Nachtschattengewächse - Josephine von Blueten Staub - E-Book

Nachtschattengewächse E-Book

Josephine von Blueten Staub

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Beschreibung

Menschen, die aneinander vorbeireden und sich einsam fühlen, die zwischen düsteren Häuserschluchten und berauschenden Exzessen verloren gehen; Ausgegrenzte, die an der eigenen Unzulänglichkeit verzweifeln; unglückliche Paare und weintrinkende Katzen – davon handeln die Kurzgeschichten und Bühnentexte dieses Buches. "Nachtschattengewächse" zeigt schonungslos ehrlich die Abgründe einer unbarmherzigen Welt, in der Außenseiter die tragischen Helden sind. Feinfühlig seziert Josephine von Blueten Staub zwischenmenschliche Beziehungen und beleuchtet mit eindringlicher Sprache die Schattenseiten unserer Zeit.

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Seitenzahl: 88

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Nachtschattengewächse

Josephine von Blueten Staub

Erste Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

Copyright 2019 by

Lektora GmbH

Schildern 17–19

33098 Paderborn

Tel.: 05251 6886809

Fax: 05251 6886815

www.lektora.de

Covermotiv: Josephine von Blueten Staub, www.blueten-staub.de

Covermontage: Olivier Kleine, www.olivierkleine.de

Lektorat: Lektora GmbH, Denise Bretz

Layout Inhalt: Lektora GmbH, Denise Bretz

eISBN: 978-3-95461-138-6

Inhalt

Der letzte Fuck

Eigentlich ganz einfach

Josefine Telefon

Nur eine Variable

Das Schwindelgefühl

Wein und Whisky

Der Mann, der nicht mehr sprach

Selbstgemachte Probleme

Sommerloch

Pedro

Großes Grundstück, Scheune, Garten

Helge und Paula

Drei Mal Freiheit und doch daneben

Katzengold

Nihilistischer Tag

Weiße Rosen

Josefine Telefon II

Lukas eröffnet eine Bar

Das Gegenteil von Unglück

Schlechte Nachrichten

Die Männer der Skatrunde

Sekt-Mate

Schlaflos

Karl und Jürgen

Keine Stadt

Sulaiman ist müde

Josefine Telefon III

Meinem Rudel

»Als ob eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von haushoch gestapelten Heimatlosen.«

Juli Zeh

Der letzte Fuck

Vielleicht hattest du etwas geahnt, vielleicht war es Zufall, dass du mir die Geschichte von den Fucks erzählt hast, an diesem milden Abend im Mai. Wir hatten in einem Café gesessen, wir hatten Bier getrunken und unsere Leben nebeneinandergelegt, nach Gemeinsamkeiten gesucht, in Überschneidungen ein Zeichen gesehen. Wir waren aufgeregt, berauscht von der Frühlingsluft, dem Bier, dem Geruch des anderen. Wir hatten uns angesehen, unsicher und verlegen, zwischen den Gesprächen immer wieder geschwiegen, mit klopfenden Herzen und Kribbeln im Bauch.

Weißt du, woher der Spruch »I don’t give a fuck« kommt? Ich wusste es nicht.

Ein Fuck sieht ein bisschen so aus wie eine alte Eintrittskarte, vom Zirkus oder Kino, ein Schnipsel mit Abrisskante und eigener Nummer versehen. Zur Geburt besitzt jeder eine Unmenge Fucks, tief im Inneren versteckt. Jedes Mal, wenn man von jemandem enttäuscht oder verletzt wird, muss man einen Fuck hergeben. Einmal rausgegeben, ist der Fuck unwiderruflich verloren. Solange man Fucks übrighat, besteht noch Hoffnung. Sind alle Fucks aufgebraucht, kannst du keinen mehr geben, dann herrscht tief in deinem Inneren trostlose Leere, nichts berührt dich mehr. Alles wird auf einmal bedeutungslos sein, alles, was passiert, dir so ziemlich egal.

Beim Reden hattest du ganz ernst geguckt und dann gegrinst. Ist natürlich nur ein Spaß, hattest du gesagt und wir beide hatten kurz gelacht über den Spaß, dann warst du noch zwei Bier bestellen gegangen und ich hatte heimlich überschlagen, wie viele Fucks ich schon rausgegeben hab, mich gefragt, wie viele mir noch bleiben und ob ich es spüren werde, wenn ich den letzten gebe, wie es sich anfühlen wird.

