Nachtmeerfahrten - Simone Stölzel - E-Book

Nachtmeerfahrten E-Book

Simone Stölzel

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Beschreibung

Eine literarische Reise durch die dunkle Seele der Romantik – Von Lüsten, Wahn und anderen Zwängen. *Die Visionen der Romantik haben die europäische Kultur der vermeintlich aufgeklärten Moderne geprägt – so viel epochaler Anfang war nie. Ob in der Philosophie, der Literatur oder der Kunst, die Romantik war eine wunderbare Neuaneignung unseres Welt- und Selbstverständnisses. *Zu ihrer Konsequenz geführt aber wird die romantische Idee erst in der Schwarzen Romantik – erst diese leuchtet die Abgründe der Seele, das uns Fremde, die andere Seite der Vernunft aus und lässt die Utopie vom besseren Menschen brüchig aussehen.* Die Kulturwissenschaftlerin Simone Stölzel unternimmt essayistische »Nachtmeerfahrten«, literarisch-anthologische Erkundungen der schillernden schwarzromantischen Bilder- und Symbolsprache.*Nachtmeerfahrten beleuchtet die dunklen, die anderen Seiten berühmter Autoren – die wir neu entdecken, neu lesen lernen: Tieck, Heine oder Hoffmann und Hauff, Gautier, Byron, Shelley und Stoker, Maupassant, Stevenson, Poe und Meyrink, Huysmans oder Kubin – die Liste ist lang und Nachtmeerfahrten geleiten uns in eine Welt der Geister und Schatten, die gerahmt und illustriert wird von Werken der bildenden Kunst.

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Simone Stölzel

Nachtmeerfahrten

Die dunkle Seite der Romantik

ISBN 978-3-8477-5338-4

© für die deutschsprachige Ausgabe:

AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin www.die-andere-bibliothek.de

Nachtmeerfahrten von Simone Stölzel ist Februar 2013 als dreihundertachtunddreißigster Band der Anderen Bibliothek erschienen.

Die limitierte gedruckte Ausgabe ist erhältlich im Abonnement ab-abo.de oder als Einzelband unter:

http://www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Nachtmeerfahrten::417.html

Herausgabe: Christian Döring

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

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Umsetzung und Vertrieb des E-Book erfolgt über:

Inhaltsübersicht

Impressum

DIE ANDERE BIBLIOTHEK

VORWORT

I. Prolog: Seelenfinsternisse

Romantik als Begriff: Passepartout oder Chamäleon?

Friedrich Schlegels Utopie einer allumfassenden Poesie

Nachtseiten des Gemüts

EXKURS zur Gothic Novel

Schwarze Romantik

Poetische Verdüsterung

In Nacht und Zwielicht

II. Gespensterliebe

Dämonen

Literarische Gespenster

Eros und Thanatos, Traum und Wirklichkeit

Nekrophile Ekstasen

Graf Dracula als Ahnherr

Unsterbliche Vampire

III. Böse Meister

In Blaubarts Kammern

EXKURS Die Detektivgeschichte als ›Kind‹ der schwarzen Romantik

Zauberer und Schwarzmagier: Böse Meister im Kunstmärchen

Kalte Herzen

EXKURS Das romantische Herz – Ein unheimliches Organ

Des Meisters Monster

Gespaltene Seelen

EXKURS zur Trivialisierung schwarzromantischer Stoffe am Beispiel von Stevenson

Böse Meister im expressionistischen Film

IV. Innenansichten des Wahnsinns

Gefährdete Existenzen

Literarische Tobsuchtsanfälle

EXKURS zum Motiv des Doppelgängers

Negative Mystik: Religiöser Wahn

Tödliche Obsessionen

Der selbstzerfleischende Wahn

V. Epilog: Weltenbrand

Geschlechterdämmerung

Endzeitvisionen

EXKURS zur Science Fiction: Technische Kunstmärchen

Das grenzenlose Ich

LITERATURVERZEICHNIS

DANK

DIE ANDERE BIBLIOTHEK

Die 1984 von Hans Magnus Enzensberger und dem Verleger und Buchgestalter Franz Greno begründete Buchreihe DIE ANDERE BIBLIOTHEK ist längst zum Bestandteil unserer deutschsprachigen Lesekultur geworden. Monat für Monat ist seit Januar 1985 ein Band erschienen – »Gepriesen und geliebt« (Frankfurter Allgemeine Zeitung). An dem Anspruch, intellektuelles und visuelles Vergnügen zu verbinden, hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert:

DIE ANDERE BIBLIOTHEK ist die »schönste Buchreihe der Welt« (Die Zeit).

Seit Januar 2011 wählt der Herausgeber Christian Döring monatlich sein Buch aus und gibt es im Verlag DIE ANDERE BIBLIOTHEK unter dem Dach des Aufbau Hauses am Berliner Moritzplatz heraus. In Haltung, Gestaltung und Programm hat sich am Anspruch seit drei Jahrzehnten nichts geändert: »Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten.«

Das Programm der ANDEREN BIBLIOTHEK folgt inhaltlich seit Anbeginn nur einem Maßstab: Genre-, epochen- und kulturraumübergreifend wird entdeckt und wiederentdeckt, die branchenübliche Einteilung in Sachbuch und Literatur hat nie interessiert, der Klassiker zählt so viel wie die Neuerscheinung. Es gilt der »Kanon der Kanonlosigkeit«, nur Originalität und Qualität sollen zählen.

– Jeden Monat erscheint ein neuer Band, von den besten Buchkünstlern gestaltet.

