Nafishur - Draco Adest Cara - Mary Cronos - E-Book

Nafishur - Draco Adest Cara E-Book

Mary Cronos

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Beschreibung

Eine Welt. Zwei Geschichten. Caras Sicht. Was würdest Du tun, wenn Du kopfüber in einer anderen Welt landest? Einer Welt voller Magie, die anders ist als alles, was Du kennst? Hättest Du den Mut, ihre Vielfalt zu entdecken und ihre Wunder zu ergründen? Hättest Du das Zeug zu einem Feuerdruiden? Caras erste Schritte in Nafishur sind einsam und unsicher und nicht jeder, der ihr begegnet, scheint es gut mit ihr zu meinen. Doch je mehr sie von dieser fremden Welt entdeckt, die eigentlich ihre Heimat sein sollte, desto mutiger schreitet sie voran. Halb Vampir, halb Druidin kämpft sie um die Kontrolle ihrer Feuermagie und zugleich um ihre eigene Familiengeschichte. Magnus scheint viel mehr zu wissen, als er ihr verrät. Und nicht nur er hat Geheimnisse vor ihr. Doch sie ist entschlossen, ihre Geschichte aufzudecken. Um so mehr, als sie begreift, was Nafishur noch für sie bereithält: Leuchtende Bäume, feurige Drachen und loyale Freunde. Solche, die ihr auf ihrem Weg helfen, und solche, die ihr neue Wege eröffnen. Solche, die ihr Mut machen, und solche, die sie bis ins Mark erschüttern. Was würdest Du tun, wenn sich ein leuchtendes Portal vor Dir öffnet? Würdest Du hindurchgehen?

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AUSDER REIHE NAFISHUR BEREITS ERSCHIENEN:

Band I: Nafishur Praeludium – Dariel

Band I: Nafishur Praeludium – Cara

Band II: Nafishur Draco Adest – Dariel

Band II: Nafishur Draco Adest - Cara

WEITERE WERKE DER AUTORIN:

Houston Hall – Schatten der Vergangenheit

Du hast wirklich lange genug auf diesen Band gewartet. Deshalb fasse ich mich kurz. Ich freue mich riesig, Dich nun endlich mit Nachschub versorgen zu können. Und die lange Wartezeit kompensiere ich direkt, indem Du in diesem Jahr nicht nur Band II, sondern auch gleich noch Band III bekommen wirst. Warum? Tja. Die Geschichte von Band II ist ein kleines bisschen komplexer als geplant geworden und so musste ich sie teilen. Dieser und der Folgeband werden also eng miteinander verbunden sein.

Wie schon bei Nafishur Praeludium erwarten Dich auch bei Band II zwei unterschiedliche Ausgaben: Ein Buch aus der Sicht des Ex-Hunters Dariel Jean Seine und eines aus der Sicht der Feuer-Vampirin Cara Clow.

Und auch in diesem Band lade ich Dich natürlich dazu ein, die QR-Codes auszuprobieren. Dazu ist lediglich ein Smartphone oder Tablet nötig. Es gibt unzählige kostenlose Apps, die diese Codes durch simples Abfotografieren lesen können. Hinter jedem Code findest Du einen Link zu einem versteckten Teil meiner Website. Dort kannst Du zusätzliche Informationen, Grundrisse, Zusatzkapitel und vieles mehr entdecken. Das Beste: Die Inhalte der Links bleiben nicht beim Alten. Immer wieder gibt es Neues zu entdecken! Also probier es aus!

Wie schon bei den ersten Bänden werde ich meine Danksagungen direkt in den ersten QR-Code stecken, damit Du üben kannst und ich mich nicht kurzfassen muss.

Und nun: Viel Spaß in Nafishur!

Ich widme Caras Version von Band II Evangeline,

einem kleinen Engel, der diese Welt viel zu früh

verlassen hat – stellvertretend für all die Kinder,

die zu früh Engel werden.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XII

Kapitel XIII

Als ich zum ersten Mal in Nafishur erwachte, glaubte ich, noch immer an Italiens Südküste zu sein. Goldene Sonnenstrahlen ließen mich blinzeln und ein Teil von mir – ein großer Teil – konnte nicht glauben, dass ich mich in einer fremden Welt befand. Alles war so schnell gegangen nach jener Nacht.

Der italienische Sommer brannte gnadenlos und so hatte ich meine Arbeit auf dem Wasser in die Nacht verlegt. Im Sonnenuntergang war ich hinausgefahren in die Bucht vor Sorrento, um nun im Morgengrauen einzusammeln, was mir eine gnädige Strömung beschert hatte.

Doch noch ehe ich auch nur die Hälfte meines Fangs eingeholt hatte, musste ich feststellen, dass sich mein Netz am Grund des Meeres verfangen hatte. Ich zog und zog, doch das Netz ließ sich nicht lösen. Ich wusste, wie wichtig dieser Fang war; ich wusste, wie dringend ich diese Fische auf den Märkten von Capri und Sorrento verkaufen musste. Angst und Ärger stritten in mir und ich zerrte immer stärker am Netz, als es plötzlich unter meinen Händen Feuer fing.

Mit einem Aufschrei ließ ich das Netz fallen – der nächste Fehler, denn innerhalb weniger Sekunden hatte das Feuer auf mein Boot übergegriffen. Die Holzplanken, die schon eingeholten Netze, die Taue – alles brannte. Ehe ich mich versah, war ich vom Feuer umzingelt.

Das Land war zu weit entfernt. Ich wusste, dass mich kein Löschboot rechtzeitig erreichen konnte – nicht einmal, wenn man das Feuer inzwischen bereits bemerkt hatte.

Hitze schlug mir entgegen, jedes Mal, wenn ich versuchte, aus dem Boot zu springen. Ich wagte es nicht, durch die Flammen zu springen. Sie waren zu hoch, zu wild, und sie schienen immer dann an Höhe zu gewinnen, wenn ich auf sie zu lief. Als wollten sie mich am Gehen hindern.

Meine Augen suchten das Wasser ab, ob nicht doch ein anderes Boot in der Nähe war und da bemerkte ich ihn. Er stand ganz ruhig in der Luft. Nicht einmal an seinen schwarzen Locken zog der Wind. Wie ein Trugbild, geschaffen von meiner Angst und Verzweiflung, angestrahlt vom flackernden Schein der Flammen. Seine klaren, blauen Augen durchbohrten mich und ich spürte eine Welle der Ruhe. Sein Gewand war so rot, wie das Feuer um mich und in seiner Hand hielt er einen kunstvoll geschwungenen Hirtenstab. Es konnte nur Petrus sein, der Schutzpatron der Fischer.

Ich war so gläubig wie jeder gute Italiener Ende der 70er, aber dennoch hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt nie geglaubt, dass die Heiligen unsere Hilferufe wirklich erhören würden. Ohne zu zögern fiel ich auf die Knie und streckte meine Hände nach meinem Retter aus.

Er erhob seinen Hirtenstab und murmelte etwas, das ich nicht verstand, aber es erinnerte mich an die Worte unseres Priesters und so hielt ich es für Latein. Ich spürte, wie Wind aufkam und fürchtete schon, er würde das Feuer noch anfachen. Aber das Gegenteil war der Fall: Die Flammen zischten und knisterten immer leiser, bis sie völlig erloschen.

Stille legte sich über die Szene. Ich hörte leise die Wellen gegen das Boot schlagen und die angekohlten Dielen knarrten unter den Bewegungen des Wassers. Fassungslos richtete ich mich auf und drehte ich mich im Kreis. Wie schnell das Feuer verschwunden war … Als ich wieder auf die Stelle blickte, an der der Heilige Petrus gestanden hatte, war ich allein. Doch schon einen Augenblick später hörte ich ein Boot mit anderen Fischern, die meinen Namen riefen, und sah sie auf mich zu rudern.

Ich war gerettet.

Das war meine erste Begegnung mit Magnus Magister Athanasius. Doch das begriff ich erst, als er am Abend des gleichen Tages plötzlich neben mir auf der Kaimauer saß.

Vor mir lagen die Reste meines Bootes vor Anker und meine Gedanken überschlugen sich. Wovon sollte ich die Reparatur bezahlen? Würde ich betteln müssen, um an ein Abendessen zu gelangen? Sollte ich mit meinem Priester über die wundersame Rettung reden? Und vor allem: Wie hatte sich das nasse Netz unter meinen Händen entzünden können?

Wieder und wieder ging ich die schrecklichen Sekunden in meinem Geist durch. Ich erinnerte mich an ein Gefühl von Hitze und Spannung und dann war alles ganz schnell gegangen.

Ich starrte auf meine schwieligen Hände und schüttelte den Kopf. Es gab keine logische Erklärung für das Feuer. Und erst recht keine dafür, wie ich ihm entronnen war. Und doch bewiesen die traurigen Überreste meines Bootes, dass ich mir all das nicht nur eingebildet hatte.

»Komm mit mir und ich gebe dir alle Antworten, die du brauchst«, riss mich eine angenehme Stimme aus meinen Gedanken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht einmal gemerkt, dass jemand neben mir saß – geschweige denn, dass ich begriffen hätte, wer er war und was er mir da anbot. »Komm mit mir und du wirst lernen, dein Feuer zu beherrschen.«

Ich starrte die Zimmerdecke an und lauschte meinem Herzschlag. Er hatte mich ernsthaft allein hier zurückgelassen. Nicht in einer fremden Stadt oder einem fremden Land. Nein. In einer fremden Welt! Das hätte ich Magnus um ehrlich zu sein nicht zugetraut.