Wir werden in einem anderen Café sitzen, du wirst einen Cappuccino trinken, ich eine Cola. Es wird August sein und die Wespen werden kommen, sich auf meine Cola stürzen, vom Flaschenhals abrutschen, in die süßklebrige Flüssigkeit, sie werden ertrinken oder am Strohhalm wieder hinaufkrabbeln. Wir werden nervös sein, du von den herumschwirrenden Wespen, ich von unserem Gespräch, wie wir Belanglosigkeiten austauschen und berichten, was im letzten Vierteljahr so geschehen ist. Wir werden Zigaretten drehen in den Schweigepausen, eine nach der anderen, um die zappligen Finger zu beschäftigen, und dabei allem ausweichen, den Wespen, dem Blick des anderen, den sich aufdrängenden Fragen, die wir nicht zu stellen wagen, weil wir die Antwort fürchten: Wie es uns geht, ohne den anderen, was aus uns geworden ist, was eigentlich passiert ist, dass alles auf einmal so kompliziert scheint, und ob es schon jemanden Neues in unserem Leben gibt.

Nach zwei Stunden werden wir bezahlen, jeder für sich, danach zusammen zu der Wohnung gehen, die mal ein Zuhause für uns beide gewesen sein wird. Wir werden uns erwachsen verhalten, die erforderlichen Dokumente unterschreiben, in der Mitte falten und in Briefumschläge stecken. Wir werden uns zum Abschied umarmen, lange und fest, in dem Raum, in dem nur noch ein Wäscheständer stehen wird, und wir werden einander nicht loslassen können. Ich werde mein Gesicht an deine Brust drücken und den schneller werdenden Herzschlag hören, dein Bart wird in meinem Nacken kitzeln und Arme mit Gänsehaut überziehen. Unsere Münder werden sich finden, du wirst mich ins Schlafzimmer tragen, aufs Bett werfen, ausziehen, und wenn wir dann übereinander herfallen, werden wir beide wissen, dass das alles nur schlimmer macht, doch das wird uns nicht abhalten, wir werden kämpfen – miteinander, gegeneinander. Feste Griffe, gierig und kratzend.

Mir werden vielleicht Tränen kommen, die ich wegblinzle, bevor du sie bemerken kannst. Einer von uns wird sagen, ich liebe dich, der andere denken, ich hasse mich, und beide werden ein Loch im Inneren spüren, ein Gefühl der Unvollständigkeit, das die Nähe zum anderen nicht mehr zu lindern vermag, kurz und heftig wird es aufflackern, dann werden wir zusammensinken (ineinander, aufeinander), das Gewicht des anderen Körpers nicht aushalten können, nicht mehr, nicht den Geruch, nicht den Schweißfilm auf der Haut, wir werden uns abstoßen, voneinander lassen, zwischen zerwühlten Laken schweigen, rauchen und an die Zimmerdecke starren, weil wir unseren Anblick nicht mehr ertragen können, beschämt unsere nackten Körper bedecken. Wenn wir uns wieder angezogen haben, werden wir einander fremd sein. Ich geh dann mal, wirst du sagen, und ich, ist gut, dann wirst du gehen und das Geräusch deiner Schritte wird durch die Leere hallen, die sich tief im Inneren aufgetan hat.

Eigentlich ganz einfach

Wenn er Mutter besucht, ist es immer gleich: Sie ist still und hört zu, während er ihr vom Studium erzählt. Erst ganz zaghaft und leise, dann immer schneller und lauter, irgendwann kommen die Hände dazu und die Augen glitzern, die Wangen röten sich. Mutter unterbricht ihn nie. Sie wartet geduldig das Ende seiner Erzählung ab. Dann guckt sie lieb und sagt »Milchmädchenrechnung« und meint damit, dass sie den roten Faden verloren hat, sie Mathe generell nicht versteht, aber unglaublich stolz darauf ist, dass er Mathematik studiert. Wenn er Mutter besucht, ist es immer gleich: drei Stunden Besuchszeit, in denen er einfach so sein kann, wie er ist, drei Stunden, in denen das Leben einfach scheint.

Heute wollte er nur noch schnell etwas einkaufen, bevor er zu ihr fährt. »Eigentlich ganz einfach«, hat er gedacht, Wohnungstür zu, zehn Stufen runter, durch die Haustür auf den Fußweg, an der Ampel etwa 50 Sekunden auf Grün warten, dann geradeaus über die Straße, dreißig Schritte nach rechts, durch die Schiebetüren in den Supermarkt, zum Regal mit den Süßigkeiten, kurz vor der Kasse und neben den Zeitungen bei den Schnittblumen anhalten, dann bezahlen, aber mit Karte bitte, und: schönes Wochenende, dann bloß noch zehn Schritte und – geschafft. Also eigentlich ganz einfach.

Bis zu den Schnittblumen war es das auch, jetzt müsste das Bezahlen, aber mit Karte bitte, kommen – doch der Zufall interessiert sich nicht für seine Pläne. Er studiert zwar Mathematik, aber damit konnte er nicht rechnen: Es ist Freitagvormittag, 11 Uhr, und trotzdem sind alle vier Kassen geöffnet, dahinter: viele Menschen, die darauf warten, dass das schöne Wochenende für sie endlich beginnt.