– Die Originalausgabe erscheint in einer Auflage von 4.444 Exemplaren – limitiert und nummeriert.

– Werden Sie Abonnent, so erhalten Sie jede Originalausgabe garantiert und zum Vorzugspreis.

Die Mindestlaufzeit des Abos beträgt ein Jahr (zwölf Bände), danach können Sie jederzeit kündigen. Als persönliches Dankeschön erhalten Sie eine exklusive Abo-Prämie.

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DIE ANDERE BIBLIOTHEK

030 / 639 66 26 90 oder 030 / 28 394–227

[email protected]

www.die-andere-bibliothek.de

www.ab-abo.de

Berlin, im Dezember 2012

Liebe Leserinnen und Leser,

liebe Freunde der »Anderen Bibliothek«,

das neue Jahr hat uns schon wieder fest im Griff, es ist Zeit, zumindest lesend wieder auf eine »literarische Reise« zu gehen: »Und die Welt hebt an zu singen/ Triffst Du nur das Zauberwort.« Wir sind alle aufgewachsen mit Eichendorffs »romantischen« Versen und erkennen in diesen Wintermonaten Caspar David Friedrich wieder mit seinem »romantischen« Bild »Der Wanderer über dem Nebelmeer«.

Auf das Beiwort »romantisch« stoßen wir überall – und wissen doch nicht genau, wovon wir reden. Friedrich Schlegel, einer der Vordenker der Romantik, schrieb an den Bruder, was da in der Literatur, der bildenden Kunst und in der Musik romantisch heiße, das sei so facettenreich, dass er viele Bogen gebraucht habe, um es festzuhalten.

Die Kulturwissenschaftlerin Simone Stölzel entführt Sie, liebe Leserinnen und Leser unserer Bibliothek, in diese europäische Geistesbewegung, die auch eine »schwarze Seele« hatte – dann, wenn wir in die düsteren, die exzessiv-phantastischen Abgründe der Vernunft schauen und uns selbst unheimlich werden.

Es sind »Nachtmeerfahrten«, zu denen Sie verführt werden, es sind Bildungsreisen der ganz eigenen Art. Und wie immer wünsche ich Ihnen dazu

Lesen Sie wohl

Ihr

Christian Döring

Für Thomas, meinen Mann

VORWORT

Wie entsteht ein Buch? Oder – um gleich vom Allgemeinen zum Besonderen zu gelangen: Wie kommt jemand auf die Idee, ein Buch über Die dunkle Seite der Romantik zu schreiben? In meinem Fall war die früh erwachte und nun schon lange währende Begeisterung für romantische Texte der wichtigste Anreiz – die Freude an ihrer Schönheit, an der Subtilität und an der erstaunlichen Variationsbreite ihrer sprachlichen wie gedanklichen Möglichkeiten. Die romantischen Autoren haben auf der Schwelle zur sogenannten Moderne den Versuch unternommen, durch eine eigens geschaffene Bildersprache die Bereiche zu erkunden, für die es oftmals gar keine oder nur ungenügende Worte gibt: das Numinose, das abstrakte Empfinden, den poetischen Rausch, aber auch die Seelenfinsternisse und menschlichen Abgründe, die verschiedenen Zustände geistiger Verwirrung oder Verzweiflung, die erst später durch die nüchterne Nomenklatur einer medizinischen Seelenheilkunde erfaßt werden sollten. Damit hat sich in der Epoche der Romantik eine neue, poetische Welt aufgetan, die noch viele nachfolgende Schriftstellergenerationen bis in unsere Gegenwart hinein faszinieren und beeinflussen sollte.

Allerdings war es gerade diese Beschäftigung mit den ›Nachtseiten des Gemüts‹, die manchen Zeitgenossen und Nachgeborenen stets ein wenig anrüchig erschien – holt sie doch jene ›andere Seite‹ des Menschen ans Licht, die meistens abgelehnt oder verleugnet, und das heißt wohl: lieber im Dunkeln belassen, wird. Die ›schwarze Romantik‹ blieb vermutlich nicht zuletzt deshalb weitgehend ein Stiefkind der Literaturbetrachtung und ist seit jeher ein verunglimpfter, mißverstandener und einseitiger Begriff gewesen. Dabei hatten die romantischen Autoren den Mut, andere Bereiche für die Literatur zu erschließen, die jenseits des klassischen Ideals vom Guten, Schönen und Wahren liegen – wobei gerade das Dämonische und Abseitige, das man gerne übersehen möchte, letztlich das elementar Menschliche repräsentiert.

Anhand einer persönlichen Auswahl romantischer oder romantisierender Texte, die man meiner Ansicht nach nicht nur einigen wenigen Spezialisten überlassen sollte, möchte ich den Leserinnen und Lesern eine ebenso lustvolle wie aufschlußreiche Neu- oder Wiederbegegnung mit dieser Literatur ermöglichen. Damit ist die Einladung zu einer ›Nachtmeerfahrt‹ ausgesprochen, die über eine Annäherung an romantische ›Seelenfinsternisse‹, über unheimliche Begegnungen mit Geistern, Vampiren oder bösen Meistern bis hin zum individuellen wie zum kollektiven Wahn und Weltenbrand führt.