›Hey, wieso allein? Ich bin doch bei Dir!‹, hallte eine etwas beleidigt klingende Stimme durch meinen Kopf.

Ich seufzte. »Oui, Aby, du bist bei mir.«

›Und ich kann für dich dolmetschen. Also … Zumindest nehme ich das an. Schließlich hab ich Ginga auch verstanden. Oder zweifelst du daran?‹

Ginga.

Meine Freundin aus einer anderen Welt. Meine Freundin, die jetzt in meiner Welt saß, während ich in ihre gereist war. Ich vermisste sie jetzt schon. Aber sie hatte ihren frischgebackenen Nachwuchsvampir mir vorgezogen. Ich musterte Aby. Für andere war sie einfach eine hübsche schwarze Katze mit wunderschönen grünen Augen. Für mich war sie eine Freundin. Bis ich Ginga begegnet war, sogar meine einzige Freundin. Ich konnte mit ihr über alles sprechen. Allerdings musste ich auch mit allem rechnen, wenn ich eine Antwort erwartete.

›Ich erwarte auch eine Antwort von Dir, junge Dame‹, hallte ihre Stimme pikiert durch meinen Kopf. Wie immer bekam ich ihre Worte ungefiltert ab.

»Entschuldige. Es wäre wirklich beruhigend, wenn du auch die Sprache hier verstehen könntest. Dieses Nefishit. Aber wenn ich richtig vermute, dann sind wir hier in Zambala, dem Feuerreich. Und Ginga kommt mit Sicherheit nicht aus diesem Reich.«

›Dann sollten wir das testen. Lass uns rausgehen und die Gegend erkunden. Ich muss nur nah genug an ein paar ... wie heißen die hier? Zambalaner ...? heran, um zu lauschen.‹

»Was? Non! Aby, Magnus hat gesagt, wir sollen hier warten. Er hat mir das Zimmer hier besorgt. Und was ist, wenn wir uns verlaufen? Ich kann nicht mal nach dem Weg fragen!«

›Ausreden.‹

»Wie bitte?«

›Faule Ausreden. Die ganze Zeit wolltest du nach Nafishur und jetzt traust du dich nicht vor die Tür.‹

»Das ist nicht wahr! Ich bin nur ... ich meine ... ich hab nur ...«

›Angst.‹

Ich hasste es, wenn sie mich so durchschaute. Schneller als ich mich selbst.

›Ich hab dich auch lieb, Cara.‹

Ich starrte auf das Gepäck, das Magnus für unsere ›intergalaktische‹ Reise geschrumpft hatte und das nun wieder in seiner echten Größe in einer Ecke des Zimmers stand. Als wir in Nafishur angekommen waren, war früher Morgen gewesen und Magnus hatte mich in dieser Pension untergebracht. Er hatte von einigen wichtigen Erledigungen gesprochen und davon, dass ich hier gut aufgehoben war; dass er mich spätestens am kommenden Abend wieder abholen würde. Dann hatte er mein Gepäck abgeladen, mir das Zimmer gezeigt, einen Schlüssel in die Hand gedrückt und war verschwunden. Kein optimaler Start in eine neue Welt. Ich hatte mich auf das Bett gesetzt und irgendwann hingelegt. Seitdem starrte ich die Decke an. Das Bett und die Decke waren nicht viel anders als auf der Erde. Es fühlte sich sicher an, sich hier aufzuhalten. Zumindest, solange ich meinen Blick nicht weiter schweifen ließ. Die Decke, das ganze Haus, schien aus gebrannten Lehmziegeln und Feldsteinen gebaut zu sein. Selbst das Bettgestell und das restliche Mobiliar waren aus Stein. Das Ganze erinnerte mich irgendwie an Bilder aus meinen Geschichtsbüchern. Frühes Mittelalter.

Ein gedehntes Maunzen riss mich aus meinen Gedanken. Mein Blick suchte Aby. Sie saß auf dem Fenstersims und sah mit großen Augen nach draußen. Für einen Moment schloss ich die meinen. Dann gab ich mir einen Ruck und stand auf. Wenn selbst meine Katze keine Angst hatte, dann sollte ich es doch auch irgendwie schaffen. Und wenn ich mit meinen Vermutungen Recht hatte, wenn die Tagebucheinträge von Mamé und Papa tatsächlich keine schlechten Scherze waren, dann gehörte ich ja durchaus in diese Welt. Ich zupfte an dem rot-schwarzen Umhang, den mir Magnus ›angehext‹ hatte – er war angenehm weich und leichter, als er aussah – und stellte mich neben Aby.

Draußen war einiges los. Menschen, nein, Nafish zogen Karren mit allerlei Krügen, Körben und Kisten über den Platz vor der Pension. Sie sahen ganz normal aus und schienen einen Markt aufzubauen. Einige Stände waren bereits fertig. Andere wurden erst noch bestückt. Im Himmel über all dem war ebenso viel los. Vor allem dank der vielen Heißluftballons. Ich wusste kaum, wohin ich zuerst sehen sollte. Hinter dem Marktplatz glitzerte Wasser und Maste von Segelbooten schaukelten in der Nähe des Ufers hin und her, während größere Schiffe mit riesigen, merkwürdigen Säulen am Horizont zu sehen waren. Bestimmt hatte diese Stadt auch einen Hafen.

Die Sonne tauchte die ganze Szenerie in ein weiß-blaues Licht. Es schien etwas kälter zu sein als das Licht unserer irdischen Sonne. Der vampirische Teil in mir empfand es jedenfalls als deutlich angenehmer.

›Komm schon, Cara, lass uns rausgehen.‹

»Aber Magnus hat–«

›... dir einen Schlüssel gegeben. Den würdest du wohl kaum brauchen, wenn du hier drinnen bleibst. Ich hab doch deinen staunenden Blick gesehen. Gib es zu: Du willst auch da raus. Außerdem ...‹

Mein Magen knurrte und Aby sah mich vielsagend an. Ich erwiderte ihren Blick etwas gequält, nickte dann aber. »Du hast recht. Ich muss auch etwas essen und trinken.« Aus den Augenwinkeln sah ich wieder zu meinem Gepäckberg. Irgendwo da drin war auch mein Tee. Der Tee, der mir half, meinen Blutdurst im Griff zu behalten. Noch verspürte ich diesen Durst nicht. Aber wer konnte schon sagen, wie lang das so blieb.

»Au!« Ich drückte meine Hand an meine Brust. Aby funkelte mich kampflustig an. Ihre Krallen lugten noch aus ihren schwarzen Samtpfoten hervor.

›Hör auf, in Selbstzweifel zu versinken und komm mit. Du willst doch auch wissen, wie Nafishur aussieht. Das weiß ich.‹

»I-ich hab es doch schon gesehen, als wir angekommen sind.«

›Du weißt ganz genau, dass du nichts erkennen konntest. Du warst vom weißen Licht aus dem Port noch total geblendet. Magnus musste dich sogar führen.‹ Ich musterte für einen Augenblick meine Hand und konnte die von Magnus in meiner spüren. Dann drehte ich mich wortlos um, schnappte mir den Schlüssel und hielt auf die Tür zu. Dort angekommen, drehte ich mich schwungvoll um und deutete eine Verbeugung an, damit Aby mir folgte. Ich hätte schwören können, sie in meinem Geist lachen zu hören. Das war selten. Ich schloss die Tür sorgfältig hinter uns ab. Es war ein einfacher, kleiner Bronzeschlüssel, aber das Klicken des Schlosses klang, als würde sich eine Tresortür schließen. Ich starrte die Tür für einen kurzen Moment an. Dann maunzte Aby ungeduldig und ich beschloss, mir eine Liste mit Fragen anzulegen, die ich Magnus stellen würde. Es brachte nichts, sich jetzt unnötig den Kopf zu zerbrechen. Ich war in einer fremden Welt. In einer Welt, in der Vampire und Magie Alltag waren. Türen, die robuster waren, als sie aussahen, waren sicher noch das harmloseste.

Die Pension war leer. Sie machte wirklich einen gemütlichen Eindruck. Wahrscheinlich durch die vielen Kerzen und Windlichter, die für ein warmes, angenehmes Licht sorgten. Oder durch die einladenden Sessel in rot und orange, die in großer Zahl den Eingangsbereich zierten. Der Empfang war unbesetzt. Irgendwie war ich erleichtert. Aby hingegen schien enttäuscht.

Ich öffnete die Tür und trat mit ihr nach draußen. Sofort umfingen mich Geräusche, Gerüche, Licht und Wärme. Ich wurde regelrecht von Eindrücken und Empfindungen überschwemmt. So gut konnte dieses einfache Haus doch gar nicht isoliert gewesen sein! Ich kniff die Augen zusammen und zwang meine Sinne dann dazu, herunterzufahren. Das war alles etwas zu viel auf einmal. Ich rieb über meine Arme, um zuerst das Licht und die sommerliche Wärme in den Griff zu kriegen. Dann öffnete ich vorsichtig die Augen und nach ein paar Sekunden sah ich wieder die Marktszene vor mir, die ich schon vom Zimmer aus betrachtet hatte. Alles wirkte einladend und freundlich. Ein friedlicher Sommertag. Ein klassischer Sonntag in einer Kleinstadt. So kam es mir zumindest vor. Als sich meine Augenlider entspannten, machte ich mich nach und nach an meine anderen Sinne. Das hatte mir Ginga beigebracht.

