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Folge dem Ruf der Freiheit und finde die Wahrheit! Elysion ist die letzte menschliche Siedlung auf der Erde. Dort werden Kinder von Androiden großgezogen, um dann als Erwachsene zum Mars umzusiedeln. Nanna steht kurz vor ihrer arrangierten Hochzeit, doch sie sehnt sich nach Freiheit, nach einem Leben außerhalb der Kuppel, die ihre Heimat umgibt. Eine Legende erzählt von den Profillosen, die dort draußen überlebt haben sollen. Das junge Mädchen wird von einer tiefen Sehnsucht beherrscht und ahnt nicht, wie viele Geheimnisse in ihrer Vergangenheit begraben liegen und welch außergewöhnliches Schicksal für sie bereitliegt.
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2023
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TEIL I: ELYSION
1. DAS ENDE DER KINDHEIT
2. THEATER OHNE ZUSCHAUER
3. ERINNERUNGEN
4. MATERNITA
5. NANNAS VISION
6. NANNAS ENTSCHLUSS
7. DIE BIBLIOTHEK
8. DER DSCHUNGEL
9. DIE HOCHZEIT
10. HENDRIK
11. DER DREAMWALKER
12. GESTÄNDNISSE
13. LEVI
14. DIE ERSTE NACHT
15. LEVIS GEHEIMNIS
16. DER BEGEGNUNGSRAUM
17. LAYLANI
18. SPINNWEBEN
19. LEVIS DÄMONEN
20. MARIUS’ GEHEIMNIS
21. RAYAN
22. GESPRÄCHE
23. FREE-TIME-DAY
24. ANNÄHERUNGEN
25. CARLAS KAFFEEKRÄNZCHEN
26. GEFANGEN
27. DIE JACKE
28. ZWEISAMKEIT
29. DIE FLUCHT
30. DER ABSCHIED
31. DAS PORTAL
TEIL 2: DIE PROFILLOSEN
1. DRAUßEN
2. DIE WÜSTE
3. DIE NACHRICHT
4. SARAYAS BOTSCHAFT
5. WÜSTENBEWOHNER
6. DER RETTER
7. DIE HÖHLE
8. DIE PROFILLOSEN
9. WIEDERSEHEN
10. LAYLANI
11. GEHEIME ORTE
12. DIE HEILGROTTE
13. DER MONDBERG
14. DIE ZEREMONIE
15. DIE BLUTMOND NACHT
16. DER BLUTMOND MORGEN
17. DER GROßE TAG
18. FLUG UND FALL
19. CHAOS
20. ZURÜCK
21. ALAYA
22. DER WEIßE RAUM
23. STRIPES
24. NEUE HEIMAT
25. DIE KOLONIE
26. WIEDER VEREINIGUNG
27. MOLAS WAHRHEIT
28. ALAYA
29. ERWACHEN
30. DAS FEST
31. ALAYA
32. DER VORHANG FÄLLT
33. DIE ENTSCHEIDUNG
34. ABSCHIED VON ELYSION
Nanna blickt am Tage ihrer Geburt nicht in das Licht der Sonne, sondern in das des Mondes. Er scheint hell in dieser Nacht, so unwirklich hell, als hätte er den Glanz der Sterne in sich aufgesogen. Schwer und kugelrund sinkt er tiefer als je zuvor und küsst das kleine Mädchen mit seinem Schimmer. Es hebt das Köpfchen, blinzelt gen Himmel und die Mutter erschrickt über den Glanz, der sich in den gerade zum Leben erwachten Pupillen spiegelt. Als wäre all das Silber der Nacht in das kleine Geschöpf geflossen. Es strahlt von innen heraus, unwirklich und schmerzhaft schön. Und so bekommt das Kind seinen Namen − Nanna Mondtochter. Es ist eine schicksalhafte Nacht, der Mond ist der Erde nie zuvor so nah gewesen. Man könnte beinahe glauben, er selbst hätte Nanna ihrer Mutter in die Arme gelegt.
Siebzehn Jahre später
Sie konnte ihn von ihrem Zimmer aus sehen. Er schwebte dort oben wie die Glaskugel eines Magiers, fast dachte sie, zwei Hände zu erkennen, die den Mond umschlossen. Das silberne Licht hüllte den Himmel in einen surrealen Glanz und ließ die Welt wie ein Theater wirken.
Der Knoten in Nannas Brust schnürte ihr die Luft ab, das Atmen fiel ihr schwer. Nicht mal der Vollmond vermochte es heute, sie zu beruhigen. Es waren nur noch drei Wochen. Nur noch drei grausame Wochen, dann wäre ihre Kindheit endgültig vorbei.
