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Der Begriff »Nahtoderfahrung« ist inzwischen vielen Menschen geläufig und dennoch haben die meisten nur eine diffuse Vorstellung, um was es dabei geht. Das vorliegende Buch versteht sich daher als eine Art Nachschlagewerk zum Thema: eine kurze und knappe, dennoch ausreichend ausführliche, wissenschaftlich begründete Zusammenfassung zum Stand der Forschung und den Möglichkeiten, diese Erfahrungen zu interpretieren. Somit kann es nicht nur Menschen, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben, helfen, diese einzuordnen und zu verarbeiten, sondern auch Ärzt:innen und den Mitarbeitenden im Gesundheitswesen und Hospizen sowie all jenen, die kürzlich einen nahen Angehörigen verloren haben, oder unheilbar kranken Patienten und ihren Familien.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2023
Wolfgang Knüll
Nahtoderfahrungen – Blick in eine andere Welt
Aktuelle Antworten der Wissenschaft
Patmos Verlag
Für Brigitte
„… und werden sein wie jene Parallelen,
die sich endlich finden in und für Unendlichkeit.“
Inhalt
Vorwort (Pim van Lommel)
Einleitung
I.Allgemeine Informationen
1.Was wissen wir wirklich?
2.Das Problem Nahtoderfahrung
3.Die Geschichte der Nahtoderfahrungen
4.Wann tritt eine Nahtoderfahrung auf?
5.Was geschieht bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand?
6.Die Nahtoderfahrung bei klinischem Tod
II.Nahtoderfahrungen im Licht der aktuellen Wissenschaft
1.Die niederländische Studie 1988–2000 und ihre Vorgeschichte
2.Die präzisen Bedingungen und Ergebnisse der Studie
3.Aktuelle weitere prospektive Studien nach Herzstillstand
III.Die Elemente einer Nahtoderfahrung nach IANDS
1.Die außerkörperliche Erfahrung
2.Die »Tunnel«-Erfahrung
3.Das Lebenspanorama
4.Die Begegnung mit Verstorbenen
5.Die Expansion des Bewusstseins
6.Die Erfahrung anderer Welten
7.Negative Nahtoderfahrungen
8.Die »Grenze«
9.Die Rückkehr in den Körper
IV.Leben mit der Nahtoderfahrung und exemplarische Erfahrungen
1.Leben mit der Nahtoderfahrung
2.Exemplarische Nahtoderfahrungen
3.Eigene direkte Begegnungen mit Nahtoderfahrungen
4.Der Hirntod und das Bewusstseinsphänomen des transplantierten Herzens
V.Mögliche Erklärungen für eine Nahtoderfahrung
1.Klassische naturwissenschaftliche Erklärungsversuche
2.Was sagen uns bildgebende Verfahren vom Gehirn über das Bewusstsein?
3.Das Erklärungsmodell mithilfe der Quantenphysik
4.Wer oder was sind wir eigentlich?
5.Die Grenzen der Wissenschaft
VI.Folgerungen aus den wissenschaftlichen Ergebnissen
1.Das Bewusstsein und sein Gehirn
2.Das Bewusstsein und seine Wahrscheinlichkeit
3.Glauben oder Wissen?
VII.Das fundamentale Bewusstsein
VIII.Bewusstsein – über den Tod hinaus?
Nachwort
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Personenverzeichnis
Bildnachweis
Vorwort
Dieses wundervolle Buch handelt von Nahtoderfahrungen (NTE) und davon, wie die jüngsten wissenschaftlichen Forschungen zu diesen Erfahrungen unsere Vorstellungen von Leben und Tod verändern können. Aus vielen persönlichen Geschichten weiß ich, dass eine Nahtoderfahrung bzw. die Erfahrung eines erweiterten Bewusstseins während einer medizinischen Krise immer noch viele ungläubige und kritische Fragen aufwirft, weil sie im völligen Widerspruch zum konventionellen Wissensstand unserer westlichen Kultur stehen. Aus diesem Grund ist die Nahtoderfahrung nicht nur für weite Teile der Bevölkerung, sondern auch für die meisten Ärzte und Psychologen ein unverständliches und unbekanntes Phänomen. Denn wie kann man es wissenschaftlich erklären, dass Menschen aus einer Zeit offenkundiger Bewusstlosigkeit klare Erinnerungen haben? Oder wie kann es möglich sein, dass ein Herzstillstand von nur wenigen Minuten Dauer lebenslange Veränderungen nach sich zieht? Es scheint so, als ob die NTE eine unvergessliche Begegnung mit unbegrenzten Dimensionen unseres Bewusstseins darstellt. Das vorherige Weltbild verändert sich dadurch radikal. Für jemanden, der selbst keine NTE erlebt hat, dürfte es fast unmöglich sein, die Auswirkungen und lebensverändernden Nachwirkungen dieser überwältigenden Erfahrung wirklich zu verstehen. Unglücklicherweise haben die meisten Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten, immer noch ein nur unzureichendes Wissen über Nahtoderfahrungen und die aktuelle Nahtodforschung. Vielfach haben sie weder von Nahtoderfahrungen noch etwas von den lebensverändernden Auswirkungen dieser Erfahrung gehört oder gelesen.
Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es nach dem gegenwärtigen medizinischen Denkkonzept für unmöglich gehalten wird, während eines Herzstillstands ohne Kreislauf und ohne Atmung, während eines tiefen Komas oder unter Vollnarkose Bewusstsein zu erfahren. Dennoch können Patienten, die genau dies erlebt haben, paradoxerweise vom Auftreten eines erweiterten Bewusstseins berichten, und zwar aus einer kritischen medizinischen Periode, bei Herzstillstand oder Koma mit Bewusstlosigkeit.