»Eigentlich ganz einfach«, denkt er sich jetzt, als er die kürzeste Schlange wählt, aber diesmal ahnt er schon, dass es nicht so einfach weitergeht. Denn das kennt er schon seit der Grundschule: Wenn sich nur eine einzige Zahl an der falschen Stelle einschleicht, geht die ganze Rechnung nicht mehr auf. Folgefehler sagt man dazu. »Eine Milchmädchenrechnung kommt selten allein«, sagt Mutter dazu.

Vor ihm: zehn wartende Menschen. In der Schlange neben ihm: elf wartende Menschen, vielleicht genau diese eine Person zu viel. Kribbelnde Vorahnung im Bauch, noch bevor die ältere Frau den Mund aufmacht.

»Wie kann man sich nur so gehen lassen. In dem Alter schon so fett«, flüstert sie zu ihrem Mann.

Dieses Flüstern kennt er auch schon seit der Grundschule, immer laut genug, damit er es auch ja nicht überhören kann. Vor ihm die schöne Frau mit blonden Locken. Langsam dreht sie sich um, ihre Augen wandern zu seinem Einkauf auf dem Band: Geleebananen, Pralinenschachtel, Kekse, Tulpen. Ihm wird heiß. Schweißperlen kitzeln auf der Stirn. Die Wangen röten sich. Der Kopf senkt sich, Augen auf den Boden. Er spürt die bohrenden Blicke der anderen, sehen will er sie nicht auch noch und konzentriert sich deshalb auf die Fliesen unter seinen Füßen: hier und da ein Glitzern, schwarze, braune und weiße Sprenkel auf beigem Grund, exakte Quadrate, vom staubigen Grau der Fugen umrahmt, ein Koordinatensystem, in dem sich vielleicht eine Lösungsformel für diese Situation versteckt. Ein Satz, ein Fluchtweg, irgend…

Was die anderen Menschen gerade denken? Das weiß er, ist auch nicht schwer, vollkommen logisch, bei seinem Aussehen, er kennt sein Spiegelbild: Er ist ein Fettsack. Die schwabbeligen O-Beine, schlecht kaschiert unter dem Zelt aus Jeansstoff, darüber ein ausgewaschenes T-Shirt, das trotz Kleidergröße XXXL hier spannt und da kneift, und wenn er jetzt die Arme etwas anheben würde: dunkle Halbkreise, die den frischen Schweiß verraten. Jämmerlicher Fettsack, denken sie sich, denkt er sich. Kopfschütteln. Nur noch fünf Leute vor ihm, nur noch kurz ausharren, dann bezahlen und zehn Schritte … oder:

Einfach den Kopf heben. Einfach der älteren Frau fest in die Augen sehen, einfach mit ruhiger Stimme alles erklären. Von Anstrengung und Schmerzen bei jedem Schritt, bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug und schrägem Seitenblick. Von dem »ab heute ist alles anders« und dem Scheitern und Scheitern und Scheitern. Vom Hinfallen und Nicht-wieder-aufstehen-Können, weil das Leben manchmal viel schwerer als er selbst ist, und von der Panik vor dem Moment, an dem das Herz plötzlich das Schlagen vergisst und stehenbleibt.

Erst zaghaft, dann immer schneller und lauter, irgendwann kommen die Hände dazu und die Wangen sind noch immer gerötet, in den Augen glitzern Tränen. Aber ganz ruhig bleiben, wie in Mathe, ganz sachlich, ganz logisch erklären, dass all seine Kraft für Mutter draufgeht. Mit dem Kopf zum Band nicken, »Ist nicht für mich, das sind ihre Lieblingssüßigkeiten« sagen und vielleicht noch ein »Sie ist schwer krank, wissen Sie?« hinterherschieben, wenn dafür der Mut ausreicht. Dann Scham in den Augen der älteren Frau, eine aufrichtige Entschuldigung von ihrem Mann, eine Umarmung von der schönen Frau vor ihm, blonde Haare, die nach Honig riechen, eine Telefonnummer und ein »Ruf jederzeit an, ich helfe dir«.

Dann Tränenkloß hinunterschlucken, das anerkennende Nicken der Kassiererin, die wartenden Menschen applaudieren. Bezahlen, aber mit Karte bitte, und schönes Wochenende, dann noch zehn Schritte, durch die Schiebetür und fertig. Also eigentlich ganz einfach.

Josefine Telefon

Eine rauchende Katze sitzt auf meinem Fensterbrett. Ich wohne im Erdgeschoss. Der Gehweg davor ist schmal. Die Autos parken dicht. Fußgänger gehen ganz nah am Fensterbrett vorbei. Die Katze bemerken sie nicht. Es ist schon weit nach Mitternacht und sie sitzt noch immer da, raucht und trinkt Rotwein. In der Nachbarschaft bellen Hunde, doch daran stört sie sich nicht, hier bellen die Hunde oft.