Nafishur - Draco Adest Dariel - Mary Cronos - E-Book

Nafishur - Draco Adest Dariel E-Book

Mary Cronos

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Beschreibung

Eine Welt. Zwei Geschichten. Dariels Sicht. Was würdest Du tun, wenn Du kopfüber in einer anderen Welt landest? Einer Welt voller Magie, die anders ist als alles, was Du kennst? Hättest Du den Mut, ihre Vielfalt zu entdecken und ihre Wunder zu ergründen? Hättest Du das Zeug zu einem Wächter? Dariel kann selbst nicht begreifen, was ihn dazu gebracht hat, den fliegenden Brief über seinem Bett zu öffnen. Spätestens als er geblendet und durstig in einem goldenen Urwald wieder zu sich kommt, zweifelt er an der Richtigkeit seiner Entscheidung. Ein Vampir, der zum Wächter einer Feuermagieakademie wird, scheint eine wenig erstrebenswerte Karriere zu sein. Und doch hatte Ginga ihn nicht lange überreden müssen. Die Chance, seiner düsteren Welt zu entkommen und eine völlig neue zu entdecken, war zu reizvoll. Als sein Augenlicht endlich wieder zurückkehrt und er nach und nach Nafishur entdeckt, erkennt er, wie blind er sein ganzes Leben lang gewesen war - und dass es sich gelohnt hat, geblendet zu werden, wenn das der Preis dafür ist endlich zu sehen. Was würdest Du tun, wenn sich ein leuchtendes Portal vor Dir öffnet? Würdest Du hindurchgehen?

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AUS DER REIHE NAFISHUR BEREITS ERSCHIENEN:

Band I: Nafishur Praeludium – Dariel

Band I: Nafishur Praeludium – Cara

Band II: Nafishur Draco Adest – Dariel

Band II: Nafishur Draco Adest - Cara

WEITERE WERKE DER AUTORIN:

Houston Hall – Schatten der Vergangenheit

Du hast wirklich lange genug auf diesen Band gewartet. Deshalb fasse ich mich kurz. Ich freue mich riesig, Dich nun endlich mit Nachschub versorgen zu können. Und die lange Wartezeit kompensiere ich direkt, indem Du in diesem Jahr nicht nur Band II, sondern auch gleich noch Band III bekommen wirst. Warum? Tja. Die Geschichte von Band II ist ein kleines bisschen komplexer als geplant geworden und so musste ich sie teilen. Dieser und der Folgeband werden also eng miteinander verbunden sein.

Wie schon bei Nafishur Praeludium erwarten Dich auch bei Band II zwei unterschiedliche Ausgaben: Ein Buch aus der Sicht des Ex-Hunters Dariel Jean Seine und eines aus der Sicht der Feuer-Vampirin Cara Clow.

Und auch in diesem Band lade ich Dich natürlich dazu ein, die QR-Codes auszuprobieren. Dazu ist lediglich ein Smartphone oder Tablet nötig. Es gibt unzählige kostenlose Apps, die diese Codes durch simples Abfotografieren lesen können. Hinter jedem Code findest Du einen Link zu einem versteckten Teil meiner Website. Dort kannst Du zusätzliche Informationen, Grundrisse, Zusatzkapitel und vieles mehr entdecken. Das Beste: Die Inhalte der Links bleiben nicht beim Alten. Immer wieder gibt es Neues zu entdecken! Also probier es aus!

Wie schon bei den ersten Bänden werde ich meine Danksagungen direkt in den ersten QR-Code stecken, damit Du üben kannst und ich mich nicht kurzfassen muss.

Und nun: Viel Spaß in Nafishur!

Ich widme Dariels Version von Band II Christian, meinem Schützling, den ich zu seiner ersten Buchveröffentlichung begleiten wollte und der meines Schutzes nun nicht mehr bedarf.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XII

Die Sonne schien mir warm ins Gesicht. Das wusste ich. Und doch war die Kälte, die durch meinen Körper kroch, beinah unerträglich. Es war, als wäre sie in mein Herz gepflanzt, als würde jeder weitere Herzschlag sie nur noch weiter durch meine Venen jagen. Dagegen verblasste die Wärme der Sonne – so wie auch ihr blaues, sonst so strahlendes Licht nicht zu meinen Augen vordrang. Ich blinzelte; war mir sicher, die Augen offen zu haben; doch was ich sah, war nichts als dunkelste Nacht – ohne Monde, ohne auch nur einen einzigen Stern.

Es fühlte sich alles so falsch an. Als existierte die Welt, die ich zu kennen glaubte, nicht länger. Da war dieses Licht gewesen und dieser Garten, dieser wunderschöne Garten. Er hatte mich an die mediterranen Gärten in Florenz erinnert. Das Licht hatte regelrecht grün gewirkt durch all die exotischen Pflanzen. Das Paradies. Das war der erste Gedanke, der mich erfasst hatte, als das Licht meinen Blick langsam freigegeben und all das Grün enthüllt hatte. Wenn es einen Garten Eden in dieser Welt gab, so konnte er nirgendwo anders sein als hier.

Doch dieser Anblick war mir nicht lange vergönnt gewesen. Kaum hatten sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt, hatte es auch schon begonnen. Ein Schauer hatte mich ergriffen und ohne, dass ich sagen konnte, woher sie gekommen war, hatte mich eine Macht erfüllt, die dunkler kaum sein konnte. Es war, als würden meine Sinne nur noch die Kälte und die Dunkelheit erkennen. Im Sekundentakt war es schlimmer geworden.

Was blieb von einem Nafish, wenn alles verschwand, was ihn äußerlich ausmachte, wenn nichts mehr da war außer seinem Geist und Denken?

Das alles war nun vielleicht fünf Minuten her. Ich wusste nicht, ob ich noch aufrecht stand oder kniete oder vielleicht sogar am Boden lag. Ich wusste nur, wie hilflos ich mich fühlte. Ich war immer stolz auf meine

Fähigkeiten gewesen, auf alles, was ich von ihm gelernt hatte. Und doch war es nicht genug. Vielleicht hatte ich wirklich das Paradies geschaut und nun musste ich gehen – durfte das Geheimnis nicht teilen. Doch wenn ich gerade im Paradies war, warum fühlte sich das Sterben dann wie eine eisige Hölle an?

Ich fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Das grelle weiße Nichts vor mir nahm kein Ende. Warum nur hatte ich zugestimmt? Was hatte mich da geritten? Ginga hatte doch eigentlich auch nicht gewollt. Warum fielen wir dann jetzt beide durch dieses verdammte Port-Ding? Dieser Blindflug war die reinste Folter! Es hatte mir schon nicht gefallen, in Paris immer wieder die Luft anhalten zu müssen und so meinen Geruchssinn einzubüßen. Aber das hier war noch viel schlimmer. Meine Wahrnehmung war fast vollständig auf meinen Tastsinn zusammengeschrumpft. Ich hielt die Augen weit aufgerissen, aber da war nichts. Dieses verfluchte Weiß um uns herum verschlang alles!

Ich hörte auch nichts – außer den leisen Herzschlägen meiner Begleiter und das Pfeifen vom Wind, der um uns wirbelte. Ein merkwürdiger Wind – weder kalt noch warm –, der mir abwechselnd meine schwarzen ›Zotteln‹ und Gingas rote Mähne ins Gesicht peitschte. Sie umklammerte mich so fest, dass ich froh war, nicht mehr atmen zu müssen. Arts Krallen vergruben sich in meiner linken Schulter. Die Spuren würden selbst bei meiner neuen, vampirischen Haut sicher noch Stunden zu sehen sein. Die beiden hatten darauf bestanden, sich an mir festzuhalten und nicht an unserem ›Reiseführer‹.

Er war irgendwann, als wir begriffen hatten, dass wir beide so einen schwebenden Brief erhalten hatten, vor der Villa aufgetaucht. Ich traute ihm nicht und Ginga Gott sei Dank auch nicht. Aber er war von Magnus gesandt worden. Unserem ›bescheidenen Helfer in Fragen der Magie‹. Und Ginga behandelte diesen Magnus beinah wie einen König. Dieses kriecherische Verhalten passte nicht zu ihr. Das hatte mich noch misstrauischer gemacht. Vor allem, wenn sie deshalb auch seine Handlanger hofierte.

Der große Zauberer mit seinem Feuer-Hokuspokus hatte sich ja nicht einmal dazu herabgelassen, uns persönlich zu holen. Vielmehr hatte er jemanden geschickt, den ich dank seiner enormen Blässe beinah für einen Vampir gehalten hätte – wäre da nicht der feste, lebendige Herzschlag in seiner Brust gewesen.

Der Fremde hatte sich uns – nach einer anfänglich recht … schlagkräftigen Argumentation – als Sherko vorgestellt. Er sei ein Wächter des Fürsten, eine Palastwache, ein Wanderer. Was auch immer er uns damit sagen wollte.

Mich hatte diese Vorstellung nur wenig beeindruckt. Ginga hingegen schon. Ihre Augen waren immer größer geworden. Vor allem, als er sich einen ›Wanderer‹ nannte. Anscheinend gab es hier drüben in Nafishur Leute, die direkt für dieses Welten-Hopping ausgebildet wurden.

