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Fünf Jahre sind vergangen, seit Ulli den Flammenmond besiegte und in den Spiegelwelten das Gleichgewicht der Corryx bewahrte. Doch der Frieden währt nicht lange – die alten Mächte erwachen erneut. Ulli den Ruf von Lumex, der ihn in den Dunkelwald führt – an einen Ort voller Prüfungen, Stimmen und Täuschungen. An seiner Seite: Trolli, ein Troll und sein treuer Freund, dessen Schicksal untrennbar mit dem seinen verbunden ist. Im Reich Cantherstein liegt König Borus im Sterben, während Intrigen, Prophezeiungen und die Suche nach den uralten Artefakten die Zukunft aller bestimmen. Die Nachtschatten Morva, Scathra, Veyra und Umbra drängen zum Trolltisch, wo das Schicksal der Welt entschieden werden soll. Doch über allem erhebt sich eine dunkle Macht: Croxx, der dunkle Bruder von Lumex, erwacht – und mit ihm die Nachtschatten. Wird es Ulli mit seinen Gefährten gelingen, das Lied der Teilung zu vollenden, bevor die Dunkelheit die Welt verschlingt? Ein packendes Finale voller Magie, Verrat und Hoffnung – der dritte Band der Trilogie Die Magie der Corryx.
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Nachtschatten
„Schatten sind die wahren Begleiter des Lichts“
Victor Hugo
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Nachtschatten
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Band 3: Nachtschatten
1. Edition: 01.09.2025
Autor: Stefan Gabel
3. Band der Trilogie: Die Magie der Corryx
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Cyra
Eine geheimnisvolle Frau, die im Dorf Wallrupp auftaucht. Niemand kennt ihre Herkunft – doch ihre Kräfte und ihre Ver-bindung zu den alten Mächten verändern das Schicksal aller. Thramis und Thox
Zwillingsbrüder am Hof von Cantherstein. Sie sind ehrgeizig und unzertrennlich, zugleich aber Werkzeuge ihres Onkels Borus.
Borus, König von Cantherstein
Ein Herrscher voller Zorn, Machtgier und Geheimnisse – sein Wille überschattet das Schicksal aller anderen. Bartus, König der Zwerge unter dem Berg Thunn Ein stolzer Zwerg, der dem Erbe seines Volkes verpflichtet ist. Seine Suche führt ihn immer tiefer in die Geheimnisse der Ovarien und der alten Prophezeiungen. Brook, Sohn von Bartus
Er ringt mit seiner Herkunft und den Erwartungen seines Va-ters, während er seinen eigenen Weg finden muss. Ulli
Ein Waldbauernbub, als Lichtbringer den Flammenmond be-siegte. Er trägt die göttliche Kraft Lumex in sich und wird ständig durch seinen treuen Freund Trolli – ein Troll - beglei-tet.
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Weitere Beschreibungen sind im Anhang 1 ersichtlich.
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Inhalt
Die Magie der Corryx...............................................................1
1. Prolog.............................................................................8
2. Der Traum....................................................................11
3. Verzweiflung................................................................25
4. Der Ruf.........................................................................37
5. Die Nachricht...............................................................53
6. Streit.............................................................................64
7. Schattenpfad.................................................................78
8. Der große Rat...............................................................93
9. Beisetzung..................................................................104
10. Leichenschmaus......................................................115
11. Das Testament.........................................................127
12. Verabschiedung.......................................................137
13. Das Lied der Teilung...............................................151
14. Brüchige Bande.......................................................162
15. Zwiespalt.................................................................170
16. Verlockung..............................................................181
17. Stimmen im Nebel...................................................191
18. Die List....................................................................205
19. Die Täuschung.........................................................213
20. Geteilte Front...........................................................230
21. Die Testamentseröffnung........................................243
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22. Splitter.....................................................................254
23. Konfrontation..........................................................264
24. Die Wahl der Erbin.................................................269
25. Die Krönung............................................................277
26. Der Trolltisch..........................................................284
27. Thalor......................................................................294
28. Das große Spiel.......................................................298
29. Wiedergeburt...........................................................307
30. Erhebung und Doppelbund......................................311
31. Epilog......................................................................316
Anhang 1: Charaktere...........................................................321
Anhang 2: Glossar................................................................326
Anhang 3: Stammbaum........................................................328
Zusammenfassung................................................................329
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1. Prolog
Aus den Chroniken der Corryx…
Es heißt, die Welt sei nicht mit einem Schwert erschaffen wor-den, noch mit Feuer oder Stein. Sie entstand aus einem Lied – dem Lied von Licht und Schatten. Und in diesem Lied klingen noch immer die Namen jener, die es sangen …
Die Anfänge
Vor Jahrhunderten teilte sich die Macht der Schöpfung in zwei Brüder:
Lumex, das Licht, der Bewahrer, Hüter der Harmonie.
Croxx, die Finsternis, der Zerstörer, Herr über das Ende.
Sie waren Zwillinge und doch Feinde. Ihre Kräfte zerschnitten die Welt, bis aus ihrem Streit ein dritter geboren wurde: Cor-ryx, das Gleichgewicht von beiden. Doch Corryx wurde ge-brochen, sein Wesen in Splitter zerschlagen, und so begann der lange Krieg zwischen Licht und Schatten von Neuem.
Das Erwachen der Artefakte
In jenen Tagen erwählten sich die Mächte der Schöpfung Ge-fäße:
Noctum, das Schwert der Nacht.
Album, der Siegelring des Lebens.
Chronos, das Buch der Zeit.
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Sie sollten den Kreis schließen, den Croxx zerbrochen hatte. Doch jedes Artefakt forderte einen Träger, und so begann die Suche der Menschen, Zwerge und Trolle nach jenen, die stark genug waren, ihr Gewicht zu tragen.
Der Flammenmond (Band 1)
Im ersten großen Kampf erhob sich ein junger Träger: Ulli, der 12jährige Sohn eines unbedeutenden Dorfes, der den Flammenmond sah und zur Bestimmung des Lichtbringers er-wählt wurde.
An seiner Seite stand Trolli, ein Trollkind mit uralten Wur-zeln, das mehr wusste, als sein Alter ahnen ließ. Gemeinsam durchschritten sie Feuer und Verrat, fanden Freunde mussten so manches Abenteuer bestehen.
Der Flammenmond kündigte an: das Spiel der Götter hatte er-neut begonnen.
Die Spiegelwelten (Band 2)
In den Spiegelwelten verloren sich Ulli und seine Gefährten in der Zeit. Die Wirklichkeit verschwamm zu jenen Orten zwi-schen Traum und Realität. Es offenbarte sich auch die Bedeu-tung der Ovarien. Behütete Gefäße der göttlichen Gaben: Ru-bis, Baleum, Flavis und Iridia.
Es war der Beginn einer neuen Allianz zwischen Menschen, Zwerge, Trolle und der mystischen Präsenz „Lumex“.