In diesen Phasen wird das Bewusstsein außerhalb unserer üblichen Dimension von Zeit und Raum erlebt, mit kognitiven Funktionen, mit Gefühlen, mit erhaltenem Selbst, mit Kindheitserinnerungen und manchmal mit dem Erlebnis von Wahrnehmungen aus einer Position außerhalb und oberhalb des leblosen Körpers. Seit der Veröffentlichung von Raymond Moodys Buch »Leben nach dem Tod« bezeichnet man diese außergewöhnlichen, bewussten Erfahrungen als Nahtoderfahrungen (NTE). Eine solche NTE kann definiert werden als Erinnerung an eine Reihe von Eindrücken während eines außerordentlichen Bewusstseinszustandes, der einige generell auftretende Elemente beinhaltet wie die außerkörperliche Erfahrung, angenehme Gefühle, das Sehen eines Tunnels, eines Lichts, verstorbener Verwandter, einen Lebensrückblick oder die bewusste Rückkehr in den Körper. Viele NTE ereignen sich in lebensbedrohlichen Situationen wie bei einem Herzstillstand (klinischer Tod) oder im Koma, nach traumatischen Hirnverletzungen oder Schlaganfall. Aber nahtodähnliche Erfahrungen werden auch bei schweren Depressionen (»existenzielle Krise«), bei der Meditation (»Erleuchtungserfahrung« oder Erfahrung des »Einsseins«), bei drohenden Verkehrsunfällen (»Todesangst«-Erfahrung), im Endstadium einer Krankheit (Lebensende-Erfahrung) oder auch ohne jeden ersichtlichen Grund gemacht. Eine Nahtoderfahrung ist lebensverändernd und führt immer zum Verlust der Angst vor dem Tod, zu tiefgreifenden Veränderungen im Lebensverständnis und erhöhter intuitiver Sensibilität.
Der Inhalt einer Nahtoderfahrung und die Auswirkungen auf die Patienten scheinen weltweit ähnlich zu sein, über alle Kulturen und alle Zeiten hinweg. Nach einer aktuellen Zufallsumfrage in Deutschland und den USA sollen etwa 4 Prozent der Gesamtbevölkerung in der westlichen Welt eine Nahtoderfahrung gemacht haben. Das bedeutet, dass mehr als 3 Millionen Menschen in Deutschland und etwa 20 Millionen Menschen in Europa eine Nahtoderfahrung gehabt haben müssen. Warum aber hört man betroffene Patienten so gut wie nie mit Ärzten und Pflegepersonal darüber sprechen? Viele zögern, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen, weil sie so viele negative Reaktionen darauf bekommen. Doch gerade Nahtoderfahrende brauchen ein Gefühl des Vertrauens, dass man ihnen kommentarlos und ohne Vorurteile zuhört. Anscheinend wirft eine Nahtoderfahrung immer noch zu viele kritische Fragen vor allem bei Neurowissenschaftlern auf, denn die meisten Wissenschaftler sind nach wie vor fest davon überzeugt, dass es nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht möglich sein dürfte, Bewusstsein zu erleben, wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert.
Viele Theorien wurden vorgeschlagen, um eine Nahtoderfahrung zu erklären. Indes gibt es 4 prospektive Studien mit identischem Studiendesign, bei denen insgesamt 562 aufeinanderfolgende Überlebende eines Herzstillstands interviewt wurden und bei denen zwischen 11 und 18 Prozent tatsächlich von einer Nahtoderfahrung berichteten. Diese Studien lieferten absolut keinen Hinweis auf Erklärungen durch physiologische, psychologische, pharmakologische oder demografische Faktoren für diese Erfahrungen während des Herzstillstands. Bei einer rein physiologischen Erklärung wie Sauerstoffmangel im Gehirn müssten die allermeisten klinisch toten Patienten von einer Nahtoderfahrung berichten, denn in diesen Studien waren alle Patienten nach Herzstillstand erst aufgrund des Sauerstoffmangels im Gehirn bewusstlos geworden. Dennoch berichtete nur ein kleiner Prozentsatz von einer Nahtoderfahrung. Außerdem ist bekannt, dass auch Menschen ohne Sauerstoffmangel im Gehirn, z. B. bei Depressionen, Meditation oder bei drohendem Verkehrsunfall, ein erweitertes Bewusstsein erleben können.
Es stellt sich die Frage, wie ein klares Bewusstsein außerhalb des eigenen Körpers in dem Moment erlebt werden kann, in dem das Gehirn während einer Phase des klinischen Todes oder des Komas nicht mehr funktioniert, bei einem EEG mit flacher Linie. Ein EEG ist die Aufzeichnung der elektrischen Aktivitäten des Gehirns. Darüber hinaus haben selbst blinde Menschen während ihrer Nahtoderfahrung wahrheitsgemäße visuelle Wahrnehmungen bei außerkörperlichen Erfahrungen beschrieben.
Was also wissen wir über die Funktion des Gehirns während eines Herzstillstands? In zahlreichen Studien mit induziertem Herzstillstand sowohl bei Menschen als auch bei Tieren wurde gezeigt, dass die Gehirnfunktion währenddessen stark beeinträchtigt ist. Die Gehirnversorgung kommt vollständig zum Erliegen, was zu klinischen Symptomen des plötzlichen Bewusstseinsverlusts führt, des Ausfalls der Atmung (Apnoe), des Ausfalls aller Körperreflexe (eine Funktion der Hirnrinde), aber auch des Verlusts aller Hirnstammreflexe wie Würgereflex oder Hornhautreflex mit starren und erweiterten Pupillen. Die elektrische Aktivität sowohl in der Großhirnrinde (EEG) als auch in den tieferen Strukturen des Gehirns (bei Tieren) ist nachweislich nach sehr kurzer Zeit (10 bis 20 Sekunden) verschwunden (Null-Linie). Eine erfolgreiche Herz-Lungen-Wiederbelebung (CPR) reicht aber immer über diese 20 Sekunden hinaus. Meist dauert es mindestens 2 bis 4 Minuten, in der Regel noch deutlich länger. Alle Autoren der 4 prospektiven Studien über NTE zogen daraus den zwingenden Schluss, dass eine NTE mit Herzstillstand und vorübergehendem Ausfall aller Funktionen des Kortex, also der Großhirnrinde und des Hirnstamms, bei einem flachen EEG erlebt worden sein musste.
