Nagashino IV: Onryo – Ein Weg mit hundert Steinen - Christiane Kromp - E-Book

Nagashino IV: Onryo – Ein Weg mit hundert Steinen E-Book

Christiane Kromp

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Beschreibung

Kenshin, Kohana und Watanabe-San reisen im 16.Jahrhundert per Pferd in den Norden Japans. Dort erhoffen sie sich die Hilfe der Yamabushi-Mönche, welche sich mit der Bannung von Totengeistern auskennen. Das ganze Unternehmen ist abenteuerlich, doch auch die Reise selbst ist voller Gefahren und eigenartiger Geschöpfe, welche auf Beute hoffen. Sie begegnen jedoch auch einigen hilfreichen Gestalten. Werden unsere Helden die heiligen Berge von Dewa wohlbehalten erreichen? Und nähern sich Kenshin und Kohana einander wieder an?Nagashino IV: Onryo – Ein Weg mit hundert Steinen

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Table of Contents

Title Page

Zitat

Was bisher geschah

Ein Ungeheuer

Nach dem Kampf

Ein gefährlicher Unterschlupf

Jäger und Beute

In der Provinz Fukushima

Die Berge von Dewa

Bei den Yamabushi

Abschied von Atama

Japanische Vokabeln und Begriffe:

Ortsnamen und Bedeutung japanischer Vornamen / Namen:

Anmerkungen der Autorin und Danksagungen

Impressum

 

 

 

 

 

„In diesem Haus aus alter Zeit,

Ein Weg mit hundert Steinen,

Wachsen Gräser in den Traufen.

Doch so viele sie auch seien,

Zahlreicher noch sind meine Erinnerungen.“

 

Was bisher geschah

 

 

 

Den damals fünfzehnjährigen Kenshin Nakamura verschlägt es auf dem historischen Schlachtfeld von Nagashino in einem Nebel ins Jahr 1575, kurz vor der gleichnamigen Schlacht. Er gelangt zu seinen Vorfahren, die sich um ihn kümmern. Gleichzeitig wird er in die Ereignisse rund um die Schlacht verwickelt. Und nicht nur das macht ihm Angst. Schließlich weiß er aus dem Geschichtsunterricht, dass sie alle auf der Verliererseite stehen. Außerdem ist ihm klar, dass sein Vorfahre Hibiko, den er bewundert, während der Schlacht fallen wird. Es gelingt ihm nicht, Hibiko vor diesem Schicksal zu bewahren, doch schwört er Hibikos Mörder Rache und bestattet seinen Vorfahren, so gut ihm das unter diesen Umständen möglich ist. Mit wenigen Getreuen, zu denen auch Hibikos Vasall Watanabe-San und die schöne Kohana zählen, suchen und stellen die Gefährten den Mörder und dessen Helfer. Stetig in der Gefahr, von den Häschern ihrer Gegner aus der Schlacht gefangen und getötet zu werden, verlieren sie einige ihrer Gefährten, bevor die letzten den Mörder samt seiner Helfer im Kampf besiegen. Doch kaum sind die Widersacher tot, zieht es Kenshin durch einen Nebel wieder zurück in seine eigene Zeit. Im sechzehnten Jahrhundert hat er mit Kohana die erste Liebe erlebt und sehnt sich nun nach ihr. Das hat sich auch eineinhalb Jahre nach diesen Ereignissen nicht geändert.

Im Hafen seiner Heimatstadt Nagasaki absolviert Ken gerade ein Praktikum in der Firma seines Vaters. Plötzlich steht seine Kohana dort vor ihm. Kens Vater nimmt Kohana mit heim zu Kenshins Familie.

Kenshin ist zunächst sehr glücklich über dieses Wiedersehen, doch ereignen sich nach Kohanas Ankunft viele seltsame Dinge, die Ken und seine Familie betreffen. Kenshin fragt sich, welche Motive Kohana zu ihm getrieben haben. Sie warnt ihn vor den Onryo, den böswilligen Totengeistern ihrer getöteten Gegner. Unerklärliche Unfälle, böse Albträume, zwei unheimliche Kanjizeichen und ein Angriff auf seine Mutter zeigen Kenshin: Nur eine weitere Reise ins sechzehnte Jahrhundert kann die Dinge wieder ins Lot bringen. Zumal Kohana ihm von ihrem gemeinsamen kleinen Sohn erzählt. Kenshin möchte den Jungen unbedingt sehen und ihn vor Schaden bewahren.

Kaum im sechzehnten Jahrhundert angekommen, begibt er sich mit Kohana und Watanabe-San auf eine Pilgerreise zu den Yamabushi, Bergmönchen hoch im Norden, welche sich mit der Besänftigung von Totengeistern auskennen. Gerade sind sie unterwegs, da müssen die Gefährten Räuber unschädlich machen, die sie überfallen. Nun sind sie alle drei auf dem Weg nach Norden, neuen Abenteuern entgegen.