Er hatte sich wirklich bemüht, unsere – gut, primär meine – Fragen zu beantworten. Er hatte tatsächlich hart daran gearbeitet, mein Misstrauen abzubauen. Aber jetzt, in diesem Lichtstrudel, hatte ich das dringende Gefühl, im zu früh vertraut und nicht genug Fragen gestellt zu haben. Vor allem drei Fragen ließen mich nicht los:

Warum hatte ich diesen verdammten Brief ergriffen und geöffnet? Warum hatte ich diesen merkwürdigen Fremden letztlich gewähren lassen? Und warum verdammt noch mal hatte ich nichts aus meiner Erfahrung mit dem letzten schwebenden Brief gelernt?

So etwas wie ›schwebende Briefe bringen nichts als Unheil‹ oder ›Finger weg von schwebenden Briefen‹. Diesmal flog ich vielleicht nicht durchs Wohnzimmer, aber dafür fiel ich geradewegs in eine andere Welt.

Sherko hatte gesagt, ich solle die Augen geschlossen halten. Aber dafür hatte mein Vertrauen nicht gereicht.

Jetzt tränten meine Augen vor Licht und Wind. Irgendwann konnte ich den Reflex zu blinzeln nicht länger unterdrücken. Ironischerweise schien mein Blinzeln nichts zu verändern. Das Licht dieses als musste mich inzwischen so geblendet haben, dass es keinen Unterschied mehr machte, ob ich die Augen offen hielt oder geschlossen. Mein rechter Arm drückte automatisch Ginga noch etwas fester an mich, während meine linke Hand Art zusätzlich sicherte. Dann presste ich meine Augen so fest wie möglich zusammen, in der Hoffnung, dass es um mich herum wenigstens ein bisschen dunkler werden würde.

Es wurde dunkler.

Das verriet mir zumindest mein übersensibler Tastsinn.

Aber meine Augen waren genauso geblendet wie zuvor.

Trotzdem.

Irgendetwas hatte sich verändert.

»Vorsicht!«, schrie Sherko neben mir gegen den Wind, der just lauter wurde. Seine Hand lag auf meiner freien Schulter. Schon den ganzen ›Flug‹ über. Bis jetzt hatte ich das verdrängen können. Doch nun, als seine Stimme diese merkwürdige Stille durchbrach, bemerkte ich ihn.

Ich versuchte gerade, meine anderen Sinne vorsichtig wieder in Betrieb zu nehmen, als ich plötzlich Boden unter meinen Füßen spürte, stolperte und mit meinem lebenden Gepäck im Arm auf meinem Rücken landete.

»Merde!«

»Ich denke nicht, dass der Sturz zu irgendwelchen Verletzungen geführt hat. Ich hätte Euch ja aufgefangen; aber irgendetwas sagt mir, dass euch Dreien das noch unangenehmer gewesen wäre als ein Sturz auf den Allerwertesten.«

Ich war einfach auf dem Boden liegengeblieben, versuchte Sherkos Kommentar auszublenden und rieb mir die Augen. Der Wind des Ports hatte eine Art Tinnitus hinterlassen, der nun alle anderen Stimmen und Geräusche unangenehm überlagerte. Um ihn loszuwerden, war mir jedes andere Geräusch recht.

Während Art seine Krallen bereits aus meiner Schulter befreit hatte und ungefähr einen halben Meter neben meinem Kopf über den Boden tapste – dem Klang nach reichlich unkoordiniert –, hing Ginga noch immer so an mir wie während unseres Flugs.

Was für ein Ritt. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich so eine Reise so schnell nicht noch einmal erleben wollte. Was ich hingegen wollte, waren meine Sinne. Alle. Mein Tastsinn vermittelte mir das Bild einer Wiese, auf der wir lagen. Aber was war mit dem Rest und was war, wenn mich mein einer verbliebener Sinn täuschte? Das hier war voraussichtlich Nafishur. Eine fremde Welt. Würde sich eine Wiese hier genauso anfühlen wie auf der Erde?

»Macht Euch keine Gedanken, Dariel Jean Seine. Der Ort ist sicher und ich wache über Euch, bis Eure Sinne zurückgekehrt sind. Das ist als Wächter schließlich meine Aufgabe.«

Das beruhigte mich nur bedingt. Aber für den Moment musste es wohl reichen. Noch immer sah ich nichts als Weiß. So war ich regelrecht hilflos. Seit ich kein Mensch mehr war, hatte ich mich nicht mehr so gefühlt. Genaugenommen seit der Nacht, in der mich Ginga zu ihrem ›Zögling‹ gemacht hatte.

Oh!

Doch!

Als ich von Magnus Bruder aus meinem eigenen Bruder verbannt worden war.

›Nun hör schon auf, dich selbst zu bemitleiden. Reiß dich lieber zusammen und versuch’s mit deinen verbliebenen Sinnen‹, hallte Artemis Stimme mit deutlich gereiztem Unterton durch meinen Geist. ›Ich will nicht länger als nötig auf diesen wandernden Wächter angewiesen sein.‹ Diesen Wunsch konnte ich verstehen. Ich auch nicht. ›Dann tu was dagegen! Wenn mich nicht alles täuscht, kommt da hinten dein Lieblingszauberer. Der feurige mit den schwarzen Löckchen.‹ Damit meinte er dann wohl Magnus. Kein Zauberer. Druide an der Akademie, an die unsere liebe Freundin Cara vor kaum mehr als einem Tag verschwunden war.

Oder war das inzwischen länger her? Wie lange hatte diese Reise gedauert? Es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Also schön. Welchen Sinn konnte ich versuchen zu reaktivieren? Den Geruch wollte ich mir bis zum Schluss aufsparen. Ich wusste nicht, was und wen es hier in der Nähe gab und ich wollte auf keinen Fall blindlings irgendwelche Bewohner dieser Welt angreifen. Also das Gehör. Ich konzentrierte mich wieder, um das monotone Rauschen zu vertreiben, das sich noch immer stur in meiner Wahrnehmung hielt. Langsam, unendlich langsam, verschwand es und machte Platz für die große Vielfalt anderer Geräusche, die ich seit kurzer Zeit gewohnt war zu hören. Zuerst war da Sherkos gleichmäßiger, fester Herzschlag; dann auch der noch etwas zu hohe Puls von Art. In einiger Entfernung konnte ich noch weitere Herzen hören – kleine und große, schnelle und schwerfällige. Ich fragte mich, zu was für Wesen sie wohl gehörten. Ein Herzschlag stich heraus. Weil er näherkam und weil ich ihn bereits gehört hatte: Magnus. Das weiße Fellknäul hatte recht.

Er hatte sich also doch noch dazu durchringen können, uns entgegenzukommen. Und je näher er kam, desto deutlicher hörte ich Sherkos Herz neben mir schlagen. Desto heftiger und desto schneller. Das war in meinem jetzigen Zustand die reinste Einladung. Mit aller mir zur Verfügung stehenden Selbstbeherrschung drängte ich mein Gehör in eine andere Richtung.

Da war ein Rauschen jenseits von dem des Windes. Erst hielt ich es für Wasser, aber inzwischen war ich mir nicht mehr sicher, ob es nicht vielleicht auch das Laub von Bäumen sein konnte. Ab und an hörte ich Laute, die auf der Erde zu Vögeln gehört hätten. Außerdem lag eine Art leises Surren in der Luft, aber es gelang mir beim besten Willen nicht, dieses Geräusch einzuordnen.

Ich brauchte dringend mehr Sinne!

Und mehr Kontrolle.

»Custos Viator Aevitas! Sherko! Du hast unsere Gäste wohlbehalten hergebracht. Ich war besorgt, ob dich meine Nachricht erreicht hat.« Das war Magnus Stimme. Inzwischen stand er vor uns.

»Selbstverständlich. Es gab keine Probleme.«

Keine Probleme.

Optimist.

Sein Gesicht musste noch immer das Veilchen zieren, das ich auf seinem rechten Auge platziert hatte. Und ich fühlte mich gerade alles andere als ›wohlbehalten‹.

»Das freut mich zu hören. Doch es ist spät und wir haben noch viel vor. Wir sollten uns beeilen.«

Wir hatten es eilig? Wo wollten wir denn hin? Und wie spät war es? War es Tag oder Nacht? Es war relativ mild, aber das musste ja nichts heißen. Der Boden fühlte sich trocken an … bis auf das Gras. Ich zerrieb einen Halm zwischen meinen Fingern, aber das brachte mir auch keine neuen Erkenntnisse. Dafür hätte ich schon daran riechen oder davon kosten müssen. Beides war noch keine Option.

›Ich denke, ich könnte euch beiden helfen, eure Augen wieder zu regenerieren. Wir haben leider nicht viel Zeit. Aber ihr müsstet mir dafür genug vertrauen, um etwas zu trinken, dass ich euch gebe‹, hallte Magnus Stimme wieder durch meinen Kopf. Sein Angebot war offenbar nicht für Sherkos Ohren bestimmt.

Wie ermutigend.