In der altägyptischen Mythologie bezeichnet die Nachtmeerfahrt den Weg in die Tiefe, die der Sonnengott Re jeden Abend antritt, um am Morgen darauf verjüngt wiederaufzuerstehen. Carl Gustav Jung hat in seiner Konzeption der analytischen Psychologie dieses vielschichtige Symbol aufgegriffen, um die Reise eines Menschen ins Unbewußte zu beschreiben, bei der man durch die Begegnung mit mächtigen Bildern den Weg zur eigenen Menschwerdung auf besondere Weise erfahren kann. In diesem Sinne führt die Reise in dem hier vorliegenden Buch vorbei an Abgründen und Untiefen und vielleicht sogar zu einem neuen Verständnis für die schwarzromantischen Motive in der moderneren Literatur. Damit die Freude an einer solchen Reise auch genügend Stoff findet, an der sie sich entzünden kann, habe ich zahlreiche Zitate und Bilder ausgewählt, die diese ›Nachtmeerfahrt‹ nicht nur illustrieren, sondern zugleich zu einem Lesebuch der besonderen Art machen sollen.

Simone Stölzel

Berlin, im November 2012

I. Prolog: Seelenfinsternisse

Aus dem romantischen Gesichtspunkt

haben auch die Abarten der Poesie,

selbst die ekzentrischen und monströsen,

ihren Wert, als Materialien

und Vorübungen der Universalität,

wenn nur irgend etwas drin ist,

wenn sie nur original sind.

Friedrich Schlegel

ROMANTIK ALS BEGRIFF:PASSEPARTOUT ODER CHAMÄLEON?

Romantik scheint ein beinahe alltägliches Wort zu sein, und man meint, mehr oder minder genau zu wissen, was es bedeutet. Häufig wird dieser Begriff als Chiffre für eine unbestimmte, aber durchaus angenehme Sehnsucht in direkte Verbindung mit dem menschlichen Gemüt gebracht. So treibt das Wort ›Romantik‹ vor allem in der Tourismusindustrie die buntesten Blüten, wo man einen ›Romantikurlaub‹ in ›wildromantischer Natur‹ erleben, in ›Romantikhotels‹ übernachten oder ›in romantischer Atmosphäre‹ zu zweit und bei Kerzenlicht dinieren kann. Und das womöglich in einer malerischen, halbverfallenen Schloßruine oder ehemaligen Abtei. In England erfährt das Szenario noch eine Steigerung ins Schaurige, denn dort gehören zu einem romantischen Erlebnis prinzipiell noch die kettenrasselnden Poltergeister oder die stumm durch die Gänge alter Schlösser daherschwebenden ›weißen Damen‹, hinter denen sich die ruhelosen Seelen jung verstorbener, bleicher Schönheiten verbergen sollen, die einem todbringenden Liebesunglück nachseufzen.

Bei so viel inszenierter Schein-Romantik wird sich das ersehnte schwärmerische Gefühl wohl kaum noch einstellen. Doch eines haben die Veranstalter geisterhafter Inszenierungen offensichtlich begriffen: Romantik ist in der gegenwärtigen, von der eigentlichen ›Natur‹ weit entfernten westlichen Gesellschaft inzwischen zu einem beinahe allumfassenden Begriff geworden – zu einer Art ›Passepartout‹. Er steht für ein spezifisch ambivalentes Gefühlsgemisch aus freudiger Begeisterung und Wehmut, das bei richtiger Dosierung einen höchst angenehmen Kontrast zur nüchternen Alltagswelt unseres technisch hochgerüsteten Zeitalters darstellt.

Dabei bleibt selbst bei einer derartigen Verwendung der ursprünglich abwertende Gehalt des Wortes ›Romantik‹ noch ein wenig spürbar: Wer ließe sich heutzutage – außer vielleicht in gewissen Stunden – schon gerne als Romantiker bezeichnen? Das Wort hat wie ehedem einen deutlichen Beigeschmack von Versponnenheit und Lebensuntüchtigkeit bewahrt, der nicht mehr in unsere ›moderne‹ Welt zu passen scheint. Deshalb leistet man sich eine solchermaßen verstandene Romantik lediglich als Luxusgefühl oder als Freizeitvergnügen, bevor man sich wieder den wichtigen Dingen des Lebens zuwendet. Allerdings läßt sich feststellen, daß sich gerade da, wo man es auf den ersten Blick am wenigsten vermuten würde, aufs neue eine ›wildromantische‹ Ästhetik auszubreiten beginnt – in den virtuellen Wirklichkeiten einer medial vernetzten Scheinwelt. Hier kann sich das ›abenteuerliche Herz‹ eines Jugendlichen unserer Tage inzwischen wochen- oder monatelang in romantisierenden Fantasy-Geschichten und immer perfekter animierten Computerspielen ähnlicher Provenienz verlieren und muß dabei allenfalls einen Absturz des Computersystems oder eine höchst unromantische Gewichtszunahme aufgrund dauernden Bewegungsmangels fürchten. – Kurzum: Das Wort ›Romantik‹ läßt sich in dermaßen vielen und verschiedenen Kontexten verwenden, daß man an dem Versuch, es lediglich aus dem Alltagsgebrauch heraus klar zu definieren, zwangsläufig scheitern müßte. Wie ein Chamäleon scheint der Begriff mit seiner Anwendungsumgebung optisch bis zur Unkenntlichkeit zu verschmelzen und sich dem Zugriff einer eindeutigen Beschreibung zu entziehen.