Ein seltsamer Baum

 

 

Kenshin tat der Hintern weh. Schmerzlich verzog er das Gesicht. Er rückte im Sattel in eine etwas bequemere Haltung, doch es half nicht viel. Er fluchte leise aber derb. Seit Tagen ritt er nun schon hinter Watanabe-San und Kohana-San her durch eine Landschaft, die immer hügeliger wurde. Bis vor vielleicht einer halben Stunde hatte Kenshin das Gefühl gehabt, stetig bergauf zu reiten. Überall erschwerten Felsen und Baumwurzeln seinem Pferd Kabu den Aufstieg. Ständig hatte Kenshin aufpassen und für sein Reittier den bestmöglichen Weg die wilden Hänge hinauf finden müssen. Nun war es früher Nachmittag. Kenshin ritt über eine grasige Talebene, die glücklicherweise weniger Herausforderungen bot. Doch hatte er kein Auge für ihre landschaftliche Schönheit. Autsch, noch ein Stoß in meinen Rücken! Scheinbar ist Kabu wieder einmal fehlgetreten! Mein armer Hintern! Er stöhnte auf, teils vor Ärger, teils vor Schmerz. Da hilft nur eins: Lenke dich von der Situation ab! Er suchte nach Gedanken, die ihn länger beschäftigen würden, und hielt sich im Geiste an dem Naheliegenden fest: welche Herausforderungen mochten ihn hier in dieser Zeit erwarten? Würde er all die Gefahren meistern können, denen er zusammen mit seinen Gefährten entgegensah? Sein Großvater hatte in schwierigen Lagen immer gesagt: »Herausforderungen sind wie Wölfe am Wegesrand: du siehst sie von Weitem. Gehst du ihnen aus dem Weg, sofolgen sie dir und greifen dich unvermutet von hinten an. Nur wenn du dich ihnen stellst, kannst du sie überwinden.«Diese Weisheit schoss Kenshin in den Kopf. Ziemlich treffend! Sollten diese Worte jetzt für sein Leben Bedeutung erlangen? Würde er die Wölfe besiegen können? Er war jetzt Vater! Den Staffelstab des Lebens hatte er also unwissentlich schon weitergereicht. Und er hatte Verantwortung – für Kohana, für sein Kind. Er musste diese Wölfe besiegen!Noch ein jäher Ruck riss Kenshin schmerzhaft in die unmittelbare Gegenwart. Instinktiv klammerte er sich an seinem Pferd fest. Beinahe wäre er aus dem Sattel geflogen! Kabu war diesmal heftig gestolpert. »Scheiße, verfluchte!«, schimpfte er halblaut. Sein Hinterteil sendete immer neue Echos der Schmerzsignale, mit denen er sich nun schon seit Tagen plagte. So musste es sich anfühlen, wenn er eine Tracht Prügel erhalten hätte. Verfluchtes sechzehntes Jahrhundert! Aber immerhin besser, als die gesamte Entfernung zu Fuß zurückzulegen! Das Reiten und das Kampieren unter freiem Himmel mussten ihm genügen. Diese Art zu reisen durfte ihm nicht zu beschwerlich sein. In diesem Jahrhundert gab es einfach keine Alternativen dazu! Vermutlich wäre er zum Fußgänger degradiert, wenn sich sein Reittier verletzte! Das wollte er keinesfalls riskieren, zumal er sein Pferd mochte! Mit leichten Gewissensbissen wegen Kabu konzentrierte er sich nun wieder mehr auf seine Umgebung. Er musste seinem »Rübchen« offenbar etwas mehr Hilfestellung geben.

Ein Wispern, ein Lachen war plötzlich in der Luft. Stimmen, die aus der Nähe zu kommen schienen. Kenshin hielt sein Pferd an, um zu lauschen. Als es unwillig schnaubte, weiter hinter den anderen Pferden herlaufen wollte, streichelte er ihm über den Hals, sagte leise: »Sei ganz ruhig, Kabu, mein Lieber. Lass mich horchen, da ist doch etwas ...«. Da verhielt das Tier lautlos auf der Stelle. Nur Rübchens Ohren spielten, als habe es ihn verstanden und wolle ihm beim Lauschen helfen.

Watanabe-San und Kohanaritten inzwischen weiter und gewannen immer mehr Vorsprung vor Ken. Sie waren an dieser Stelle vorübergezogen, ohne anzuhalten. Hatten sie denn das Geplapper nicht vernommen? Kenshin runzelte die Stirn, lauschte angestrengt. Nichts. Irritiert schüttelte er den Kopf. Bildete er sich jetzt schon Stimmen ein in der Wildnis? Doch nein, da war es wieder! Eindeutig unterhielten sich da drüben mehrere Leute. Und wenn Kenshin eines gelernt hatte aus seinen bisherigen Abenteuern, dann, dass er unbedingt erfahren musste, wer sich noch in dieser Gegend herumtrieb. Er schnalzte mit der Zunge. Sein Pferd setzte sich wieder in Bewegung. Rasch schloss er zu Watanabe-San und Kohana auf. »Ich habe eben Stimmen vernommen, von dort drüben her«, sagte er in gedämpftem Ton.