Alles in mir verkrampfte sich. Ich wollte und musste dringend wieder sehen. Aber etwas von ihm trinken? Ohne zu wissen, was es war? Ich konnte spüren, dass auch Ginga nicht begeistert war. Sie schob ihre jetzt eiskalten Hände unter mein Shirt und drückte sich noch fester an mich. Im Normalfall hätte ich das wohl kaum zugelassen, aber jetzt? Ich spürte ihre Angst vor Magnus und dieser ganzen Welt. Sie verband sich mit meiner eigenen Angst und machte das Ganze noch schlimmer. Am beunruhigendsten war die Tatsache, dass sie noch kein Wort gesprochen hatte, seit wir in dieses Port-Ding aus Licht getreten waren.

›Dafür denkt sie sehr laut. Aber das wirre Zeug willst du nicht hören, glaub mir.‹ Ich hörte, wie Artemis begann, sein Fell zu putzen. Mehr Informationen konnte ich mir wohl nicht erhoffen.

»Also? Darf ich euch helfen?« Oho! Nun sprach er also doch laut. Nun gut. ›Laut‹ wäre übertrieben. Magnus flüsterte.

Ich blinzelte schnell und fest. Immer wieder. Aber es half nichts. Das Weiß verschwand einfach nicht. Wir hatten doch eigentlich große Selbstheilungskräfte. Wieso erholten sich unsere Augen dann nicht?

»Ich nehme an, eure Augen regenerieren sich nicht richtig, weil sie – in Anbetracht des Lichts im Port – eure größte Schwäche sind. Es war zu hell. Darf ich?« Ich zuckte zusammen, als ich merkte, wie Magnus neben mir niederkniete. Sein komisches Gewand – was es auch immer diesmal sein würde – raschelte direkt neben meinem Ohr. Am liebsten hätte ich mich weggerollt. Oder besser noch: wäre weggerannt. Aber welche Chance hätte ich? ›Keine große. Tut mir leid. Und das läge nicht an mir. Xamax wird gut bewacht und ohne meine Begleitung würdet ihr hier wohl als gefährliche Eindringlinge angesehen werden‹

Na, welch rosige Aussichten.

»Erschrick nicht. Ich will mir deine Augen ansehen. Bitte öffne sie.«

Meine Augen waren nicht offen?

»Warte, ich helfe dir.« Noch bevor ich mich aufhalten konnte, packte meine Hand Magnus Handgelenk und ein tiefes Grollen kam aus meiner Kehle. Seine Hand schwebte – von mir gehalten – direkt über meinem Gesicht. Mein Gehör nahm das Klirren einer Klinge wahr, die aus ihrer Scheide gezogen wurde, und kurz darauf spürte ich einen Luftzug und dann ein kühles Metall an meiner Kehle. »Schon gut, Sherko. Das ist nicht nötig.« Das kühle Metall verschwand. »Dariel. Sei so gut und lass mich los.«

Warum fühlte ich mich in seiner Gegenwart immer wie ein dummes Tier, das er versuchte zu dressieren? Aber immerhin merkte ich, dass ich doch nicht so wehrlos war. Zumindest das war ja schon mal beruhigend. Ich konzentrierte mich auf meine Hand und lockerte sie langsam wieder. Das Grollen jedoch konnte ich nicht abstellen. Es war zu instinktiv. Es kostete mich viel Konzentration, Magnus nicht anzugreifen, während ich seine warmen Finger auf meinen Lidern spürte. Dass er nichts mehr sagte, beruhigte mich nicht gerade.

›Er sieht auch nicht sehr glücklich aus‹, kommentierte Artemis.

»Also gut. Ginga? Darf ich auch einen kurzen Blick auf dich werfen?«

Ich zuckte zusammen, als sich Ginga nochmal fester in meine Seite krallte. Diese Frau hatte deutlich zu viel Kraft, um Angst zu haben. Ich merkte, wie sie sich dann aber auf mir bewegte und ihren Kopf drehte. Offenbar hatte sie entschieden, dass Magnus uns zumindest in diesem Moment wirklich helfen wollte.

»Gingas Schäden sind nicht so drastisch. Wahrscheinlich kann sie sich als gebürtige Nafish besser gegen das Licht des Ports wehren. Außerdem hat sie ihre Augen bestmöglich geschützt. Aber ihr könnt beide eine Stärkung gebrauchen …«

›Wow. Euer Gott konnte doch aus Wasser Wein machen, oder?

Dieser Zauberer hier kann ihn aus dem Nichts holen.‹

Wein?

Das war doch nicht etwa …

»Bitte trinkt das. Ich hoffe, die Menge ist nicht zu viel für euch.

Trinkt langsam und wenn ihr merkt, dass es zu viel ist, dann hört auf.« Mit diesen wenig ermutigenden Worten spürte ich etwas Kühles in meiner Hand. Es hatte die Form und Größe eines Schnapsglases. Als sich Ginga etwas aufrichtete und sich nur noch mit einer Hand auf meinem Bauch abstützte – sicher hatte er ihr ebenfalls ein Glas gegeben –, richtete auch ich mich ein Stück auf.

Sherko zog neben mir geräuschvoll die Luft ein. Ob er sich gerade fragte, was uns Magnus da kredenzte? Alkohol oder Blut? Großartige Optionen. Aber meine Reaktion auf seinen Chef eben ließ da wohl keinen Spielraum. Das Knurren, die übermenschlich schnellen Reflexe … Dieser Wander-Wächter machte nicht den Eindruck, auf den Kopf gefallen zu sein. Er wusste spätestens jetzt, was ich war. Wenn ihm dazu nicht schon unser ›Kennenlernen‹ in Paris gereicht hatte.

Ich drehte das kleine Glas in meiner Hand. Ein Schnapsglas. Wie viel Blut konnte da schon drin sein? Das war doch sicher eher zu wenig als zu viel.

Je näher ich es an meine Lippen brachte, desto mehr konnte ich das Blut wahrnehmen. Obwohl ich nicht atmete, schmeckte oder sah, erspürte ich es doch mit jeder Faser meines Körpers. Ich wusste, dass es köstlich sein würde. Keine Sekunde nach dieser Erkenntnis kratzten auch schon meine Fänge über meine Lippen. Mein Appetit verdoppelte sich schlagartig. Dann konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Die Zweifel waren verschwunden und ich exte mit einem Zug das kleine Glas.

***

Die nächsten Minuten waren unbeschreiblich. Ich glaubte, aus vollem Hals zu schreien, aber ich hörte mich nicht. Ich hörte nur das Blut durch meine Adern rauschen. Es jagte durch meine Venen, wie Sportwagen über die Piste. Ich spürte es unter meiner Haut, in meinem Kopf … einfach überall. Eine Hitze, wie ich sie seit meiner Verwandlung nicht mehr gefühlt hatte, überrollte mich. Ich riss an meinem Shirt, an meinem Haar, hatte das Gefühl, schrecklich zu schwitzen, zu verbrennen. Ich wollte mich abkühlen. So dringend. Und dann sog ich die Luft ein. Ich konnte nicht anders.

Eine neue Welle überrollte mich. Eine Welle des Duftes. Aber ich konnte nichts von all dem zuordnen. Da war so viel. Zu viel. Vielleicht Tiere, vielleicht Pflanzen … Mein Geist war vollkommen überfordert – bis ich aus all den Gerüchen den von Ginga herausfiltern konnte. Ich hielt mich an diesem einen exotischen und doch vertrauten Duft fest, um nicht davongerissen zu werden. Das funktionierte auch ganz gut – zumindest nach einer Weile.

Ich dachte, ich hätte mich wieder gefasst. Aber in diesem Moment erreichte das Blut meine Augen. Ich spürte es und ich sah es. Denn plötzlich verschwand das schreckliche Weiß. Es wurde erst scheckig und dunkler, dann war es plötzlich völlig dunkel vor mir. Kurz wallte die Angst in mir auf, dass nun alles schwarz war, was zuvor weiß gewesen war. Aber dann begriff ich, dass ich meine Augen schlicht geschlossen hielt und öffnete sie langsam.

Ginga musste beinah synchron das gleiche erlebt haben, denn wir starrten einander gegenseitig in die Augen. Ihre leuchtend grüne Iris war das erste, das ich von Nafishur zu sehen bekam.

Ich merkte, wie fest ich sie hielt, wie nah sie mir war, wie stark wir beide atmeten. Ich denke, es dauerte noch ein paar Minuten, bis wir uns wieder ganz und gar im Griff hatten. Dann erst drehte ich langsam meinen Kopf, um Nafishur zu sehen.

Ich sah nicht viel. Wir lagen auf einer kleinen Lichtung in Mitten eines Waldes. Die Lichtung war so klein und die Bäume so hoch, dass ihre mächtigen Kronen den Himmel fast vollständig verdeckten. Das machte unseren Ankunftsort angenehm schattig. Den Farben des Laubs nach war in Nafishur Herbst. Der Wald und die Lichtung waren in goldenes und rotes Licht getaucht. Vielleicht war es deshalb hier so viel angenehmer als im sommerlich-stickigen Paris. Aber andererseits … gab es hier überhaupt sowas wie Sommer und Herbst?

Das Rauschen kam tatsächlich vom Blätterdach über uns. Jetzt, da meine Ohren wieder korrekt funktionierten, hörte ich auch, wie weit das Rauschen fortgetragen wurde. Der Wald musste riesig sein – so riesig wie seine Bäume. Ich kam mir plötzlich schrecklich klein und unbedeutend vor.

