbrennung der Juden in Basel, Freiburg und Straßburg gehört… In Straßburg beispielsweise wurde den Juden versprochen, dass sie ins Exil gehen könnten. Als sie sich alle versammelt hatten, wurden sie vor die Tore der Stadt getrieben. Dort fielen Räuberbanden über sie her, die ihnen ihre gesamte Habe abnahmen. Anschließend wurden sie in mehrere leere Holzhäuser gepfercht. Um die Häuser herum wurde Reisig aufgeschichtet und angezündet. Viele Juden haben zuerst ihre Kinder getötet. Dann nahmen die Erwachsenen sich gegenseitig das Leben, ehe die Flammen sie erreichten… In Freiburg wiederum sorgten die Patrizier dafür, dass die Juden verurteilt und auf ähnliche Weise verbrannt wurden. Danach wurden von den Leuten, denen sie Geld geliehen hatten, die Schulden eingetrieben und vom Rat der Stadt nach Gutdünken aufgeteilt. Das Erschreckende war, dass es nicht das Volk war, das den Tod der Juden verlangte, sondern die Herrschenden. Alles war im Voraus genau geplant, und manchmal hat sogar der Kaiser offiziell seine Zustimmung gegeben, wenn festgelegt wurde, wer wie viel bekommen sollte, wie es etwa in Nürnberg geschehen ist. Mit der Pest, die häufig erst viel später kam, hatte das alles eigentlich gar nichts zu tun. Die Legende, dass die Juden die Brunnen vergiften, wurde nur als Vorwand benutzt. Außerdem wussten gerade die einfachen Leute doch ziemlich gut, dass Juden genauso wie Christen an der Pest erkrankten, denn das Volk ist keineswegs so dumm, wie es die Mächtigen glauben. Die Menschen in dem Ort, wo meine Urgroßeltern wohnten, haben ihnen geraten zu gehen, bevor es zu spät ist. Schließlich sind sie schweren Herzens aufgebrochen, und nach langer Irrfahrt haben wir uns am Ende hier in Chinon niedergelassen. Obwohl die Juden mittlerweile aus Frankreich vertrieben wurden, toleriert uns Karl VII., weil er auf unsere Kredite angewiesen ist. «

»Sind wir hier sicher?«, fragte Judith.

»Für den Augenblick ja… So sicher, wie man es im Krieg eben sein kann. Freilich kann man nie ausschließen, dass auch wir von hier vertrieben werden. Deshalb haben eure Eltern und wir uns auch schon gefragt, ob wir nicht lieber nach Polen gehen sollten, wo es jetzt immer größere jüdische Gemeinden gibt und wo wir vielleicht auf Dauer besser aufgehoben wären.«

In diesem Augenblick kam Sarahs Vater nach Hause, und nach kurzer Zeit war die ganze Familie um den Kamin versammelt. Nachdem auch Sarahs Eltern zu Abend gegessen hatten, sagte ihr Vater, ein eher kleiner, etwa 40 Jahre alter Mann mit einem grauen Bart:

»Ich werde morgen einige Räte des Königs treffen… Wie ihr wisst, steckt Karl Vll. In finanziellen Schwierigkeiten und sucht Kreditgeber, um seine bevorstehenden Feldzüge finanzieren zu können, vor allem jetzt, wo die berühmte Jungfrau aus Lothringen ihn davon überzeugt hat, die Belagerung von Orléans durch die Engländer zu beenden.«

»Wir hören ständig von dieser jungen Frau, die ungefähr so alt ist wie ich«, antwortete Sarah. »Ich würde gerne wissen, wie sie aussieht und was für ein Mensch sie ist…«

»Vielleicht wirst du es morgen erfahren, denn ich glaube, dass du mitkommen solltest. Ich weiß, du träumst davon, Medizin zu studieren, aber das geht leider nicht. Stattdessen solltest du dich eher mit der Arbeit von Kaufleuten vertraut machen, um mich und später einen deiner Brüder unterstützen zu können. Ich glaube, es wäre nicht schlecht, wenn du einmal selbst siehst, wie solche Verhandlungen ablaufen… Es steht für uns durchaus viel auf dem Spiel, denn angesichts der großen Summen könnte ein schwerer Fehler schlimmstenfalls unseren Ruin bedeuten. Wer weiß, was geschieht, wenn der König diesen Feldzug verliert?... Aber letztlich müssen wir dieses Risiko eingehen, um unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wir werden uns also morgen Nachmittag auf den Weg zur Burg machen…«

»Ich werde dich natürlich gerne begleiten«, antwortete Sarah.