Watanabe-San hielt lauschend an und bedeutete Kohana, ebenfalls ihr Pferd zu zügeln. Nun war es still. Kenshin hörte die Grillen und, nach kurzer Zeit, wieder das Stimmengemurmel. Watanabe-San schien es gleichfalls wahrgenommen zu haben, denn er nickte. »Das scheint eine ganze Reisegesellschaft zu sein«, flüsterte er. »Das sollten wir uns näher ansehen!« Damit stieg er ab und winkte Kenshin, ihm zu folgen. Kohana bedeutete er, dort auf sie beide zu warten. So leise er konnte, schlich Kenshin hinter dem Krieger her durch das hohe Gras. Bald vernahm er das unverkennbare Rauschen eines Flüsschens. Ken leckte sich über die trockenen Lippen. Gleich würde er einen kühlen Trunk zu sich … so plötzlich verhielt Watanabe-San seinen Schritt, dass Kenshin ihm in den Rücken lief und ins Straucheln geriet. Schreck durchfuhr ihn. Kenshins Herz pumpte jetzt deutlich schneller als noch vor einer Minute. Er sah sich schon zu Boden fallen, doch zwei starke Arme verhinderten seinen Sturz. Watanabe-San hielt ihn an den Schultern fest. Dann hob der Krieger den Zeigefinger zu den Lippen. Er zeigte zu einem Baum vor sich, bei dessen Anblick Kenshin der Atem stockte: Auf den ersten Blick wirkte das Gewächs wie ein Obstbaum mit besonders großen und prächtigen Äpfeln. Doch als Kenshin genauer hinsah, waren all seine Früchte … menschliche Köpfe! Und damit nicht genug, sie alle schauten ihm und Watanabe-San mit Spannung und Neugier ins Gesicht. Kenshin japste. Was, in aller Welt …? Da, wo sich bei einem Menschen der Hals befand, schlossen alle Köpfe mit einer Rundung unter dem Kinn ab. Um den Stiel herum wehten bei den seltsamen Früchten lange schwarze Haare im Wind. Das sah höchst merkwürdig aus – und ziemlich erschreckend. Waren diese Köpfe es gewesen, die …?

»Konnichiwa - Guten Tag!« Mit sonorer Stimme richtete der am höchsten Punkt hängende Kopf das Wort an Ken und Watanabe-San. Kenshin fuhr zusammen. Die konnten sprechen? Verwirrt starrte er die Früchte an. Der Sprecher von eben störte sich indes nicht daran und fuhr fort: »Wir bekommen selten Besuch. Sagt, Wanderer, woher kommt ihr und wohin des Wegs?«

Und bevor sich Kenshin ganz von seinem Schrecken erholt hatte, fügte ein anderer hinzu: »Ja, was ist los in der weiten Welt?«

»Seit Jahren hat keines Wanderers Fuß unser Heim entdeckt!«, sprach ein dritter in hoher, weiblich klingender Tonlage. Und alle Übrigen glotzten Kenshin und seinen Gefährten erwartungsvoll an. Es waren ihrer bestimmt an die zwanzig.

»So wart ihr es, deren Stimmen wir von unserem Weg aus vernommen haben?«, fragte Kenshin schließlich nicht eben geistreich.

»Aber ja, das möchten wir doch annehmen!«, entgegnete der Kopf, der sie angesprochen hatte.

»Wir kommen von Heian-Kyo und sind auf dem Weg zu den Yamabushi, den Bergmönchen.«

»Oh, dann habt Ihr noch eine weite Reise vor Euch. Habt Ihr eine Tatari, eine Rache, auf Euch geladen?«

»Es scheint so«, erwiderte Kenshin ausweichend.

»So nehmt Euch in acht vor den Wesen, welche diese magischen Berge durchstreifen. Es sind uralte Geschöpfe. So wie wir.«

»Ja, seid auf der Hut!«, warnte eine weitere Kopffrucht.

»Auch Ihr könnt Euer Haupt verlieren. Und es wird nicht wieder nachwachsen wie unsere Köpfe, welche jedes Jahr vom Baume fallen und im nächsten Frühjahr erneut sprießen und wachsen«, kicherte die mädchenhafte Stimme.

Ein Gelächter der Gesellschaft war die Folge. Na, das war ja mal ein fröhliches Völkchen. Kenshin musste lächeln. Nachdem er sich einmal an den seltsamen Anblick gewöhnt hatte, fand er die Köpfe ganz nett.

»Ja, bald ist es so weit und wir sind reif genug, um vom Baum zu fallen!«

Auf einmal begannen einige der Köpfe, an ihren Stielen hin und her zu schaukeln. Dabei schrien und juchzten sie vor Vergnügen. Es war ein gruseliger Anblick.

»Hei, das macht Spaß!«, jubelte der zweite Kopf übermütig. »Lasst das sein!«, schimpfte der oberste der Häupter. »Ihr werdet euch selbst abreißen!«

»Ach was«, lachten die Schaukelnden ausgelassen. »Du weißt doch, wir haben so wenig Spaß ...«

»Ihhh!« Ein Schrei des Entsetzens zerriss die Luft. Eine der Kopffrüchte hatte ihren Halt verloren und stürzte nun mit einem fiesen Poltern zu Füßen des Baumes zu Boden. Dort rollte sie noch ein paar Schritte weiter und blieb dann auf dem unteren Teil ihres Gesichts liegen. Den anderen ihrer Art hatte es scheinbar die Sprache verschlagen. Sie rissen weit ihre Münder auf und hatten aufgehört zu schaukeln. Doch nur für einen Moment. Als der am Boden liegende Kopf dumpf jammerte, lachte einer seiner Gefährten auf und spottete: »Was bist du auf einmal so still! Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen!«

Die Blätter rauschten vom Gelächter dieser Schar. Ein wütendes Gurgeln kam von dem am Boden liegenden Haupt. Die Gesellschaft schien Kenshin und Watanabe-San völlig vergessen zu haben.