Demnach befindet sich ein kritischer zeitgenössischer Betrachter in bester Gesellschaft, denn darüber, was Romantik eigentlich bedeuten soll, waren sich nicht einmal die Romantiker einig. Ein Befund, der auch auf ihre zahlreichen Gegner zutraf. Die Bezeichnung ›Romantiker‹ diente nicht selten als eine Art Totschlagargument oder ultima ratio, um die Position des jeweils anderen zu verspotten, sie als versponnen, weltfremd, verstiegen oder gar krankhaft zu diffamieren. Bereits Goethe stellte in seinen Maximen und Reflexionen 1826 apodiktisch fest: »Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke.«1 Und dies, obwohl er selbst mit seinem Märchen vielleicht eines der schönsten Romantischen Kunstmärchen verfaßt hatte und sein innerlich zerrissener Faust mit den sprichwörtlich gewordenen ›zwei Seelen in einer Brust‹ schon bald nach Erscheinen vor allem bei den englischen Literaten als erzromantischer Charakter gelten sollte.2 Bei der Annäherung an die Romantik als Epochen- wie als Stil-Bezeichnung scheint eine solche Polemik kaum hilfreich. Und man könnte Dutzende Texte über die Bedeutung des Wortes ›Romantik‹ referieren, ohne auch nur zu einer einigermaßen klaren Begriffsbestimmung zu gelangen.

Dies mag nicht zuletzt daran liegen, daß das Wort ›romantisch‹ schon lange vor der Zeit, die später als ›Epoche der Romantik‹ beschrieben werden sollte, vielfach verwendet wurde. So kann man im Historischen Wörterbuch der Philosophie zur Geschichte des Begriffs ›romantisch‹ folgende Anmerkungen lesen: »Die Bezeichnung ›romantisch‹ wurde zuerst im Jahre 1650 […] gebraucht, wobei sich die Adjektive [wie ›romantisch‹, ›romanisch‹ oder ›romanesk‹] im Englischen von ›romance‹, im Französischen und Deutschen von ›Roman‹ herleiten. Da die Romanform in dieser Zeit wegen ihrer fiktiven und unwahrscheinlichen Darstellungsweise negativ beurteilt wurde, hatten die Bezeichnungen einen pejorativen Beiklang und bedeuteten ›wie im Roman‹ oder ›wie in der Romanze‹, das heißt ›phantastisch‹, ›übertrieben‹ oder ›absurd‹. Die Literaturgattung, auf die man sich dabei bezog, waren Ritterromanzen aus dem Umkreis der Rolandsage und der Legenden und Sagen um König Arthur und seine Ritter.«3 Allerdings fehlt gerade im Deutschen die semantische Verbindung zum Roman oder zur Romanze. Unsere Sprache kennt hier lediglich Adjektive für die anderen drei literarischen Gattungen – ›episch‹, ›lyrisch‹, ›dramatisch‹ – nicht aber für den Roman, und man kann sich allenfalls mit solch unschönen Ersatzkonstruktionen wie ›romanhaft‹ behelfen.

»Außer auf menschliche Charaktereigenschaften wurde die Bezeichnung zu dieser Zeit auf Besonderheiten der Landschaft übertragen, die als wild, mannigfaltig, aber auch als abgeschlossen und paradiesisch erschienen. Die Reiseliteratur der Zeit hat mächtig zur Verbreitung dieser Bedeutung des Wortes beigetragen.«4 In diesem Zusammenhang wurde daher auch der (einer natürlich entstandenen Landschaftsszenerie nachempfundene) Englische Landschaftsgarten in Abgrenzung zum streng formalen, geometrischen Französischen Garten gerne als ›romantisch‹ bezeichnet. Diese zweite Bedeutung, die auch heute noch im allgemeinen Wortgebrauch vielfach verwendet wird, repräsentiert also eher die positiven Seiten des Wortes ›Romantik‹ und sollte sich im 18. Jahrhundert rasch verbreiten. Um nun aber zu klären, wie aus diesem weitgespannten und widersprüchlichen Bedeutungsfeld überhaupt eine Epochen- und Gattungsbezeichnung werden konnte, soll zunächst einer der wichtigsten Vordenker der romantischen Epoche selbst zu Wort kommen.

FRIEDRICH SCHLEGELS UTOPIE EINER ALLUMFASSENDEN POESIE

»Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald vermischen, bald verschmelzen …«5 Mit diesem programmatischen Appell beschwört der junge Friedrich Schlegel 1798 in dem berühmten 116. Athenäums-Fragment das Bild einer universalen Kunst und Dichtung herauf. Diese soll das Ergebnis einer dichterischen Einbildungskraft sein, welche allmählich alle Bereiche der sichtbaren und unsichtbaren Welt und damit auch alle Lebenssphären durchdringt: »Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür der Dichter kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.«6 Der romantische Dichter verwandelt sich also nach Schlegels Vorstellung in eine Art poetischen Schöpfergott oder in ein bis zur Vollkommenheit vergeistigtes Universalgenie, das nur noch seinen eigenen, ästhetisch begründeten Gesetzen zu gehorchen hat. Zugleich jedoch kennzeichnet Schlegel dieses emphatische Bild einer allumfassenden romantischen Poesie als Utopie, als einen per definitionem unerreichbaren Idealzustand, wenn er im gleichen Atemzug betont: »Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.«7