Automatisch stand ich auf – mit Ginga im Schlepptau –, um mich nicht mehr ganz so klein zu fühlen. Es half nur bedingt. Die Giganten um mich herum ließen mich noch immer glauben, dass ich während meiner Port-Reise geschrumpft war. Aber wenigstens hielt ich mich jetzt etwas besser für das gewappnet, was kommen würde – was auch immer das war.

Das Prickeln in meinem Nacken, das mir zuverlässig verriet, dass ich beobachtet wurde, verschwand allerdings nicht. Wahrscheinlich verdankte ich das Sherko. Vielleicht aber auch einigen seiner Kollegen. Diese Insel war den vereinzelten, leisen Herzschlägen nach alles andere als unbewohnt.

Ich nutzte meine wieder voll funktionsfähigen Augen, um meine Umgebung abzusuchen, konnte allerdings niemanden außer uns ausmachen. Sherko hielt noch immer sein Kurzschwert in der Rechten, dessen Klinge ich gerade eben an meinem Hals gespürt hatte. Merkwürdig. Während unserer Reise hatte ich kein Schwert bei ihm gesehen. Und ich war mir sicher, dass es nicht nur mir aufgefallen wäre, wenn er mit einem Schwert durch Paris spaziert wäre.

Sein Blick war starr auf mich gerichtet. Ginga und Art hielt er offenbar für weniger gefährlich. Ich unterdrückte den Wunsch, diesem Wächter zu zeigen, weshalb seine Sorge absolut begründet war.

Als mein Blick auf Magnus fiel, trat er auf uns zu. Er hatte ein paar Meter Abstand zu uns gehalten. Seltsam. Das letzte Mal, das ich auf ihn geachtet hatte, hatte er noch neben mir gekniet. Wie viel Zeit wohl vergangen war, nachdem wir getrunken hatten …

»Beinah eine halbe Stunde«, antwortete mir Magnus einmal mehr ungefragt. »Deshalb müssen wir uns nun auch etwas beeilen.« Ich war noch nicht bereit. Stattdessen starrte ich Magnus an. Was für einen weltfremden Quatsch trug er denn diesmal? In diesem weißen Teil, das außer ein paar dunkelroten Linien und Symbolen keinerlei Farbe enthielt, sah er aus wie eine Mischung aus Mönch und Engel. »Es tut mir leid, dass ich euch so drängen muss.« Aber egal wie harmlos und freundlich er aussah: Deshalb würde ich ihm noch lange nicht vertrauen. »Aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit und ich würde mich wohler fühlen, wenn ihr euren neuen Aufgaben an der Akademie möglichst bald nachkommen könntet.«

Ja, unsere neuen Aufgaben. Was das allerdings genau war, hatte uns niemand gesagt. Wächter. Was sollte das sein? Waren wir dann sowas wie Sherko? Brauchte diese Akademie voller Nafish, die mit Feuer um sich werfen konnten, tatsächlich ein eigenes Wachpersonal? Wovor konnten wir denn schon Feuerdruiden schützen?

›Meiner Meinung nach müsste man eher den Rest der Welt vor diesen Feuerhexern schützen‹, murrte Artemis in meinem Kopf.

»Könnten wir uns bitte auf ausgesprochene Gespräche konzentrieren? Hört auf, in meinem Kopf herumzuwühlen!« Ich rieb mir die Schläfen und begann dann einfach loszulaufen. Meine Sinne waren zurück. Ich wollte wissen, was uns erwartete und all das möglichst schnell hinter uns bringen.

»Warte!«

»Warum sollte ich? Ich denke, wir haben es eilig?«, rief ich Magnus über die Schulter zu und verließ die Lichtung. Es wurde noch etwas dunkler um mich herum – nicht, dass meine Augen das störte. Ich genoss die Dunkelheit. Und ich genoss es, zu atmen. Es roch nach feuchter Erde und Laub. Fast wie auf der Erde. Nur hatte dieser Wald eine merkwürdig würzige Note. Ich lehnte mich zu einem der Bäume hinüber und roch an der Rinde. Richtig. Es waren die Bäume, die diesen seltsamen Duft verströmten. Sie rochen beinah schon lecker. Aber für mich roch eigentlich nichts mehr ›lecker‹, nichts außer Blut. Irritiert lief ich weiter.

Ich musste vorsichtig sein. Die Wurzeln der Bäume waren ebenso imposant wie der Rest von ihnen. Eine besonders große Wurzel hielt ich anfangs sogar für einen umgestürzten Baum. Dann sah ich, wie sich seine vermeintliche Krone einige Meter weiter tief ins Erdreich bohrte. Rasch tauchte ich unter der Wurzel hindurch und stieß auf einen kleinen Bach. Ich hatte ihn nicht wahrgenommen, bis ich beinah hineingetreten wäre. Sein leises Plätschern ging im Rauschen der Blätter unter und Farne und hohes Gras verdeckten ihn an einigen Stellen fast vollständig.

Ohne groß darüber nachzudenken, kniete ich mich nieder und schöpfte etwas Wasser aus dem Bach, um mich abzukühlen. Nach dem Blut war mir so schrecklich heiß gewesen. Das kühle, klare Wasser war um so angenehmer auf der Haut.

Als ich mich wieder aufrichten wollte, merkte ich, dass das nicht mehr so ohne weiteres ging. Ich spürte einen Widerstand an meinen Füßen und Beinen, dann sah ich an mir hinab.

»Was zum Geier ist DAS?!« Ich keuchte erschrocken auf und zerrte an irgendwelchen Ranken, die sich nach und nach um mich wickelten. Je schneller ich mich bewegte, desto fester zogen sie sich um meine Beine und im Nu lag ich am Boden.

Das war der richtige Moment, um in Panik zu geraten. Ich sah mich hektisch um und realisierte erst jetzt, dass keiner meiner Gefährten bei mir war. Wieso war mir das zuvor noch nicht aufgefallen? Mein Atem beschleunigte sich unsinnig menschlich, als eine weitere Ranke begann, auch meinen Oberkörper zu umwickeln. Das waren doch nur ein paar verdammte Pflanzen! Als Vampir war ich alles andere als schwach! Warum konnte ich mich nicht losreißen?!

Als ich begriff, dass mir nichts Anderes übrigblieb, als um Hilfe zu schreien, knebelte mich dieses Mistding bevor auch nur ein Laut meine Lippen verließ. Es schmeckte widerlich bitter und seine Oberfläche schien mit winzigen Stacheln bedeckt zu sein. Ich merkte, wie mein Gesicht taub wurde, da wo die Ranke meine Haut berührte. Verzweifelt versuchte ich, meinen Knebel durchzubeißen. Wenn das so weiterging, würde ich Nafishur keine 24 Stunden überleben. Ich stolperte von einem Moment der Hilflosigkeit in den nächsten.

›MAGNUS! Verdammt noch mal! HILF MIR!‹

Ich konnte nur hoffen, dass er mich hörte. Sonst hatte er seine inneren Ohren doch auch überall! ›Komm schon … Jetzt kannst du mir beweisen, dass du es gut mit uns meinst.‹

Hätte ich atmen müssen, dann wäre langsam mein Ende erreicht. Ich hielt die Luft an und versuchte mich auch sonst, nur noch möglichst wenig zu bewegen. Vielleicht würde mich das Ding dann für tot halten und von mir ablassen. Aber andererseits … mein fehlender Puls störte es ja auch nicht.

Weit entfernte Rufe hallten durch meinen Kopf. Man suchte nach mir. Das war etwas Gutes. Gemeinsam würden wir es mit dieser Ranke schon aufnehmen können. Die scharfe Klinge von Sherkos Schwert würde dabei ausgesprochen nützlich sein. Vorausgesetzt, er unterschied zwischen der Pflanze und mir.

»Dariel!« Das war Ginga!

Wie zur Bestätigung wirbelte plötzlich ein roter Haarschopf vor mir herum. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Brauen zogen sich so sehr zusammen, dass sich eine kleine Falte zwischen ihnen bildete. Ich spürte ihre Sorge durch unser Band. Aber sie sprach endlich! Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihre Stimme so vermissen könnte …

»Komm zu dir, Dariel!« Sie strich über meine Wangen und litt deutlich unter meinem Anblick. Sie sollte mich nicht so ansehen! Ich zog und zerrte wieder an meinen Fesseln. Wenigstens schienen ihr die komischen Ranken nicht wehzutun. Trotzdem wollte ich, dass sie vorsichtig war. Aber der verdammte Knebel hinderte mich am Reden und Gingas Blick lag inzwischen nicht mehr auf mir. Sie sah sich suchend um. »Wir müssen ihm helfen!«

›… riel …‹ Irgendwas hallte durch meinen Kopf, aber ich konnte die Stimme nicht verstehen. Wie ein gestörter Radiosender … Ich empfing nur einzelne Silben. ›… annst … ören …‹ Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mich auf die ferne Stimme zu konzentrieren, aber sie entglitt mir immer wieder.

»Magnus Magister, der Bach! Ist es möglich, dass darin Auraelum schwimmt?« Das war Sherkos Stimme. Plötzlich verschwand Ginga aus meinem Blickfeld. Sofort nutzten die Ranken ihre Chance und schlangen sich noch fester um mich. Panisch wartete ich auf das knackende Geräusch, wenn meine ersten Knochen brechen würden.