»Ich habe dich gewarnt!«, tönte das oberste Haupt prophetisch.

»Ach, du alter Spaßverderber!«, maulte der Spötter von eben. »Er hat es einfach übertrieben!« Und wieder begann er, sachte vor und zurück zu schaukeln.

»Jinmenju«, flüsterte Watanabe-San Kenshin zu. Es klang voller Ehrfurcht.

»Ihr da, Wanderer«, sprach der oberste Kopf Kenshin und seinen Gefährten wieder an. »Hebt doch bitte meinen verunglückten Gefährten auf. Ihr könnt ihn mit Euch nehmen, er kann Euch Rat erteilen, solange er wach ist. Wenn er dann tief einschläft, so vergrabt ihn in der Nähe eines Wassers. Es wird binnen dreihundert Jahren ein neuer Baum unserer Art aus ihm erwachsen.«

»Ja, und dann hängt sein Haupt ganz oben!«, lachte ein anderer meckernd.

»Und wenn Ihr … hinunterfallt? Werdet ihr dann lauter neue Bäume …?«, konnte Kenshin sich nicht enthalten zu fragen.

»Nein, wir werden von diesem Baum wieder aufgesogen und erblühen im nächsten Lenz erneut.«

»Und hoffentlich ist dann ein anderer als dieser alte Sauertopf da ganz oben«, kicherte der Spötter.

»Sei still, du Leichtfuß! Ich möchte nicht wissen, was unter deiner Leitung aus unserem Baum werden sollte!«, wies der erste Kopf den Sprecher zurecht.

»Ein Hort des Frohsinns! Wir brauchen keine Philosophie. Wir brauchen etwas zum Lachen, das uns die Zeit vertreibt. Es ist doch schon langweilig genug hier, nur mit euch!«

»Pass auf, was du sagst!«, fuhr ein anderer Kopf ihn an. Schaukelnd nahm er Schwung und rammte den Sprecher von eben wie eine Abrissbirne von hinten.

»Au, lass das!«, beschwerte sich dieser erschrocken.

»Hört sofort mit diesem Unsinn auf!«, rief das »Oberhaupt«. Seine Worte hallten nach, es klang ganz eigenartig in diesem Moment.

»Ist ja gut!«, grummelten die beiden Streithähne.

»Wenn ihr so weitermacht, so werdet ihr nicht mehr neu hier wachsen dürfen«, drohte der oberste Kopf.

Kenshin hatte gemeinsam mit Watanabe-San den Disput verfolgt, gefangen von der außergewöhnlichen Situation. Verrückt! Das hier war vollkommen abwegig und skurril!

Der herabgefallene Kopf bewegte sich am Boden und rief etwas undeutlich: »Bitte, ihr Wanderer, nehmt mich mit. Ich kann Euch tatsächlich Rat erteilen, bevor ich in tiefen Schlaf falle. Ihr habt gesagt, Ihr seid unterwegs zu den Bergmönchen, welche an den Hängen beten? Es wird Euch so manches seltsame Geschöpf begegnen in diesen wilden Bergen.«

Zögernd ging Kenshin auf den am Boden liegenden Kopf zu. Einen Ratgeber konnte er gut gebrauchen. Es war jedoch gruselig, ihn da liegen zu sehen, mit den langen schwarzen Haaren, in denen der Wind wühlte. Sollte Ken den Kopf wirklich aufheben? Ein flaues Gefühl in seinem Magen befiel ihn jäh. Mit ätzender Flüssigkeit stieg der Geschmack der Krebse von heute Mittag widerlich in seiner Speiseröhre empor. Mühsam schluckte Ken das Ganze wieder runter, nochmals und nochmals. Angeekelt betrachtete er den Kopf, der zu seinen Füßen lag. Ein grünes Auge der Frucht schielte flehend zu Ken empor. In dem Auge glitzerte eine Träne auf, quoll über und rann über die Wange des Hauptes.

Es schüttelte Kenshin zwar, doch fühlte er auch Mitleid mit dem Geschöpf. Mit äußerster Selbstbeherrschung zwang er sich, in die Hocke zu gehen und seine Hand nach dem Ding auszustrecken. Nur eine Frucht!Wie ein Apfel oder eine Birne. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis seine Fingerspitzen die sonderbare Frucht berührten. Sie war lebenswarm! Er zog die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Beinahe hätte er sich doch noch übergeben.

Kenshin,nimm dich jetzt zusammen, sei kein Schisser! Es ist nur ein seltsamer Baum! Nur eine Frucht. Noch einmal streckte er die Hände danach aus und diesmal schaffte er es mit zusammengebissenen Zähnen und aufeinandergepressten Lippen, den Kopf anzufassen und mit beiden Händen an Wangen und Kinn zu sich emporzuheben. Er mochte ihn nicht an den Haaren emporziehen. Er wäre sich vorgekommen wie ein ekelhafter Kopfjäger, von denen er genug in der Schlacht von Nagashino gesehen hatte. Der Kopf war viel schwerer, als Kenshin gedacht hatte.