Damit stellt sich die Frage, wie das Bewusstsein mit der Gesamtfunktion des Gehirns zusammenhängt. Die wissenschaftliche Nahtoderforschung bringt uns erkennbar an die Grenzen unserer medizinischen und neurophysiologischen Vorstellungen in Bezug auf die Reichweite des menschlichen Bewusstseins und die Beziehung zwischen Geist und Gehirn. Denn auf der Grundlage dieser prospektiven Studien müssen wir einräumen, dass es nicht möglich ist, Bewusstsein auf neuronale Prozesse zu reduzieren, wie die heutigen Neurowissenschaften sie verstehen.
Das Paradoxon, dass gerade in einer Phase, in der die Durchblutung des Gehirns vollkommen zum Erliegen kommt, ein erweitertes und klares Bewusstsein sowie logische Denkprozesse möglich sind, wirft besonders heikle Fragen zu unserem heutigen Verständnis von Bewusstsein und der Beziehung zwischen Bewusstsein und Gehirnfunktionen auf. Ein klares Empfindungsvermögen und komplexe Wahrnehmungsprozesse während einer Phase offensichtlichen klinischen Todes ist eine Herausforderung an das Konzept, nach dem das Bewusstsein ausschließlich im Gehirn verankert ist. Überdies deuten die Daten aus mehreren NTE-Studien mit bestätigten, wahrheitsgetreuen Wahrnehmungen während Wiederbelebung, in Vollnarkose oder im Koma darauf hin, dass die NTE exakt während der Bewusstlosigkeit auftritt und nicht etwa in den ersten oder letzten Sekunden des Herzstillstands oder des Komas. Dies ist eine überraschende Schlussfolgerung, denn wenn das Gehirn so außer Funktion ist, dass der Patient in tiefem Koma liegt, müssen die Hirnstrukturen, die subjektive Erfahrung und Erinnerung stärken, ernsthaft beeinträchtigt sein. Dann könnten komplexe Erfahrungen, wie sie von einer NTE berichtet werden, gar nicht auftreten oder sogar im Gedächtnis bewahrt werden. Von solchen Patienten würde man überhaupt keine subjektive Erfahrung erwarten.
Wenn man aber »glaubt«, dass das Bewusstsein nur ein Nebeneffekt eines funktionierenden Gehirns ist, dann ist es aus der Sicht der Mainstream-Wissenschaft natürlich auch unmöglich, eine wissenschaftliche Erklärung für die NTE zu finden, weil aus diesem materialistischen Ansatz mit absoluter Konsequenz folgt, dass Bewusstsein völlig von der physischen Integrität des Gehirns abhängt. Ohne funktionierendes Gehirn kann man nicht bei Bewusstsein sein, denn nach gängigem Stand der Neurowissenschaft ist das Gehirn nur mehr die Maschine, die Bewusstsein überhaupt erst erzeugt. Wenn diese Maschine ausfällt, sollte das Bewusstsein aufhören zu existieren. Die Beschädigung oder Zerstörung des Gehirns sollte also zu einem vollständigen Zusammenbruch unseres Geistes führen. Dass diese – mangels Beweisen für andere Theorien zur NTE – wissenschaftlich nie bewiesene Hypothese der Erzeugung von Bewusstsein und Erinnerungen von großen Gruppen von Neuronen und im Gehirn dringend diskutiert werden sollte, liegt auf der Hand.
Eine andere Theorie besagt, dass es sich bei der NTE um einen veränderten Bewusstseinszustand handeln könnte, oder die Theorie einer Kontinuität des Bewusstseins, bei der Erinnerungen, Identität und Wahrnehmung sowie Emotionen unabhängig vom unbewussten Körper funktionieren und so die Möglichkeit der »außersinnlichen« Wahrnehmung erhalten bleibt. Jedenfalls ist festzustellen, dass während der NTE offensichtlich ein erweitertes Bewusstsein erlebt wird, das unabhängig vom normalen körpergebundenen Wachbewusstsein existiert.
In den letzten 40 Jahren wurde viel über die Nahtoderfahrung und ihre Folgewirkungen geschrieben. Seit der Veröffentlichung von 4 prospektiven Studien über Nahtoderfahrungen bei Überlebenden eines Herzstillstands mit auffallend ähnlichen Ergebnissen und Schlussfolgerungen kann das Phänomen der Nahtoderfahrung wissenschaftlich nicht mehr ignoriert werden. Es handelt sich um eine authentische Erfahrung, die nicht einfach auf Einbildung, Todesangst, Halluzinationen, Psychosen, Drogenkonsum oder Sauerstoffmangel reduziert werden kann, und die Menschen scheinen durch eine NTE während eines Herzstillstands von nur wenigen Minuten dauerhaft verändert zu sein.
Wie bereits erwähnt, ist die derzeitige materialistische Sichtweise der Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein, wie sie von den meisten Ärzten, Philosophen und Psychologen dennoch vertreten wird, für ein angemessenes Verständnis dieses Phänomens viel zu begrenzt. Die materialistische Wissenschaft geht grundsätzlich gern von einer Realität aus, die allein auf physikalisch beobachtbaren Daten beruht. Wir sollten uns jedoch bewusst sein, dass es neben der äußeren, sogenannten objektiven Wahrnehmung und Beobachtung auch subjektive, nicht beobachtbare und unbeweisbare Aspekte wie Gedanken, Gefühle, Inspiration und Intuition gibt. Wir können aber nur die elektrischen, magnetischen und chemischen Aktivitäten im Gehirn mittels EEG, MEG und PET-Scan messen und Veränderungen des Blutflusses im Gehirn mittels MRT nachweisen, dies sind jedoch lediglich neurale Korrelate des Bewusstseins. Solche Messungen erklären weder etwas über Entstehung noch über den Inhalt von Bewusstsein. Mit unseren gegenwärtig objektiv verfügbaren wissenschaftlichen Techniken ist man nicht einmal in der Lage, den Inhalt der subjektiven Erfahrungen in unserem Bewusstsein zu beweisen, zu messen, zu objektivieren oder zu falsifizieren. Wie Neuronen oder neuronale Netzwerke die subjektive Essenz unserer Gedanken und Gefühle erzeugen könnten, dazu fehlt jeder direkte Nachweis.
Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse und Schlussfolgerungen der neueren NTE-Forschung gibt es inzwischen sehr gute Gründe für die Annahme, dass unser Bewusstsein nicht immer mit der Funktion unseres Gehirns übereinstimmt. So wird ein erweitertes Bewusstsein manchmal auch vollkommen unabhängig vom Körper erlebt. Dessen eingedenk, muss man zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass das Gehirn höchstwahrscheinlich eine unterstützende und nicht eine erzeugende Funktion hat, um ein waches Bewusstsein zu erfahren. Man sollte daher überlegen, die Funktion des Gehirns als eine Art Transceiver, als Sendeempfänger oder als Schnittstelle in Betracht zu ziehen. Indem wir ein wissenschaftliches Argument für Bewusstsein als ein nichtlokales und daher allgegenwärtiges Phänomen vorbringen, müssen wir natürlich das rein materialistische Paradigma der Wissenschaft infrage stellen. Dennoch sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass die Akzeptanz neuer wissenschaftlicher Ideen im Allgemeinen und die Idee der Erfahrung eines erweiterten Bewusstseins, das unabhängig von einem normal funktionierenden Gehirn ist, von uns Aufgeschlossenheit verlangt und die Bereitschaft, Dogmen aufzugeben.
Ich hoffe jedenfalls, dass wir in naher Zukunft nichtlokale Konzepte akzeptieren werden, um zu verstehen, wie wir miteinander verbunden sind und immer sein werden, auch nach dem physischen Tod, und dass wir persönlich unser Bewusstsein ändern müssen, nicht nur, indem wir unsere Lebensweise umstellen, sondern auch, um die Art und Weise zu korrigieren, wie wir mit Menschen umgehen wollen, die bereit und in der Lage sind, ihre Nahtoderfahrungen oder andere Erfahrungen mit erweitertem Bewusstsein mit uns zu teilen. Ihr Leben hat sich in einer Weise gewandelt, auf die sie nicht vorbereitet waren, und sie alle sagen uns, dass sich ihre Vorstellungen vom Leben und vom Tod grundlegend verändert haben, denn, wie mir ein Betroffener sagte: »Du kannst physisch tot sein, aber dein Geist lebt weiter.« Ein anderer meinte: »Der Tod war nicht der Tod, sondern eine andere Form des Lebens.« Der Tod bedeutete für sie nur das Ende ihrer körperlichen Existenz, aber nicht das Ende ihres Bewusstseins. Diese Menschen sind davon überzeugt, dass Bewusstsein unsere Essenz ist, und sobald wir unseren Körper, unsere physische Welt verlassen, existieren wir als reines Bewusstsein, jenseits von Zeit und Raum, und sind von reiner, bedingungsloser Liebe umhüllt. Es ist offensichtlich, dass uns diese neue Einsicht helfen wird, das Konzept der Kontinuität des Bewusstseins besser zu verstehen.
Für mich ist dieses wichtige, sehr gut geschriebene Buch mit Abstand eines der besten wissenschaftlich fundierten Bücher über Nahtoderfahrungen, die jemals in deutscher Sprache erschienen sind. Es beschreibt nicht nur viele beeindruckende Schilderungen der verschiedenen Elemente einer Nahtoderfahrung, sondern umfasst auch den theoretischen Hintergrund, wie man Ursache und Inhalt solcher Erfahrungen interpretieren kann. Auf der Grundlage vieler neuerer Studien sowie der Erkenntnisse der NTE-Forschung sollte die unausweichliche Schlussfolgerung lauten, dass das Gehirn nicht Produzent des Bewusstseins sein kann, sondern nur Vermittler.
Dieses Buch hat das Potenzial, viele wissenschaftliche Tabus bezüglich unserer derzeitigen materialistischen Vorstellungen über das Bewusstsein, über die Beziehung zwischen Geist und Gehirn sowie über Leben und Tod zu brechen. Durch die Lektüre können wir von den Erkenntnissen der Nahtoderfahrung profitieren, ohne dafür »beinahe« sterben zu müssen. Ich kann dieses Buch allen interessierten und aufgeschlossenen Lesern nur wärmstens empfehlen, aber natürlich auch Menschen, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben, die kürzlich einen nahen Angehörigen verloren haben sowie den Mitarbeitern im Gesundheitswesen oder unheilbar kranken Patienten und ihren Familien.
Pim van Lommel, Kardiologe, Nahtodforscher, Autor des Buches »Endloses Bewusstsein«
Einleitung
Wenn ich eine Milliarde Jahre lang leben würde, in meinem oder in Ihrem Körper, es gäbe keine einzige Erfahrung auf der Erde, die jemals so gut sein könnte, wie tot zu sein, absolut gar nichts.
Dianne Morrissey1
Als Arzt müsste ich Sie eigentlich gleich zu Anfang »vor Risiken und Nebenwirkungen« warnen, denn die Lektüre dieses Buches könnte Ihre Sicht auf die Welt und das, was Sie für Leben halten, von Grund auf verändern – wenn Sie ernst nehmen, was Sie lesen werden.