Die Stunde der Entscheidung
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Nun, 5 Jahre später, ist die Zeit der Prüfungen gekommen. Die Artefakte sind erwacht. Die Splitter Morva, Scathra, Veyra und Umbra drängen zum Trolltisch, dem uralten Herz der Welt, wo Recht und Schöpfung einander begegnen. Und wieder stehen Ulli, Trolli, Brook – Sohn des Zwergenkö-nigs Bartus – und alle Gefährten zwischen Hoffnung und Un-tergang.
Denn das Lied der Teilung ist noch nicht vollendet und wartet darauf, wieder gesungen zu werden.
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2. Der Traum
In Wallrupp…
Die Nacht lag still über Wallrupp. Kein Hund bellte, kein Hahn krähte, nur der Wind spielte leise mit den Dachschindeln der Hütten. Ulli lag wach in seinem Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen, doch der Schlaf wollte ihn nicht mehr finden. Etwas nagte in ihm, eine Unruhe, die nicht von dieser Welt war.
Er hatte geträumt. Nein – er hatte mehr als geträumt. Es war, als hätte ihn eine Hand aus dem Schlaf geholt und in ein ande-res Reich getragen. Er erinnerte sich an Licht. Kein gewöhnli-ches Licht wie von einer Lampe oder dem Feuer, sondern ein reines, alles durchdringendes Leuchten, das keinen Schatten kannte.
Inmitten dieses Lichts war eine Gestalt gewesen, schimmernd, fast durchsichtig, und doch so kraftvoll, dass Ulli kaum den Blick heben konnte. Die Gestalt hatte weder Gesicht noch Stimme im gewöhnlichen Sinne – und doch hatte Ulli ge-wusst, wer sie war.
Lumex.
Er hatte den Namen lange nicht mehr gehört, aber er war ihm einst in die Seele geschrieben worden. So, als hätte er ihn schon immer gewusst, als hätte er immer auf diesen Augen-blick gewartet.
„Ulli“, hatte die Gestalt gesagt, ohne die Lippen zu bewegen. Die Stimme vernahm er klar, warm, unentrinnbar. „Es gibt ei-
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nen Weg, den nur du gehen kannst. Jenseits der Schatten liegt die Wahrheit. Doch du wirst geprüft werden.“
Ulli hatte gezittert. „Warum ich?“ fragte er in Gedanken, oder vielleicht sprach er es auch laut, er wusste es nicht mehr. „Weil du hörst, weil du siehst“, antwortete Lumex. Vor ihm breitete sich ein Bild aus: ein Wald, dunkel und end-los, dessen Bäume wie Säulen in den Himmel ragten. Zwi-schen den Ästen glomm etwas, das wie ein Stern aussah, doch er stand nicht am Himmel, sondern tief zwischen den Schat-ten.
„Dort“, flüsterte Lumex. „Im Dunkelwald liegt der Schlüssel. Du wirst Stimmen hören, die dich täuschen. Du wirst Wege sehen, die dich in den Abgrund führen. Aber du darfst nicht weichen. Gehe dorthin, Ulli. Gehe, bevor die Nacht dich ver-schlingt.“
Ein Zittern ging durch die Gestalt, als ob selbst dieses Licht gegen eine Macht ankämpfen musste. Für einen Herzschlag sah Ulli ein anderes Bild: eine Halle aus schwarzem Stein, ohne Fenster, ohne Tore, nur Dunkelheit, die sich wie eine Mauer erhob. Ein kaltes Lachen hallte durch die Vision, tief und grausam.
„Croxx…“ hauchte Lumex. „Er erwacht. Dann war alles verschwunden.
Ulli fuhr aus dem Schlaf, schweißnass, mit hämmerndem Her-zen. Das Licht war fort, die Gestalt war fort – doch der Name brannte noch in ihm: Lumex. Und mit ihm die Gewissheit, dass dies kein Traum gewesen war.
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Er setzte sich auf, lauschte in die Stille. Der Mond schien durchs Fenster, und die Schatten in der Hütte wirkten tiefer als sonst. Trolli schnarchte leise am Boden neben seinem Bett, doch Ulli fand keine Ruhe.
„Ich muss gehen“, murmelte er. Die Worte erschreckten ihn selbst, und doch klangen sie wahr.
Wohin, wusste er genau. In den Wald, den alle mieden, den niemand bei Nacht betrat: den Dunkelwald. Warum? Weil dort die Antwort lag. Weil dort der Schlüssel war, von dem Lumex gesprochen hatte. Weil er dort erfahren würde, wer er wirklich war – und was Croxx für ihn bedeutete. Er schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Angst kroch in ihm hoch, doch über der Angst lag ein anderes Gefühl: Ent-schlossenheit.
„Lumex hat mich gerufen,“ flüsterte er. „Und ich werde ge-hen.“
Noch wusste er nicht, was ihn erwartete – die Stimmen der Waldgeister, die Prüfungen der Nachtschatten, die Verlockung des Dunkels. Aber er wusste, dass er den ersten Schritt tun musste.
Ulli legte sich zurück, doch der Schlaf kam nicht mehr, und er wusste: Sobald die Sonne aufging, würde er dem Ruf folgen. Er würde in den Dunkelwald gehen.
Am nächsten Morgen erzählte Ulli seinem treuen Freund Trol-li von seinem Traum.
„Mitkommen ich,“ antwortete der Troll knapp.
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So packten sie das Nötigste zusammen und machten sich ge-meinsam auf den Weg. Sie wussten nicht warum, sie wussten nicht wohin. Sie wussten nur dass sie gehen mussten, doch was auf sie wartete, war ungewiss.
Je näher sie dem Wald kamen, desto intensiver wurden die Geräusche der Natur. Vögel zwitscherten in unbekannten Me-lodien, und das Rascheln der Blätter klang wie ein Flüstern ur-alter Geschichten. Ulli konnte die Aufregung kaum zügeln. Er spürte Abenteuerlust, aber auch Angst. Was kam da auf ihn zu? Jeder Schritt fühlte sich an, als würde er tiefer in eine Welt voller Wunder eintauchen.
Als sie den Rand des Waldes erreichten, blieb Trolli stehen und hob seinen muskelbepackten Arm, um Ulli zu stoppen. "Wald lebendig ist", sagte er mit seiner tiefen kehligen Stim-me. "Wald prüfen uns."
In Ullis Kopf rauschte plötzlich ein fremder Gedanke, so klar, als hätte jemand neben ihm gesprochen: ‚Tritt mit Bedacht, Junge. Der Wald ist älter, als dein Atem reicht.‘ Er fuhr herum – doch niemand war da. Trolli hatte nichts gehört. Erst später würde Ulli begreifen, dass Croxx Stimme durch die Wälder streifte.