So brachen Sarah und ihr Vater in Gesellschaft eines anderen jüdischen Kaufmanns am nächsten Tag zur Königsresidenz von Chinon auf, die auf einer Anhöhe über der Stadt und dem Ufer der Vienne lag. Als sie an jenem sonnigen Märznachmittag des Jahres 1429 die gewaltige Burganlage mit ihren langen Mauern und zahlreichen Gebäuden erreichten, blickte Sarah zurück auf die kleine Stadt mit ihren engen, verwinkelten Gassen und fand nach wenigen Augenblicken das Haus ihrer Eltern, das nicht weit von der größten Kirche des Ortes entfernt lag. Schließlich überquerten sie eine Brücke und betraten einen ersten Innenhof, über dem die Gebäude der Residenz aufragten, die Sarah an diesem Tag zum ersten Mal von innen sehen würde. Als sie über den Hof gingen, hörten sie aus nicht allzu großer Entfernung laute Geräusche von Hufen und klirrenden Waffen, die offenbar von Rittern oder Soldaten stammten, während Gerüche von Pferden, Rauch und Wein die Luft erfüllten. Kurz darauf passierten sie ein Tor, das unter einem der Gebäude hindurchführte, und erreichten einen zweiten Innenhof, wo mehrere Ritter in voller Rüstung Kampfübungen veranstalteten. Ihre Pferde waren kräftig, wohlgenährt und sehr gepflegt, was darauf hindeutete, dass es sich um hohe Adlige handelte. Zwei von ihnen waren sehr groß, während der dritte im Vergleich außergewöhnlich klein und zierlich erschien. Die im Sonnenlicht glänzenden Helme ihrer Rüstungen ließen nur die Augen frei, so dass ihre Gesichtszüge nicht zu erkennen waren. Erstaunlicherweise war es der kleinste der drei, der Sarahs größte Aufmerksamkeit weckte, vielleicht auch deshalb, weil er mit hoch erhobenem Kopf auf Sarah und die kleine Gruppe herabzublicken schien. Seine Art, sich auf seinem großen, schwarzen Pferd zu bewegen, seine Gewandtheit und Geschicklichkeit, aber auch seine Körperhaltung schienen nicht nur Sarah zu fesseln, sondern auch die Zuschauer, die die drei Reiter von den Fenstern aus beobachteten. In der Haltung dieses Ritters spiegelte sich ein Bewusstsein seiner Bedeutung und ein Gefühl des Auserwähltseins wider, wie Sarah es bisher noch bei keinem Menschen erlebt hatte, und auch die anderen beiden schienen ihm mit bewunderndem Respekt zu begegnen.

Als Sarah und ihr Vater nach einigen Augenblicken das angrenzende Gebäude betraten, sagte der Begleiter ihres Vaters:

»Ich glaube, der kleine Ritter war Johanna. Ich habe sie noch nie gesehen, aber ich habe gehört, dass sie eine außergewöhnlich gute Reiterin ist und sich auch mit Waffen auf Pferden so gewandt bewegt, als ob sie es von Jugend an geübt hätte. Man würde nie glauben, dass sie eigentlich ein Bauernmädchen ist, auch wenn ihre Eltern vergleichsweise wohlhabend sein sollen und vielleicht davon geträumt haben, in den Ritterstand aufzusteigen.«

»Ja… Es ist eine ganz außergewöhnliche Geschichte. Der Dauphin setzt seine ganze Hoffnung in sie. Hoffen wir, dass ihr Glaube sie nicht trügt«, antwortete Sarahs Vater.

Über eine breite Treppe erreichten sie schließlich einen großen Raum mit einer hohen Kassettendecke, dessen Wände mit Wandteppichen geschmückt waren, die zahlreiche Jagdszenen zeigten. Trotz des Sonnenscheins war es ziemlich kühl, so dass Sarah die Wärme des Kaminfeuers genoss, das an der Stirnseite des Saales brannte. Ihr Vater erkannte unter den zahlreichen Anwesenden sofort einige Räte des Königs, mit denen er über den Kredit verhandeln sollte, und stellte ihnen Sarah und seinen Begleiter vor. Sarah hörte den folgenden Gesprächen zu, die sich in die Länge zogen, weil ihr Vater sich mit den königlichen Räten nicht über Laufzeit und Zinssatz einigen konnte. Nach einiger Zeit erhob sich plötzlich ein gedämpftes, aber doch deutlich vernehmbares Raunen, als eine Gestalt den Raum betrat, die Sarah sofort an den Ritter erinnerte, den sie im Hof beobachtet hatte, und von der sie wusste, dass es Johanna war. Sie trug einen mantelartigen Umhang aus rotem Samt mit einem goldenen Kreuzmuster, der an der Taille von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde, schwarze Strümpfe und hohe, geschnürte Stiefel, die bis zur Mitte der Unterschenkel reichten und an ihrer Rückseite mit langen Sporen versehen waren. Ihre schwarzen Haare waren in der Mitte länger, an den Seiten und hinten jedoch kurz abrasiert. Auch darin glich sie, wie in ihrer Kleidung, den anderen Rittern. Ihre Gesichtszüge strahlten ein starkes Selbstbewusstsein aus und verliehen ihr ein jungenhaftes, beinahe männliches Aussehen, so dass man sie auf den ersten Blick für einen jungen Adligen gehalten hätte. Umso erstaunlicher wirkte ihre helle, betont weibliche Stimme. Da Sarah Johanna, die einige Schritte von ihr entfernt stand, ihre ganze Aufmerksamkeit zuwandte, konnte sie einen großen Teil dessen verstehen, was gesprochen wurde.