Der Kamm glitt durch ihr Haar, zuerst angenehm kitzelnd, dann durchfuhr sie ein kurzer Schmerz. »Autsch!«, quietschte sie, als Saraya mit den Zinken in einem Knoten hängen blieb.
Saraya seufzte und ließ Nannas Haare los. »Ich hatte sowieso gerade vor, sie dir abzuschneiden. Warum tu ich mir das eigentlich an? Der Neid zerfrisst mich noch.«
Schnipp Schnapp, ertönte hinter Nanna das Geräusch einer Schere. Sie würde doch wohl nicht im Ernst …
»Saraya!«, rief Nanna und fuhr herum. Immer dieses Drama um ihre Haare, vielleicht war es wirklich das Beste, sie abzuschneiden.
»Sie sehen aus wie das Mondlicht, wie flüssiges Silber. Unglaublich! Warum kann ich nicht so wundervolle Haare haben? Du bist echt gemein!«, jammerte Saraya und gab dabei Töne von sich, als würde ihr jemand die Finger abhacken.
»DU bist gemein! Was bitte schön kann ich denn dafür? Seit wann kann man sich seine Haarfarbe aussuchen?« Nanna hatte es satt. Am liebsten würde sie sich einen Müllsack über den Kopf stülpen und nur eine von vielen sein.
»Nicht aufregen, so war das nicht gemeint, aber sieh dir nur meine Strohhalme an. Grauenvoll, einen Haufen Mist hab ich auf dem Kopf.« Saraya fuhr sich durch die rote Lockenmähne und ihre grünen Augen sprühten Funken. Hitze stieg in ihre Wangen und es fehlte nur noch der Dampf aus ihrer Nase.
»Ach, mein kleiner Feuerdrache …« Nanna nahm ihre Freundin in die Arme. Ihr Bauch krampfte sich zusammen, als sie an den baldigen Abschied dachte, und die Sorge verscheuchte ihre kurzweilige Freude, aber Saraya bemerkte es zum Glück nicht. »Ich wäre gern so ein Wildfang wie du, ich liebe dein Rot, es ist so lebendig.«
»Vielleicht können wir ja mal tauschen. Unsere lieben Androiden können doch so gut wie alles, oder was meinst du?« Ein Strahlen überflutete Sarayas Gesicht und das Leben in ihr glühte noch stärker. »Stell dir vor, sie haben sogar Emilias schiefe Nase gerichtet. Jetzt stolziert sie herum wie die Königin höchstpersönlich. Dabei war die Nase nicht mal das Schlimmste.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.
Nannas Knoten in der Brust zog sich immer enger, sie kämpfte dagegen an, aber verlor schlussendlich. Sie konnte ihre Maske nicht mehr wahren, sie fiel von ihr ab und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Ich will nicht weg von dir! Ich will nicht weg von hier! Und ich will noch nicht erwachsen werden!«, schluchzte sie wie ein Kleinkind, dem man das Spielzeug aus den Händen gerissen hatte. Sie stürzte in Sarayas Arme, ihr Körper bebte und sie wollte nie mehr heraus aus dieser Umarmung.
All die Bilder der unbeschwerten Momente mit ihrer Freundin zogen an ihr vorüber. Ihre Streifzüge durch den Dschungel, Klettertouren auf die Hügel um Pueriton herum, ja sogar die langweiligen Lerneinheiten waren lustig mit Saraya. Die heimlichen Nachrichten, die sie sich dabei schickten, und die Strafen, die es ständig hagelte. Ein Nachmittag nachsitzen bei Marius war kaum der Rede wert. Was sie am meisten fürchtete, waren die Nächte. Wenn die Ängste kamen, die dunklen Schatten und Geister ihrer Albträume … nur Saraya konnte ihr dabei helfen.