Alles nacheinander ›einschalten‹, wenn’s dir zu viel wird.

Als nächstes war das Gehör dran. Ich hörte Rufe und Gespräche in einer Sprache, die ich nicht verstand; dazu Gelächter und im Hintergrund das Rauschen von Wasser und etwas, das klang, als würden sich Wellen an einer Kaimauer brechen. Das hatte ich schon bei meiner Ankunft wahrgenommen. Außerdem machte sich wieder ein beschleunigter Herzschlag meinerseits bemerkbar. Diesmal war es keine Angst. Es war … Neugier.

Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich mich in Bewegung gesetzt hatte. Aber noch bevor ich meinen Geruchssinn wieder einschaltete, war ich auch schon ein ganzes Stück auf den Marktplatz gelaufen. Obwohl die Sonne heiß war, prickelte sie nur angenehm auf meinem Gesicht. Der Rest von mir war unter dem Umhang verborgen, aber ich hatte das Gefühl, dass mir diese Sonne nicht schadete. Es war warm, aber ihr Licht fühlte sich dennoch weniger heiß an als das Licht auf der Erde. Unlogisch, aber das war auch gut so. Meine Augen konnten sich kaum satt sehen. Ich wusste nicht, was ich zuerst anstarren sollte. Die braungebrannten Menschen, die mich an Fischer im Hochsommer an der Côte d'Azur erinnerten. Die Stände, die voll beladen waren mit Pflanzen, Früchten und anderen mir völlig fremden Dingen. Die krummen Steinhäuser, die den Platz umsäumten, und deren obere Etagen teilweise gefährlich weit ihr Erdgeschoss überragten. Das weite Meer, das verlockend glitzerte.

Vorsichtig atmete ich ein, um das Bild zu komplettieren.

›Cara? Alles okay?‹

Langsam drehte ich meinen Kopf zu Aby. Dem einzigen Gesicht hier, das für mich vertraut war. Sie war verblüffend lange still geblieben. In ihren Augen stand das gleiche Staunen, das ich auch in mir spürte. Schon ohne meinen Geruchssinn war ich wie davongefegt von all den Eindrücken. Aber jetzt hatte ich ein Stadium erreicht, in dem mein Hirn am liebsten den Anrufbeantworter angeschaltet hätte. ›Bin gerade nicht da. Hinterlasst eine Nachricht nach dem Piepton.‹

Alles okay, Aby. Ich ... es ist nur alles so ...

›Oui. Ich weiß, was du meinst. Vielleicht ... beschränkst du das Atmen auf ein Minimum – so lange es geht..‹

Ich nickte. Mir war klar, worauf sie hinauswollte. Mein erster bewusster Atemzug hier draußen war schon eine klare Überforderung gewesen. In der Pension hatte ich vor allem Stein und Staub gerochen – und mein eigenes Gepäck. Aber hier draußen … jenseits von Abys Geruch war da nichts, aber auch rein gar nichts gewesen, das ich hätte einordnen können. Und so gern ich mein Bild von Nafishur auch vervollständigen wollte, das würde warten müssen, bis ich mich etwas ... akklimatisiert hatte. Ich war nur ein halber Vampir. Mein Herz schlug noch. Ich brauchte Sauerstoff. Aber ich hatte früh gelernt, dass ich überdurchschnittlich lang ohne auskam. Das war jetzt ein Vorteil. Für die nächsten Minuten würde ich versuchen, aufs Atmen zu verzichten.

Dafür begann ich nun, bewusst an den Ständen des Marktes entlangzugehen und die Auslagen zu mustern. Ich konnte es kaum erwarten, all die seltsamen Waren auch zu riechen. Die Verkäufer hinter ihren Ständen strahlten mich alle freudig an und wollten mich eindeutig dazu animieren, bei ihnen zu kaufen. So verschieden waren unsere Welten nicht. Einige Händler deuteten anerkennend auf meinen Umhang. Ob sie so freundlich waren, weil sie ihn als Teil meiner Schuluniform erkannten? Dann musste die Akademie beliebt sein. Oder die Studenten kauffreudig und wohlhabend. Ich hingegen wusste bisher nicht einmal, ob ich überhaupt gültiges Geld besaß. Sicher hatten Papa und Mamé vor ihrer Flucht auf die Erde hier kein Bankkonto auf meinen Namen abgeschlossen.

Eine etwas füllige Dame mit einem geflochtenen strohblonden Dutt und einem bereits zum Bersten gefüllten Weidenkorb machte neben mir halt und plapperte freudig los, als sie mich sah. Ich war mir sicher, dass wir uns nicht kannten. Ich kannte hier schließlich niemanden. Aber sie hörte nicht auf zu plappern. Ich verstand nichts, außer ›Johanna‹, falls sie denn wirklich einen Namen genannt hatte und das nicht einfach auch Teil ihrer Sprache war. Hatte sie sich vorgestellt? Oder hielt sie mich für eine Johanna? Oder suchte sie vielleicht jemanden dieses Namens? Hilfesuchend sah ich zu Aby, die prompt auf meine Schulter sprang.

Bitte sag mir, dass du sie verstehst!

›Sie heißt Johanna und ist Köchin an der Akademie. Sie hat dich an deinem Erstsemesterumhang erkannt und fragt, ob du neu in der Stadt bist.‹

Neu in der Stadt ... Wenn es nur das wäre. »Cara«, sagte ich leise, lächelte verlegen und nickte. Hoffentlich reichte das als Erwiderung auf ihren Redeschwall.

Johanna lächelte um einiges breiter und kramte dann in ihrem Korb. Kurz darauf reichte sie mir ein ... ja ... was war das? Eine Frucht vielleicht? Ein wenig erinnerte sie an eine Ananas – nur ohne den grünen Büschel. Und sie war kleiner und eher rund.

›Ein Willkommensgeschenk. Du sollst kosten. Das sei eine regionale Spezialität.‹

Ich nahm ihr mit einem dankbaren Nicken die Frucht ab und untersuchte sie skeptisch. Wie aß man sowas? Vertrug ich überhaupt alles hier? Vielleicht hatte ich ja Allergien oder so. Der Verkäufer hinter seinem Stand schaltete sich ein und es gab einen kurzen Austausch zwischen Johanna und ihm. Ich wog die Frucht in meiner Hand – sie war recht schwer für ihre Größe – und fuhr über ihre raue, unebene Hülle.

»Aby«, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

›Er meint, du solltest die Frucht vorher flambieren, dann wäre sie leckerer.‹ Ich blickte erst Aby und dann den Verkäufer mit großen Augen an. Dieser streckte mir grinsend eine Hand entgegen und ich hätte schwören können, dass seine dunkelbraunen Augen kurz aufglühten. Johanna nickte mir ermutigend zu, also legte ich die Frucht nach kurzem Zögern in seine große Hand. Gegen seine wirkte meine Hand noch blasser als sonst und beinah kindlich klein.

Er zwinkerte mir zu, hielt die Frucht auf Armeslänge vor sich und plötzlich stand seine Hand samt Frucht in Flammen. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte ich die brennende Hand an. War er etwa so wie ich? War er ein Feuerdruide? Ich hätte ihn so gern gefragt …

Wenige Sekunden vergingen und das Feuer war so unmotiviert verschwunden, wie es gekommen war. Die Schale der Frucht war jetzt dunkelbraun bis schwarz und es zogen kleine Rauchfädchen davon auf. Geschickt brach der Verkäufer die Frucht auf und reichte sie mir. Vorsichtig nahm ich sie entgegen. Ich hatte erwartet, dass sie kochend heiß wäre. Aber ich konnte sie problemlos halten. Das Innere sah aus wie Kokosmilch. Vorsichtig roch ich daran. Ich versuchte, mich nur auf diesen einzelnen Geruch zu konzentrieren. Und es fiel mir verblüffend leicht, denn die Frucht strahlte einen sehr intensiven Duft ab. Sie roch nicht wie Kokos, aber dennoch süß und irgendwie kam mir der Duft bekannt vor. Ganz langsam hob ich die Frucht unter den neugierigen Blicken von Johanna und dem Verkäufer an meine Lippen und kostete.

›WOW! Mon Dieu!‹

War der erste Schluck noch klein und vorsichtig, trank ich den Rest der Frucht in drei großen Zügen aus. Wie Crème Brûlée zum Trinken! Ich leckte mir über die Lippen und sah staunend zu meinen zwei neuen Bekanntschaften. Die grinsten zufrieden mit ihrem Werk. Ich hätte mich zu gern bedankt, aber ich wusste nicht, wie ich das machen sollte, also strahlte ich die beiden einfach so dankbar und glücklich wie möglich an. Aby konnte mir vielleicht sagen, was die anderen zu mir sagten, aber sie konnte meine Worte nicht für die anderen zurückübersetzen. Das war schon damals das Problem gewesen, als ich Ginga getroffen hatte. Doch da hatte Aby irgendwann begonnen, Ginga meine Gedanken einzupflanzen. Das konnte sie ja aber nicht mit völlig Fremden tun. Wer wusste schon, was man in Nafishur von telepathisch begabten Katzen hielt. Gab es hier überhaupt Katzen?