Ulli nickte. Er kannte den Fery-Wald. Als Kind war er immer mit den Waldbauern dabei, wenn sie Holz machten. Er war entschlossen, sich den Herausforderungen zu stellen. Im Geis-te hallten immer wieder die Worte des Boten nach, der ihn in der letzten Nacht aufsuchte: „Herr, die Dunkelheit erhebt sich. Die alten Feinde sind zurückgekehrt und bedrohen euer Bünd-nis.“
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Lumex, der in Ullis Körper unbemerkt schlummerte, hörte die Worte des Boten, und wusste, dass die Zeit des Friedens bald enden würde. Er antwortete für Ulli mit einer tiefen markanten Stimme: „Ruft die drei Könige Thalor, Borus und Bartus zu-sammen. Unser Bund wird auf die Probe gestellt. Die Dunkel-heit kehrt zurück, und wir müssen uns ihr gemeinsam entge-genstellen. Ich werde euch führen!“
Dann verschwand Lumex wieder in Ullis Unterbewusstsein. Im selben Moment, weit entfernt im Schloss Cantherstein, spürte Thuy, der Hohe Magier, ein Zucken in seiner Aura. Ein Schimmer im Kristallglas seinem Observatorium im obersten Raum des hohen Turms verriet ihm, dass eine alte Macht er-wachte. Er notierte den Ausschlag in seinen Aufzeichnungen und ahnte nicht, dass er bald selbst in diesen Strudel gezogen würde.
Ulli dachte nach. Er konnte sich nicht mehr an Lumex erin-nern. Gonner, sein Vater musste ihm immer wieder die Ge-schichte erzählen.
Das war nun schon vor 5 Jahren, als sie den Tag der Erneue-rung erlebten. Der Flammenmond erschien am Himmel und stürzte die Welt in einen Abgrund. Ulli konnte, gemeinsam mit den Avataren der Corryx, gerade noch verhindern, dass al-les zusammenbrach. Bei den anschließenden Irrungen und Wirrungen in der Spiegelwelt übernahm der göttlich gesandte Lumex seinen Körper und führte die Könige Borus und Bartus zurück in unsere Welt.
In der Zwischenzeit wurde Ulli großjährig und war mit seinen 17 Jahren ein stämmiger Bursche. Auch Trolli war nun ein
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ausgewachsener kräftiger Troll und folgte Ulli auf Schritt und Tritt.
Ulli war bei Trollis Geburt dabei. Der kugelige Baby-Troll heftete sich damals an ihn und ging mit ihm eine Symbiose ein. Hierdurch entstand zwischen den Beiden eine mentale Verbindung, die auch nach der späteren Trennung bestehen blieb. Die Symbiose hatte aber auch zur Folge, dass sich Trolli – anders als die anderen Trolle – ohne Probleme im Sonnen-licht aufhalten konnte. Normalerweise scheuten Trolle das Licht, da ihre Gliedmaßen dadurch steif wurden und sie wie versteinert stehen bleiben mussten, bis es wieder dunkel wur-de.
Ulli? - Ulli und Trolli vertrauten sich bedingungslos. Sie passierten die ersten Bäume, und sofort spürte Ulli eine Veränderung in der Luft. Es war, als ob der Wald sie willkom-men hieß und gleichzeitig beobachtete. Die Bäume schienen sich zu neigen, um ihnen den Weg zu zeigen, und das Licht, das durch das Blätterdach fiel, tanzte in magischen Mustern auf dem Boden.
Plötzlich vibrierte ein leises Surren durch die Luft. Ulli hielt den Atem an, sein Blick huschte unruhig zwischen den Baum-stämmen hin und her. Das Geräusch war nicht wie das einer Mücke oder eines Insekts – es hatte etwas Schwingendes, als würde eine unsichtbare Saite gezupft. Trolli schnaufte, hob die Keule leicht an und stapfte unruhig auf der Stelle. Aus dem Schatten zwischen zwei alten Erlen schwebte eine leuchtende Gestalt hervor. Klein wie die Hand eines Kindes, doch von einer Helligkeit erfüllt, die selbst den dichten Schirm des Waldes durchdrang. Ihr Licht war kein bloßes Glimmen,
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sondern ein lebendiges Farbenspiel: Türkis, Smaragd und Gold flossen ineinander. Flügel wie aus gläsernen Blättern zit-terten in der Luft, so fein, dass sie fast durchsichtig wirkten. Ulli riss die Augen auf. Er hatte Geschichten über Waldgeister gehört, doch niemand in Wallrupp sprach gern darüber. „Das ist nichts für Kinder“, hatte man ihm gesagt, wenn er fragte. Sie sprachen immer nur vom unheimlichen Dunkelwald. Dass es hier auch solch schöne Lichtgestalten gab, wusste Ulli nicht. Doch jetzt schwebte etwas vor ihm – und es sah nicht aus wie eine Drohung, sondern wie ein Stück reines, lebendi-ges Licht.
Die Gestalt musterte ihn. Ihre Augen, so klein wie Tautropfen, leuchteten in einem sanften Grün. Als sie sprach, klang es wie das Rauschen eines klaren Baches, der über Kiesel fließt: „Wer betritt die Schattenpfade des Fery-Waldes?“ Ulli spürte, wie sein Herz klopfte. Er zwang sich, einen Schritt nach vorn zu treten, und verbeugte sich unbeholfen. „Wir sind… einfache Waldbauern aus Wallrupp“, stammelte er. Die Gestalt neigte den Kopf, als prüfe sie seine Worte. Dann flog sie ein Stück näher, so dass ihr Licht auf Ullis Gesicht fiel. Trolli schnaubte unruhig und knurrte tief in der Kehle, doch Ulli hob beschwichtigend die Hand. „Ich habe noch nie von euch gehört,“ fuhr er fort. Man spricht von hier immer nur im Flüsterton. Immer nur vom Dunkel-wald. Aber man erzählt keine Geschichten.“ Die Lichtgestalt ließ ein feines, klingendes Lachen hören, das wie Glöckchen im Wind tönte – und doch lag etwas Trauriges
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darin. „Weil Geschichten Gewicht haben,“ antwortete sie. „Und nicht jeder, der sie hört, darf sie tragen.“ Sie schwebte einen Augenblick still, dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf – kaum eine Handspanne hoch – und sprach mit einer Stimme, die plötzlich klarer und bestimmter klang:
„Mein Name ist Ferylin. Ich wache über den Rand des Wal-des. Kein Schritt geschieht hier ohne mein Wissen. Wer in den Dunkelwald eintritt, tritt auch in meine Obhut – oder in mei-nen Zorn.“
Ulli schluckte. Sein Blick wich unwillkürlich zu Trolli, der immer noch mit zusammengekniffenen Augen stand. Der Troll brummte etwas Unverständliches, doch Ulli verstand den Sinn: Gefährlich.