»Ich bleib doch bei dir, meine Mondmaus, in Gedanken bin ich jede Sekunde bei dir.« Saraya streichelte ihren Rücken, der noch immer zuckte. »Du wirst einen wundervollen und lieben Mann bekommen. Dein Strahlen wird ihn um den Verstand bringen und er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen und schon bald brauchst du mich nicht mehr.«
Nanna blinzelte durch ihre silbernen Haarsträhnen hervor, ihre Augen brannten. »Und wenn nicht? Was, wenn er merkt, dass mit mir was nicht stimmt? Wer will sich schon mit einem Problemfall herumärgern? Da helfen mir meine Haare auch nicht weiter.« Nanna schniefte und schluckte schwer. »Mein Aussehen ist nur ein Ablenkungsmanöver der Natur. Eine Art Tarnung wie eine giftige Blume und jeder, der mich berührt, wird vergiftet.«
»Du bist einfach nur doof, das ist absoluter Blödsinn! Vertrau mir! Nächstes Jahr komme ich doch auch und dann sind wir wieder zusammen. Wir werden über die dummen Männer lachen, werden Wetten abschließen, wer von uns beiden eher schwanger sein wird. Wahrscheinlich wird es die fantastischste Zeit unseres Lebens. Keine Schule und keine Langeweile mehr. Wir werden behandelt wie Erwachsene. Wir dürfen doch dann viel mehr als jetzt. Zum Beispiel länger wach bleiben und Alkohol trinken. Und wir bekommen Glückspillen!«
Doch Nannas Sorgen türmten sich vor ihr auf wie ein unüberwindbares Hindernis. Hier war ihr Zuhause, sie fühlte sich noch nicht bereit für die Ehe. Für einen Mann. Wie auch, sie kannte Männer nur aus Illusionen und Erzählungen. Ohne Saraya war sie verwundbar, nicht überlebensfähig.
»Du weißt genau, dass ich ohne dich verloren bin, nur du kennst meine Probleme. Und damit meine ich nicht die Wehwehchen wie bei den anderen Mädchen, ihr Gejammer um Belanglosigkeiten. Erinnere dich an mein Abschlussfest, am Ende habt ihr ohne mich gefeiert und ich lag im Krankenzimmer. Für die anderen bin ich ein Alien, nur du kennst mich wirklich.«
Saraya strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, sie lächelte, als wäre alles in bester Ordnung. »Alles wird gut! Ich bin mir sicher, du wirst Hilfe bekommen, Marius wird nicht zulassen, dass dir jemand schadet. Und ich werde immer wieder fragen, mich versichern, dass es dir gut geht. Irgendwie werden wir es schaffen, in Kontakt zu bleiben. Kopf hoch!«
Es musste einen anderen Weg geben, Saraya musste mit ihr kommen oder sie auf den Mond beamen, oder was auch immer. Nanna konnte keine Ehefrau werden, das war so unmöglich wie Frösche, die vom Himmel regneten. Wer würde ihr denn helfen in Maternita? Dort sollte sie selbst Verantwortung übernehmen. Für sie, für ihren Mann und noch schlimmer – für ein Kind!
Panik kroch ihre Kehle empor, doch Nanna schwieg. Saraya sollte sich um sie keine Sorgen machen. Es reichte schon, dass sie ihrer Freundin die Ohren vollheulte. Erbärmlich. Einfach nur grauenvoll. Schlimmstenfalls musste sie Marius bitten, ihr Leben auf würdevolle Weise ein Ende zu setzen.
Dann drückte Nanna Sarayas Hände ganz fest. Sie blickte ihr tief in die Augen. Verlor sich für einen Moment in dem Grün, als würde sie im Gras versinken. Sie roch Wiese und Blumen und Leben. Was sah Saraya in Nannas Augen? Kälte, Trauer und Leid? Sah ihre Freundin, was in ihr drin war? Wie eisig ihre Seele geworden war? Erstarrt und erfroren von all den vielen Sorgen und Ängsten. Von all den Vorahnungen und Visionen, die sie jede Nacht plagten. Hoffentlich sah sie es ihr nicht an. Nanna wollte ihr Inneres für sich behalten. Saraya lächelte. Und Nanna lächelte ebenso. Saraya zuliebe schluckte sie den Eisklumpen hinunter und schwieg.
»Du hast nicht gut geschlafen, hab ich recht?« Marius’ Stimme drang wie durch Watte zu Nanna hindurch. Sie blinzelte, denn das Sonnenlicht, das durch die Fensterfront hineinströmte, stach wie Nadeln in ihre Augen.
»Nein, nicht besonders gut«, antwortete sie und wusste kurz nachdem die Worte verklungen waren, schon nicht mehr, ob sie wirklich gesprochen oder nur gedacht waren. Sie war so dermaßen neben der Spur und die Unruhe kroch an ihr hoch wie eine Spinne. Sie versuchte, sie abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht. Ihre Kehle war rau wie Sand und sie konnte sich einfach nicht überwinden, zu schlucken. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte sie nach Luft.