Johanna klopfte mir verständnisvoll auf die Schulter und wünschte mir noch eine schöne Zeit bis zum Start des Semesters – was ich wieder dank Aby erfuhr. Sie freue sich schon darauf, mich an der Akademie wiederzutreffen. Der Verkäufer streckte mir ein weiteres Mal seine Hand entgegen und ich verstand auch ohne Aby, dass er mir anbot, die leere Schale für mich zu entsorgen. Lächelnd gab ich sie ihm, nickte nochmals und ging weiter.

Danke Aby. Du warst meine Rettung!

›Immer wieder gern. Das weißt du doch. Es ist sehr interessant, was all die Men– Nafish hier denken. Sie scheinen ein temperamentvolles, aber freundliches Volk zu sein.‹

Temperamentvoll also. Sag mal, hat einer der beiden gesagt, wie die Frucht heißt, die ich getrunken habe?

Aby schüttelte den Kopf und ich war etwas enttäuscht. Hoffentlich konnte ich das in Erfahrung bringen. Ich wollte unbedingt mehr davon trinken.

***

Ich wusste nicht, wie lange ich über den Markt schlenderte. Ich wusste nur, dass ich am liebsten nicht mehr damit aufgehört hätte. Er war vergleichbar mit einem klassischen Wochenmarkt bei uns. Es gab Obst, Gemüse, Gebäck, Fleisch und Fisch. Zumindest nahm ich das an. Ich hatte zwar nichts von all dem jemals zuvor gesehen, aber irgendwie konnte ich doch das meiste zuordnen. Ich hätte zu gern nachgefragt oder gekostet, aber neben der Sprachbarriere war da ja auch noch das kleine Hindernis mit dem fehlenden Geld. Ich wusste nicht mal, wie die Währung hieß oder aussah.

Als wir zum zweiten Mal den Markt durchstreift hatten – und ich deutlich spürte, wie hungrig ich inzwischen war –, verließen wir die engen Gassen zwischen den Ständen und landeten an einem Steg oder vielleicht eher einer Seebrücke, die weit in das Meer hineinreichte. Es musste ein Meer sein. Ich konnte kein Ufer am anderen Ende ausmachen. Das Wasser glitzerte einladend und einige Boote waren auf ihm unterwegs. Andere waren an der Seebrücke festgetaut. Jetzt fühlte ich mich noch mehr an die Côte d’Azur versetzt. Wären da nicht die fremde Sprache, all die seltsamen Lebensmittel und der Verkäufer mit der brennenden Hand, ich hätte daran gezweifelt, unsere Welt verlassen zu haben. Es war eher, als wäre ich einfach in der Zeit zurückgereist.

Gemeinsam mit Aby machte ich es mir auf der Brüstung der Brücke bequem. Ich ließ die Beine baumeln und meinen Blick in die Ferne schweifen. Ich betrachtete die Segelboote und die anderen seltsamen Schiffe. Irgendwas schien zwischen ihnen knapp über dem Horizont im Himmel zu schweben, halb vom Dunst verdeckt.

Der Himmel über uns wirkte beinah wie der Himmel über Paris. Er war genauso blau. Vielleicht noch etwas blauer, durch das kältere, bläuliche Sonnenlicht. Ein paar wenige Wolken zogen dahin und er war noch immer gut gefüllt. Unzählige Fesselballone durchkreuzten lautlos die Lüfte über der Stadt. Einer bunter und verzierter als der andere. An manchen schienen goldene Kordeln zu hängen, andere trugen Netze mit komplizierten Mustern. Sie alle waren bunt und sahen wunderschön aus und plötzlich wollte ich Zambala von oben sehen. Es musste berauschend sein.

Wie schön wäre es, das gemeinsam mit ihnen zu sehen…

›Woran denkst du?‹

Ehrlich jetzt? Das kannst du doch auch so lesen. Meine Stimmung hatte hoch oben zwischen den Wolken geschwebt, aber genauso abrupt wie sie sich vorhin beim Verlassen der Pension gehoben hatte, war sie nun abgestürzt.

›Schon, aber ich glaube, es würde dir guttun, es auszusprechen.‹

Ich seufzte leise. Ich vermisse sie. Alle.

Ginga.

Dariel.

Selbst Artemis …

und …

›Magnus‹, ergänzte Aby meinen ausgeschwiegenen Gedanken.

Ich nickte nur. Irgendwie hatte ich geglaubt, dass er mir helfen würde, mich hier zurechtzufinden. Ich fühlte mich alleingelassen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, meine einzigen richtigen Freunde zurückzulassen, für jemanden, den ich nicht kannte, und eine Wahrheit, die sich mir vielleicht nie offenbaren würde.

›Sag mal, Ginga hat dir doch vor deiner … Abreise einen Brief in die Hand gedrückt. Vielleicht hilft er dir ja. Und wenn nur dadurch, dass du merkst, dass sie an dich denkt.‹

Der Brief!

Du hast Recht! Und ich hab ihn sogar hier! Mit den Fingerspitzen angelte ich ihn aus meiner Hosentasche. Er sah inzwischen etwas mitgenommen aus. Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Ich faltete das zerknitterte Papier auseinander. Es waren zwei kleine Briefbögen. Der untere schien älter zu sein. Das machte mich neugierig. Was Ginga wohl entdeckt hatte?

Salût Cara,

ich würde Dich ja fragen, wie es Dir geht und ob Du den Flug durch das Licht gut überstanden hast, aber ich bekäme ja doch keine Antwort. Ich hoffe aber, dass es Dir gut geht. In Nafishur müsste jetzt Frühling sein. Vor allem in Zambala wird es da schon ziemlich heiß. Trink genug!

Es gibt so vieles, das ich Dir noch hätte sagen sollen. Denk daran, dass Dinge, die harmlos aussehen, in Nafishur nicht immer harmlos sind. Verwechsele nicht die Dinge in Luv mit denen Nafishurs. Erinnerst Du Dich zum Beispiel, wie ich anfangs nie auf Gras getreten bin? In Nafishur ist nicht jedes Gras harmlos.

Aber nun zum eigentlichen Grund meines Briefes. Ich nehme an, Nefishit bereitet Dir mindestens so große Probleme, wie mir am Anfang Deine Sprache. Nur wirst Du keine so geduldige Lehrerin haben, wie ich sie hatte. Unter den Briefen deiner Großmutter habe ich einen Zauber gefunden, der Dir helfen könnte. Sie hatte ihn offenbar benutzt, um es nach ihrer Flucht in Luv einfacher zu haben. Er sollte aber auch andersherum funktionieren. Scheint nicht auf eine spezielle Sprache festgelegt zu sein.

Ich habe Dir darübergeschrieben, wie du alles aussprechen musst. Sollte es nicht klappen, frag Magnus oder so, ob er es Dir vorliest. Ich hoffe, das hilft Dir. Pass auf Dich auf und komm bald zurück!

Ginga

P.S.: Grüße Aby von Artemis. Er hat mir beim Schreiben geholfen.

Mit großen Augen las ich noch zwei Mal Gingas Brief. Denk daran, dass Dinge, die harmlos aussehen, in Nafishur nicht immer harmlos sind. Ich wusste ja, dass sie Nafishur für gefährlich hielt. Aber übertrieb sie da nicht? Wie sollte ich diese Welt kennenlernen, wenn ich allem und jedem misstraute? Dann wandte ich mich dem zweiten Blatt Papier zu. Es war alt und fühlte sich rau und dünn an in meinen Fingern.

Ein Zauberspruch, um Nefishit zu lernen. Ungläubig starrte ich auf die fremden Zeichen und Gingas Gekritzel dazwischen. Ehrfürchtig strich ich über die Zeilen. Sie fühlten sich irgendwie warm an unter meinen Fingerspitzen. Aber das war sicher nur die Sonne, die das Papier erwärmte.

›Na super. Das hättest du ruhig schon früher lesen können.‹

»Woher hätte ich DAS denn wissen sollen? Ich hab ja mit vielem gerechnet, aber doch nicht damit? Außerdem bezweifle ich, dass ich das hinkriege«, murmelte ich und kniff die Augen zusammen. Ginga hatte eine ziemliche Sauklaue. Vor allem, wenn sie sich zwischen die eigentlichen Zeilen quetschte. Aber auch, wenn ich nicht schlau aus dem Gekritzel wurde, konnte ich meinen Blick doch nicht vom Text abwenden. Ich hatte einzelne Schriftzeichen auf dem Markt gesehen. Aber nicht so viele auf einmal. Der Text erinnerte mich an antike Inschriften, wie man sie in Dokus sah. Nefishit. Und das sollte ein Zauberspruch sein? Aber bräuchte ich dafür nicht so einen Stab, wie Magnus ihn besaß? Oder vielleicht irgendetwas anderes? Kerzen? Eine Kröte? Irgendwelche seltenen Kräuter? Das Herz eines Drachen? Okay. Das vielleicht nicht. Aber es würde wohl kaum reichen, Gingas Geschreibsel zu lesen.