„Wir suchen eine schwarze Halle,“ erklärte Ulli dann, bemüht, seine Stimme nicht zittern zu lassen. „Wir folgen einem Ruf. Wir wollen nichts zerstören.“
Ferylin neigte den Kopf, als würde sie die Worte abwägen. „Die schwarze Halle von Enok“, antwortete sie. Ein Moment der Stille folgte. Dann umspielte ein sanftes Leuchten ihre Ge-stalt, als ob der Wald selbst durch sie atmete. „Viele sagen, dass sie nichts zerstören werden,“ flüsterte sie. „Doch dann tun sie es doch. Der Wald erkennt, wer wahr ist.“ Sie schwebte langsam um Ulli herum, ihr Licht warf wandern-de Muster auf den Boden. „Du trägst eine Spur von Licht in dir – und doch Schatten. Dein Herz ist noch nicht geformt. Der Wald prüft, ob du standhältst.“
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Ulli spürte, wie ihn eine Gänsehaut überlief. Worte stiegen in ihm auf, doch er sprach sie nicht. Stattdessen nickte er nur, langsam, ernst.
„Und er?“ fragte Ferylin plötzlich und schwebte zu Trolli hin-über. Der Troll knurrte, zeigte aber keine Furcht. „Er ist mein Freund,“ erwiderte Ulli sofort, vielleicht schnel-ler, als er gedacht hatte. „Wir gehen diesen Weg gemeinsam.“ Die Lichtgestalt hielt inne, als lauschte sie in die Tiefen des Waldes. Dann flackerte ihr Schein, und sie sprach, als käme die Stimme von weit her: „Ein Bund aus alter Zeit. Das spüre ich. Stark ist er, schwer zu brechen.“
Ferylin schwebte wieder zu Ulli und sah ihn lange an. Schließ-lich nickte sie langsam. „Seid gewarnt. Der Dunkelwald nimmt, was nicht rein ist. Wer mit gieriger Hand greift, wer mit Lüge geht, den verschlingt er. Nur wer dem Lied lauscht, das durch seine Wurzeln strömt, wird das Tal erreichen.“ Trolli schnaubte. „Geist… nicht gut ist,“ krächzte er, „freund-lich klingt, aber Prüfung schwer.“
Ferylin drehte sich zu ihm. „Prüfung ist Schutz. Ohne sie wärt ihr verloren.“
Einen Moment herrschte Schweigen. Nur das Rascheln der Blätter über ihnen, als ein Windstoß durch die Kronen strich. Dann löste sich Ferylin Gestalt langsam auf. Erst das Gold, dann das Grün, zuletzt das blasse Türkis – als ob ein Licht im Morgennebel verlöschte.
„Wartet!“ rief Ulli, ohne nachzudenken.
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Doch die Stimme antwortete nur noch wie ein ferner Hauch: „Der Wald sieht. Der Wald hört. Vergiss meinen Namen nicht, wenn die Schatten dich prüfen.“
Dann war sie verschwunden.
Ulli stand noch lange da, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der das Licht erloschen war. Sein Herz klopfte, und er wusste nicht, ob es Erleichterung oder Angst war, die es schneller schlagen ließ.
„Im Tal sagte sie,“ murmelte Ulli vor sich hin. „Enok“. Trolli stapfte neben ihm, brummte tief und schüttelte den Kopf.
„Gut nicht ist,“ murmelte er schließlich. „Aber besser als Wer-wolf. Fergo schlimmer war.“
Ulli zwang sich zu einem kurzen Lächeln, doch innerlich wusste er: Der Wald hatte sie nicht nur begrüßt. Er hatte sie gewarnt. Und das war vielleicht noch gefährlicher. Sie setzten ihren Weg fort, tiefer in den Fery-Wald. Doch die Worte der Lichtgestalt hallten in Ullis Gedanken nach, wie ein leiser Gesang, der nicht verstummte. „Vergiss meinen Namen nicht.“
Sie gingen weiter, tiefer in den Wald. Es war ein Ort von atemberaubender Schönheit, voller leuchtender Blumen und funkelnder Wasserläufe. Ulli konnte kaum glauben, dass im-mer nur vom dunklen Wald gesprochen wurde. Ihm kam das hier gar nicht dunkel vor. Im Gegenteil. Dieses Waldstück un-terschied sich gewaltig von dem Wald um Wallrupp herum, den er kannte. Hier sah alles irgendwie aufgeräumter aus. Die
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Bäume standen in akkuratem gleichmäßigem Abstand und es lagen kaum Blätter oder Zweige auf dem Boden. Als Ulli und Trolli tiefer in den Dunkelwald vordrangen, wur-de das Rauschen des Wassers immer deutlicher. Zwischen den schwarzen Stämmen öffnete sich der Wald zu einem Ufer, an dem ein breiter Fluss vorbeiströmte. Das Wasser war dunkel wie Pech, doch an manchen Stellen schimmerte es silbrig, als ob Sterne in der Tiefe gefangen wären. Ulli trat vorsichtig ans Ufer. „Der schwarze Fluss“, murmelte er. Trolli brummte und schnaubte wieder, die Keule in den Händen. „Gut nicht ist.“
Plötzlich kräuselte sich die Oberfläche. Wellen liefen gegen die Strömung, und aus dem Fluss erhob sich eine Gestalt. Sie bestand aus Wasser und Licht, ihr Leib floss unaufhörlich wie eine Welle, die nie bricht. Zwei helle Augen glühten inmitten der Strömung. Die Stimme, die sprach, war tief, langsam, grollend wie das Tosen eines Wasserfalls. „Ich bin Marin, Wächter des Flusses. Kein Schritt über mein Bett geschieht ohne mein Urteil.“
Ulli schluckte, fühlte aber auch, wie sich Ehrfurcht in seiner Brust ausbreitete. „Wir wollen nur den Weg ins Tal finden. Wir sind nicht gekommen, um zu rauben oder zu zerstören.“ Marins Wasseraugen fixierten ihn, als ob sie bis auf den Grund seiner Seele blickten. „Viele haben so gesprochen. Doch das Wasser lügt nicht. Wer gierig ist, ertrinkt. Wer rei-nen Herzens geht, den trägt die Strömung.“ Trolli stapfte mit schweren Füßen ans Ufer, breitbeinig, trot-zig. „Zusammen gehen.“
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Einen Augenblick schwieg Marin. Dann rauschte er zustim-mend, und senkte sich tiefer. Ein Leuchten erfüllte den Strom, und eine schmale Furt aus schimmernden Kieseln wurde sicht-bar, als hätte der Fluss selbst ihnen den Weg geebnet. „Geht,“ murmelte Marin, „doch denkt an meine Worte. Das Wasser vergisst nicht.“
Der Weg führte tiefer in den Wald, wo die Stämme älter und mächtiger wurden. Manche ragten wie Säulen in den Himmel. Ulli stolperte über eine knorrige Wurzel und musste sich an der Rinde einer uralten Eiche abfangen. Der Baum war so breit, dass drei Männer sie nicht hätten umfassen können. Da begann die Rinde zu knacken. Erst leise, dann lauter, bis sich die Maserung zu einem Gesicht formte. Augen öffneten sich in der dunklen Borke, und der ganze Stamm vibrierte. Mit einem Knarren wie altes Holz sprach der Baumgeist: „Ich bin Borka, der Atem der Wurzeln. Ich habe gesehen, wie viele durch mich hindurchgingen. Manche mit Ehrlichkeit, manche mit List.“
Ulli wich einen Schritt zurück, doch Trolli blieb standhaft. „Was wollt ihr im Reich der Schatten?“ fragte Borka. Die Stimme war langsam, schwer wie das Knistern eines Feuer-scheits.