Einem heutigen Leser dieser Zeilen fällt sofort auf, daß die hier zitierten Definitionen Schlegels unbeirrt ins Maßlose zielen. Zumal sich in diesem Appell beinahe kein Satzteil findet, der nicht von absolutistischen Vokabeln – wie: allein, unendlich, einzig, alle, kein usw. – durchtränkt ist. Schlegels schwärmerische Haltung ist denn auch von seinen Zeitgenossen wie von den nachgeborenen Kritikern mehr oder minder scharf angegriffen worden – bisweilen sogar von seinen frühromantischen Mitstreitern, wie zum Beispiel von Novalis (dessen Literatur und Lebenshaltung an schwärmerischem Potential Schlegels Appellen wohl kaum nachsteht). Zwar hat Friedrich Schlegel in seinen verschiedenen Schriften eine konsistente romantische Literaturtheorie entwickelt, die nicht nur zu seiner Zeit bis in die anderen europäischen Länder hinein, sondern – kulturhistorisch betrachtet – sogar bis in die sogenannte Moderne wirkte. Aber seine Ansprüche an die Bedeutung und Wirksamkeit von Literatur vermochte er selbst nur sehr bedingt praktisch umzusetzen. Ernst Robert Curtius, dem das Verdienst gebührt, Schlegel mit rehabilitiert zu haben, faßt die Kritik an ihm zusammen: »Erstens wird ihm vorgeworfen, daß er faul war; zweitens war er frech, denn er hat die Faulheit noch literarisch verteidigt und ein Lob des Müßiggangs geschrieben. Dazu kommt, daß er Schillers ›Glocke‹ komisch fand und das auch sagte und druckte. Weiter: Friedrich Schlegel war unmoralisch. Die Kombination von Faulheit und Frechheit würde das ja allein schon zur Genüge beweisen. Nun hat sich derselbe Verfasser aber auch noch erlaubt, einen Roman zu schreiben, der die Freuden der Liebe feiert.8 Das haben die Aufsichtsbehörden der deutschen Literatur sehr übel vermerkt. Aber es kommt noch schlimmer. Friedrich Schlegel war überhaupt ein Genießer. Er aß und trank gerne und brachte es dabei zu einer behäbigen Korpulenz. Auch dieses Faktum wird gegen ihn ausgebeutet. Andere Leute dürfen dick werden, ohne daß man sie deswegen noch postum belästigt. […] Daß aber Friedrich Schlegel zur Körperfülle neigte, wird allgemein als ›Verfettung‹ bezeichnet, und der ungünstige Beiklang dieses Wortes soll andeuten, daß es sich nicht nur um einen körperlichen, sondern auch um einen seelischen Prozeß gehandelt habe.«9

So absurd es vielleicht klingen mag: Gerade dieser postum reichlich kurios wirkende Vorwurf der ›Verfettung‹ ist es, der bei nachdenklicher Betrachtung einen wichtigen, wenn auch indirekten Hinweis auf eine spezifische Eigenart der romantischen Epoche liefert: Die Romantik war eine intellektuelle Jugendbewegung; dies ist eines ihrer prägenden Merkmale. Sie hat in ihrem Selbstverständnis als Kultur des Aufbruchs den Avantgarde-Gedanken der klassischen Moderne vorweggenommen. Und – dies ließe sich mit Blick auf Ernst Robert Curtius’ oben zitierte Ausführungen hinzufügen – für den Vorreiter einer Jugendbewegung gehört es sich nun einmal nicht, korpulent zu werden. Ja, es scheint bisweilen schon ungehörig, überhaupt alt und gesetzt oder zumindest erkennbar älter zu werden. Daher hat Rüdiger Safranski in seinem Romantikbuch10 verschiedene Parallelen der Romantik zu anderen Jugendbewegungen, wie zur Generation der ›68er‹ gezogen. Auffallend viele romantische Schriftsteller sind jung verstorben; nicht nur darin gleichen sie unter anderem den ungebärdigen und teilweise ›frühvollendet‹ gestorbenen Rockmusikern der 1960er und 70er Jahre, die noch heute zu den ›ewigen‹ Jugendidolen zählen.

Im Gegensatz zur 68er Generation des 20. Jahrhunderts waren die Motivationen der Romantiker des beginnenden 19. Jahrhunderts als Vertreter einer Jugendbewegung allerdings schon von ihrem Ursprung her eher ästhetischer denn politischer Natur. Dennoch äußerte sich in der Literatur der Romantik auch ein spezifisches Unbehagen an den Zuständen der damaligen Zeit. Gesellschaftliche Gewißheiten wurden vehement in Frage gestellt – eine Haltung, die besonders für den Shelley-Byron-Kreis gilt. Beispielsweise war Mary Shelley die Tochter zweier ›Weltverbesserer‹: des aufklärerischen Sozialreformers William Godwin und einer damals sehr bekannten Frauenrechtlerin, Mary Wollstonecraft. Dieser Einfluß wird in den Büchern ihrer Tochter Mary Shelley immer wieder erkennbar. Auch deren Ehemann Percy Bysshe Shelley und der mit ihm befreundete Lord Byron hatten genaue Vorstellungen davon, wie eine ›moderne‹ Gesellschaft beschaffen sein müßte, um überkommene Vorurteile, Mißstände und Erstarrungen des politischen wie sozialen Systems überwinden zu können. Und diese Vorstellungen fanden wiederum ihren deutlichen Widerhall in ihren eigenen literarischen Werken. Dabei schossen sie – was typisch für derlei Jugendbewegungen ist – vor dem Zeithintergrund nicht selten weit über das Ziel hinaus und wurden für ihre Angehörigen und manche in ihren Forderungen etwas besonneneren Freunde zu einer rechten Peinlichkeit. Den meisten ihrer Zeitgenossen waren sie ohnehin äußerst verdächtig, da sie sich nicht an herrschende Normen anpassen wollten und sich anarchistisch gebärdeten. Als es ihnen dann in ihrem Heimatland geistig und moralisch zu eng wurde, verließen sie es kurzerhand und lebten daraufhin ein unstetes, durch häufigen Wohnungs- und Partnerwechsel gezeichnetes Leben in der Schweiz und in Italien. So läßt Wolfgang Hildesheimer seinen fiktiven biographischen Helden Marbot sehr treffend und ironisch die ›Menagerie‹ Lord Byrons in Italien schildern:

Das Haus ist aufgerührt von einem permanenten Chaos. Hier ist kein Tag wie der vorige. Es tauchen auch dauernd neue Figuren auf, erwartete und unerwartete, niemals kennt einer alle. Zu dem permanenten Lärm der scheinbar laut dichtenden, immer aber deklamierenden Männer kommen Katzen, Hunde, Vögel, Ziegen, Kinder, Paare, dessen jede Hälfte die Hälfte eines Ehepaares ist, dessen andere Hälfte woanders ist. Es herrscht eine eifrige und tätige Unmoral, und wenn sie erlischt, facht Mylord sie wieder an, jeder scheint mit eines anderen Frau zu leben, und er lebt mit allen, oder zumindest brüstet er sich damit. […] Oberstes Gebot ist: es darf nichts zur Ruhe kommen, Panta rhei. Es ist ein exotischer Hofstaat. Mylord mit einem Faunsfuß als Gegengewicht zu seinem Götterkopf, – dieser Defekt ist die Wurzel alles seines Tuns, er muß sich immer wieder aufs neue beweisen. Ein klumpfüßiger Apollon! Ein Adonis, nur der Fuß mißgestaltet, als Rache dafür, daß der Rest Schönheit ist. […] So vermittelt er hin und wieder den Eindruck, als sei es der Bocksfuß, der ihn hindere, in die Lüfte zu entschweben. Dennoch ist dieser Makel das Menschlichste an ihm, denn seine Schönheit ist böse und bösartig. Er hält sich einen Hofnarren namens Trelawney, der sich so benimmt, als sei er aus Mylords Büchern entsprungen und einer seiner Helden; einen Hofrivalen namens Shelley, der besser dichtet als er, was er weiß; und eine Geliebte namens Teresa Guiccioli, die so schön wie töricht ist, ihn aber doch beherrscht. Ich glaube, daß er in Wirklichkeit die Frauen verachtet, wenn nicht gar alle Menschen!11

Die scheinbar zynische Haltung Lord Byrons (die sicher auch mit seiner als Makel empfundenen Behinderung zusammenhing) kam in den jüngeren Literatenkreisen geradezu in Mode. Ein neuer Typus des Anti-Helden war geboren: schön und dämonisch zugleich, geheimnisvoll-abgründig und von großer erotischer Anziehungskraft, von Schwermut durchdrungen und von Grausamkeit gezeichnet – ein Phänomen, das bevorzugt durch Antithesen charakterisiert und als literarischer ›Byronismus‹ bezeichnet wird.

In Deutschland, das vor allem durch eine provinzielle Kleinstaaterei gekennzeichnet war, konnte man sich solche dekadenten Attitüden nicht leisten, auch im eigentlichen Sinne des Wortes nicht. Die jungen deutschen Dichter und Denker waren beileibe nicht reich wie Lord Byron; sie durften von einem derart ›lustigen‹ Reiseleben, wie es viele der vornehmen Engländer bevorzugten, bestenfalls träumen der es sich in farbigen Geschichten ausmalen. Ihre schriftstellerische Existenz hing viel stärker als die ihrer englischen und französischen Kollegen von der Gunst eines wohlhabenden Gönners und den Launen des Publikums ab. Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, daß deutsche Romantiker wie die Gebrüder Schlegel sich stärker auf das theoretische Feld beschränken mußten. Daher rührt sicherlich auch ein Gutteil des Pathos ihrer Aufrufe an den romantischen Dichter, aber auch der (diplomatische) Versuch, Alt und Jung gegeneinander abzugrenzen, ohne das Alte zu sehr zu verdammen. So äußert sich Friedrich Schlegel zum Verhältnis von Alt und Jung, zwischen Klassik und Romantik: »die Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahndung.«12 An anderer Stelle schreibt er: »Das griechische Ideal der Menschheit war vollkommene Einheit und Ebenmaß aller Kräfte, natürliche Harmonie. Die Neueren hingegen sind zum Bewußtsein der inneren Entzweiung gekommen, welche ein solches Ideal unmöglich macht; daher ist das Streben ihrer Poesie, diese beiden Welten, zwischen denen wir uns geteilt fühlen, die geistige und die sinnliche, miteinander auszusöhnen.«13 Interessanterweise wird hier der Generationskonflikt auf eine theoretische Ebene verschoben und ein Antagonismus zwischen Klassik und Romantik postuliert, den die Engländer so offensichtlich nicht gesehen haben. Diese tatsächliche oder auch nur vermeintliche Gegenposition beider ›Stilrichtungen‹ führte schließlich zu solchen Zuspitzungen wie bei Goethe, der mit seiner Zweiteilung in »kranke« und »gesunde« Literatur unterschwellig auch die Zwiespältigkeit der romantischen Dichtung an sich betont. Wobei sich Goethes Kritik vor allem gegen die deutschen Romantiker richtete. Es ist allgemein bekannt und vielleicht auch bezeichnend, daß der Engländer Lord Byron und der Deutsche Goethe einander persönlich wie als Kollegen sehr geschätzt haben.