»Konzentriere dich bitte für diesen Moment, es ist sehr wichtig für dich, für deine Zukunft. Du willst doch bestmöglich zugeteilt werden, oder? Du schaffst das!«
Marius saß ihr gegenüber. Auf dem Tisch die vielen Linien, Graphen und Tabellen. Daneben ein Bild von Nanna. Ihr vollständiges Profil, offen und erbarmungslos.
Marius hatte gut reden, von menschlichen Gefühlen wusste er nur in der Theorie. Vorprogrammiertes Wissen.
Im Grunde konnte er sie unmöglich verstehen und schon gar nicht ihre Gefühle. Niemand konnte sie verstehen. Niemand hier fühlte wie sie, soviel war sicher. Na gut, dann Augen zu und durch, auch wenn es in einer Katastrophe enden würde. Nanna atmete bewusst ruhig und blickte Marius in die Augen.
Es vergingen einige Minuten, in denen der Rechner surrend die Endauswertung bearbeitete. Minuten, die über ihr Leben entschieden. Minuten, die sie ins Verderben werfen könnten. Oder ins Glück? Nanna wagte nicht, zu hoffen.
Ein Piepsen ertönte und Marius nickte, sah dann auf das Display am Tisch und fuhr mit dem Finger darüber. Neue Linien, Grafiken und Muster erschienen. Das Gesicht des Androiden leuchtete im Schein des Lichtes. Jede Pore war wie in Marmor gemeißelt. Sein Gesicht so anmutig wie eine Statue. Immer und jederzeit perfekt. So schön, dass er Blicke auf sich lenkte wie ein Magnet. Man haftete an seinen Lippen und Augen wie eine Motte am Licht.
In seiner Gegenwart fühlte sich Nanna selbst irgendwie unvollständig. Unperfekt und fehlerhaft. Ihre Mundwinkel zuckten oft unkontrolliert. Oder ihre Wangen legten die Unsicherheit offen, wenn sie sich röteten. Blicke, die unbeholfen von einem zum anderen Objekt huschten, nervöse Finger, die nicht wussten, wohin sie greifen sollten. Tippelnde Füße auf dem Boden, verräterische Zuckungen. Die Nervosität bahnte sich jederzeit einen Weg in die Freiheit, heraus aus dem Gefängnis.
Manchmal wünschte sie, einer von ihnen zu sein. Makellos und perfekt. Programmiert, seelenlos, emotionslos. Einfach nur existieren, ohne nachdenken zu müssen. Doch schon verwarf sie ihren Gedanken wieder, als ihr Bilder von Saraya in den Kopf schossen.
Lachen.
Umarmungen, Tränen.
Nein, die Freundschaft und die damit verbundenen Gefühle waren die Qualen doch wert.
»Gut, ich habe jetzt klare Daten. Sehr gut gemacht, Nanna.« Marius lächelte sie an und beendete die Analyse. »Du kannst dich jetzt kurz ausruhen, dann zeig ich dir dein zukünftiges Zuhause.« Nanna nickte und erhob sich.
»Du hast sechzig Minuten Zeit. Wir treffen uns an der Tür. Du weißt, was noch zu tun ist und kommst allein zurecht?«
Nanna nickte erneut, ihre Kehle brannte und sie sparte sich ihre Worte. Sie würden nur noch mehr Schmerzen in ihrem Bewusstsein verursachen. Tausend kleine Funken sprühten durch ihren Körper. Ihre Zeit hier war nun wirklich vorüber. Schon bald würde sie sich ihr Zimmer mit einem Mann teilen müssen. Mit einem aus Fleisch und Blut. Die Scheu davor war so stark, als würde man von ihr verlangen, vom Dach zu springen.
Sie vermisste Saraya schon jetzt. Ein Jahr war schrecklich lange, ein Jahr konnte die Hölle bedeuten.
»Du musst deine Gefühle etwas mehr unter Kontrolle bekommen, mein Herzchen«, sagte Marius und nahm ihre Hand. Sein Blick verursachte ihr Gänsehaut, so durchdringend wie Röntgenstrahlen. »Glaub mir, das wird dir sonst noch zum Verhängnis. Brauchst du etwas? Beruhigungstropfen, Relax-Einheiten oder etwas in die Richtung?«
Nanna seufzte und drückte die Hand des Androiden. »Danke, das ist lieb, aber ich bekomme es schon hin. Eine Tasse Tee wäre vielleicht ganz gut, wenn es möglich ist.« Sie versuchte, die Spinnen im Körper zu ignorieren und rang sich ein Lächeln ab.