»Ich halte ihn fest, reibt ihr seine Hände und sein Gesicht mit Auris Remedica ein. Da vorn wächst ein wenig davon! Passt nur auf, dass ihr das Wasser nicht auch berührt.« Das war Magnus Stimme. Auris was? Was hatten die beiden vor? Würden sie mir helfen? Konnten sie das? Was war dieses Auris Irgendwas? »Dariel, konzentriere dich auf meine Stimme und meine Hände, hörst du?«, murmelte Magnus dicht an meinem Ohr und legte seine Hände dann an mein Gesicht. Er musste hinter mir knien, denn ich konnte ihn nicht sehen.

Dann wollte ich es auch gar nicht mehr. Ich schrie in meinen Knebel, als meine Hände und Wangen plötzlich wie Feuer brannten. Ich versuchte mich loszureißen, aber mein Körper bewegte sich keinen Millimeter. Ich wusste nicht, was mich jetzt mehr festhielt: die Ranken oder Magnus.

»Du hast es gleich überstanden Dariel. Ich weiß ja, dass das unangenehm ist, aber es–« Weiter kam er nicht bevor ich aus Leibes-kräften schrie und ihn übertönte.

Moment. Ich konnte wieder schreien?

Ich atmete unnötig schnell, weil ich es endlich wieder konnte, sog den Duft von Ginga ein.

›Dariel, kannst du mich jetzt hören?‹

Zögernd nickte ich und wagte es, Stück für Stück an mir hinunterzublicken. Ich kauerte neben dem Bach. An meinen Schuhen züngelten einige dünne Gräser, aber von der riesigen Ranke war nichts mehr zu sehen.

»Was zum Geier war das?«, krächzte ich heiser. Hinter mir hörte ich Magnus erleichtert seufzen. Er ließ mich los, aber bevor er mir hätte antworten können, fiel mir Ginga auch schon um den Hals.

»Er ist wieder zurück!« Nach der Erfahrung mit dieser verrückten Schlingpflanze, empfand ich Gingas Schlingattacke als angenehm harmlos. Ich strich kurz über ihren Rücken, bevor ich sie wieder etwas von mir schob.

»Merci«, murmelte ich betreten. Dann drehte ich mich zu Magnus um und hoffte auf eine Antwort auf meine Frage.

»Du standest unter Drogeneinfluss. Etwas Stromaufwärts wächst ein Auraelumbusch. Er wird auch Goldregen genannt. Sein goldgelber Blütenstaub enthält ein sehr starkes Halluzinogen, das du mit dem Wasser auf deine Haut gestrichen hast. Es hat deinen Geist vollständig blockiert. Deshalb konnte ich dich auch nicht gleich finden.«

Halluzinationen? Wie war es möglich, mir das alles nur eingebildet zu haben? Die Ranken … das alles war so ungemein real gewesen …

Ginga strich mir – noch immer mit diesem scheußlich mitleidigen Blick – meine Haare aus dem Gesicht. »Man sieht fürchterliche Dinge. Manch einer hat daran schon seinen Verstand verloren.« Ihre Hand hielt an meiner Wange inne. »Was … was hast du gesehen?« Diese Frage schien sie sichtlich zu beschäftigen. Warum? Wenn man so schreckliche Dinge sah, wäre es dann nicht besser, sie schnellstmöglich zu vergessen anstatt daran erinnert zu werden? Ich konnte diese elendigen Ranken – Halluzinationen hin oder her – immer noch auf meiner Haut spüren und auf der Zunge schmecken.

›Ich misch mich ja nur ungern ein, aber heute mach ich mal ne Ausnahme: Sie fragt sich, ob du vor ihr solche Angst hattest; ob du die kleine, kratzbürstige Vampirin gesehen hast. Ich seh dein von Schock erstarrtes Gesicht vor mir wie sie eben. Das hat sich ihr wohl eingebrannt … Steht dir, wenn du mich fragst.‹

Ach so … »Mich hat eine riesige Schlingpflanze von den Füßen gerissen und nach und nach umwickelt und geknebelt. Wäre ich noch ein Mensch, wäre ich an ihr erstickt. Also … zumindest hätte ich geglaubt an ihr zu ersticken.«

Sherko keuchte erschrocken. Gut. Nun konnte er sich endgültig sicher sein. Doch das war mir gerade egal. Im Fokus meiner Aufmerksamkeit stand jetzt meine ›Schöpferin‹.

Ginga nickte betreten. Ich konnte ihr die Erleichterung deutlich ansehen. Hatte sie wirklich geglaubt, ich hätte sie gesehen, wie sie versuchte, mich umzubringen?

»Dann weiß ich, was das Motiv deiner Halluzination hervorgerufen hat. Sieh mal auf deine Füße, Dariel Jean Seine.« Ich folgte Magnus Rat und beobachtete kleine, dünne Gräser, die sich um meine Füße schlängelten. »Algenia Captanda. Oder umgangssprachlich: Schlinggras. Von vielen als Unkraut verschrien. Es wächst überall zwischen normalem Gras und neigt dazu, sich in kürzester Zeit um Dinge zu wickeln, die in seine Reichweite kommen. Aber es ist vollkommen harmlos. Von diesem Kraut kann man sich ohne große Mühen wieder befreien.« Ich hob meine Füße ein Stück und sah, wie die Gräser sofort zerrissen und meinen Fuß wieder freigaben.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das hab ich für eine tödliche Schlingpflanze gehalten?« Ich hielt den Gräsern meine Hand hin und beobachtete, wie sich die dünnen Halme sofort um meine Finger wickelte. Es kitzelte, aber sobald ich an meiner Hand zog, ließ mich das Gras wieder los.

»Also schön. Ich würde empfehlen, mich nun vorgehen zu lassen und mir direkt zu folgen.« Magnus erhob sich hinter mir und Ginga und ich taten es ihm gleich. »Dieser Wald ist dafür gedacht, unerwünschte Eindringlinge vom Zentrum der Insel fernzuhalten. Wenn man sein Ziel nicht kennt, dann kann man hier leicht verlorengehen.« Das musste er mir kein zweites Mal sagen. Ich vertraute ihm zwar immer noch nicht, aber ich war froh, wieder Herr meiner Sinne zu sein und hatte meine Lektion gelernt. Magnus Cronos – oder wie hatte ihn Sherko eben genannt? ›Magister Cronos‹ oder so – hatte uns sicher nicht hierhergeholt, um uns dann in diesem Wald verschwinden zu lassen. Da stünden ihm dutzende einfachere Wege zur Verfügung. »Custos Aevitas? Bitte bilde du die Nachhut, damit unsere Gäste nicht wieder abhandenkommen.« Damit meinte Magnus offenbar Sherko. Wie vorhin auch. Custos Aevitas. War das sein Nachname oder so?

Ich hob Artemis auf meine Schulter – er protestierte nicht – und dann zogen wir weiter. Magnus in seiner kitschigen weißen Engelsrobe vorne weg und wir hintendrein. Seltsam, dass dieses weiße, lange Gewand nicht einen Fleck hatte, obwohl Magnus neben mir auf dem Waldboden gekniet hatte – mehrmals.

Auf der anderen Seite: Was an diesem Typen war nicht seltsam?

Während unserer Waldwanderung nutzte Magnus die Zeit, uns mit Informationen zu überschütten. Es war durchaus nicht Herbst hier. Das Jahr hatte in Nafishur gerade erst begonnen. Es war also Frühling: ›Aurantia‹ hieß der Monat. Der Wald hier bestand ›vornehmlich aus Ambrosia‹, einer Baumart, die das blaue Sonnenlicht filterte, so dass unter den Bäumen nur noch die roten und gelben Lichtpartikel zu sehen waren. Dadurch bekam der Wald einen ganzjährigen, goldenen Herbstlook. Außerdem müsse man in diesem Wald, der fast das gesamte Land von Xamax bedeckte, ausgesprochen vorsichtig sein. Das Auraelum, dem ich zum Opfer gefallen war, war noch eine der harmloseren Fallen, die sich in ihm verbargen.

»Xamax ist das Reich der Geistmagie und damit der Ursprung aller Kräfte der Druiden. Letztlich besteht es primär aus dieser bewaldeten Insel. Es beheimatet aber auch den Palast des Fürsten Nafishurs, Cadiz Raiquard Nathum. Deshalb all diese Schutzmaßnahmen.«

Ich stellte mir vor, wie wir mitten in diesem merkwürdigen Wald plötzlich auf einen ehemals prunkvollen, inzwischen zugewucherten Palast stoßen würden. Irgendwie fühlte ich mich wie in einer Indiana Jones-Geschichte.

Stattdessen verließen wir nach einer gefühlten Ewigkeit aber den Wald. Schlagartig war es wesentlich heller um uns herum und ich blinzelte gegen das mich erneut blendende Licht an. Mein erster Reflex war es, sofort wieder im Schatten des Waldes Zuflucht zu suchen, aber dann merkte ich, dass das bläuliche Sonnenlicht durchaus erträglich war. Es blendete, ja. Aber es brannte nicht – oder zumindest kaum – auf der Haut.