Ein lautes, kehliges Lachen riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und entdeckte eine Gruppe von vier Typen und einer jungen Frau. Sie alle trugen ein deutlich überhebliches Lächeln zur Schau – zusammen mit einem Umhang, wie ich ihn umhatte. Schnell faltete ich den Brief wieder zusammen und ließ alles in meiner Jeans verschwinden. Ich grinste unsicher und fragte mich, was die Gruppe von mir wollte.

Aby

›Nichts Gutes, fürchte ich. Sie machen sich über dich lustig …‹

Was? Wir kennen uns doch nicht mal! Was sagen sie denn? Ich sah skeptisch zwischen den Fünfen hin und her. Sie waren alle in etwa in meinem Alter. Anfang zwanzig. Zumindest wenn Altern hier genauso funktionierte, wie für Menschen auf der Erde.

›Das möchte ich lieber nicht wiederholen …‹ Na, wenn das nicht ermutigend war. Instinktiv schloss sich meine Hand um den kleinen Sternanhänger, den ich im Versteck meiner Großmutter gefunden hatte. Waren es Anfeindungen wie diese gewesen, die meine Mamé in die Flucht nach Luv getrieben hatten? Wie sollte ich mich wehren, wenn ich sie nicht verstand und sie mich nicht?

Mir blieb im Grund nichts anderes übrig, als sie reden zu lassen und sie mir gut einzuprägen. Sie trugen die Umhänge der Akademie. Ich würde sie also bald wiedersehen – ob ich nun wollte oder nicht.

Die Frau war ziemlich aufgeziegelt. Ihr blondes Haar sah wenig echt aus und erinnerte mich an Elsa, die Eiskönigin. Das überzogene Makeup um ihre eisig blassblauen Augen passte auch wunderbar in dieses Bild. Im deutlichen Kontrast dazu stand nur ihre dunkle Hautfarbe. Vielleicht wirkte deshalb alles andere an ihr so unecht.

Was sie unter ihrem Umhang trug, konnte ich nicht sehen. Nur, dass sie alle irgendwas Dunkles anhatten. Die Typen sahen mit ihren breiten Schultern und kantigen Köpfen wie die personifizierten Klischees von Türstehern aus. Mit ihrer nichtssagenden Mimik waren sie wohl die Garde ihrer Königin.

Die sagte gerade etwas, das ihr Gefolge amüsant fand. Abys Fauchen nach würde es mir weniger gefallen. Meine kleine Beschützerin sprang von meiner Schulter und baute sich mit einem imposanten Katzenbuckel vor mir auf.

Alle verstummten und starrten Aby mit hochgezogenen Brauen an. Dann zeigte sie auf meine Katze und die Typen bewegten sich auf uns zu. Ich wich ein Stück zurück, aber mir war klar, dass diese Brücke im Wasser endete. Um genau zu sein in einem Gewässer, das ich nicht kannte und von dem ich gar nicht wissen wollte, was so alles darin schwamm.

Nafishur ist ein Grund, Angst zu haben!

Gingas Stimme hallte zum wiederholten Male durch meinen Kopf. Der Brief hatte mich wieder an unsere Unterhaltungen erinnert und an ihre Warnungen.

Aby, was sollen wir tun? Kurz hatte ich die Idee, einen Feuerball nach ihnen zu schleudern. Aber dann verhagelte ich mir die Idee mit zig Einwänden selbst. Ich konnte diese Gabe nicht kontrollieren. Was, wenn ich den Marktplatz hinter meinen Angreifern traf. Oder schlimmer noch … Das letzte Mal hätte ich Ginga und Dariel dabei beinah getötet. Die Fünf waren nicht gerade Sympathieträger, aber ich ging davon aus, dass das hier eher unter Mobbing fiel als unter echte Bedrohung. Und jeder Harry Potter-Kenner wusste, dass Zauberschüler nicht außerhalb der Schule zaubern durften. Schade, dass sich Dariels Dolch irgendwo in meinem Gepäck befand. Der hätte hier sicher für Eindruck gesorgt – ganz und gar unmagischen Eindruck.

»HEY!«, schrie eine laute, durchdringende Stimme vom Markt her. Wir zuckten alle zusammen. Erst glaubte ich, es sei der Verkäufer von vorhin. Aber dann sah ich, zu wem die Stimme gehörte. Ein Typ, vielleicht Mitte zwanzig, ebenfalls mit Umhang bekleidet, kam auf uns zu. Sein Umhang sah anders aus. Er war außen schwarz und schimmerte von Innen rot. Neben der Brosche, die ihn verschlossen hielt, prangte ein kleines goldenes Wappen. Er sah wichtig aus. Dann wanderte mein Blick höher und ich sah sein Gesicht. Es war nicht so blass wie meines, aber auch nicht so braungebrannt wie das der Marktleute. Sein Blick war hart und ich war heilfroh, als ich merkte, dass er nicht mir galt, sondern der kleinen Gruppe zwischen uns. Er sagte irgendwas zu der Frau. Es klang alles andere als freundlich und sie zuckte zusammen, nickte dann aber betreten. Er hob die Hand und zeigte hinter sich. Ohne ein weiteres Wort trollten sich die Halbstarken mit ihrer Königin.

Ich atmete erleichtert aus. Aber jetzt stand ich vor dem nächsten Problem: Schon wieder musste ich mich bedanken oder zumindest die Situation erklären. Aber wie sollte ich das schaffen?

Er fuhr sich durchs Haar und sah dem seltsamen Gespann hinterher. Jetzt erst bemerkte ich, dass er seine dunkle Mähne im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Das passte so gar nicht zu seinem strengen Auftreten.

»Dickheads«, murmelte er leise.

Moment.

War das ein Zufall oder Englisch?

»Dickheads?«, wiederholte ich ebenso leise und trat näher an ihn heran. Er drehte sich erschrocken zu mir um und kratzte sich dann verlegen am Hinterkopf. Seine einschüchternde Ausstrahlung war wie weggeblasen. Dann plapperte er auf Nefishit los und meine Hoffnung schwand.

›Er erzählt gerade irgendwas davon, dass er von weit herkommt und das nur ein Dialekt sei.‹ Oh. Schade. Aber wie hätte es auch anders sein sollen. ›Warte. Ich war noch nicht fertig. Das sagt er. Aber er denkt in einer anderen Sprache. Kommt mir bekannt vor. Aus den Büchern, die du so gerne liest. Aber ich versteh es nicht.‹

Mein Blick flog erst zu Aby, dann wieder zu meinem fremden Retter. Er zog gerade die Brauen zusammen und grinste zerknirscht. Und du bist dir sicher, Aby?

Sie maunzte nur zur Bestätigung. Alles andere war wohl unter ihrer Würde. Also setzte ich alles auf eine Karte. Ich hatte sowieso schon fünf Feinde an der Akademie. Falls wir falsch lagen, kam dann eben noch ein süßer Typ dazu, der sich über mich lustig machte.

»Do you speak English?«

Seine Augen weiteten sich. »Who are you? Ich meine … wie kannst du … wo kommst du her?«

Ich verstand ihn! Mein Englisch war vielleicht nicht das beste, aber ich verstand ihn! Erleichtert lachte ich auf. »Du hast keine Ahnung, wie erleichtert ich bin. Ich beherrsche noch kein Nefishit.« Jetzt war es an mir, eine verlegene Grimasse zu ziehen.

»Kein Nefishit?« Er musterte meinen Umhang und schaute etwas ungläubig.

»Ich, ahm, ich bin gerade erst angekommen. Ich komme aus …« Ich zögerte. Was sollte ich jetzt sagen? Magnus hatte mir diesbezüglich keine Anweisungen gegeben. Aber laut Ginga war es ja verboten, nach Luv zu reisen. Wer also aus Luv kam, konnte nicht sehr beliebt sein. Aber andererseits … Er klang so, als käme er ebenfalls aus Luv mit seinem deutlich britischen Akzent.

»Aus?«, wiederholte er ungeduldig.

»Paris?« Irgendwie klang es eher wie eine Frage.

»Aus Paris?!« Er musterte mich neugierig. »Du bist Französin?«

Gott sei Dank! Er kannte Paris. Also lag ich richtig. Ich nickte und kaute verlegen auf meiner Unterlippe herum. »Woher … Und woher kommst du?«

»Surrey, London, UK.« Er grinste. »Unglaublich. Ich dachte, Shun und ich wären die einzigen Luvianer unter den Lehrlingen.«

Luvianer. Es klang, als seien wir Außerirdische. »Wer ist Shun?« War ja auch irgendwie so.

»Ein Kommilitone. Ein anderer Lehrling der Akademie. Er kommt aus einem kleinen Ort in der Nähe von Osaka, Japan.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Also gibt es noch mehr wie mich?« Ich hatte nicht vorgehabt, das laut auszusprechen.

»Scheint ganz so. Wer genau bist du denn eigentlich? Ich bin Cole.«

»Oh! Stimmt ja. Ich heiße Cara und dieses tapfere Fellknäul ist Aby. Freut uns, dich kennenzulernen, Cole.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Cara und Aby. Ihr seid also gerade erst angekommen?«

Ich nickte.