»Natürlich, Kleines, ich wusste, dass du stark sein kannst. Du brauchst diese Hilfsmittel nicht. Ich schicke dir jemanden hoch. Du hast genügend Zeit.«
Zeit, was verstand er schon von Zeit? Nanna ließ seine kalte Hand los, lächelte ihm artig zu und verließ den Raum.
Jetzt, wo sie nicht mehr lange hier sein würde, nahm sie alles intensiver wahr. Wie vertraut ihr jeder Zentimeter dieses Gebäudes war. Das Mosaik der Fliesen über die sie schlich. Jede einzelne Pflanze, die in ihrem Blumentopf steckte und die Blätter nach ihr ausstreckte, als wollte sie sagen: »Bleib hier, mein Kind, hier ist dein Zuhause, hier gehörst du hin.«
Sie könnte die Augen schließen und würde jedes Bild, jede Skulptur und jede Zimmernummer mit Bewohner nennen können. Die Kleinen im unteren Bereich, die Großen oben. Die Labore, Lehrräume, Sportsäle, Kunsträume und die Bibliothek. Ja, die würde sie am meisten vermissen. Jahrhunderte alte Bücher. Ferne Welten aus längst vergangenen Zeiten. Wie schön musste das Leben einst gewesen sein? Magisch und lebendig. Ihr eigenes Leben war ein Witz, ein Theater ohne Zuschauer.
Was würde sie in ihrem neuen Leben erwarten? Sie hatte absolut keine Vorstellung und niemand sagte irgendetwas. Wie konnte das sein? Wie, verdammt nochmal, sollte sie sich beruhigen können? Wie konnten sich alle anderen darauf freuen? Es fühlte sich an, wie mit verbundenen Augen über die Seilbrücke im Dschungel zu spazieren. Man fühlt das geflochtene Tau unter den Füßen, wie es hin und her schwingt, das Knarzen und den kalten Wind an den Füßen und man weiß, wie tief und reißerisch der Fluss darunter ist. Wie konnte man sich auf so etwas freuen? Es war ein Albtraum!
Nanna stellte sich auf den Kreis am Boden und drückte auf ihr Implantat am Arm. Der Lichtkegel erschien und sie kniff die Augen zusammen. Ein Rauschen und Surren, dann stand sie oben, vor ihrem Zimmer.
Stille.
Saraya war im Unterricht, die Glückliche. Wie gern würde Nanna die Zeit zurückdrehen oder wenigstens anhalten. Kein Wunsch war in diesem Moment größer. Außer der Wunsch, der Beamer würde sie bis zum Mond hinaufbefördern.
Das Wasser der Dusche hüllte Nanna ein wie die Umarmung eines geliebten Menschen. Ihrer Mutter? Ihres Vaters? Sie konnte sich nicht erinnern, nur schemenhafte Gesichter blitzten manchmal auf. Ein Lächeln, vertraute Blicke, Augen, die sagten:
»Ich bin bei dir, für immer!«
Lüge.
Nicht für immer, denn keiner von ihnen hier in Pueriton hatte noch Eltern − zumindest nicht auf diesem Planeten.
Doch niemand schien ein Problem damit zu haben. Natürlich nicht, denn sie besaßen keine Erinnerungen und ihre Emotionen waren zu schwach. Alle, außer Nanna. Sie hatte zwar genauso wenig Erinnerungen, doch umso mehr Träume und Visionen. Und Emotionen zur Genüge. Doch sie behielt diese Wahrheit fest verschlossen, keiner durfte davon erfahren.
Einmal hatte Nanna Saraya gefragt, ob sie ihre Eltern vermisse, ob sie irgendwen vermisse. Saraya hatte nur gelacht. »Nö, wieso?«, war die Antwort gewesen. Unbekümmert hatte Saraya auf einer Kakaoschote herumgekaut und mit den Schultern gezuckt. »Ich erinnere mich an gar nichts, warum sollte ich sie vermissen? Du etwa?« Nanna schluckte die Wahrheit herunter. Die Wahrheit über ihre Sehnsüchte, ihre Wünsche und ihre erbarmungslose Unruhe. Saraya sollte sich nicht um sie sorgen und wenn Nanna all ihre Gedanken ausspräche, so bekämen die Gefühle nur noch mehr Gewicht.
»Nein, natürlich nicht, ich frag mich nur manchmal, was sie dort oben so machen, ob sie an mich denken oder ob ihre Erinnerungen auch verschwunden sind«, sagte Nanna, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. Die Sehnsucht nach ihren Eltern und einer anderen Welt, einem anderen Leben, raubte ihr tagtäglich den Verstand. Wie sollte sie das nur länger ertragen?