Automatisch fand Gingas Hand in meine und hielt mich zusätzlich fest. Vielleicht hatte sie meinen Fluchtreflex gespürt. Ich sah zu ihr und folgte dann ihrem Blick nach vorn. Vor uns, in der Mitte einer sehr großen, hellen Lichtung stand ein reichlich verzierter Pavillon. Sein rundes Dach schimmerte in verschiedenen Grün- und Blautönen. Eine besondere Zierde stellten die in weiß gekleideten Mönche dar, die an jeder Säule des Pavillons standen und deren Gesichter in den Schatten von großen Kapuzen verborgen waren. Ihre Kutten leuchteten in der Sonne so stark, dass ich den Blick schnell wieder abwenden musste.

Wollte uns Magnus in ein Kloster stecken?!

›Nichts dergleichen. Das sind auch keine Mönche – obgleich es auch in Nafishur etwas Ähnliches gibt. Das sind Palast-Wächter, wie Custos Aevitas einer ist. Wir befinden uns am Eingang zum Palast des Fürsten von Nafishur.‹

Mein Blick huschte kurz zu Sherko hinter uns. Und warum trug er keine solche Kutte? Er sah aus wie wir: Schwarze unauffällige Hosen, dunkles Shirt. Hatte er sich nur den Pariser Verhältnissen angepasst?

Ginga musste Magnus Stimme ebenfalls in ihrem Geist gehört haben, denn sie zuckte vor Schreck zusammen und begann dann in hektischem Treiben, sich selbst und dann auch mich von den Spuren des Waldes zu befreien. Damit lenkte sie mich von Sherko ab. Vor allem als sie auch noch meine Hose befingerte. Ich hielt sie mit einer Hand auf Abstand und klopfte die restlichen Gräser selbst ab. Dann sah ich abwartend zu Magnus und hoffte, unser Reinigungsversuch würde reichen. Wenn der Fürst in seinem Palast sauberere Gäste haben wollte, würde er die Anreisebedingungen verbessern müssen.

Magnus nickte uns mit einem Schmunzeln zu. ›Ihr seht ausgezeichnet aus. Macht euch keine Gedanken. Und bitte folgt mir schweigend.‹

Wir nickten und folgten ihm dann zum Pavillon. Als die Wach-Mönche Magnus bemerkten, verdoppelte sich ihr Pulsschlag augenblicklich. Es war beruhigend, dass er auch auf andere eine … aufwühlende Wirkung hatte. Die Wächter zogen sofort ihre Kapuzen von den Köpfen und verneigten sich. Ihre Blicke huschten untereinander hin und her, ohne jemals Magnus Blick zu streifen.

Unser ›bescheidener Helfer in Fragen der Magie‹, wie er sich uns einst vorgestellt hatte, quittierte diese Demutsbekundungen nur mit einem leichten Kopfnicken und ein paar nach Smalltalk klingenden Fetzen Nefishit. Ich presste meine Lippen zusammen, um nicht versehentlich Französisch zu sprechen. Eine andere Welt, ergo eine andere Sprache. Wie hatte ich das verdrängen können? Sherko und Magnus sprachen Französisch mit uns. Aber was war mit den anderen Bewohnern Nafishurs, die nicht regelmäßig mal in Paris vorbeischauten? Wie sollte ich mich denn hier zurechtfinden und mit meinen werten Mitmenschen … oder eher ›Mitnafish‹ kommunizieren?!

Als wir unter das Dach des Pavillons traten, vergaß ich für einen Augenblick meine aufkeimende Verzweiflung. Der Pavillon war hell und offen und vollkommen leer. Keine Tür – nicht einmal eine Falltür oder Dachluke. Das sollte der Eingang zu einem Palast sein?! Wo denn?! Das einzig Interessante war ein Deckenfresko, das eine Art fliegendes Schloss zeigte, das von sieben Drachen umkreist wurde.

Wir traten vorsichtig näher und sahen Magnus fragend an. Aber er schwieg und einen Moment später schlossen Sherko und er die Augen, hoben ihre komischen Zauberstäbe waagerecht an und murmelten synchron etwas, das die Stäbe leuchten ließ.

Dann begannen sich die leuchtenden Stäbe zu winden und zu wachsen. In Sekundenbruchteilen hielt Magnus einen Stab in Händen, der mich an irgendwelche katholischen Heiligen denken ließ. Ich wich noch etwas weiter zurück, als er sich an einem Ende verästelte und seine Ast-Arme nach mir ausstreckte. Am anderen Ende bildete sich eine Kristallspitze, die weiß-gold glühte. Das Licht pulsierte darin.

Sherkos Stab schien neben dem unseres bescheidenen Helfers regelrecht zu ergrauen. Sein unteres Ende bildete ein Kristall, der silbern schimmerte. Das obere Ende hatte sich zu einem geometrischen Gitter verzweigt.

›Das sind unsere Hirtenstäbe. Ihr erinnert euch sicher daran, dass ich auch das Port für Cara in Paris mit der Hilfe meines Hirtenstabs schuf.‹ Wir nickten langsam und synchron. Oui, ich erinnerte mich. Und auch Sherko hatte auf diese Weise unser Port geöffnet. Aber ich hätte gern auf eine Auffrischung dieser Erinnerungen verzichtet.

Magnus trat genau in die Mitte des Pavillons und wider Erwarten stieß er die Kristallspitze nicht einfach auf den Boden wie zuvor in Paris, sondern beschrieb damit einen Kreis um sich herum. Dann erst stellte er – ohne besonderen Nachdruck – den Stab in die Mitte des Kreises. Er hielt ihn mit beiden Händen fest, während um ihn herum der Kreis, den er unsichtbar gezeichnet hatte, zu leuchten begann – ebenso im Übrigen wie Magnus Augen.

›Kommt zu mir, schnell! Das Licht schadet euch nicht.‹

Für einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken, seiner Aufforderung nicht nachzukommen. Woher wollte ich schon wissen, was uns nun wieder erwartete und ob es mir gefallen würde. Aber dann erinnerte ich mich an das, was ich schon wusste: An die zig Wächter um uns herum, die uns wahrscheinlich schon allein aus Langeweile angreifen würden; an den dunklen, magischen Wald mit all seinen giftigen Pflanzen und den das Licht verzaubernden Bäumen; daran, dass wir uns hier auf einer Insel befanden und das Port-Ding, durch das wir gekommen waren, verschwunden war. Also schnappte ich mir Gingas Hand und zog sie mit mir in den Kreis aus Licht. Art fauchte leise. Während wir neben Magnus traten, zeichnete Sherko mit seinem Stab den Kreis nach, den Magnus geschaffen hatte, und gesellte sich dann zu uns. Diesmal verzichtete er darauf, mir seine Hand auf den Rücken zu legen. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Ich konnte nur hoffen, dass diese Reise nicht genauso unangenehm werden würde wie die letzte, und schloss diesmal zur Sicherheit die Augen.

›Diesmal würde ich sie an deiner Stelle auflassen.‹ Vorsichtig öffnete ich meine Augen wieder. ›Es sei denn, du hast Höhenangst.‹ Ich sah Magnus mit hochgezogener Braue an. Höhenangst vor was? Den zwei Stufen hoch zum Pavillon? Ich hörte Magnus in meinem Geist lachen, dann kam das Licht auch von über uns und das Dach erhielt ein leuchtendes Loch. Zwei ängstliche Mitreisende krallten sich wieder an und in mich – langsam gewöhnte ich mich daran – und dann geschah es: Wir hoben ab.

Ich traute meinen Augen kaum, doch wir flogen – angenehmer diesmal: Wie in einem durchsichtigen Fahrstuhl glitten wir in den Himmel. Der Lichtkreis um uns herum beschränkte wohl unsere ›Kabine‹. Ich drehte mich vorsichtig im Kreis und blinzelte in das Sonnenlicht.

Nafishur war wunderschön. Unter uns erstreckte sich der Wald – von hier oben schien er bläuliches Laub zu tragen –, in einiger Entfernung glitzerte ein weites Meer, an dessen Horizont sich ringsum wieder Land andeutete. Der Himmel war voller Fluggefährte. Sie sahen aus wie Heißluftballone und Luftschiffe. Ich bildete mir sogar ein, ein paar Menschen – non, Nafish – durch die Luft fliegen zu sehen. Das bläuliche, kalte Licht gab all dem eine unnatürliche Atmosphäre. Es war, als würde ich einen Fantasyfilm sehen – mit unglaublich vielen Special Effects und in 3D.

›Schön, oder?‹

Ich nickte nur. Ich war zu sehr damit beschäftigt, alle Eindrücke zu verarbeiten. Flog da am Horizont gerade ein riesiger Rochen durch die Luft? Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

›Vorsicht. Wir sind gleich da.‹

Ich sah nach oben und zuckte zusammen. Wir rasten mit einer nicht unbeträchtlichen Geschwindigkeit auf einen riesigen über uns schwebenden Felsen zu. Ich war wie erstarrt und wartete auf den Aufprall, doch stattdessen erschien über uns ein Lichtkreis wie der bei unserem Start und wir flogen durch den Kreis und damit in den Felsen. Für einen kurzen Moment war alles um uns herum dunkel – bis auf unseren Liftlichtkreis. Dann standen wir wieder in einem Pavillon. Das Licht um uns erlosch und wir alle – na gut, alle außer Sherko und Magnus – sackten in sichtlicher Erleichterung ein Stück in uns zusammen.