NACHTSEITEN DES GEMÜTS

Die romantische Literatur war für viele ihrer Vertreter ein poetisches Experimentierfeld: Man versuchte, auf neuartige Weise Stimmungen oder Atmosphären auszuloten und zu reflektieren und drang dabei in Bereiche vor, die bislang kaum in den Mittelpunkt schöngeistiger Betrachtungen gerückt waren. So sammelten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm die Kinder- und Hausmärchen14 der einfachen Landbevölkerung, die bis dahin lediglich mündlich überliefert worden waren. Denn die armen Bauern waren oft Analphabeten und galten den Wohlhabenden lange Zeit als ungebildet. Solche Einschätzungen änderten sich unter dem Einfluß neuer geistiger Strömungen, wie zum Beispiel dem ›Rousseauismus‹, der das Ideal des einfachen, unverbildeten Menschen, des ›edlen Wilden‹ mit dem von Natur aus guten Herzen propagiert hat. In dem Bewußtsein eines drohenden Verlusts aufgrund veränderter Lebensbedingungen, suchten und fanden die Brüder Grimm noch einige der alten Märchenerzählerinnen und hörten ihnen genau zu. Sie schrieben die Texte auf und arbeiteten sie zum großen Teil um. Teilweise bedienten sie sich unter der Hand nicht selten auch weniger volkstümlicher Quellen, wie zum Beispiel der höfischen Märchen Perraults. Dabei stellten sie Motive zusammen und entwickelten Synthesen aus verschiedenen Märchenversionen. Berühmte Zeitgenossen der Brüder Grimm waren Achim von Arnim und Clemens Brentano mit ihrer Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1806/08).15 Auch hier zeigt sich, daß die Originaltexte teilweise stark bearbeitet bzw. romantisiert wurden. Viele der angeblich volkstümlichen Weisen wurden erst nach der Bearbeitung durch Arnim und Brentano wirklich zu Volksliedern. Ähnliches geschah häufig mit den in zahlreiche romantische Erzählungen und Romane eingestreuten Liedern und Gedichten, die später gerne vertont wurden – man denke an Heines Version des Loreley-Liedes, das weniger auf einer volkstümlichen Sage als auf der gleichnamigen Erzählung Brentanos beruhte.16 Solche ›Volkslieder‹ sind eher der Vorstellung ihrer romantischen Erfinder entsprungen als einem echten Volksgut, das in der Regel derber und deutlich holzschnittartiger war. Deshalb sind die heutigen Vorstellungen von volkstümlicher Überlieferung vielfach auf die romantischen Bearbeitungen der ursprünglichen Volkspoesie zurückzuführen. Die romantischen Schriftsteller entdeckten auf ähnliche Weise beinahe überall neue Quellen für die Literatur und befaßten sich mit Inhalten, die früheren Generationen einer literarischen Bearbeitung nicht – oder nur in Ausnahmefällen – würdig erschienen wären. Dazu gehörten auch die alten Sagen und Gespenstergeschichten. Letztere waren vor allem für die englischen Romantiker eine besonders beliebte Inspirationsquelle.

Gerade die unheimlichen Geschichten hatten ihren eigenen Reiz, zeigten sie doch die unschönen, morbiden, abgründigen Seiten des Menschen, seine Ängste und Obsessionen, seine seelischen Nöte und Abwege. Diese dunklen Seiten der menschlichen Seele boten den romantischen Autoren und Autorinnen ein weites, beinahe unbearbeitetes Feld, und damit auch literarisches Neuland. Für derartige Zustände erfand man in der Epoche der Romantik, die sich im Deutschen durch einen besonders reichhaltigen Sprachstand und viele Wortneuschöpfungen17 auszeichnete, eigens ein neues und sehr anschauliches Wort: die ›Seelenfinsternis‹. Die Bedeutung einer solchen Seelenfinsternis erklärt sich von selbst; sie läßt sich in Analogie zur Sonnenfinsternis als eine (wenigstens zeitweilige) Verdunklung des menschlichen Gemüts begreifen. Allerdings bescherte die bisweilen exzessive Beschäftigung mit derartigen Seelenfinsternissen der Romantik als Epoche nicht gerade den besten Ruf. Vielfach sahen zeitgenössische wie nachfolgende Denker darin einen anti-aufklärerischen Impuls, zumal manche Romantiker sich überdies später noch zur katholischen Religion, und das hieß für sie: zur christlichen Frömmigkeit des Mittelalters, hinwandten. Aber man sollte derartige Einschätzungen und Etikettierungen nicht vorschnell übernehmen, zumal es mehrere Phasen der Romantik gegeben hat und die ›Geisterseherei‹ der verschiedenen romantischen Autoren sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speiste. Genauso gut könnte man die romantische Vorliebe für Seelenfinsternisse und unheimliche Phänomene im Gegenteil auf einen aufklärerischen Impuls zurückführen, wie dies schon ein so skeptischer Geist wie Arthur Schopenhauer in seinem Versuch über das Geistersehn getan hat:18 »Wer das Geistersehen als irrationalen Hokuspokus verwerfe, so argumentiert er, und das auch noch aus religiösen Gründen, erweise sich als Gegner aufklärerischen Denkens. Der wahre Aufklärer müsse sich auch für die Möglichkeit des Geisterhaften offenhalten. Denn wer könne schon ausschließen, daß das Ding an sich oder das wie auch immer geartete Absolute als Gespenst erscheint. Interessanterweise richtete Schopenhauer dieses Verständnis von Aufklärung ausgerechnet gegen das Land, das mit einer geradezu obsessiven Beharrlichkeit das Gespensterwesen kultiviert hatte und bis heute kultiviert – England und den Dogmatismus der anglikanischen Kirche, die er mit unerbittlicher Verachtung straft, weil diese gegen den Geisterglauben zu Felde zieht.«19 Schopenhauer kommt zu dem Schluß, daß sich auch im Geistersehen der menschliche Wille manifestiere, daß die Geistererscheinung »das im Gehirn entstehende Bild des Willens« sei.20 Folglich wird das Geistersehen zum schöpferischen Akt und der Künstler zum Geisterseher. Ähnlich verbinden sich bei Schopenhauer Traum und Wahn, wenn er sagt, der Traum sei als »kurzer Wahnsinn, der Wahnsinn als langer Traum« zu verstehen.21