„Wir suchen den Weg ins Tal,“ erwiderte Ulli. „Wir folgen ei-nem Ruf, nicht der Gier.“
Ein tiefes Seufzen ging durch den Stamm, und der Boden beb-te leicht, als ob die Wurzeln tief unten in der Erde sich beweg-ten.
„Einem Ruf?“ Fragte die Stimme. „Wohin?“
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„Zur schwarzen Halle.“
„Enok!“ Antwortete Borka. „Was wollt ihr dort?“ „Das wissen wir nicht, aber ich weiß, dass ich dahin muss.“ „Wer hat euch gerufen?“
„Warum willst du das wissen?“
„Weil die Schatten lügen,“ murmelte Borka. „Doch die Wur-zeln erinnern. Wer vergisst, woher er kommt, den verschlingt der Boden.“
„Es war kein Schatten. Es war ein Licht.“ „Wo Licht ist, ist auch Schatten.“
Borka streckte eine knorrige Asthand aus, die kurz über Ullis Schulter schwebte. „Du sprichst wahr. Euer Bund ist stark. Haltet daran fest. Nur so findet ihr das Ende des Pfades. Geht jetzt.“
Dann schloss sich die Rinde wieder, das Gesicht verschwand, und nur das Rauschen der Blätter blieb zurück. Sie gingen weiter und es wurde Abend. Die Dämmerung zog auf und die Nachttiere des Waldes erwachten. Sie setzten sich unter einen Baum, um eine Rast einzulegen. Außerdem hatten sie Hunger.
„Hörst du das?“ Fragte Ulli.
„Was hören?“
„Eben! – Ich höre nichts mehr. Eben war die Luft noch erfüllt von Geräuschen.“
Die Nacht im Wald war lautlos geworden. Kein Vogel sang, kein Insekt summte, es war, als wäre alles tot. Ulli spürte die
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Stille wie ein Gewicht auf seiner Brust. Dann sah er sie: hoch oben auf einem Ast, zwischen zwei knorrigen Bäumen, saß eine große Eule. Ihr Gefieder war nicht fest, sondern schim-merte wie Nebel im Mondlicht. Die Augen glühten silbrig-tür-kis und blickten durch ihn hindurch.
Die Eule breitete langsam ihre Flügel aus. Federn aus Licht fielen zu Boden und vergingen, bevor sie den Boden berühr-ten.
„Ich bin Retin, die Sehende,“ sprach sie mit einer Stimme, die zugleich fern und nah klang. „Ich trage die Weisheit der Nacht.“
Ulli wagte kaum zu atmen. „Was… willst du uns sagen?“ Die Eule neigte den Kopf. „Ferylin schickt mich. Die Schatten sprechen. Doch nicht jedes Wort ist wahr. Manche Stimmen führen tiefer ins Dunkel, nicht ins Ziel.“ Trolli knurrte zustimmend. „Böse Stimme wir hören. Dunkel atmet.“
Retins Augen flackerten kurz heller. „Hört auf euer Innerstes. Nicht jeder Pfad, der vor euch liegt, ist euer Pfad. Erkennt, was ihr seid – dann täuscht euch nichts.“ Mit einem Schlagen ihrer Flügel wirbelte sie den Nebel beisei-te, und für einen kurzen Augenblick öffnete sich ein klarer Durchgang zwischen den Bäumen.
„Geht,“ flüsterte Retin, „Geht nach Süden. Doch vergesst nicht: die Nacht prüft euch, wie das Licht euch prüfte.“ Dann breitete sie ihre Flügel aus, und flog zurück in den Ne-bel, und nur das Leuchten ihrer Augen blieb einen Herzschlag lang, wie zwei Sterne im Dunkel hängen, ehe auch sie ver-
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schwanden. Doch dann vernahmen beide die Worte, die wie aus der Ferne klangen:
Nehmt vor den Nachtschatten in Acht. Morva … Scathra … Veyra … Umbra … Sie sehen euch!
Sie schauten sich beide fragend an. "Anfang das ist," sagte Trolli mit sorgenvoller Mine. "Dunkel noch wird." Ulli nickte und fühlte eine tiefe Ehrfurcht in sich. Er wusste, dass er bereit war für alles, was noch kommen mochte. Der Flammenmond hatte ihn verändert, und er war gespannt auf die Zukunft.
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3. Verzweiflung
Im Schloss Cantherstein…
Es hatte mit einem leichten Zittern in den Händen begonnen. Borus Canther, König der Menschen, war es zunächst nicht weiter aufgefallen. Nach den endlosen Reisen zwischen Can-therstein, Thunn und den Grenzfesten hielt er es für Müdig-keit. Doch in den Wochen danach kamen andere Zeichen: nächtliche Schweißausbrüche, plötzliche Kälte in den Gliedern und ein dumpfer Schmerz tief in der Brust. Der Hofmedicus, ein grauhaariger Mann namens Drassel, wur-de zu ihm gerufen. Er verabreichte Kräutertinkturen aus gel-bem Wurmkraut, Süßwurzel und Honigwein, doch der König hustete das meiste wieder aus.
„Majestät, Ihr müsst ruhen“, mahnte Drassel. „Euer Körper verlangt nach Schonung.“ Borus lachte noch, heiser, aber trot-zig: „Ein König ruht, wenn das Reich sicher ist, nicht vorher.“ Doch dann kam die erste Ohnmacht. Mitten während einer Ratsversammlung in der Großen Halle von Schloss Canther-stein stockte Borus der Atem, sein Blick starrte ins Leere, und er brach über den Tisch aus Eichenholz zusammen. Panik brach aus – die Räte sprangen auf, Diener eilten herbei, und Drassel ließ ihn sofort auf sein Gemach tragen. Im königlichen Schlafgemach brannten Kerzen zu beiden Sei-ten des Bettes. Bara, seine Schwester, kniete an seiner Seite, während Drassel ein Fläschchen Riechsalz unter seine Nase hielt. Der scharfe Geruch ließ Borus stöhnen und die Augen halb öffnen.