Von sogenanntem Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen haben inzwischen viele von Ihnen gehört. Umfangreiche Erlebnisberichte füllen ganze Regale. Aber kurz und knapp, dennoch umfänglich genug und darüber hinaus wissenschaftlich begründet, werden Sie im Augenblick dazu nichts finden. Diese Lücke soll das vorliegende Buch schließen. Dazu wird in allgemeinverständlicher Form Auskunft über ein Phänomen gegeben, von dem Menschen berichten, die in der Sprache der Medizin entweder klinisch tot waren, dem Tod sehr nahegekommen sind oder sich in extremen Ausnahmesituationen befanden. Allerdings wird das Kriterium des klinischen Todes im Mittelpunkt stehen, weil in dieser eindeutigen Situation alle naturwissenschaftlich messbaren Einflüsse des Lebens sozusagen ausgeschaltet sind.
Die vorliegende Arbeit erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit noch besteht die Absicht, allen akademischen Ansprüchen zu genügen. Sie dient in komprimierter Form einer verlässlichen Information zu Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen über das populär Bekannte hinaus. Dieses Konzept machte es nötig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dazu beziehe ich mich selbstverständlich durchweg auf gesicherte und unter wissenschaftlichen Bedingungen erhobene Daten. Zudem finden weitere geprüfte Quellen Verwendung.
Niemand soll überzeugt oder gar überredet werden, schon gar nicht die Skeptiker, denn diese verlangen immer ein Argument mehr, als man vorgetragen hat. Das Problem beklagte bereits die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, wenn man den Wahrheitsgehalt ihrer Interviews auch beim Tausendsten noch anzweifelte. Gegen Schluss werde ich versuchen, die Nahtoderfahrung mithilfe der Quantenmechanik zu erklären, soweit dies möglich ist. Der Einfachheit halber verwende ich für den Leser den eigentlich unscharfen, aber geläufigeren Begriff Quantenphysik. Da kommen wir an die Grenzen von Wissenschaft. Esoterische Ausflüge werden unterbleiben.
Wegen der Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstands darf man natürlich keinen naturwissenschaftlichen Beweis erwarten, etwa mit wiederholbarem Experiment oder mathematischer Formel. Darum habe ich Schwierigkeiten mit dem Autor und Arzt Jeffrey Long, der in seinem Buch von Beweisen für ein Leben nach dem Tod spricht. Beweise in diesem Sinn kann es eben gerade nicht geben. Aber es gibt viele verlässliche, von Dritten zweifelsfrei bezeugte Nachweise über ein Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen, die unter wissenschaftlichen Bedingungen erhoben wurden, und zwar während des klinischen Todes. Deshalb werde ich einfach die Fakten darlegen, damit sich jeder selbst ein Urteil bilden kann.
Der Leser wird also nach Art eines Geschworenen einem Indizienprozess beiwohnen, in dem sehr viele vertrauenswürdige und glaubhafte Zeugen aufgeboten werden. Das Ergebnis der Beweisaufnahme liegt jenseits jeden vernünftigen Zweifels, aber es ist eben kein naturwissenschaftlicher Beweis, weil wir nicht einmal beweisen können, dass Bewusstsein überhaupt existiert, und wir haben absolut keine Ahnung, was Bewusstsein überhaupt ist und wo es lokalisiert sein soll. Der Philosoph David Chalmers hält Bewusstsein für das härteste Problem. Da befinden wir uns eigentlich immer noch auf der Erkenntnisstufe des 17. Jahrhunderts, bei dem Mathematiker und Philosophen René Descartes2: »Ich kann an allem zweifeln, nur nicht daran, dass ich denke. Ich denke, also bin ich« (Cogito ergo sum). Dass die Bewusstseinswelt der Nahtoderfahrungen hier weiterhelfen kann, steht für mich fest.
Im Übrigen habe ich mich bei meinem Ansatz von Wolfgang Pauli leiten lassen, dem neben Einstein vielleicht bedeutendsten theoretischen Physiker. Er schrieb unter anderem, dass es ihm um die ganzheitlichen Beziehungen zwischen der Welt der Physik und Metaphysik ginge, welche die heutige Naturwissenschaft nicht enthielte. Dazu arbeitete er sogar lange Jahre mit dem Psychoanalytiker C. G. Jung zusammen. Pauli behauptete von sich, an die Grenze des Erkennbaren gekommen zu sein. Da auch dieses Buch notwendig dorthin führen wird, bin ich mir über die Gefahr im Klaren, die darin besteht, ins Unwägbare und Esoterische abzugleiten. Deshalb kam es für mich darauf an, wie Pauli sich ausdrückte, »die positiven Resultate und Werte der Ratio unbedingt festzuhalten«. Pauli meinte über diese Gefahr: »Der Weg, auf dem wir versuchen, zur Wahrheit zu kommen, führt genau zwischen diesen beiden Polen hindurch: Zwischen der Skylla eines blauen Dunstes von Mystik und der Charybdis3 eines sterilen Rationalismus. Dieser Weg wird immer voller Fallen sein, und man kann nach beiden Seiten abstürzen.«4 Das ist ein zutreffendes Bild und es beschreibt die Herausforderung: Auf das Ganze zu schauen und mit klarer Ratio vorzugehen, ohne nach einer Seite abzustürzen, aber auch ohne den Kopf abzuwenden, wenn ein Ergebnis naturwissenschaftlich nicht gefällt. Um eine tatsächlich kurze Geschichte von Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen zu erzählen, musste ich vieles zur Historie weglassen. Manches werden Sie als Leser also vielleicht vermissen. Den Bogen von Bewusstsein bei Nahtoderfahrung zur modernen Naturwissenschaft zu schlagen, erschien mir so notwendig wie überfällig. Dabei erweist sich die Bemühung um eine Erklärung des Bewusstseins als mindestens so komplex wie die dazugehörige Nahtoderfahrung. War es zum Verständnis nötig, so habe ich vereinzelt stark vereinfacht, etwa bei dem Erklärungsversuch mithilfe der Quantenphysik. Wenn es gegen Schluss des Buches dennoch etwas kompliziert werden muss, dann liegt das weniger an mir als am Gegenstand der Betrachtung. Jedenfalls habe ich versucht, mich so einfach und klar wie möglich auszudrücken. Im Gegenzug wünsche ich mir von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen offenen Geist.