Die Zeitschaltuhr beendete den Duschvorgang und Nanna stand halb eingeseift im Trockenen. Ganze zehn Minuten war sie im Tagtraum gefangen gewesen, wie so oft.
Sie trat heraus und stellte sich zwischen Farngräser und Palmen. Warme Luft umströmte und trocknete ihren Körper. Sie schloss die Augen und spürte die Wärme der Lampe von oben und die Fönluft von der Seite.
Wieso könnte sie nicht einfach für immer in diesem Badezimmer bleiben? Umgeben von Pflanzen und Wärme. Die Welt außerhalb dieses Raumes war kalt und leer. Die Zeit sollte jetzt auf der Stelle stehenbleiben. Doch auch der Timer des Trockners endete nach kurzer Zeit und Nanna stellte sich vor den Spiegel.
Ein Geist stand vor ihr, durchsichtig und gestaltlos. Die Leute sagten, sie wäre etwas Besonderes, aber Nanna wünschte sich lieber, normal zu sein. Nicht aufzufallen. Ihre Augen verrieten zu viel von ihrer Seele. Das machte alles nur noch komplizierter.
Sie drehte sich herum und die Strahlenschutzhülle wurde angelegt. Nanna sträubte sich dagegen, sie würde sich nie an diesen Fremdkörper gewöhnen, obwohl sie ihn schon ihr Leben lang trug. Vor allem nach dem Duschen würde sie das Mistding am liebsten in der Luft zerfetzen. Was sie tatsächlich schon mal getan hatte, da war sie etwa acht Jahre alt gewesen. Marius war schockiert bis in die Haarspitzen, seinen Blick würde sie niemals vergessen.
Sie schmunzelte, als sie ihn auch jetzt vor sich sah. Der Arme, wie verzweifelt er versucht hatte, Nanna begreiflich zu machen, dass diese zweite Haut ihr Leben schützte. Nanna hatte es nicht glauben wollen, löcherte den Androiden tagelang mit Fragen. Erst als ihr Marius einige Videos präsentierte, was mit den Menschen geschehen war, bevor sie diese Schutzkleidung getragen hatten, ließ sie sich umstimmen. Die Verbrennungen auf der Haut waren noch das kleinere Übel. Lähmungen bis hin zum Herzstillstand und epileptische Anfälle waren die eigentliche Norm gewesen. Das sei eben der stolze Preis für High-Tech und unser paradiesisches Leben in Elysion.
Nanna beobachtete, wie ihre Haare zurecht gemacht wurden. Der Beauty-Robot drehte sie zu Zöpfen und wickelte sie wie einen Kranz um ihren Kopf. Dann steckte er blaue Blumen dazwischen. Die Hand des Roboters war beinahe so silbern wie Nannas Haare.
Dann wurde sie geschminkt und verwandelte sich binnen Minuten in ein ganz gewöhnliches Mädchen. Das Make-up entzog ihr Anderssein und brachte Nanna in die gewünschte Form. Nun fühlte sie sich etwas geschützter. Wie hinter Mauern.
Langsam entspannte sie sich. Es würde schon alles irgendwie weitergehen. Und vielleicht käme wirklich alles so, wie Saraya gesagt hatte. Besser und aufregender. Nanna musste sich zwingen, daran zu glauben. Sie musste einfach.
Sie verließ das Badezimmer und stellte sich auf die Ankleideposition. Ihr Blick fiel auf Sarayas und ihr eigenes Bett. Sie selbst hatte die blaue Bettdecke zurückgeschlagen und ordentlich gefaltet. Sarayas Decke hingegen lag auf dem Boden und ihr Bett war übersät mit Perlen.
Saraya liebte es, Perlenbänder zu knüpfen. Für die gesamte Bevölkerung. Alle trugen Sarayas Armbänder. Nanna würde sie so sehr vermissen. Das Leben, das sie versprühte, ihr Chaos, ihre Unordentlichkeit. Ihre Stärke.
Der BR schwirrte um Nanna herum und kleidete sie ein. Weiße Leggings, blaues Kleid, etwas Schmuck. Schwarze Stiefel wurden vor sie geschoben und Nanna schlüpfte hinein. Der Roboter zupfte alles zurecht und legte ihr zum Schluss einen dunkelblauen Seidenmantel an.
Dann betrachtete sich Nanna im Spiegel. Sie sah einigermaßen normal aus. Lediglich ihre Haarfarbe war noch andersartig. Aber ansonsten ganz passabel, Saraya würde natürlich umwerfend sagen. Nanna hörte sie geradezu kreischen und sich die Hände vor den Mund schlagen.