Nun war unter uns auf dem Boden ein Bild zu sehen. Es zeigte die Insel unten im Meer von oben. Auch hier war der Pavillon von diesen Mönchswächtern umgeben. Aber dieser Pavillon stand nicht auf einer sonnigen Wiese. Er stand in einer Art Felsnische. Zu einem Großteil war der Pavillon mit nichts als einer Felswand umgeben. Nur in eine Richtung war die Sicht offen und in diese Richtung verließen wir den Pavillon. Wieder verbeugten sich die Wächter und lüfteten ihre Kapuzen. Magnus nickte ihnen zu. Aber diesmal schwieg er. Vor uns sah ich zwei imposante Steinfiguren in Drachenform. Ihre Flügel trafen einander weit über unseren Köpfen. Das Ganze sah aus wie ein Tor, aber dahinter war nichts außer Himmel und Wolken. Ein ganzes Stück entfernt – viele hundert Meter – sah ich ein weiteres solches Steintor und dahinter stand er: der Palast. Ja, so musste ein Palast aussehen. Seine Dächer glänzten in der Sonne. Sie sahen so filigran und hell aus, dass man sie beinah für gläsern halten konnte. Die Mauern waren hell wie Sandstein, aber hoch und den Ausmaßen nach auch dick und robust. Überall wuchsen Erker, Türme und Zinnen aus den Wänden, als würde der Palast stetig wachsen und lebendig sein. Alles in allem strahlte er eine merkwürdige Mischung aus Uneinnehmbarkeit und Gastfreundschaft aus.

Die Frage war nur: Wie kamen wir jetzt dort rüber?

›Lasst das meine Sorge sein.‹ Magnus trat zwischen die beiden Drachen – direkt an den Abgrund – und tat etwas, das ich beim besten Willen nicht begriff: Er steckte seinen Hirtenstab in eine Öffnung an einem der beiden Drachen und ließ ihn los. War in diesem Ding nicht seine ganze Macht? Oder zumindest ein Großteil davon? Ließ man einen so mächtigen Teil von sich selbst einfach los? Direkt an einem Abgrund? Und Sherko tat es ihm auch noch gleich! Waren die zwei denn wahnsinnig geworden?

›Das sind wir nicht. Und ja, wir geben damit einen Großteil unserer Macht ab und wir werden sogar noch mehr tun: Wir werden unsere Stäbe hier zurücklassen. Kommt!‹ Mit diesen Worten machte er einen Schritt vorwärts – ins Leere! Non, nicht mehr ins Leere. In dem Moment, in dem Magnus diesen ersten Schritt gemacht hatte und hätte fallen müssen, entstand unter ihm Stein für Stein eine robuste Brücke – so breit wie das Tor.

Artemis Herzschlag hämmerte gegen meine Schulter und fühlte sich an wie mein eigener. Ein einzelnes Pochen hörte ich auch von Ginga. Ich musste dringend herausfinden, wie sie das machte … Aber für den Augenblick gab es Wichtigeres: Wir beeilten uns, so dicht wie möglich hinter Magnus die Brücke zu betreten. Wer wusste schon, wie lange das Teil zu sehen geschweige denn begehbar wäre.

›Auch das sind Sicherheitsvorkehrungen. Sowohl der Lift als auch diese Brücke lassen sich nur mit sehr starker und möglichst reiner Magie steuern. Vor allem diese Brücke prüft den Gehalt der positiven Magie. Der Maz. Auf diese Weise können Druiden, die sich der dunklen Magie verschrieben haben, nicht in den Palast gelangen. Zudem ist die Abgabe des Druidenstabes ein Vertrauens- und Demutsbeweis an den Fürsten‹, dozierte Magnus wie üblich in meinem Kopf.

Ich kannte diesen Fürsten nicht, aber wer es auch war, er musste wirklich gerissen sein. Auf dieser Brücke war man ihm vollkommen ausgeliefert. Die Wächter hinter einem, die Palastmauern vor einem. Von allen Seiten im Schussfeld – und das, während man selbst unbewaffnet war. Nicht zu vergessen, dass dieser Fürst die Brücke sicher von einer Sekunde zur anderen verschwinden lassen konnte. Diesen Weg zu nutzen war lebensmüde.

›Du hast vollkommen recht. Aber diese Brücke ist der einzig legale Weg in den Palast. Sollte man einen anderen versuchen, wird man automatisch als ungebetener Besucher betrachtet und auch so behandelt.‹ Und was das meinte, wollte ich mir lieber nicht so genau ausmalen.

Die Brücke zog sich ewig hin. Ich hatte das Gefühl, seit mindestens einer halben Stunde zu laufen, bevor endlich das Drachentor der anderen Seite näherkam. Am schlimmsten war das Gefühl, des Ausgeliefert Seins. Wir hätten keine Chance, sollte man uns doch nicht mehr empfangen wollen.

›Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Und ich versichere dir, dass ihr in meinem Beisein mit Sicherheit von niemandem als feindlich betrachtet werdet. Also mach dir bitte keine Sorgen.‹

Die Tatsache, dass Sherko wusste, was wir waren, machte es nicht besser. Er sagte den ganzen Weg über kein Wort, doch sein unruhiger Blick sprach Bände ebenso wie sein Puls. Ich war mir sicher, dass er uns nicht traute. Und das konnte ich ihm nicht mal verübeln.

Als wir endlich das andere Ende der Brücke erreichten, trat Magnus zur Seite und ließ uns zuerst die Brücke verlassen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich die beiden Hirtenstäbe, die nun hier in der Tornische steckten. ›Ich sagte ja schon, dass es nicht so schlimm ist, wie es aussieht.‹ Magnus betrat hinter uns die Palastinsel und zog dann seinen Stab aus der Drachenfigur – synchron mit Sherko. Prompt löste sich die Brücke auf. Das hieß: Die einzelnen Steine begannen erst zu wackeln, dann zu fallen und lösten sich während ihres Falls in Luft auf. Ich starrte ihnen ungläubig hinterher.

Also gut. Nun waren wir am fliegenden Palast des Fürsten von Nafishur und einen Fluchtweg gab es nicht mehr. Langsam drehte ich mich um und musterte das riesige Ding aus der Nähe. Seine Mauern wirkten jetzt mehr bedrohlich als einladend. Sie sahen auch von Nahem aus, als seien sie aus Sandstein, aber die helle Farbe ließ die dicken, hohen Mauern nicht freundlicher wirken.

Auch hier standen überall diese Wächter in den weißen Kutten. Aber die hier sahen anders aus. Sie hatten Flügel. Ich starrte einen Wächter mit einem besonders imposanten Flügelpaar an, das an die Schwingen eines Adlers erinnerte, bis mich Magnus Stimme in meinem Kopf wieder auf Kurs brachte.

›Ich werde wieder das Reden übernehmen. Es geht darum, euch dem Fürsten offiziell als Wächter vorzustellen und euch zu weihen. Danach können wir in die Akademie aufbrechen und ich werde hoffentlich Zeit finden, euch alles in Ruhe zu erklären. Dann wird uns auch etwas wegen der Sprache einfallen. Also mach dir keine Gedanken, Dariel Jean Seine. Bis dahin dolmetsche ich für dich in deinem Geist.‹

Na wie wundervoll.

Dann war ja alles gut.

Magnus lächelte mich mit seinem Gutmenschenlächeln an.

Oder war es ein Gutnafishlächeln?

Ein leises Räuspern riss mich aus meinen Überlegungen. Sherko. Ich hatte ihn beinah völlig ausgeblendet. Nun aber gehörte ihm meine volle Aufmerksamkeit. Hatte er eben auf der Brücke noch ganz ähnliche Kleidung wie die unsere getragen, trug er jetzt ein Gewand, das wie Silber schimmerte, aber seidig weich zu sein schien. Wie war ihm das so schnell möglich gewesen? Wie hätte er sich hier umziehen können? Mit seinem Hirtenstab und dieser silbernen Toga sah er aus wie eine Mischung aus Sci-Fi-Held und römischem Senator.

Es war offensichtlich, dass ihm etwas zu schaffen machte. Alles an seiner unruhigen Gestik und dem Blick, der immer wieder von Magnus zu mir und wieder zurück flackerte, wirkte verunsichert. Er kämpfte wohl mit sich selbst: Sollte er Magnus Urteil vertrauen oder uns aufhalten?

Dann drehte er uns plötzlich den Rücken zu und schritt auf den Palasteingang zu. Wahrscheinlich hatte ihn jemand im Geiste überzeugt. Als ich ihm folgen wollte, drückte sich einmal mehr eine kühle Hand in meine. Ich sah zu Ginga, die meinen Blick besorgt erwiderte.

Sie war so still. Ich fragte mich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, die Einladung in diese Welt anzunehmen. Ginga hatte sich überwunden. Für Cara. Aber war sie wirklich bereit für all das?

›Art? Kannst du ihr sagen, dass alles gut wird und sie sich keine Sorgen machen soll? Sie soll an Cara denken.‹

Gingas Augen weiteten sich für einen Moment. Dann senkte sie verlegen den Kopf und nickte leicht. Sie war so völlig anders, seit wir in Nafishur gelandet waren. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihre freche, herausfordernde Art so sehr und so schnell vermissen würde.