Wolfgang Knüll, Dannenberg, im Juli 2022
I. Allgemeine Informationen
Eine neue große wissenschaftliche Idee pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner allmählich überzeugt und bekehrt werden – dass aus einem Saulus ein Paulus wird, ist eine große Seltenheit –, sondern vielmehr in der Weise, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Idee vertraut gemacht wird.
Max Planck5
Eine Nahtoderfahrung (NTE) kann am ehesten als die Schilderung eines außerordentlichen Bewusstseinszustandes umschrieben werden. Vor dem Hintergrund einer Expansion des Bewusstseins ins Hyperreale kommt es zu einer auf das Klarste und Schärfste erweiterten Wahrnehmung jenseits aller physikalischen Gesetze von Optik und Akustik. Mag der Körper extrem geschädigt sein, der Mensch erlebt sich als Gesamtheit vollkommen unversehrt und ins Geistwesenhafte überhöht. Diese Überhöhung spiegelt sich in der Erinnerung an die Eindrücke, die dieser außerordentliche Zustand erlaubt hat. Darauf wird im Einzelnen detailliert eingegangen werden.
Da die Nahtoderfahrung in allergrößter Bewusstseinsklarheit wahrgenommen wird, der Erfahrende aber unvermeidlich irgendwann in seinen irdischen Körper zurückkehrt, müssen Bewusstsein und Nahtoderfahrung in diesem Zeitraum notwendig miteinander verbunden gewesen sein. Denn die Nahtoderfahrung bedingt ein Bewusstsein, das zur Leistung der Erinnerung fähig ist. Sonst wüssten die Nahtoderfahrenden darüber nichts. Unterziehen wir diese grundlegende Frage bei Nahtoderfahrungen einer genauen Betrachtung, dann erweist sie sich als eine nach dem Bewusstsein. Es gilt also, die Art und Weise dieses Bewusstseins zu klären.
Obwohl jede Nahtoderfahrung individuell und unterschiedlich ist, eint alle die frappierende Ähnlichkeit einer Bewusstseinseruption hinein ins Unvorstellbare. Umfragen in den USA, Australien und Deutschland, die von der Internationalen Gesellschaft für Nahtodstudien6 (IANDS) durchgeführt wurden, deuten darauf hin, dass 4 bis 5 Prozent der Menschen eine solche oder ähnliche Erfahrung hatten.7 Das betrifft allein in Deutschland Millionen. Trotzdem ist das Thema immer noch weitgehend tabu. Wer von seinem Erlebnis spricht, der stößt wegen der Abnormität seiner Äußerungen oft auf Ablehnung oder der Frau, dem Mann und besonders dem Kind wird schlicht nicht geglaubt, weil eine Nahtoderfahrung jeden gängigen Denkrahmen sprengt und mit moderner Wissenschaft kaum in Einklang zu bringen ist.
Das Haupthindernis im Umgang mit Nahtoderfahrungen dürfte jedoch für die allermeisten Menschen der Gedanke an das Lebensende sein. Der schwingt ja ungewollt sofort mit, wenn von Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Tod die Rede ist. Da der Begriff »Tod« umgangssprachlich das ultimative Ende der irdischen Existenz beschreibt, welches man gewöhnlich fürchtet, ist ein Gespräch über das Thema in der Regel unangenehm. Dabei wissen wir vom Tod nicht mehr, als dass er für jedes Lebewesen unvermeidlich ist. Genau betrachtet, markiert er lediglich den Endpunkt dessen, was wir unter Leben zu verstehen in der Lage sind. Und nun soll da auf einmal noch etwas sein, worüber Menschen sogar berichten können?
Obwohl fast alle Religionen Versprechungen über das Jenseits machen, fällt es dem wissenschaftlich aufgeklärten Menschen schwer, an ein scheinbar reales Beispiel aus diesem Bereich zu glauben. Das trifft erst recht dann zu, wenn jemand an-geblich vom Tod zurückgekehrt sein soll. Aber da fängt es schon an mit der Undeutlichkeit. Waren diese Menschen wirklich tot und auf der sogenannten anderen Seite? Nach dem geltenden Verständnis der Naturwissenschaft ist das nicht möglich.
Hat sich eine derartige Nahtoderfahrung zudem bei Herzstillstand, in tiefer Bewusstlosigkeit und angeblich ohne ein waches Gehirn ereignet, bei klinischem Tod etwa, so ist das dem gesunden Menschenverstand erst recht verdächtig. Bewusstsein über den Tod hinaus also? Das sprengt jede Vorstellungskraft, im wahrsten Sinn des Wortes. Es muss also unbedingt irgendeine natürliche Erklärung für das Phänomen geben bzw. gefunden werden. Oder benötigt man womöglich einen ganz anderen Denkansatz?
Um einer Antwort so nahe wie möglich zu kommen und gleichzeitig Zweifel an der Begründung auszuräumen, soll in diesem Buch fast ausnahmslos auf die Menschen eingegangen werden, die tatsächlich klinisch tot8 waren und uns von jenseits dessen erzählen. Dass man nicht mit der klassischen Naturwissenschaft ans Werk gehen kann, in der das wiederholbare Experiment mit immer gleichem Ergebnis gefordert wird, wurde im Vorwort hinlänglich ausgeschlossen.