Ein Piepsen ertönte und die Service-Klappe öffnete sich. Dampf trat aus der Luke heraus und Nanna ging hinüber, um den Tee zu entnehmen. Sie setze sich damit aufs Bett und versuchte, die letzten Minuten in Frieden zu genießen. Der Duft von Lavendel benebelte ihre Sinne und sie legte den Kopf in den Nacken. Über ihr drang das Sonnenlicht herein und brach sich in dem Mosaik des Fensters. Tausende Formen tanzten auf ihrem Gesicht. Sie spürte jede einzelne.
»So, da wären wir. Ist es nicht fantastisch?« Marius bemühte sich um einen heiteren Tonfall, doch das beunruhigte Nanna nur noch mehr. Den Weg hierher, durch den Dschungel von Elysion, den Pfad entlang des Tahita-Baches, hatte Nanna ziemlich zu kämpfen gehabt. Nicht etwa gegen Insekten oder Ungeziefer, die es hier draußen in Massen gab, sondern gegen ihre eigenen Insekten. Die Käfer, die ihren Hals emporkrochen.
Die Fliegenschwärme in ihrer Brust und die Feuerameisen in ihren Füßen. Der Kampf zehrte an Nannas Nerven und sie war nicht mehr in der Lage zu sprechen.
In drei Wochen würde sie den Weg durch den Dschungel nicht mehr zurückgehen, so wie heute. Diese Erkenntnis überstieg ihre Vorstellungskraft. Die Bilder der Zukunft waren nicht zu greifen, sie waren wie Sternschnuppen am Himmel − unerreichbar.
»Nun komm! Du schaffst das, Kleines, nur Mut. Wenn du erst mal drin bist, ist die Aufregung weg, wirst schon sehen.«
Marius’ Aura sollte eigentlich beruhigend auf Nanna wirken, er verströmte Entspannung und Harmonie. Doch selbst die Technik eines Androiden konnte nichts gegen Nannas Gefühlswelt ausrichten. Ihr Inneres war isoliert und unantastbar, genau wie Elysion durch eine Kuppel geschützt war. Nichts drang hindurch, nicht der kleinste Windhauch.
Nanna blickte tief in Marius’ eisblaue Computeraugen. Sie sah seine Programmierung und die Leere hinter seinen Augen. Und doch kannte sie ihn, seit sie denken konnte. Er war Vater und Mutter in einer Person. Sie nickte ihm zu, vertraute ihm, und tat einen Schritt auf das Gebäude zu. Hier war es also – Maternita, ihr neues Zuhause. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um bis ganz nach oben blicken zu können. Strahlend blauer Himmel im Hintergrund und die weiße Pyramide im Vordergrund. Das Sonnenlicht reflektierte die Oberfläche und Nanna musste ihre Augen abschirmen. Es war nicht viel anders als Pueriton. Äußerlich zumindest.
Rundherum herrschte Wildnis, wie überall innerhalb der Kuppel. Das Krächzen und Kreischen der Vögel durchbrach die Stille und Insekten zirpten und surrten von allen Seiten heran. Nannas Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Ihre rechte Augenbraue zuckte unaufhörlich.
Marius nahm ihre Hand und steuerte die schwarze Eingangstür an. Er hielt seinen Unterarm an die Wand und sprach das Erkennungszeichen. Dann schob sich die Öffnung lautlos zur Seite und beide traten ein. Sie wurden von zwei Androiden empfangen. Sie alle verbeugten sich, stellten sich vor und Nanna folgte den drei Robotern.
Der Eingangsbereich erinnerte sie auch an Pueriton. Schwarze Bodenfliesen, auf denen ihre Schuhe leise tapsende Geräusche verursachten. Rechts und links säumten Topfpflanzen den Gang, mit leuchtend roten Blüten, die wie Kelche aussahen und nach Kirschen dufteten. So viele Zimmer wie Pflanzen befanden sich auf dieser Ebene. Eine Tür nach der nächsten. Gleiches an Gleichem. Nanna ließ ihren Blick an die Decke schweifen. Sie war durchsichtig und das Sonnenlicht ergoss sich meterweit herunter. An den Wänden wurde das Schwarzweiß des Gebäudes durchbrochen. Bunte Kunstwerke reihten sich aneinander. Muster, Porträts, Landschaften, Tiere und dann saugten sich Nannas Augen an eine Szene fest, die herausstach wie ein Schmetterling unter Motten.