›Mach dir keinen Kopf, Hunter. Deine Schöpferin ist sicher schneller die Alte, als dir lieb ist‹, kommentierte Artemis trocken meine Gedanken.

Den beiden Quälgeistern zum Trotz beeilte ich mich, wieder zu Magnus und Sherko aufzuschließen. Seine Warnung hallte deutlich in meinem Kopf nach: Allein würden wir mit großer Wahrscheinlichkeit für Eindringlinge gehalten werden. Da zog ich es doch vor, als gebetener Gast aufzutauchen.

Dementsprechend konzentrierte ich mich auf Magnus. Aber meine Hunterinstinkte waren noch wach genug, um meiner Umgebung ebenso Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Und meine Vampirinstinkte sorgten dafür, dass ich beidem nachgehen konnte.

Lass den Feind nie in deinen Rücken.

Fühl dich nie sicher.

Achte auf dein Umfeld.

Es waren nicht allein die geflügelten Wachen, die mir Sorgen machten. Wir waren auf dieser Hochsicherheitsinsel in den Wolken zusätzlich von einer Art Stadtmauer umgeben. Das reduzierte unsere Fluchtmöglichkeiten – wenn wir denn jemals welche gehabt hatten – vollends.

Von innen klebten unzählige kleine Erker und ganze Häuser an der Mauer, die die fliegende Insel umgab – jedes ebenso aus dieser Nafishur-Version von Sandstein gebaut wie der Palast. Die Türme und Gebäudeteile waren durch filigrane Brücken über unseren Köpfen verbunden. Der Boden des Innenhofes war im Gegensatz zur wüstenartigen Architektur von saftig grünem Gras bedeckt. Ich hoffte, dass kein Schlinggras darunter war. Und hier und da spendeten Bäume mit merkwürdig röhrenartig geformten Blättern Schatten. Nach wenigen Metern kreuzten wir einen kleinen Bach, der einmal quer durch den Hof zu verlief. Die Frage war bloß, wo das Wasser hier oben herkam und wo es hinfloss. Egal wie intensiv ich auf die Wasseroberfläche starrte, es gelang mir nicht, auch nur die Fließrichtung zu erkennen.

Wir überquerten den Bach – überall im Hof war er mit kleinen kitschigen Holzstegen überbrückt – und hielten auf die nächsten zwei Wächter zu. Während meine Augen den Hof noch immer nach einer Quelle für den Bach absuchten, blieben wir vor dem großen Eingangsportal stehen, das sie bewachten. Es war tiefblau und mindestens fünf, sechs Meter hoch. Es war mit goldenen Ornamenten verziert und jetzt, wo wir den Mauern des Palastes wirklich nah waren, nahm ich auch die feinen goldenen Risse wahr, die überall das Mauerwerk durchbrachen. Sie schimmerten in der blauen Sonne und sahen aus wie pulsierende, goldene Blutgefäße.

Die beiden Wächter – dem Gefieder nach eine weiße Taube und eine Krähe – öffneten hastig das Portal, als sie Magnus erkannten. Dieser Mann musste sich wirklich nirgends vorstellen. Magister Cronos oder so … Er war wichtig, so viel stand fest. Außerdem musste er ein regelmäßiger Besucher hier oben sein. Und momentan war er unsere einzige Chance, den fliegenden Palast wieder zu verlassen.

Während wir das Tor durchquerten, drehte der werte Magister sich noch einmal zu uns um und nickte uns leicht zu. ›In Kürze werdet ihr Fürst Cadiz Raiquard Nathum begegnen. Wenn er sich euch zuwendet, dann verbeugt ihr euch. Mehr dürfte nicht von euch erwartet werden. Schaut ernst und möglichst selbstbewusst. Wie heißt das in Luv noch gleich? Nutzt ein Pokerface.‹ Dann sah er Ginga eindringlich an und ich war mir sicher, dass er an sie gewandt noch etwas hinzufügte. Sie nickte leicht.

Dann lief er los – mit schnellen, großen Schritten –, als wären wir nur auf dem Weg in ein unbedeutendes Pariser Shoppingcenter kurz vor Ladenschluss. Dabei erinnerte der Palast eher an eine imposante, gotische Kathedrale. Die Eingangshalle war unglaublich hell und hoch und wurde von vielen viel zu dünn anmutenden Säulen getragen. Unter der Decke schwebten kleine Funken, die zusätzlich für Licht sorgten. Am anderen Ende des Saals tauchte ein schöner begrünter Innenhof mit Statuen und Springbrunnen und vielen blühenden Rabatten und Zierbüschen auf. Leider bogen wir vor ihm links ab und folgten einem Säulengang um den Garten herum, anstatt durch ihn hindurch zu laufen.

Ich wünschte, Magnus ließe sich mehr Zeit. Ich war mir sicher, dass in diesem Palast hinter jeder Tür ein Geheimnis lauerte, und ich hätte wirklich gern die Zeit gehabt, das eine oder andere zu entdecken. Aber die geflügelten Wächter, die im Inneren des Palastes noch präsenter waren als draußen, erinnerten mich wieder und wieder daran, wie wichtig es war, in Magnus Nähe zu bleiben.

Wären wir noch auf der Erde, so hielte ich diesen Ort für den Himmel selbst. Ein fliegender, verzauberter Palast voller Natur und Leben und Gold – und mit Engeln als Wächtern. Ob unser Bild vom ›Himmel‹ aus Nafishur stammte?

Wie ich so meinen Gedanken nachhing, wäre ich beinah in Magnus hineingelaufen. Er war plötzlich stehengeblieben. Ich sah auf und bemerkte, dass wir vor einem weiteren großen Portal angekommen waren. Dieses war weiß und schimmerte violett, wenn man den Blickwinkel änderte. Die goldenen Ornamente waren hingegen ähnlich wie auf dem Eingangsportal.

»Magnus Magister«, Sherko verneigte sich vor unserem bescheidenen Helfer, »ich werde nun wieder auf meine Position im Palast zurückkehren. Es sei denn, Ihr wünscht weiterhin meine Anwesenheit.«

»Ich danke dir, Custos Aevitas. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, indem du diese beiden Wächter für mich aus Luv geholt hast. Ich bin dir zu Dank verpflichtet.«

Einmal mehr verneigte sich Sherko elegant vor ihm. »Das ist meine Aufgabe, Magnus Magister.« Warum nannte er ihn eigentlich erst beim Vornamen und dann Magister? In jedem Fall verneigte er sich nun auch vor uns und wir taten es ihm gleich.

Unsere Blicke trafen sich beim Aufrichten und ich sah ihm zum ersten Mal direkt in die Augen. Seine Iris war so blass, dass sie beinah weiß war. So blass wie alles an ihm – und doch strahlte er eine Präsenz aus, die alles andere als farblos war. Ich spürte instinktiv, dass es seine Feinde nicht leicht hatten. Und seit Blick verriet mir, dass er gerade darüber entschied, ob ich einer war. Dann galt seine Aufmerksamkeit wieder Magnus und was er nun sagte, blieb mir verwehrt. Bisher hatte Sherko Rücksicht auf mich genommen. Nun aber wünschte er nicht, dass ich verstand, was er sagte.

›Du verpasst nicht viel. Der Typ fragt unter tausend Entschuldigungen, ob sich Magnus bei uns auch wirklich sicher sei.‹

Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen. Ihm war wohl nicht bewusst, dass ich hier der Einzige war, der kein Nefishit verstand. Und ich hatte ja glücklicherweise einen Dolmetscher auf der Schulter.

Nach einer knappen Antwort von Seiten Magnus – dem Nicken nach ein ›Ja‹ –, verschwand Sherko raschen Schrittes aus unserem Sichtfeld. Ob er sich wohl auf Magnus Worte verlassen würde? Er sah nicht gerade überzeugt aus.

›Ihr werdet ihn überzeugen. Durch eure Taten. Er ist zu loyal, um uns ohne einen triftigen Grund Probleme zu bereiten. Und nun haben wir einen Termin.‹ Magnus öffnete mit einer leichten Bewegung seines nun wieder kleinen Zau– Druidenstabs das Portal. ›Ich weiß, es ist eine Herausforderung, in diesem Gebäude nicht staunend in alle Richtungen zu sehen. Und euch fällt es sicher noch schwerer, aber bitte haltet nun den Blick etwas gesenkt. Seht am besten einfach immer ungefähr zwei drei Meter vor euch auf den Boden.‹

Hatte er eben nicht noch von ›selbstbewusst‹ geredet? Wie sollten wir denn selbstbewusst auftreten und zugleich nach unten sehen? Das Portal wurde geöffnet und ich beschloss, dass der letzte Hinweis wohl der aktuellste war und starrte stur ein paar Meter vor uns auf den Boden. Er sah aus wie weißer Marmor, der wieder durch diese goldenen Adern durchbrochen war. Lebendiges Gold inmitten von kaltem Stein.

Bei all den hellen freundlichen Farben hier mussten Ginga und ich in unseren typischen dunklen Klamotten wirklich auffallen. Ich konnte nur hoffen, dass Magnus uns vorgewarnt hätte, wenn wir anders hätten gekleidet sein sollen.

›Wartet‹, hallte Magnus Stimme durch meinen Kopf, als wir gerade erst wenige Schritte in den Saal gelaufen waren.