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„Wo…?“
Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Du bist zu Hause, Bruder“, sagte Bara sanft und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie spürte die Hitze, als hätte er Fieber. Drassel griff nach einem Mörser, zerstieß frische Minzblätter und Wurzeln des Feuerwermuts, mischte sie mit einem Schuss heißen Wassers und ließ den Sud ziehen. „Trinkt, Majestät. Das wird Euch stärken.“
Bara nahm den Becher, als Borus’ Hände zu stark zitterten, und führte ihn behutsam an seine Lippen. „Weißt du noch“, begann sie leise, „wie wir als Kinder in der alten Burgküche den Honigvorrat geplündert haben? Du warst so überzeugt, dass Vater es nie merken würde – bis du mit dem klebrigen Mund am Festtisch saßt und er dich nur ansah.“ Borus blinzelte, und für einen Augenblick glomm ein schwa-ches Lächeln auf.
„Ich… hab gesagt… die Katzen waren’s“, murmelte er heiser. „Ja,“ erwiderte Bara, „und die Katzen mussten eine Woche lang in der Scheune schlafen, weil Mutter dir geglaubt hat.“ Für einen Moment wich die Schwere aus dem Raum. Doch dann sank Borus wieder in die Kissen, und sein Atem ging rau. Die Nacht verging ohne Besserung. Immer wieder wachte Borus auf, murmelte wirre Worte – manchmal Befehle an Sol-daten, manchmal Namen von Gefallenen aus der Schlacht im Fery-Wald. Und immer wieder rief er nach Collux, der nicht aus der Schlacht zurückkam. Er hatte nie akzeptiert, dass sein Sohn nicht mehr lebte.
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Thuy Bragga, der Hohe Magier, kam in den frühen Morgen-stunden. Er berührte Borus’ Stirn und schloss die Augen, als wollte er in den Körper des Königs hineinhorchen. „Die Krankheit sitzt tiefer, als Kräuter sie erreichen können“, sagte er schließlich.
Drassel funkelte ihn an: „Magie ist kein Ersatz für Heilkunst, Herr Magier.“
„Und Heilkunst kein Ersatz für Magie“, entgegnete Thuy ru-hig.
Borus atmete schwer, sein Blick glitt über beide hinweg, als würde er sie nicht mehr erkennen.
Der Regen prasselte gegen die hohen Fenster des königlichen Gemachs, als Cyra Canther die schwere Eichentür aufstieß. Ihr türkisfarbener Umhang war durchnässt, das Wasser tropfte noch von den Saumkanten auf den Steinboden, doch in ihren Augen lag ein entschlossener Glanz.
„Lasst mich zu ihm,“ sagte sie, und ihre Stimme zitterte nur leicht.
Bara wich an die Seite, Drassel und Thuy machten ihr Platz. Borus lag reglos in den Kissen, die Lippen blass, der Atem flach. Sein Brustkorb hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen, wie eine Flamme, die im Wind zu flackern be-ginnt.
Cyra kniete neben ihm, legte beide Hände sanft auf seine Brust und schloss die Augen. „Votum Aurelia sanus cor-pus,“ hauchte sie, und mit den Worten begann ihre Aura – ein klares, warmes Türkis – zu leuchten. Zuerst schwach, wie ein
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Schein im Morgendunst, dann immer heller, bis der ganze Raum in sanftem Schimmer erstrahlte. Borus blinzelte matt – und in seinem Geist flackerte eine Erin-nerung auf: Er sah wieder den Tag im Berg Thunn, als Thorex, der Alchimist und Bruder von Thuy, aus der Spiegelwelt zu-rückgekehrt war. Sein Körper war gezeichnet von Narben, sein Atem röchelnd, die Haut so blass wie altes Pergament. Sie hatten geglaubt, er würde die Nacht nicht überleben. Doch Cyra hatte sich vor ihn gekniet, seine Hände in ihre gelegt und leise die Worte „Votum Aurelia…“ geflüstert. Hinter ihr hatte Ulli, damals ein 12-jähriger Waldbauernbur-sche mit einem Ovar der Corryx gestanden und Cyra berührt. Er sagte kein Wort – doch Borus hatte gespürt, wie eine zwei-te, mächtige Energie sich mit Cyras Aura verband. Unsichtbar, lautlos, doch warm und kraftvoll, floss sie in Thorex’ geschwächten Körper und gab Cyras Heilung den ent-scheidenden Schub.
Borus wusste noch genau, wie er damals das Gefühl hatte, Zeuge eines Wunders zu sein. Doch heute, im schwachen Licht seines Gemachs, konnte er sich nur noch an den Beginn der Worte erinnern: „Votum Aurelia…“ Was danach kam, war wie ausgelöscht.
Jetzt, da Cyras Kraft wieder in ihn strömte, fühlte er ein Zu-cken seiner Finger. Ein leichtes Stöhnen. Die Lider flatterten – und schließlich öffnete er die Augen.
„Cyra…?“
Seine Stimme war brüchig, aber sie war da. „Ja, Vater. Ich bin hier.“
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Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. Er richtete sich sogar ein Stück auf, nahm einen Schluck von Drassels Gebräu aus dem Becher, den Bara ihm reichte. „Mir ist… leichter,“ hauchte er. „Viel leichter.“ Thuy und Drassel tauschten einen Blick. „Vielleicht…“ be-gann Drassel, doch der Magier schüttelte kaum merklich den Kopf.
Sie wussten beide: Dies war nicht Heilung. Es war das letzte Aufflackern – die agonische Phase, in der Körper und Geist scheinbar neue Kraft schöpfen, nur um im nächsten Moment dem unabwendbaren Niedergang zu folgen. Borus’ Wangen hatten plötzlich wieder Farbe, und er sprach von Dingen, die er tun wolle, wenn er „erst wieder auf den Beinen“ sei.
„Wir… werden das Bündnis erneuern,“ sagte er. „Thunn, Cantherstein… alle. Zusammen.“ Cyra lächelte und drückte seine Hand, ohne zu ahnen, dass diese neu gewonnene Kraft nur das leise Echo des nahenden Endes war.
Der Morgen brach ungewöhnlich hell über Cantherstein her-ein.
Die grauen Regenwolken der vergangenen Tage hatten sich verzogen, und goldenes Licht fiel durch die hohen Fenster des königlichen Gemachs.
Borus öffnete die Augen und blinzelte überrascht. Er hörte das Zwitschern der Vögel vom Garten her, einen Amselhahn, der sein Lied fast trotzig in die klare Luft sang.
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„Hörst du das?“ fragte er leise. Cyra, die an seinem Bett wach-te, nickte und lächelte. „Der erste Sonnentag seit Wochen.“ Borus richtete sich etwas auf. „Hilf mir… ich will es sehen.“ Mit Cyras Unterstützung schwang er die Beine aus dem Bett. Sein Schritt war unsicher, und als er das erste Mal aufstand, musste er sich fest an Cyras Arm klammern. Bara kam hinzu, und gemeinsam führten sie ihn zum Fenster. Er sog tief die Luft ein, die durch den geöffneten Fensterspalt hereinströmte – frisch, nach Regen und feuchter Erde. „So… riecht Heimat,“ murmelte er. Unten im Hof spannten Stallknechte das Gespann für den Tagesritt, und zwei Hofda-men sammelten Blumen in einem Korb. Da entdeckten ihn die Stallknechte. Einer stieß den anderen an,
und als sie den König am Fenster erkannten, nahmen beide ihre Mützen ab und verbeugten sich tief. Ein dritter, der gera-de ein Pferd striegelte, trat heran und senkte ehrerbietig den Kopf.