»Und du kannst kein Nefishit. Und wie habt ihr euch was zum Essen besorgt?«

»Well … Bisher noch gar nicht. Wir sind ja erst seit heute Morgen hier.«

»Aber es ist inzwischen fast Abend! Ihr zwei müsst hungrig sein. Das kann ich nicht zulassen! Als Patronus sollte ich mich um das Wohl meiner Kommilitonen kümmern.« Als ich ihn nur verwirrt ansah, ergänzte er: »Der Patronus ist sowas wie ein Vertrauensschüler oder Studierendenrat. Und zugleich auch Mediator, Mentor, Motivator – was gerade nötig ist. Eben ein Beschützer und Begleiter.« Er tippte sich auf das Emblem an seinem Umhang. Ein feuerspeiender Drache wickelte sich um ein Schriftzeichen. »Wir kümmern uns um die Neuzugänge und alle alltäglichen Probleme in der Akademie.« Das erklärte sein autoritäres Auftreten eben.

»Ah. Okay. Danke, dass du mir eben geholfen hast. Aby hat … ahm«, ich räusperte mich, »ich hab kein Wort von dem verstanden, was die Fünf von mir wollten. Aber sie sahen wenig freundlich aus.«

›Cara, ich glaube, es ging darum, dass einer von ihnen dich vorhin mit Johanna gesehen hat.‹

»Johanna?« Ich sah Aby irritiert an.

»Was ist mit Johanna?«, fragte nun auch Cole und ich biss mir auf die Zunge. Mist. Ich hatte mich in Dariels und Gingas Gegenwart zu sehr daran gewöhnt, laut mit Aby zu sprechen.

»Ich, ahm. Ich glaube, ich hab einen von ihnen ›Johanna‹ sagen hören. Das ist jemand aus der Akademie, oder?«

Unsere Heimat ist gefährlich. Vor allem für solche wie uns.

»Ja. Unsere Köchin.« Er sah nachdenklich und deutlich unglücklich aus. »Kennst du Johanna?«

»Oui. Ich meine, yes. Wir haben uns vorhin auf dem Markt kennengelernt.«

»Verstehe.« Er schüttelte verärgert den Kopf. »Johanna trägt, wie du merkst, einen Namen aus Luv. Die Bevölkerung Nafishurs glaubt größtenteils, dass Luv nur ein Ammenmärchen ist, um Kindern Angst zu machen. ›Wenn du nicht schläfst, tut sich die Welt auf und du fällst nach Luv‹ und so. Aber vor allem unter den Druiden gibt es so einige, die Luv gesehen haben oder zumindest von dessen Existenz wissen. Allerdings schätzt kaum einer von ihnen Luv. Vor allem die adligen Druiden halten von Luvianern ungefähr so viel wie von Schlinggras an ihren Füßen.« Ich hob die Brauen. »Nicht viel.«

Ich erinnerte mich wieder an Gingas Worte …

Für Dich als halber Vampir und Luvianer. Wer von hier kommt ist in den Augen der meisten Nafish nicht mehr wert als eine Hand voll Schlinggras.

»Das heißt, diese Frau und ihr kleiner Hofstaat mögen keine Luvianer und damit auch nicht Johannas Namen.«

»Und keinen, der sich nett mit ihr unterhält. Johanna ist Luvfreundlich. Sie ist stolz auf ihren Namen. Wahrscheinlich wollten sie dir klarmachen, dass es nicht klug ist, sich auf die Luvfreundliche Seite zu begeben – schon gar nicht wegen niedrig gestelltem Personal.« Er sah grimmig aus. Wahrscheinlich hatte er mit solchen Leuten bereits seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht.

Wir haben in dieser Welt nichts zu suchen.

Ich sah ihn traurig an. Das war also die Nafishur-Version von Vorurteilen und Klassendenken. Oder auch: Die klassische Angst vor dem Unbekannten. ›Luv‹ hieß ›sehr großes Nichts‹, das hatte mir Ginga erklärt. Kein Wunder, dass die Nafish, die von dessen Existenz wussten, Angst davor hatten und negativ reagierten. Aber es war dennoch traurig.

Für einen Augenblick stellte ich mir vor, wie wohl die Erde darauf reagieren würde, wenn Nafish ganz offen auf ihr herumlaufen würden. Sicher auch nicht mit Freude und Neugier. Nein, andersherum wäre es wohl genauso. Unglaube oder Feindseligkeit.

Cole klatschte in die Hände und lächelte wieder. »Genug Trübsal geblasen! Willkommen in Medivia, der Hauptstadt Zambalas, dem Feuerreich Nafishurs!« Nun breitete er die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis. Ich musste lachen.

»Merci.« Ich knickste.

»Also. Wie wäre es, wenn ich uns etwas zu Essen organisiere und wenn wir uns gestärkt haben, zeige ich euch noch etwas die Stadt?«

»Sehr gern. Aber … können wir mitkommen bei deiner ›Nahrungssuche‹? Ich wüsste zu gern, was das alles ist, das es auf diesem Markt gibt.«

»Aber klar! Was esst ihr zwei denn gern?«

»Hmm. Ich esse eigentlich so ziemlich alles. Generell gern süß und weniger gern scharf oder bitter. Aby isst alles, was man nicht als Katzenfutter bezeichnet.«

***

Diese zweite Runde über den Markt war einfach nur schön. Ich fühlte mich nicht mehr so verloren. Endlich erklärte mir jemand, was ich da vor mir sah. Ich hatte gar nicht mal so falsch gelegen. Cole kaufte uns ein paar kleine Brote, ich suchte uns Verschiedenes an Obst und Gemüse aus. Vor einer Frucht warnte er mich. Sie war lila und sah eigentlich wie irgendeine Art von Beere aus. Aber laut ihm war sie extrem bitter und damit eher nichts für mich. Ich beschrieb ihm auch die Frucht, die ich mit Johanna zusammen probiert hatte. Sie hieß Octaria. Er kaufte mir eine Flasche mit ihrem Saft. Aby bekam die Nafishurvariante von Milch und Fisch. Wann immer ich neugierig stehenblieb, weil etwas besonders interessant aussah, brachte er den Verkäufer dazu, mir eine Kostprobe zu überlassen. Er besaß wirklich einen regelrecht unnatürlichen Charme. Ich kostete lauter süße Früchte. Die Ambrosiafrucht zum Beispiel. Sie schimmerte golden und hatte die Form einer Birne. Sie schmeckte einfach himmlisch süß.

Ich kostete auch Luxariakerne und Kuumwurzeln. Wenn mich Cole dazu auch etwas überreden musste. Luxaria schienen so etwas Ähnliches wie unsere Sonnenblumen zu sein. Nur dass sie stärker auf die Sonne reagierten. Sie nahmen sogar deren Farbe an – und bei Nacht die der Monde. Die Kuumwurzeln sahen wenig ansprechend aus. Es waren eben Wurzeln. Aber ich musste zugeben, dass sie wirklich lecker schmeckten. So ähnlich wie Schokolade.

Um meinen Arm trug ich einen gut gefüllten Korb, den Cole gleich zu Anfang besorgt hatte. Darin war alles Mögliche von Gebäck bis zu geräucherter Wurst. Das Ganze nahm Ausmaße an, die mich in Verlegenheit brachten. Das Essen, das wir kauften, hätte sicher für die halbe Akademie gereicht. Aber mein Patronus war nicht zu stoppen. Es schien ihm Spaß zu machen, Dinge herauszusuchen, die entweder relativ vertraut schmeckten oder zumindest ihm sehr gut. Es war mir unangenehm, wie viel Geld er für mich ausgab, aber auf der anderen Seite war ich viel zu neugierig, um ihn aufzuhalten. Zu neugierig und zu hungrig.

Als auch Cole der Meinung war, wir könnten von dem satt werden, was er zusammengesucht hatte, nahmen wir wieder Kurs auf die Seebrücke. Wir liefen ganz nach vorn, zu ihrer Spitze und ließen uns dort nieder. Zuerst bekam Aby etwas, dann waren wir dran.

»Okay, okay. Und was ist das hier?« Ich hielt ein Brot hoch, das so aussah, wie ein langer, dicker Donut.

»Das ist ein Stabbrot. Stix. Es wird auf eine Stange gespießt und dann im Ofen gedreht. So wird es von allen Seiten gleichmäßig gebacken. Es ist so ziemlich das bekannteste Brot hier in der Gegend. Von den traditionellen Bäckern wird es noch per Hand gebacken.«

Schön, dass es hier noch Bäcker gab, die ihr Brot selbst backten und es nicht nur aus irgendeiner Großfabrik liefern ließen. Es sah wirklich lecker aus. Wie ein krosses Landbrot. Ich riss ein Stück ab und kostete. Es sah nicht nur so aus. Es schmeckte auch so. Irgendwie beruhigte es mich, dass es bei all dem Neuen auch Speisen gab, die nicht so fremdartig zu sein schienen. Ich testete noch Dinge, die aussahen wie Salami und Camembert, aß Trauben, deren Geschmack mich eher an Pfirsiche erinnerte, und eine Frucht, die aussah wie eine kleine Sprungfeder.

»Deine ›Sprungfeder‹ heißt Helix. Sie umwickelt beim Reifen ihren schmalen Stamm. Dadurch die verdrehte Form. Ich finde sie ziemlich lecker, aber mir ist noch kein passender Vergleich eingefallen. Du musst sie schälen. Hier, vom oberen Ende. Koste mal!« Während Cole sprach, half er mir dabei, die Helixfrucht aus ihrer Schale zu befreien und der Hitze in meinen Wangen nach wurde ich ziemlich rot im Gesicht, als er dabei meine Hand streifte.