»Danke«, sagte der Kopf erleichtert. Es klang erschöpft. Dreck war an seinem Mund zu sehen, da, wo er auf der Erde gelegen hatte. Er spuckte auch ein wenig Erde aus. Unter dem anderen Auge der Kopffrucht entdeckte Kenshin eine matschige, leicht eingedrückte Stelle, wie bei einem Apfel, der zu Boden gefallen war. Vorsichtig strich er darüber. »Das ist halb so wild«, beruhigte ihn die Frucht. Kenshin fuhr zusammen. Beinahe hätte er den neuen Gefährten noch einmal fallen lassen. Er war es nicht gewohnt, sich mit Früchten zu unterhalten!

Die grünen Augen der Frucht ruhten voller Wärme auf Kenshin. »Danke!«, krächzte der Kopf leise.

Die anderen Kopffrüchte hatten Kenshins Hilfe und den Wortwechsel mit Spannung verfolgt.

»Oh, wie wunderbar«, seufzte die Frucht mit der weiblichen Stimme.

»Ach, sei doch nicht so sentimental!«, spottete eine andere. Kenshin hatte das Gefühl, die Frucht benahm sich wie ein gelangweilter Fernsehzuschauer bei einer Soap Opera.

»Nimm den Mund in Zukunft nicht mehr so voll«, kicherte eine weitere Frucht am Baum an den abgestürzten Kameraden gerichtet. »Jedenfalls nicht so voll Erde! Denk dran und merke es dir, mein Lieber.«

Der Rest der Bande lachte, aber der hinuntergefallene Kopf warf dem ehemaligen Kameraden einen vernichtenden Blick zu. »Ich bin froh, dass ich dein Schandmaul nicht mehr ertragen muss!«, grunzte er. »Ich werde meinen eigenen Baum haben. Ihr werdet mich doch einpflanzen, nicht wahr?« Ein ängstlicher Blick glitt zu Kenshin hinüber. Dieser nickte, schluckte, während er noch immer verzweifelt danach trachtete, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Er brachte jetzt kein Wort heraus. Sein Gefährte Watanabe-San übernahm es, für ihn zu antworten: »Selbstverständlich werden wir Euch eine Ruhestätte in der Erde geben, wenn Ihr eingeschlafen seid.«

Kenshin hörte den Kopf beruhigt aufatmen. Wie machte er das bloß – so ganz ohne Lunge? Der Gedanke verwirrte ihn. Er beschloss, einfach nicht mehr darüber nachzudenken.

»Ich werde einen Korb flechten, in dem wir Euch transportieren können«, setzte Watanabe-San hinzu. »Mein Pferd hat einen weichen Tritt. Ich werde Euren Korb an meinem Sattel befestigen, wenn Ihr einverstanden seid.«

»Ich bedaure, Euch mitteilen zu müssen, dass nur der, welcher mich aufhob, das Recht hat, mich zu transportieren«, versetzte der Kopf würdevoll.

»Ist schon gut, Watanabe-San, ich hänge den Korb an meinen Sattel oder nehme ihn vor mich aufs Pferd«, erklärte Kenshin. Der Krieger nickte. Kenshin öffnete gerade den Mund, um dem »Oberhaupt« ein paar Worte des Abschieds zuzuwerfen, da ertönte hinter ihnen ein hoher spitzer Schrei. Erschrocken fuhr er herum. Er erkannte Kohana, die in nur wenigen Schritten Entfernung stehengeblieben war. Hinter ihr standen Kabu und Watanabe-Sans Hengst, deren Zügel sie gerade fallen gelassen hatte. Ihr schien die Zeit zu lang geworden zu sein. Sie sah sehr blass aus bei dem Anblick des seltsamen Baumes. Beide Hände hatte sie vor den Mund geschlagen und die Augen weit aufgerissen.

»Kommt ruhig näher, Kohana-San«, rief Ken sie herbei. »Dies hier ist kein Grund zur Beunruhigung. Das ist nur unser neuer Gefährte!«

Ungläubig starrte sie ihn an. Ken wurde plötzlich bewusst, dass er diesen seinen Worten selber kaum hätte glauben können, wäre es umgekehrt gewesen. Kohana musste furchtbar erschrocken sein! Wie konnte er sie bloß beruhigen?

Kenshin schritt auf sie zu, den unseligen Kopf immer noch in seinen Händen. Mit einem quietschenden Laut wich sie vor ihm zurück. Ihr Pferd wieherte auf und setzte seine Hufe rückwärts. Kabu und Watanabe-Sans Ross taten es Kohanas Stute gleich.

»Habt keine Furcht, meine Dame«, begann da plötzlich zu allem Überfluss der Kopf zu sprechen, das lädierte Auge auf sie gerichtet. Jetzt schrie Kohana auf, ihr Tier stieg vorne, wendete auf seinen Hinterhufen und galoppierte mitsamt seiner Reiterin davon. Hilflos blieb Ken zurück und starrte der kleiner werdenden Staubwolke nach.