Auf die Frage eines Adligen antwortete Johanna:

»Ich bin gerade dabei, einen Brief an die Engländer vor Orléans zu verfassen… Ich werde in etwa Folgendes schreiben: ›Ich, Johanna, die Jungfrau, befehle im Namen Gottes den englischen Soldaten, ihrem König und ihren Befehlshabern, Frankreich, das sie gegen Gottes Willen besetzt halten, sofort zu verlassen. Wenn sie dazu bereit sind, können sie mit mir Frieden schließen. Falls nicht, bin ich Kriegsherrin und werde sie zu ihrem großen Schaden heimsuchen, bis der letzte englische Soldat aus dem Reich unseres zukünftigen Königs vertrieben ist. Dann werden wir ein Kriegsgeschrei erheben, wie es Frankreich in den letzten tausend Jahren nicht mehr erlebt hat, denn ich bin vom König des Himmels gesandt, um Frankreich von den Engländern zu befreien. Wenn sie meinem Befehl nicht gehorchen, werde ich sie Mann für Mann schlagen und sie alle töten lassen. Dann wird man sehen, wem Gott das größere Recht verliehen hat. Fordert das Verderben nicht heraus und antwortet mir, wenn ihr in Orléans Frieden schließen wollt! Ansonsten werdet ihr es bald zu euren großen Unglück bereuen.´«

Die Ritter, die sie umgaben, stimmten ihr voller Bewunderung zu und schienen ohne Ausnahme von ihrer Entschlossenheit und Siegeszuversicht tief beeindruckt.

Anschließend entfernte sich Johanna ein wenig, und Sarah verlor sie für einige Zeit aus ihrem Blickfeld, weil ihr Vater sie um ihre Aufmerksamkeit für den bevorstehenden Abschluss seiner Verhandlungen mit den königlichen Räten bat.

Nach etwa einer Viertelstunde bemerkte sie, dass Johanna allein in einer Ecke des großen Saales stand. Sie war tief in Gedanken versunken, und ihre Gesichtszüge wirkten, als ob sie mit jemandem Zwiesprache halte und der sie umgebenden Welt weit entrückt sei. Auch die Anwesenden schienen zu spüren, dass sie mit sich und der Welt in ihrem Inneren allein sein wollte, und niemand machte den Versuch, sie zu stören.

Nach einigen Minuten ertönten die Glocken der nahen Kapelle. In diesem Augenblick wandte Johanna von einem nahen Fenster aus ihren Blick zum Himmel und wirkte noch mehr so, als ob sie zu einer anderen Welt gehöre. Dann betraten zwei Geistliche den Raum, und Johanna verließ mit ihnen den Saal, ohne sich umzublicken.

Kurz darauf schlossen Sarahs Vater und die königlichen Räte die Verhandlungen über den Kredit ab, und ihr Vater, sein Begleiter und Sarah verließen die Burg auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Als sie zu Hause ankamen, sagte Sarahs Vater:

»Ich bin froh, dass wir die Verhandlungen über das Darlehen erfolgreich beenden konnten und dass es uns vor allem gelungen ist, die Laufzeit kurz zu halten. Wer weiß, ob Karl mit seinem Feldzug Erfolg haben wird? Wenn nicht, wird er vielleicht eines Tages nicht mehr imstande sein, den Kredit zurückzuzahlen… Angesichts der unsicheren Lage denken wir noch immer darüber nach, in einigen Jahren Frankreich zu verlassen und nach Polen zu gehen, wo die Lebensbedingungen für Juden besser sind. Für den Augenblick hoffe ich jedenfalls, dass Johanna mit ihren Prophezeiungen recht hat…«

»Was hältst du von ihr?«, fragte Sarah.