Nafishur ist schön.

Er war so nett zu mir. Es war wie ein Wunder, dass er mir vorhin begegnet war. Ich genoss jede neue Entdeckung. Als ich mich satt und zufrieden gegen das Geländer der Brücke sinken ließ, war immer noch jede Menge von unserem Picknick über. Ich ließ den Blick von allen Resten weg und auf das Wasser gleiten. Inzwischen stand die Sonne tief und tauchte alles in ein goldenes Licht.

Es ist wirklich schön.

Der Kontrast war noch stärker als bei unserer Abendsonne auf der Erde, weil die Sonne tagsüber kein ansatzweise so warmes Licht ausgestrahlt hatte. Merkwürdigerweise schien mir diese goldene Abendsonne mehr auszumachen als das bläuliche Licht am Mittag. Mir war plötzlich viel zu warm und meine Haut kribbelte. Ich zog den Umhang um mich, so dass nur noch mein Gesicht dem Licht ausgesetzt war. Cole musterte mich neugierig.

Aber es ist gefährlich schön.

»Ist dir kalt?«

»Was? Oh, non, non. Es geht schon.«

Laut Ginga waren Vampire hier noch unbeliebter als auf der Erde. Ich wollte den ersten Nafish, der ein Freund werden könnte, nicht gleich wieder verjagen. Okay. Er war ›Luvianer‹ wie ich. Aber offenbar auch ein Druide. Und ich log ja nicht, wenn ich für ihn eine Französin war oder ein Akademielehrling. Das stimmte ja alles. Ich musterte ihn neugierig. Langsam ließen all die anderen Eindrücke nach und meine Sinne hatten Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Seine Augen waren dunkel. Sogar dunkler als meine. Seine geraden Brauen konnten ihm einen sehr strengen Blick verleihen, das hatte ich vorhin gesehen. Jetzt hingegen erwiderte er mit einem Lächeln meinen Blick.

»Was denkst du?«

»Hm?«

»Du schaust mich so nachdenklich an. Was geht dir gerade durch deinen hübschen Kopf?«

Traue nie dem äußeren Schein.

»G-gar nichts. Ich …« … brauchte schnell eine Ausrede fürs Anstarren. »Ich hab mich nur gefragt, wie du hierhergekommen bist.« Und wann.

Hinterfrage alles.

Er sah mich erst überrascht an und dann stolz. Und ich musste zugeben, dass ihm der Stolz in seinem Blick stand. Wahrscheinlich starrte ich jetzt nur umso mehr. »Großmeister Athanasius hat mich persönlich ausgewählt. Ich bestand die Prüfung und daraufhin wurde mir ein Stipendium gewährt.« Jetzt verschwand der stolze Blick wieder und wich einem bescheideneren Lächeln. »Ich hoffe sehr, dass ich seinen Erwartungen gerecht werde.«

»Da bin ich mir sicher.« Ich beugte mich ein Stück zu ihm hinüber und drückte kurz seine Hand. »Großmeister Athanasius … klingt sehr wichtig. Wenn so ein großer

Zauberer – ich meine, Druide – dich ausgewählt hat, dann wird er einen guten Grund gehabt haben. Ich bin mir sicher, du machst ihn stolz.«

»Pah. ›Wichtig‹ ist gut. Er ist der mächtigste Mann in Zambala. Als Großmeister untersteht er direkt Fürst Raiquard Nathum. Es heißt sogar, er sei der wahrscheinlichste Nachfolger des Fürsten und schon jetzt sein engster Berater.«

Irgendwie fühlte ich mich, als hätte ich diese Diskussion schon mal geführt, aber ich konnte mich einfach nicht mehr daran erinnern. Wahrscheinlich war ich noch zu sehr von all den neuen Eindrücken eingenommen. Ein Großmeister, ein Vertrauter des Fürsten also. Und so ein mächtiger Mann hatte ihn persönlich hierhergeholt? Er musste außergewöhnlich talentiert sein. »Okay«, ich hob lachend meine Hände, »und wer ist jetzt wieder dieser Fürst Raiquard Nathum?«

»Ach, niemand weiter. Nur mächtiger als alle Politiker der Erde. Er herrscht über die gesamte Welt Nafishur.«

»Der Weltenherrscher?« Von diesem Fürsten hatte mir Ginga erzählt. Daran erinnerte ich mich.

»Yes, genau der. Siehst du die fliegende Insel am Horizont? Das ist sein Palast. Er liegt im Geistreich, Xamax – oder vielmehr darüber.«

Darüber? Ich kniff meine Augen fest zusammen und blinzelte gegen die immer wärmer strahlende Abendsonne an. Sie leuchtete rechts von uns, aber ihr Licht überreizte meine Augen.

Es ist nicht alles Gold was glänzt.

»Sie ist zugegeben nur schwer zu erkennen. Vor allem zwischen den ganzen Fluggefährten da oben. Eigentlich sollte man sie überhaupt nicht sehen. Erdkrümmung und so. Aber angeblich sorgt Magie dafür, dass der fliegende Palast von jeder Küste aus zu sehen ist.«

Irgendwas war da im Himmel, dass nicht aussah wie ein Heißluftballon. Es erinnerte mich daran, dass ich vorhin etwas am Horizont entdeckt hatte, das ich nicht klar hatte erkennen können. Das musste dieser fliegende Palast gewesen sein! Aber dank der Sonne konnte ich ihn noch immer nur schwer ausmachen. Ich seufzte. »Ich kenne mich wirklich so gar nicht aus. Ich weiß so gut wie nichts über diese Welt. Ich werde mich in der Akademie hoffnungslos blamieren. Ich verstehe niemanden, ich kenne weder die Geschichte dieser Welt noch ihre Regeln und ich kann meine Feuerbälle nicht kontrollieren.«

Jetzt war es an Cole, mich anzustarren. »Feuerbälle? Du beherrschst bereits Elementarmagie?!«

»Das ist es ja eben. Ich beherrsche sie nicht! Ich hab beinah zwei gute Freunde angezündet und mein Haus demoliert. Wenn Magnus nicht gewesen wäre oder dieser schwebende Brief und all das, ich wäre ziemlich aufgeschmissen gewesen.«

Mir wurde einmal mehr bewusst, wie dringend ich Hilfe brauchte und wie gefährlich mein neues ›Talent‹ war.

»Magnus?« Er sah mich nachdenklich an. Doch noch bevor er weitersprach, war der seltsame Ausdruck aus seinem Gesicht verschwunden. »Ich begreife langsam, warum du hier bist.«

»Ehrlich? Da bist du weiter als ich.«

»Wenn du jetzt schon Elementarmagie be–«

»Ich sagte doch schon, ich beherrsche sie eben nicht!«

»Na schön. Wenn du jetzt schon Elementarmagie auslösen kannst, dann bist du weiter als die meisten Druidenlehrlinge in den ersten zwei Jahren ihres Studiums.«

»Oh.« Mehr brachte ich nicht heraus. War das wirklich so? »Aber woher weiß man denn dann, ob man überhaupt an die Feuermagieakademie gehört?«

Mein Patronus legte den Kopf schräg und musterte mich. »Hat dir denn wirklich niemand erklärt, wie diese Welt funktioniert?« Ich schüttelte verlegen den Kopf und lief mit Sicherheit wieder so rot an wie eine Tomate. »Also. Wo fang ich da an? Nafishur ist in sieben Reiche nach den sieben Elementen hier unterteilt. Du hast ja schon mitbekommen, dass Zambala das Feuerreich ist. Es liegt im Norden Nafishurs. Im Westen daneben liegt Pungan, das Wasserreich. Im Osten hat Zambala das Erdreich neben sich: Garingea. Darunter liegt das Pflanzenreich Umbrind und ganz im Süden kommt Liminon, das Luftreich. Die Reiche ordnen sich um das Meer der Mitte, in dessen Zentrum Xamax liegt, das Geistreich, Sitz des Fürsten und Ursprung der Magie. Du weißt schon, die fliegende Insel und so.«

Einmal mehr versuchte ich gegen die Abendsonne anzublinzeln und diese Insel zu erkennen. Aber die Sonne war zu grell und die Insel zu weit entfernt. »Das waren aber erst sechs Reiche, richtig?« Ich hatte mich ganz darauf konzentriert, mir Nafishur vorzustellen und irgendwas fehlte. Überhaupt waren diese Reiche entweder riesig oder der Planet recht klein.