 

 

***

 

Kohanas Stute stob im Galopp mit ihr davon. Sie ließ dem Pferd ein paar Minuten den Willen. Dann sprach sie sanft und beruhigend auf das Tier ein, zügelte es und hielt ein ganzes Stück entfernt von den Männern an. Ihr Magen rebellierte, sie war kurz davor, sich zu übergeben. Was war das nur für ein neues Schrecknis, dieser grauenhafte Baum? Sie hatte ganz genau gesehen, dass menschliche Köpfe daran hingen! Erneut verdrehte der Ekel ihr den Magen. Zwar hatte sie in den Wirren des Krieges schon öfter Köpfe an Bäumen hängen sehen und es war jedes Mal ein gruseliger Anblick gewesen! Doch waren es immer die Schädel von Toten gewesen. Keiner dieser Köpfe hätte es vermocht zu sprechen! Doch genau das war hier der Fall! Der offenbar abgetrennte Kopf in Kenshins Händen hatte geredet! Und der junge Nakamura-Sama schien das für vollkommen normal zu halten! Ja, war sie denn die Einzige, die den Ernst der Lage richtig einschätzen konnte? Merkten die Männer denn nicht, was für eine gefährliche Magie das war? Wenn dieser Kopf reden konnte, obgleich er weder Körper noch Lunge besaß, wer wusste, zu was er noch in der Lage war! Schließlich waren die rachsüchtigen Totengeister ihnen allen ständig auf den Fersen! Hatten sie diese Begegnung arrangiert? Würden sie einen Spion der Onryo mitnehmen? Kohana fuhr sich über das Gesicht und seufzte. Gab sie den Dingen eine zu große Bedeutung, weil die Totengeister ihnen schon so viel Ärger bereitet hatten? Die Männer hielten das Geschöpf offenbar für harmlos und sie waren beide erfahrene Krieger. War sie zu ängstlich? Sah sie Gespenster?

Sie sehnte sich nach weiblicher Gesellschaft, nach einer Frau, der sie vertrauen und die sie um Rat hätte fragen können. Allein unter Männern zu sein, fiel ihr unsagbar schwer. Sie fühlte sich so allein, so wenig verstanden. Was hätte sie darum gegeben, jetzt Etsuko um ihre Meinung zu bitten! Etsuko … Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihr. Wie es ihr wohl jetzt ging? Und dem kleinen Kenshin? Sehnsucht quoll auf in ihrem Herzen, mühsam verschlossene Gefühle, die in diesem Moment ans Tageslicht drängten. Tränen schossen in ihre Augen und das Herz tat ihr so unendlich weh. Hätte sie daheim bleiben und den Männern diese Aufgaben alleine überlassen sollen? Jetzt, in diesem Moment, wünschte sie, sie hätte genau das getan! Sie hätte bei Etsuko und bei ihrem kleinen Sohn bleiben sollen! Oder? Nein, wies sie sich energisch zurecht und wischte die Tränen trotzig mit dem Handrücken fort. Der ungewohnte Anblick hatte Schrecken und Furcht in ihr ausgelöst, ebenso wie in ihrer Stute. Doch wenn die Männer sich dem Anblick stellen konnten, dann konnte sie das auch! Auch sie wurde von den Geistern verfolgt und musste sich davon reinigen. Sie hatte Verantwortung! Und die konnte sie nicht einfach an andere übergeben. Außerdem gingen die Männer ihr zu sorglos mit einer potenziellen Gefahr um. Sie würde die Gefährten nicht davon abhalten können, die Kreatur mitzunehmen. Sie konnte nur aufpassen und vorsichtiger sein als die Männer. Bis sie sich darüber klar war, ob sie sich vor diesem Geschöpf fürchten mussten oder nicht. Denn wenn eine solch große Magie auf ihrer Seite wäre … dann hätten sie vielleicht einen starken Verbündeten mit dem Kopf. Sie beschloss, zu den Männern umzukehren, wendete ihr Pferd und ritt auf ihrer eigenen Fährte zurück.

 

 

***

»Dass Ihr redet, das hätte es jetzt wirklich nicht gebraucht!«, zischte Ken dem Kopf zu, den er auf sich zu gedreht und auf seine eigene Kopfhöhe gehoben hatte. »Jetzt ist sie komplett in Panik geraten!«

Der Kopf verzog den Mund und schlug die Augen schuldbewusst nieder. »Ich konnte ja nicht wissen, dass das passieren würde«, entschuldigte er sich lahm.

»Ach, wirklich nicht?«, giftete Kenshin zurück. »Die meisten Menschen würden panisch reagieren, wenn ihnen jemand mit einem Kopf in der Hand entgegenkommt. Das war mein Anteil. Aber wenn dieser Kopf auch noch zu sprechen beginnt, so ist es kein Wunder, wenn sie Hals über Kopf flüchtet!«

»Hals über Kopf?« Die Frucht kicherte. »Das ist ein lustiges Bild. Ich habe nur eine Staubwolke gesehen!«

Wütend schüttelte Kenshin den Kopf, dass ihm die Zähne klapperten. »Sie ist unsere hochgeehrte Gefährtin und niemand spottet über sie! Verstanden?«

»Ist ja schon gut«, stammelte der Kopf kleinlaut. »Ich habe es ja nicht böse gemeint.«

»Das ist Euer Glück! Noch so eine Respektlosigkeit und ich werfe Euch unter den nächsten Busch!«

»Nein, tut das nicht!« Jetzt konnte Ken die Panik in der Stimme der Frucht hören. »Sumimasen – Es tut mir leid!«

Kenshin nickte befriedigt. Sein Zorn war so plötzlich verraucht, wie er gekommen war. Die Kopffrucht war eben in der Gesellschaft dieser spöttischen Gefährten gewesen, das war nicht so leicht abzulegen. Obwohl er eben einen Geschmack davon bekommen hatte, wie es war, nicht nur dem Geplänkel zuzuhören, sondern selbst Ziel solch respektloser Scherze zu sein.