Natürlich könnte man – wie in dem Kinofilm »Flatliners« – das Herz unter Einsatz eines Defibrillators9 durch Stromstoß anhalten und nach einer festzulegenden Zeit auf dieselbe Weise mit Elektroschock wieder zum Schlagen bringen. Das wäre in der Tat die Situation eines klinischen Todes. Aber was soll man während des Vorgangs messen? Man könnte die Probanden hinterher lediglich fragen, ob sie sich an etwas aus ihrer Zeit des Herzstillstandes mit Bewusstlosigkeit erinnern. Von außen sähe man nichts, außer einer Null-Linie im Elektrokardiogramm des Herzens (EKG)10 und einer flachen Ableitung der Hirnströme im Elektroenzephalogramm (Flat-Line-EEG)11. Die Nahtoderfahrung selbst bliebe unmessbar. Es gäbe erneut nur subjektive Geschichten und keinen objektiven Beweis. Wobei die ethische Unmöglichkeit eines solchen Versuches auf der Hand liegt, denn natürlich setzte man dabei das Leben der Versuchspersonen aufs Spiel. Und letztendlich hätten wir dann immer noch keine vernünftige Antwort auf das »Wie« oder »Warum«. Ist womöglich die Grenze naturwissenschaftlicher Erkenntnis bei den Nahtoderfahrungen mit einem Bewusstsein im Zustand des klinischen Todes erreicht? Das scheint fast so. Dennoch können ein paar dieser Rätsel vom Rand des Lebens, wenn schon nicht gelöst, so doch einer Lösung um vieles nähergebracht werden.
1.Was wissen wir wirklich?
Vier große Männer haben die Welt seit Anbeginn der Moderne wunderbar erklärt. Es begann um 1600 mit Galileo Galilei, der die Gesetze der Mechanik sozusagen erfand. Der Mathematiker und Philosoph René Descartes wies dem denkenden Geist des Menschen (res cogitans) eine besondere Rolle zu, indem er ihn von der materiellen Umgebung, den äußeren erkennbaren Dingen (res extensa) abtrennte. Das nennt man den cartesischen Schnitt. Darüber verankerte er Gott. Damit war der Geist des Menschen sozusagen aufgerufen, die Welt und die Materie zu erforschen.
Isaac Newton erweiterte das Konzept und legte in seinem Werk über »Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie« (Philosophiae Naturalis Principia Mathematica) Raum und Zeit als unabänderlich und ebenfalls göttlichen Ursprungs fest. Der philosophische Segen für diesen Denkansatz wurde ihm einige Jahrzehnte später von Immanuel Kant erteilt, der Raum und Zeit als ein a priori, ein immer Seiendes, mit Gott als seinem Schöpfer definierte.
Auf dieser Basis konnte der berühmte Gelehrte Pierre-Simon Laplace um 1800 behaupten, alles berechnen zu können, wenn er nur um die gegebenen Bedingungen wüsste. Davon hörte Napoleon. Dessen Einwand, wo denn bei dieser Überlegung Gott bliebe, begegnete Laplace mit den berühmten Worten: »Sire, diese Hypothese habe ich nicht benötigt.« Unter der Bezeichnung Laplace´scher Dämon, also eine Art dämonischer Alleswisser, hat die Redewendung Eingang in Wissenschaft und Literatur gefunden.
Rund 100 Jahre funktionierte das sehr gut mit dieser pragmatischen Denkweise. Dann kam Max Planck, dem ein Professor vom Physikstudium abgeraten hatte, weil bis auf ein paar uninteressante Reste alles bekannt wäre. Planck ließ sich jedoch nicht abschrecken und betrat völliges Neuland, als er die Grundlagen der Quantentheorie12 formulierte. Er sprach wörtlich von einem »Akt der Verzweiflung«13, der ihn dazu gebracht hätte, weil ihm seine eigenen Annahmen so absurd erschienen. Ein paar Jahre später veröffentlichte Albert Einstein die spezielle und darauffolgend die allgemeine Relativitätstheorie. In der Nähe der Lichtgeschwindigkeit verhielten sich Zeit und Raum auf einmal völlig anders als gedacht. Sie waren nicht mehr unveränderlich und auch nicht mehr voneinander getrennt. Schwerkraft, Gravitation, ließ sich als Krümmung der Raumzeit beschreiben, und durch die neuen Erkenntnisse der Quantenphysik14 wurde im ganz Kleinen, in der Welt der Quanten, alles vollkommen unbestimmt und unvorhersagbar. Es sollten nur noch Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten existieren anstatt eindeutiger Fakten. Der objektive Zufall in dieser neuen Physik läutete schließlich das Ende des Determinismus in der Naturwissenschaft ein, und auf einmal war nichts mehr so wie vorher. Der Laplace´sche Dämon, der alles vorhersagen konnte, hatte ausgedient. Die sich auf dieser Basis immer weiter entwickelnden Anwendungen der Quantenmechanik mit Handys, Computern und der ganzen Elektronik sorgen aktuell für über 40 Prozent des Weltbruttosozialproduktes.15
Unsere Absichten und Träume aber, unsere Empfindungen wie Liebe, Hoffnung, Glück, Schönheit, alles, was den Menschen als Gesamtperson betrifft und den allergrößten Teil seines Lebens wesentlich bestimmt, war weiterhin unter dem Radar der Naturwissenschaft, denn das unterliegt der Subjektivität. Für ein Gefühl gibt es keine mathematische Gleichung, und weil man mit Gefühlen nicht einfach experimentieren kann, wird der ganze Gefühlsbereich kurzerhand auf das physikalisch Beweisbare oder auf einen chemischen Prozess reduziert. Das ist erkennbar zu kurz gesprungen. Es hilft nämlich kaum weiter, dass man die Pixel einer Emotion auf einem Monitorbild des Gehirns rot oder blau einfärbt, die Anzahl der Verse von Goethes Faust, die Töne von Ludwig Beethovens Neunter Symphonie oder die verschiedenen Buchstaben eines Gedichtes von Emily Dickinson zusammenzählt. Ebenso wenig wird man durch die noch so objektive Angabe der Wellenlängen des Lichtes dem ungeheuren Erlebnis eines Sonnenunterganges gerecht werden. Aber naturwissenschaftlich ist dazu nicht mehr zu sagen, und das geht offenkundig am Wesen der Dinge vorbei.