Borus erwiderte die Geste mit einem leichten Nicken und ei-nem warmen Lächeln.
„Sie sehen mich… als ob nichts wäre,“ murmelte er, und in seiner Stimme schwang fast stolz mit. Borus’ Augen glänzten. „Ich will… gehen. Nur ein wenig.“ Der Medicus zögerte, doch Borus’ Blick war so eindringlich, dass er schließlich nickte.
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Mit stützenden Händen auf beiden Seiten ging der König lang-sam durch den Gang. Sein Atem ging schwer, aber er lächelte, wenn Diener und Wachen ihn ehrfürchtig grüßten. Sogar zur Latrine begleitete man ihn – eine Kleinigkeit, und doch ein Sieg für einen Mann, der tagelang ans Bett gefesselt gewesen war. Er wusch sich die Hände, betrachtete sein Spie-gelbild im Wasserkrug und murmelte: „Sieh mich an, Bara… ich lebe noch.“
Am Mittag ließ er sich in einen Lehnstuhl am Fenster setzen. Die Sonne legte sich warm auf sein Gesicht, und er lauschte den Stimmen im Hof, dem Klappern von Hufen und dem Klin-gen von Metall.
„So… könnte es bleiben,“ sagte er, und für einen Moment glaubten alle, die Krankheit habe ihn doch noch losgelassen. Doch der sonnige Glanz des Tages hielt nicht bis zum Abend. Als die Schatten länger wurden, wurde Borus’ Gesicht wieder blasser, und sein Atem begann zu stocken. Er lag wieder im Bett, die Kissen höhergestellt, und starrte lange schweigend an die Decke.
Bara saß dicht neben ihm, ihre Hand fest um seine geschlos-sen. Sie spürte die Kälte, die langsam in seine Finger kroch. „Borus… sprich mit mir,“ bat sie, doch er blinzelte nur müde. „Es geht zu Ende“, antwortete Borus mit geschwächter Stim-me.
Cyra trat ans Bett, beugte sich über ihn und versuchte zu lä-cheln. „Vater, du bist heute so weit gegangen. Morgen kannst du vielleicht wieder…“ Ihre Stimme brach ab, denn sie sah, wie seine Lider flatterten und sein Blick ins Leere glitt.
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Sie hielt seine Hand mit dem Siegelring Album. Sie drückte leicht zu und sagte:
„Du kannst noch nicht gehen. Wir brauchen dich.“ Borus öffnete die Augen. „Wo ist Noctum?“ „Hier,“ sagte Bara. „Wir habe es hier an die Wand gelehnt.“ „Gib es mir.“
Bara legte das Schwert Noctum auf seine Brust. Borus tastete danach und sagte dann kaum hörbar und mit letzter Kraft zu Cyra: „Ich will, dass Du meine Nachfolgerin wirst.“ „Vater! Sag sowas nicht.“ Sie beugte sich vor, damit Borus ihr direkt ins Ohr flüstern könnte.
„Hör mir zu: Noctum wurde geboren, als Corryx die Nacht zu einer Waffe machte, die beschützt statt zerstört. So kam das Schwert in die Hände unserer Linie.“ „Vater! Du strengst dich zu sehr an.“
„Doch, du musst das wissen. - Album wurde durch Corryx aus dem Tageslicht geboren, Er trägt Heilung und das Vermächt-nis der Reinheit.“
Er seufzte, seine Augenlider flirrten wieder. „Cyra… vergiss es nicht…“
„Er driftet weg,“ flüsterte Bara.
Der Medicus, der in der Ecke stand, beugte sich vor, prüfte Puls und Atem und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Es ist der Rückgang. Die Kraft vom Morgen war nur geliehen.“ „Nein,“ widersprach Cyra heftig, „das kann nicht sein! Er hat heute gelächelt, er hat gesprochen - er hat den Hof gesehen!“
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„Gerade deshalb,“ sagte der Medicus leise. „So ist oft der An-fang… die letzte Ruhe vor dem Sturm.“ Bara fühlte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, wie sie ähnlich dagelegen hatte, kurz be-vor die Nacht sie für immer nahm. Sie presste Borus’ Hand an ihre Wange, als könnte sie ihm so Wärme zurückgeben. „Vater,“ sagte Cyra und setzte sich ans Bett, „hör mich… bit-te.“
Ihre Stimme zitterte. „Bleib bei uns. Du bist nicht fertig hier.“ Borus öffnete die Augen noch einmal. Sein Blick war klarer als zuvor, doch seine Stimme kam nur als Hauch: „Ihr… seid… stark. Mehr als ich es je war.“
Dann schloss er die Augen wieder und sank in einen tiefen, unruhigen Schlaf.
Cyra hielt seine Hand fest, bis sie merkte, wie der Puls schwä-cher wurde. Sie wiederholte wieder ein paar mal die Worte: „Votum Aurelia sanus corpus,“ doch Borus reagierte nicht darauf.
Sie biss sich auf die Lippen, kämpfte gegen Tränen und wand-te sich abrupt zu Bara um.
Thuy verließ leise den Raum. Er ging den Korridor hinunter, vorbei an den vergoldeten Türen und schweren Wandteppi-chen, und sein Schritt war schwerer als sonst. Im Flüsterton sprach er mit dem Hauptmann der Wache, doch die Worte wa-ren klar genug, dass sie von zwei vorbeieilenden Dienerinnen aufgefangen wurden: „Es dauert nicht mehr lange… bereitet euch vor.“
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Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde. In der Küche verstummte das Klappern der Töpfe, als ein Diener die Nach-richt brachte. Einige der Mägde bekreuzigten sich, andere hielten die Hände an den Mund, um ein Aufschreien zu unter-drücken.
Am Schreibpult seiner Alchimistenküche ließ Thorex die Fe-der sinken, als ein Bote ihm die Worte ins Ohr hauchte. Der Bruder des Hohen Magiers starrte reglos vor sich hin, seine Augen schienen durch das Pergament zu blicken, als würde er in einer fernen Vision nach einer anderen Wahrheit suchen. Er sagte kein Wort, doch der Tropfen Tinte, der an der Feder hing, fiel auf das Pergament und breitete sich langsam aus wie ein schwarzer Fleck, der alles verschlingen wollte.
In den Gemächern der Königsfamilie herrschte bedrückende Stille. Bara saß am Bett ihres Bruders, als sich die Tür öffnete und ihre Söhne, die Zwillinge Thramis und Thox, hereinka-men.