Kenshin sah zurück zu Watanabe-San. Dieser hatte sich neben dem Baum auf den Boden gesetzt und schien zu meditieren. Kenshin seufzte. »Wir müssen wohl abwarten, bis sie wieder zurückkommt«, meinte er philosophisch, mehr zu sich selbst als zu der Kopffrucht. »Aber bis dahin: Ihr habt gesagt, Ihr könntet uns Rat erteilen. Das ist der Grund, weshalb wir Euch mit uns nehmen. Könnt Ihr uns auch sicher zu den Yamabushi führen?«

»Solange ich wach bin, werde ich tun, was ich kann«, entgegnete der Kopf eifrig. »Schon allein deshalb, weil Ihr mich mitnehmt.«

»Ja«, versetzte Kenshin, »Wir müssen noch ein geeignetes Gefäß für Euch finden. Unser Kessel ist zu klein. Und sicherlich auch zu hart. Außerdem würdet Ihr darin hin und her rollen.«

»Da habt Ihr recht. Euer Gefährte hatte doch angeboten, etwas aus Gras oder aus biegsamen Zweigen zu flechten. Am besten so, dass ich hinausgucken kann. Würdet Ihr dafür sorgen?«

»Ich werde tun, was ich kann«, entgegnete Kenshin mit des Kopfes eigenen Worten. »Aber wie sollen wir Euch nennen? Habt Ihr einen Namen?«

»Was ist ein Name?«

»Eine nähere Bezeichnung. Wir Menschen nennen uns gegenseitig beim Namen, wenn wir etwas erfragen wollen. So weiß der Angesprochene, dass er gemeint ist. Wenn Ihr so etwas nicht kennt, so werde ich Euch einen Namen geben. Was haltet Ihr von Atama - Kopf?«

»Wofür brauche ich einen Namen?«

»Ich könnte Euch fragen, was Ihr von bestimmten Situationen haltet. Oder was für ein Geschöpf ich vor mir habe. Wenn ich sage ›Atama, was ist das?‹, dann wisst Ihr, dass ich Euch gefragt habe.«

»Wenn Ihr meint, dass das nötig ist, so soll es mir recht sein. Nennt mich, wie immer es Euch beliebt. Es bleibt aber Tatsache, dass nicht ich, sondern Ihr einen Namen für mich braucht.«

Kenshin nickte befriedigt. »Danke, Atama. Dann bleiben wir dabei.«

Langsam schlenderte er zu Watanabe-San zurück. Dieser war damit beschäftigt, eine Matte aus Gras zu flechten.

»Für unseren neuen Reisebegleiter«, grinste er.

»Er heißt Atama«, entgegnete Kenshin. »Ich habe ihm gerade diesen Namen gegeben.«

»Sehr einfallsreich«, sagte Watanabe-San lakonisch.

Kenshin verkniff sich eine Entgegnung. Stattdessen fragte der oberste Kopf auf dem Baum neugierig: »Was ist ein Name?«

Kenshin erklärte es ihm, so gut er konnte.

»Das ist eine gute Idee«, fiel einer der unteren Köpfe in begeistertem Tonfall ein. »Wir langweilen uns doch den ganzen Tag. Vielleicht könnten wir uns Namen ausdenken für jeden von uns. Du da oben, dich würde ich Langweiler nennen. Oder Sauertopf. Oder Spielverderber.«

»Und dein Name wäre Schandmaul, Lästerzunge, Nervensäge!«, konterte der Geschmähte.

»Oh, ich sehe schon, das wird lustig«, lachte eine andere Frucht.

»Du bist Bruder Leichtfuß«, spottete das Schandmaul fröhlich.

In der Weise ging es noch eine ganze Weile fort, bis das Spiel den Früchten doch zu langweilig wurde. Und da sah Kenshin, der den Horizont stets im Blick hatte, die Staubwolke wieder größer werden, die vorhin verschwunden war.

»Kohana-San kehrt mit den Tieren zurück!«, informierte er Watanabe-San.

»Gut«, sagte dieser befriedigt. »Wir müssen heute noch etwas vorankommen. Doch da die Pferde nach dem anstrengenden Weg sicher der Ruhe bedürfen, werden wir in der Nähe noch einmal Rast machen.«

»Warum nicht hier bei uns?«, fragte die oberste Kopffrucht.