Neben der Unmöglichkeit, diese subjektive, lebendige Dimension des Menschen und der Natur zu erfassen, werden weitere grundlegende Fragen nicht einmal gestellt, wie der Quantenphysiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker zu Recht kritisierte. Er tadelte diese bewusst in Kauf genommene Beschränkung mit drastischen Worten: »Es ist charakteristisch für die Physik, so wie sie neuzeitlich betrieben wird, dass sie nicht wirklich fragt, was Materie ist, für die Biologie, dass sie nicht wirklich fragt, was Leben ist, und für die Psychologie, dass sie nicht wirklich fragt, was Seele ist, sondern dass mit diesen Worten nur vage ein Bereich umschrieben wird, in dem man zu forschen beabsichtigt. Auf der anderen Seite darf man sich nicht darüber täuschen, dass das methodische Verfahren der Wissenschaft, das ich soeben charakterisiert habe, wenn es sich über seine eigene Fragwürdigkeit nicht mehr klar ist, etwas Mörderisches an sich hat.«16 Von Weizsäcker folgerte daraus, dass aber genau dies den Erfolg der Naturwissenschaften ausmache, diese Fragen nicht zu stellen. Das trifft sicher den Kern. Denn Erfolg basiert auf dem Nützlichkeitsprinzip: Wissenschaft soll Geld verdienen. Deshalb wird heutzutage bei den meisten Forschungsvorhaben zuerst gefragt, ob sie sich in Euro oder Dollar niederschlagen werden. Mit Forschung nach der Essenz von Leben, nach Geist oder gar Seele, nach dem Wesen von Materie ist kein Cent zu verdienen. Erst recht bezahlt daher niemand die Forschung für die Suche nach einem erweiterten Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen und dann sogar über den Tod hinaus. Dementsprechend ist die Nahtoderfahrung nicht im Fokus der Naturwissenschaft.
Dabei geht es entgegen dem Begriff eigentlich nicht um Tod, sondern um Leben oder genauer gesagt das, was man als »das Lebendige« bezeichnen kann. Dieses hat viele Berührungspunkte mit dem Begriff der psyche bei Platon, der eben etwas anderes meint als nur Bewusstsein oder Seele oder Geist, sondern eine Art universelle, sich immer erneuernde Lebenskraft, die nicht nur Menschen oder Tieren zu eigen ist, sondern auch den Pflanzen. Diese Denkweise zeigt uns die Richtung weg vom Reduktionismus17 in der Naturwissenschaft. Wir handeln gleichsam wie jene, die das Licht einer Kerze ausblasen und anhand des verkohlten Dochtes und dem Rest von Wachs hinter das Geheimnis des Kerzenlichtes zu kommen gedenken. Denn wenn alles reduktionistisch zellenklein zerlegt und bestimmt wurde, dann ist das Lebendige längst daraus verschwunden, und man bekommt es nie wieder zurück. Doch genau nach diesem Lebendigen stellt sich in Bezug auf Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen seit etwa 50 Jahren die Frage. Das reicht über alles Bekannte und – wie man sehen wird – sogar über die Raumzeit hinaus. Und damit wären wir endgültig beim Thema.
2.Das Problem Nahtoderfahrung
Lange Zeit konnte man wissenschaftlich über Nahtoderfahrungen nicht sprechen, ohne sogleich in die Ecke der Esoterik gerückt zu werden und sich der eigenen Glaubwürdigkeit umgehend zu berauben. Zum Glück ist die Rezeption dank der Berichte in den Medien offener geworden, aber wenn Sie sich jetzt für einen Moment prüfen, dann wissen Sie genau, was ich meine. Spricht man das Thema in Kreisen festgefügter Naturwissenschaft an, zum Beispiel in meinem Fach, der Medizin, dann begegnet man durchweg großer Skepsis, die überwiegend auf Unwissen beruht. Dabei liegen seit über 20 Jahren absolut verlässliche, wissenschaftlich anerkannte Daten vor, und es werden immer mehr. Mich beschäftigt die Nahtoderfahrung seit Anbeginn der neuen Veröffentlichungen in der Mitte der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts.
Es war die Zeit, als Notfall- und Intensivmedizin sich überall ausbreiteten. In vielen Krankenhäusern richtete man Intensivabteilungen ein, die meist von Anästhesisten geleitet wurden. Die Intensivmedizin war aber längst noch keine eigene Disziplin. Damals war ich als junger Arzt am Aufbau einer Intensivstation beteiligt. Unser ganzer Stolz war ein kleiner EKG-Monitor, mit dem man sechs Intensivbetten gleichzeitig überwachen konnte. Dazu verfügten wir über ein Beatmungsgerät von der Größe eines mittleren Schreibtisches und einen neuartigen Koffer zur Elektroschockbehandlung des Herzens, einen sogenannten Defibrillator. Frank Pantridge hatte 1973 die tragbare Version dieses Gerätes entwickelt. Heute gibt es das in jeder Hausarztpraxis, in jedem Notarztwagen, an öffentlichen Plätzen und sogar in Flugzeugen. Der »Defi« rettet bis heute unzählige Menschenleben bei klinischem Tod. Den verdienten Nobelpreis erhielt Pantridge nie.
Solch ein »Defi«-Koffer gehörte also zu unserer Ausrüstung. Wenn ein Herz bei Stillstand oder ohne regelmäßigen Rhythmus nicht mehr ausreichend arbeitete, konnten wir es durch einen oder mehrere Elektroschocks neuerlich zum Schlagen bringen. Denn nicht nur bei Herzstillstand, auch ohne sinnvollen Rhythmus kann das Herz nicht angemessen pumpen, und der Mensch muss sterben. Nach meiner Kenntnis gibt es keinen berichteten Fall, in welchem ein funktioneller Herzstillstand, etwa bei Kammerflimmern, ausschließlich durch konservative Maßnahmen beseitigt worden wäre, also mit Beatmung, Medikamentengabe und Herzdruckmassage. Das wirksamste Instrument zur Reanimation (Wiederbelebung) in der Notfallmedizin ist der Defibrillator. Er stellt damit die entscheidende Bedingung für so viel mehr Rettungen vom klinischen Tod dar und ist die Ursache für die massive Zunahme von Nahtoderfahrungen.