»Das letzte Reich ist das Erzreich. Es umspannt die obere Hälfte Nafishurs und seine mächtigen Gebirge beeinflussen stark das Klima des gesamten Planeten. Krastun ist das größte aller Reiche und das einzige, das nicht am Mittelmeer liegt. Dafür grenzt es an ein anderes, weit größeres Meer. Denn Nafishurs Festland hängt noch als eine relativ geschlossene Fläche zusammen. Ähnlich wie man das von unserem Urkontinent auf der Erde annimmt. Die andere Seite Nafishurs besteht sozusagen aus Wasser. Ich werde dir die Bibliothek und darin ein paar besonders nützliche Bücher zeigen, sobald wir in der Akademie sind.«

»Die Akademie hat eine eigene Bibliothek?« Meine Augen wurden größer und ich freute mich wieder etwas mehr auf die Zeit dort. »Aber wo du sie gerade erwähnst. Warum erklärst du mir das alles? Ich hab doch eigentlich was ganz anderes gefragt?«

»Wie entschieden wird, wer an die Feuermagieakademie kommt. Yes. Dafür war dieser kleine Exkurs nötig.« Wenn Cole so verschmitzt lächelte wie jetzt, bildeten sich kleine Grübchen auf seinen Wangen. Das stand ihm viel zu gut. »Jedes Reich orientiert sich ganz und gar an seinem jeweiligen Element. Die Nafish, Tiere, Pflanzen, alles dort unterliegt der jeweiligen Magie. Und jedes dieser Reiche besitzt eine eigene Akademie, die ebenfalls dem jeweiligen Element untergeordnet ist.«

»Heißt das, wer auf die Feuermagieakademie kommt, wird automatisch Feuerdruide?«

Er lachte auf. »No, no! Es heißt aber: Wenn zwei Feuerdruiden Kinder haben, muss auch das Kind ein Feuerdruide sein. Eine reine Feuer-Familie kann sich also sicher sein, was ihr Kind später für Magie entwickelt. Bei gemischten Familien ist es so, dass die Eltern einfach entscheiden, auf welcher Akademie das Kind beginnt. Wenn sich während des Grundstudiums in Zambala herausstellt, dass der Lehrling ein anderes Element ausbildet, kann er zum Hauptstudium die Akademie immer noch wechseln. Im Grundstudium gibt es noch keine Elementarlehre.«

Langsam aber sicher begann ich, diese Welt wenigstens im Ansatz zu begreifen. Magie war nicht nur ein Teil des Alltags hier. Sie beherrschte vielmehr alles. Auch die Wesen, die eigentlich keine Druiden waren. Sofort musste ich an den Verkäufer mit der brennenden Hand denken. Dann war er vielleicht gar nicht wie ich, sondern jemand, der einfach durch die Magie von Zambala geprägt war. Hier war das, was mich in Paris fast in eine Katastrophe gestürzt hätte, also völlig normal.

Die vielen Informationen ließen meinen Kopf surren. Ich war froh, dass er besser funktionierte, als bei normalen Menschen. Ich würde zumindest nichts mehr vergessen. Auch wenn ich nicht sehr gut darin war, Erinnerungen wieder hervorzuholen. Ginga meinte, das lag daran, dass ich kein vollwertiger Vampir war. Ich konnte meine Erinnerungen zwar nicht vergessen, aber auch nicht gezielt wieder abrufen. Das war ein echter Vorteil für einen richtigen Vampir.

Der Nachteil an meiner untoten Hälfte war die verfluchte Lichtempfindlichkeit. So sehr es mich am Mittag gefreut hatte, dass die Sonne nicht wehtat, so sehr musste ich jetzt am Abend einsehen, dass sie doch höllisch brennen konnte. Es würde mich nicht wundern, wenn meine Wangen jetzt ganz ohne Coles Hilfe knallrot waren. Am liebsten hätte ich mir die Kapuze des Umhangs übergeworfen und tief ins Gesicht gezogen.

Aber das wäre meinem Begleiter wohl aufgefallen. Vor allem, weil Coles Blick noch immer auf mir lag und aus irgendeinem Grund sorgte das für ein seltsames Gefühl in mir.

Ich war nicht blind. Ich sah, wie attraktiv der Mann vor mir war. Und ich war auch kein Teenager mehr. Aber so schnell verliebte ich mich nicht und ›körperliche Genüsse‹ hatte ich mir abgewöhnt, als ich schmerzlich gelernt hatte, dass Lust für einen Vampir auch immer mit Durst einher ging. Das war kein Klischee, das war leider die bittere Wahrheit. Und dass Cole den menschlichen Teil in mir vom Puls her in einen Kolibri verwandelte, machte die Sache nicht leider nicht besser.

›Er hat keine bösen Gedanken, wenn dich das beruhigt.‹

Ich dachte, du kannst ihn nicht verstehen?

Ich sah zu Aby. Sie war sehr still gewesen.

›Nicht verstehen. Nein. Aber sagen wir: Ich kann die Farbe seiner Gedanken sehen. Seine Stimmung.‹

Meinst du, wir können ihn als Freund betrachten?

›Du musst ihm ja nicht gleich auf die Nase binden, was dir alles passiert ist und was du neben einer Hexe noch so bist.‹ Aby maunzte unschuldig.

»Na? Was meinst du? Hab ich bestanden? Akzeptiert mich Aby?«

Ich erstarrte. Wusste er von unserer telepathischen Verbindung? Konnte er sehen, dass Aby keine gewöhnliche Katze war? »Ahm. Was meinst du?«

»Naja. Sie beobachtet mich die ganze Zeit. Sieh dir das an, ich bekomme eine Gänsehaut von diesem Blick.« Er schob seinen Umhang zurück und zeigte mir seinen Unterarm. Einen ziemlich sportlichen Unterarm … Lass Dich nicht ablenken! Non, er ahnte nichts. Alle Katzen waren launisch und herablassend. Es war sicher eine ganz normale Frage. Ich musterte Aby, die mich mit verengten Augen anstarrte. In meinem Geist blieb es verdächtig still. Ich würde die Quittung für meine Kritik wohl später bekommen.

»Oui. Ich denke schon. Y-yes.«

»Seid ihr denn beide satt geworden?« Er streckte sich und ich konnte seine Arme noch besser begutachten. »Satt ist gar kein Ausdruck! Ich hab lange nicht mehr so viel gegessen.«

Er sah mich eine Weile schweigend an. Dann richtete er sich auf und reichte mir die Hand. »Dann sollte ich dich vielleicht häufiger zum Essen einladen.« Er zwinkerte mir zu, während ich mich an ihm hochzog. Als ich dann direkt vor ihm stand – nah vor ihm, sehr nah, zu nah –, konnte ich seinen Puls hören. Er räusperte sich leise und machte einen Schritt zurück. Sein Blick glitt über das Wasser und die Kaimauern. »Ich könnte euch noch etwas den Hafen zeigen, bevor die Sonne ganz verschwunden ist. Was meinst du?«

»Huch! « Ich wich erschrocken zurück, als über mir ein leises Zischen zu hören war und Funken auf mich hinabrieselten.

»Keine Panik, das ist nur die Straßenbeleuchtung.«

»Die was?« Zögernd hob ich den Blick. Ich hatte geglaubt, eine Allee am Hafen entlangzugehen, aber das waren offenbar keine Bäume, sondern Laternen.

»Das sind Lucerna. Also die Baumversion der Lucerna. Es gibt sie in allen möglichen Größen. Das sind Pflanzen, die tagsüber Energie sammeln und sie dann fluoreszierend abgeben, sobald es dunkel wird. So locken sie nachtaktive Insekten an und beleuchten nebenbei so ziemlich jeden öffentlichen Ort in Nafishur.«

»Also Baum und Laterne in einem.« Ich starrte in das hell erleuchtete Geäst. Was verursachte das Leuchten? Selbst die Rinde schimmerte, aber das Licht ging vor allem von den Blättern aus.

»Genau. Lampen mit Solarzellen und Dämmerungsschalter quasi.« Cole schritt auf einen der Lucerna-Bäume zu, dessen Äste besonders tief hingen und rieb über ein Blatt. Das verstärkte das Leuchten. »Sie blühen das ganze Jahr über, stoßen aber alle paar Tage ihr altes Blätterkleid ab, um es durch ein neues, wieder stärker leuchtendes zu ersetzen.« Während er sprach, zerfiel das Blatt, das er berührt hatte, in einen feinen, leuchtenden Staub und flog hinaus aufs Meer. Cole schüttelte am ganzen Ast und eine leuchtende Wolke löste sich vom Baum. »Diese Dinger werde ich in London wirklich vermissen.«

Ich wusste sofort, dass es mir genauso gehen würde, wenn ich in ein paar Jahren wieder von hier fortgehen würde. Und ich wusste in diesem Augenblick, dass auch mein Vater und Mamè diese Bäume vermisst haben mussten. »Du willst wieder zurück?«

»Irgendwann sicher.« Er sah aufs Meer hinaus und sah irgendwie traurig aus. »London ist mein Zuhause.« Etwas in seinem Blick machte mir klar, dass er inzwischen auch die Akademie oder zumindest dieses Feuerreich als sein Zuhause betrachtete.

Stille breitete sich zwischen uns aus.

Kurz darauf wehte ein kräftiger Wind durch die Licht-Allee und überall um uns herum wirbelten leuchtende Funken. Ich drehte mich zwischen den Bäumen im Kreis und versuchte, den schimmernden Staub einzufangen, aber er schien sich aufzulösen, bevor er meine Finger erreichte. Wie schön musste das vom Meer her aussehen, wenn man sich dem Land näherte und einem diese leuchtende Wolke entgegentrieb.

»Faszinierend, oder?« Cole stand wieder neben mir. In seinen Augen spiegelte sich das Funkeln der Bäume und die Begeisterung, die sie noch immer in ihm hervorriefen.

Ich nickte und beobachtete Aby dabei, wie sie noch immer versuchte, die sich auflösenden Blätter zu fangen.

»Das ist wirklich unglaublich«, flüsterte ich nach einer Weile. »Gibt es in Nafishur noch mehr solcher Wunder?«