Ein sehr beredter Blick Watanabe-Sans streifte den hängenden Kopf. »Unsere Pferde erschrecken vor Eurem Anblick. Und auch unsere Gefährtin. Ihr müsst verzeihen.«

Der Kopf seufzte. »Ja, das ist uns schon häufiger geschehen. Wir lassen Euch ungern so schnell gehen, weil wir so selten Besuch empfangen.«

»Könnt Ihr uns nicht noch so ein schönes Spiel zeigen wie das mit den Namen? Das würde uns die Zeit vertreiben, bis wir alle hinabfallen.«

»Ja, das wäre wunderbar.«

Kenshin dachte nach. Ihm kam ein Kinderspiel in den Sinn, welches diese Gesellschaft wohl kaum kannte. »Spielt doch ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹.«

»Wie geht das?«

»Einer von Euch fängt an und sagt: ›Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist …‹ In die Lücke kommt eine Eigenschaft, zum Beispiel eine Farbe oder etwas anderes, das den betreffenden Gegenstand kennzeichnet. Wenn Ihr zum Beispiel die Sonne beschreiben wollt, dann könnt Ihr sagen: ›... und das ist gelb‹. Oder ›… und das ist heiß.‹«

»Aber die Sonne ist doch nicht gelb!«, wandte der oberste Kopf ein.

»Aber heiß«, grinste Schandmaul hämisch. »Sie wird dich vertrocknen und verschrumpeln lassen wie einen Bratapfel. Besonders, weil du ihr so nahe bist, näher als wir anderen ...«

Wieder brauste ein stürmisches Gelächter durch den Baum.

»Jetzt weiß ich, wie ich dich nennen werde«, setzte die Lästerzunge noch einen drauf. »Schrumpfkopf!«

Jetzt musste sogar Kenshin grinsen.

»Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist blau.«

»Der Himmel«, antwortete ein anderer sofort.

»Ja, richtig«, kam es enttäuscht.

»Das ist langweilig. Wie geht das Spiel weiter?«

»Ihr habt es erraten, also müsst Ihr Euch das nächste Rätsel ausdenken«, sagte Kenshin.

»Gut, ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist braun.«

»Weiß nicht«, rief ein anderer. »Dein Schädel?«

»Nein«

»Was dann?«

»Das musst du doch erraten, du hohle Nuss!«

»Wer ist hier eine hohle Nuss?«

Während dieses Geplänkels war Kohana mit den Pferden immer näher gekommen. In etwa zehn Schritten Entfernung hielt sie an. Kenshins und Watanabe-Sans Abschiedsworte an den Baum gingen im lauten Gezänk seiner Früchte unter. Diese waren wieder so in ihre Streitereien vertieft, dass sie die beiden Besucher nicht mehr beachteten.

Kenshin und Watanabe-San gingen Kohana entgegen. Dort erklärten sie ihr die Situation. »Es ist ein Jinmenju«, warf Watanabe-San ein. »Sehr selten. Aber in den Bergtälern zu Hause.«

»Und was ist das?«, fragte Kohana mit nicht zu verkennender Abscheu in der Stimme. Im Sattel zurückgelehnt, zeigte sie auf die Kopffrucht, welche Kenshin immer noch in seinen Händen hielt.

»Ach, das ist Atama, unser neuer Reisebegleiter.« Kohanas Augen zogen sich zusammen, die kleine Nase kräuselte sich. Ihre Abneigung war offensichtlich.

»Er kennt sich hier aus und kann uns Rat geben«, beeilte Kenshin sich, anzufügen. Doch hatte er ganz klar den Eindruck, dass er die Situation nicht mehr würde retten können. Vielleicht würde sie mit der Zeit den Kopf als Mitreisenden akzeptieren.

»Atama?«, fragte sie tonlos. »Er bleibt bei uns?«

Kenshin und Watanabe-San nickten beide mit Nachdruck.

Kohana schlug die Augen nieder. »Nun, wenn Ihr beschlossen habt, ihn mitzunehmen, dann werde ich mich wohl an ihn gewöhnen müssen.«

Kenshin atmete auf. Mehr hatte er nicht erhoffen können.

»Ich schlage vor, wir machen in der Nähe eine kleine Rast«, ließ sich Watanabe-San vernehmen. »Die Pferde hatten nicht genug Ruhe. Und wir müssen noch einen Korb für unseren neuen Gefährten flechten.«

»Ich möchte aber rausgucken können, vergesst das nicht!«, meldete sich Atama eilig. Watanabe-San schnaubte. »Keine Sorge, bei einem lockeren Geflecht entstehen Lücken, durch die Ihr spähen könnt.«

Nur eine halbe Stunde flussaufwärts fanden sie einen gut geeigneten Lagerplatz. Er war von Büschen umstanden und es gab dort genügend Gras für die Tiere. Diese machten sich auch gleich geschäftig ans Werk und weideten in der Nähe des Wassers. Watanabe-San schnitt ein paar biegsame junge Zweige aus dem Strauchwerk und konstruierte daraus ein wespennestähnliches Gebilde, das im Laufe einer weiteren halben Stunde zu einem Korb wuchs. Dort hinein legte er die Grasmatten, die er vorhin unter dem Baum geflochten hatte, sodass ein weiches gemütliches Nest für den Kopf daraus entstand. Er setzte den neuen Gefährten hinein und fragte ihn, ob er es bequem habe.

»Ja, ich bin sehr zufrieden!«, jauchzte Atama. »So traue ich mir die Reise zu. Nur bitte ich Euch, Sorge zu tragen, dass ich nicht darin umherrolle.«

Watanabe-San band Atama mit Grashalmen im Korb fest. »So besser?«

»Danke, ja, viel besser!«

»Dann kann es ja jetzt losgehen!«, drängte Watanabe-San.