Thox, immer der rationalere von beiden, fixierte sofort den Medicus. „Wie schlimm?“ Seine Stimme war ruhig, doch die Anspannung in seinen Augen verriet alles.
Thramis, sensibler und empfänglicher für die unausgesproche-nen Strömungen, blieb am Fußende des Bettes stehen und presste die Lippen zusammen. „Er geht… ich spüre es,“ flüs-terte er.
Bara versuchte zu sprechen, doch ihre Stimme brach. „Es… sieht nicht gut aus. Bleibt bei ihm.“
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Borus lag bleich auf den Kissen, sein Atem ging stoßweise. Cyra beugte sich über ihn, prüfte den Puls, während der Medi-cus in leiser Hast neue Tücher tränkte.
Die Zwillinge traten näher. Thox legte Borus vorsichtig die Hand auf die Schulter, als könnte er ihm so Kraft zuführen. Thramis hingegen schloss die Augen und senkte den Kopf, als wollte er die verbleibende Wärme des Königs bewahren.
Die Zwillinge waren äußerlich kaum zu unterscheiden, inner-lich aber durch ein Band verbunden, das Worte überflüssig machte. Sie hatten ihre telepathischen Fähigkeiten vor Jahren entdeckt und mittlerweile perfektioniert. Ihre Augen begegne-ten sich nur kurz, und schon flossen Gedanken zwischen ihnen hin und her.
„Sein Geist zerfasert,“ schickte Thramis stumm.
„Ich spüre es,“ antwortete Thox. Seine Stirn glänzte vom in-neren Druck, doch er hielt den Blick auf den Bruder gerichtet.
„Sollen wir eingreifen?“
„Noch nicht.“ Thramis’ innere Stimme war wie Stein, fest, unerschütterlich. „Lausch tiefer. Was er denkt im Fieber, könnte wichtiger sein als sein Atem.“
Thox schloss die Augen. Für einen Moment sah er nicht den Krankensaal, sondern ein wirres Geflecht aus Bildern – Rauch, Schlachten, und dazwischen ein Schatten, der alles durchdrang.
Ein Name hallte darin, wider und wider.
„Croxx,“ formte Thox erschrocken.
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Thramis’ Blick zuckte kaum, nur die Lider senkten sich. „Ich weiß,“ antwortete er.
Dann lösten sie die Verbindung, als wäre nichts gewesen. Nach außen standen sie stumm am Bett, Zwillinge in äußerer Ruhe – doch unter ihrer Stirn brannte ein Wissen, das sie noch mit niemandem teilten.
Cyra hatte das Krankenzimmer kurz verlassen, um frisches Wasser und getrocknete Kräuter aus dem Nebenraum zu ho-len. Als sie in den Korridor trat, bemerkte sie die gedämpfte, gedrückte Stimmung – den Blick der Wachen, die gesenkten Köpfe der Diener.
Ein junger Bediensteter kam ihr entgegen, blass und unsicher, und stammelte: „Euer Vater… man sagt, es… es wird nicht mehr lange dauern.“
Cyra hielt inne. Für einen Moment fühlte es sich an, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben. Mit einem stummen Nicken eilte sie zurück ins Krankenzimmer.
Bara hob den Kopf, als Cyra hereinkam, und rückte etwas zur Seite, damit sie sich neben Borus setzen konnte. Die Zwillinge machten Platz.
Gemeinsam sahen sie auf den Mann, der ihr König war – und doch jetzt nur noch Bruder, Vater, Onkel. Sein Atem ging flach, jedes Heben seiner Brust wirkte wie ein kleiner Sieg. Cyra ergriff seine Hand, spürte den schwachen Puls und flüs-terte schließlich, mit einer Verzweiflung, die alle Anwesenden spürten:
„Ich brauche Ulli.“
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4. Der Ruf
Im Krankenzimmer…
Im Krankenzimmer war es still geworden, nachdem Cyra die Worte gesprochen hatte. Ihre Stimme hing noch im Raum, schwer wie ein Schwur.
Thuy Bragga, der Hohe Magier, hob den Kopf. „Ulli Gram-met? Der Waldbauernjunge?“
„Er ist mehr als das“, entgegnete Cyra knapp. „Er ist… not-wendig.“
Thuy presste die Lippen zusammen. „Er sollte in Wallrupp sein. Das Dorf liegt kaum zwei Tagesritte von hier. Wenn wir reiten, können wir…“
„Keine Zeit für Ritte“, unterbrach Cyra. „Finde ihn jetzt.“ Der Magier zögerte kurz, dann griff er an seinen Gürtel, löste einen kleinen Lederbeutel und ging ans Fenster. Die schweren Flügel öffneten sich mit einem Knarren, und kühle Luft drang in das Krankenzimmer.
Aus dem Beutel nahm er sechs flache Steine, in die tiefe Ru-nen geschnitten waren. Er legte sie im Halbkreis auf den Bo-den und stellte eine kleine Silberschale in die Mitte. „Ich rufe den Faden der Nähe“, erklärte er knapp, „einen Zauber, der mir zeigt, wo sich jemand befindet.“
Er goss klares Bergwasser in die Schale, murmelte Worte in einer Sprache, die älter war als die Mauern von Cantherstein. Das Wasser begann, sich in sanften Kreisen zu bewegen, dann zog ein Nebel darüber, der langsam Konturen annahm.
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Zuerst war nur eine Hütte zu sehen – die Hütte von Gonner Grammet in Wallrupp. Der Herd war erloschen, die Tür ver-riegelt. Kein Mensch weit und breit.
„Leer…?“ Thuy runzelte die Stirn. „Das darf nicht sein. Er sollte hier sein.“
Er führte den Zauber weiter, ließ den Blick des Wassers die Umgebung absuchen. Plötzlich huschte das Bild über Wiesen, dann über Felder – und stoppte an einer schmalen Waldpassa-ge.
Ein junger Mann, kräftig gebaut, mit braunem Haar, lief dort neben einem breitschultrigen Troll. Sie schienen in Eile zu sein, und der Junge trug einen Wanderbeutel, als wäre er gera-de erst aufgebrochen.
Der Magier atmete tief ein, trat vor den Halbkreis und legte seinen Stab neben sich auf den Boden. Mit der Fußspitze be-rührte er nacheinander drei der in den Stein geritzten Runen, jede für eine andere Kraft: Sehen, Fühlen, Finden. Dann hob er den rechten Arm waagrecht, den Zeigefinger aus-gestreckt. Langsam begann er sich auf der Stelle zu drehen – erst nach Osten, dann weiter nach Süden, Westen, Norden. Bei jeder Drehung lauschte er in die Tiefe seiner eigenen Aura. Sie trat hervor. Ein feines, bläuliches Leuchten begann um ihn herum zu tanzen. Die Runen in den Steinen reagierten darauf, glommen auf wie Glut unter Asche. Als Thuy sich weiter nach Südwesten drehte, zuckte das Licht plötzlich auf – intensiver, reiner.
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