Außerdem hatte sich bereits Friedrich Wilhelm Schelling 1816/17 in einem fragmentarischen Gespräch Gedanken Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt gemacht22 (und ist darin zu dem bemerkenswerten Ergebnis gekommen, daß »die versuchte wissenschaftliche Erfassung der Natur in ihr Gegenteil umschlagen« kann, wie zum Beispiel »Empirie in Spiritualismus, eingedenk des Grundsatzes, daß das Entgegengesetzte oft das sich Nächste oder Verwandteste sei«.23 Ein origineller Gedanke, der im Gegensatz zu dem allseits bekannten Motto einer Goya-Radierung steht, das besagt: »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.«24 Ist es womöglich nicht eher die Überbetonung des Verstandes oder die »scheinsouveräne Abgeklärtheit«,25 die Ungeheuer hervorbringt? Wenn Schopenhauer gegen die anglikanische Kirche zu Felde zieht, die solch numinose Erscheinungen als puren Aberglauben abtun wollte, weist er argumentativ in eine Richtung, die im Zusammenhang mit den Seelenfinsternissen der Romantik äußerst interessant erscheint. Denn aus der Geisterbesessenheit der Engländer sollte sich folgerichtig zuerst in England eine literarische Strömung entwickeln, die der dunklen Seite der literarischen Romantik in besonderer Weise den Weg ebnete – die sogenannte Gothic Novel oder ›Schauergeschichte‹, wie man sie später auf deutsch bezeichnet hat.

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EXKURS ZURGOTHIC NOVEL

Als Stammvater der Gothic Novel gilt der 1765 erschienene Kurzroman Die Burg von Otranto des Earl of Oxford, Horace Walpole.26Wobei hier mit dem Begriff des Gotischen das Bizarre und Ungewöhnliche, das Finster-Geheimnisvolle eines bestimmten Mittelalterbildes benannt wird. Die Gothic Novel ist in ihrer Ursprungsform auf Gruseleffekte angelegt und zeichnet sich durch entsprechende Schauplätze und Ausstattungen aus: »Eine Rahmenerzählung, in der ein altes Manuskript auftaucht, das die Begebenheit erzählt; ein mittelalterliches Schloß als unheimlicher Hintergrund; ein geheimnisvolles Verbrechen, gewöhnlich verbunden mit einer verbotenen oder blutschänderischen Liebe […]; ein Schurke, der sich dem Teufel verschrieben hat und von diesem überlistet wird; Gespenster, Hexen, Zauberer; schauerliche Naturgewalten, welche die Atmosphäre schüren«, sowie zahlreiche unheimlich inszenierte Requisiten, wie Waffen, Kerzen, ausgestopfte Tiere, Ritterrüstungen, Totenschädel, Särge, Gemälde (die ein unheimliches Eigenleben führen), blutende Standbilder – manchmal ganze Gruselkabinette. Gerne werden dabei in verschlungenen Handlungsabläufen wunderschöne junge Frauen durch unterirdische Labyrinthe voller Schrecken gehetzt, meist durch zwielichtige und dem Umkreis der katholischen Kirche entstammende männliche Gestalten. Dennoch wirken letztere viel verführerischer als die biederen, uninteressanten Helden und erklärten Retter der jeweils verfolgten Unschuld. Die auf solch holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Mustern aufbauende hatte eine große Vorbildwirkung für die romantischen Autoren, doch erscheint sie aus unserer heutigen Perspektive reichlich stereotyp, oft sogar unfreiwillig komisch. Dies gilt vor allem für den gattungsbestimmenden Roman der heute die Erwartungen an das Genre enttäuscht. So reizt der groteske, bedrohlich beschriebene Riesenhelm mit dem schwarzen Federbusch, welcher wie ein Menetekel über dem Geschehen schwebt (nachdem er den schwächlichen, unrechtmäßigen Burgerben Corrado am Tag seiner Hochzeitsfeier erschlagen hat), den Leser bestenfalls zum Lachen. Die Handlung erscheint so arm an atmosphärischen Beschreibungen, daß sich eine unheimliche Stimmung kaum einstellen will. Ohnehin wird hier sehr viel mehr geredet als gehandelt. Trotzdem hatte der Reigen der schaurigen Motive bei Walpole – wie ungeschickt sie sich auch präsentieren mögen – für die gelungeneren Romane des ›gotischen‹ Genres eine wichtige Vorbildwirkung. Dabei gilt heute unter Literaturkritikern und -kennern einhellig Matthew Lewis’ Schauerroman (1796) als Meisterstück der Gattung; er diente nicht zuletzt E.T.A. Hoffmann für seinen schwarzromantischen Roman als Vorbild (vergleiche Kapitel IV). gipfelt schließlich in einer wahrhaft dämonischen Bestrafungsorgie, wenn Satan den verruchten Protagonisten in einen Abgrund schleudert, wo sämtliche Naturgewalten über ihn hereinzubrechen scheinen:

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