Sie zeigte eine Frau mit einem Baby auf dem Arm. Nanna beschlich ein Gefühl, das Wärme und Kälte zugleich ausstrahlte. Der Blick der Mutter zeigte nur Wärme. Solch einen Blick hatte Nanna nie zuvor bei einem Menschen gesehen. War sie selbst zu solch einer Emotion fähig?
Sie war stehengeblieben und Marius drehte sich um. »Schön, nicht wahr?«, sagte er und die anderen beiden Androiden lächelten. Nanna riss sich los und ging wortlos weiter. Etwas drückte auf ihr Herz, Bilder schossen in ihre Erinnerung, jedoch nicht greifbar. Sie drängte die Gefühle zurück und hielt die Luft an, sah auf den schwarzen Boden und ignorierte die bunten Flecken rechts und links von sich.
»Wir switchen nun in die oberste Etage. Da ist der Versammlungsraum«, sagte einer der Androiden, der sich als Filipe vorgestellt hatte. Nanna stellte sich zu den dreien in den silbernen Kreis und ein Lichtstrahl erschien. Wenige Sekunden später befanden sie sich direkt unter dem Dach, durch das der Himmel unwirklich nah erschien. Watte-Wolken zogen vorüber.
»So, nun wirst du den anderen präsentiert«, erklärte Flavio, der zweite der Androiden. Nanna fühlte sich wie ein Geist. Als würde sie sich selbst beobachten und irgendwo anders herumschweben. Die Worte drangen von der Ferne zu ihr hindurch und ihre Bewegungen waren wie die der Roboter.
Ihr blaues Seidenkleid schimmerte im hereinfallenden Licht, die fließenden Bewegungen ihres Rockes erinnerten an Wasser, vor ihr bewegten sich die drei Androiden ebenso flüssig. Dann betraten sie eine gigantische Halle. Nanna kam sich vor wie eine Ameise im Ozean. Sogar das Rauschen des Wassers drang in ihre Ohren. Marius zog sie in die Mitte auf ein Podest, drückte sie auf einen Stuhl nieder und reichte ihr ein Glas Wasser. Doch sie hielt das Glas fest, hielt sich an dem Glas fest, und starrte geradeaus in die vielen Gesichter. Alles rundherum verschwamm vor ihren Augen. Nanna hatte das Gefühl, in einem Goldfischglas zu sitzen. Zahlreiche Augen blickten sie an, krochen ihren Körper empor, funkelten, blitzten und gierten. Nanna rang nach Luft.
»Du bleibst einfach still hier sitzen. Du musst nichts tun, nur warten. Alle sind furchtbar neugierig, das musst du verstehen. Jede Zeremonie ist etwas Besonderes.«
Marius Stimme war glasklar, drang wie ein Schnitt in Nannas Ohren. Gleich würde sie zerspringen, in tausende Splitter. Es war unfassbar, sie konnte nicht atmen, sich nicht mehr bewegen. Und so blickte sie einfach über alle Köpfe hinweg nach oben, in den strahlend blauen Himmel hinein.
Das Surren der Moskitos drang in Nannas Ohren, als steckte ihr Kopf mitten in einem Schwarm. Ihre Schläfen dröhnten und Nanna schwankte beim Gehen, als wäre sie betrunken. Der Trampelpfad durch den Urwald verschwamm wie eine Wasserpfütze vor ihren Augen, Marius silberne Gestalt sah sie schon lange nicht mehr. Er schien nichts von ihrem Zustand bemerkt zu haben.
»War doch gar nicht so schlimm, oder? Die Männer waren alle auf der Stelle verzaubert von dir, Nanna, Herzchen. Ich konnte es bei jedem Einzelnen brennen sehen, das Feuer der Liebe.«
Liebe. Was war das eigentlich? Nanna konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Wort hier existierte. Das Wort vielleicht schon, aber nur die Buchstaben.
»Was bringt das schon, wir können doch sowieso nicht frei wählen. Was, wenn ausgerechnet ER mich nicht mag?« Ihre Stimme kratzte und sie musste sich räuspern. Seitdem sie aufgebrochen waren, hatte Nanna geschwiegen.
»Er war begeistert, mehr als das, glaub mir, Schätzchen«
Marius hatte doch keine Ahnung. Nanna wollte nicht begehrenswert sein. Auch nichts Besonderes oder Außergewöhnliches. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Sie wollte mit Saraya lachen und Armbänder fädeln. Wollte sich von ihr die Nägel lackieren lassen und mit ihr über ihre Träume reden. Sie wollte in ihrem Kinderzimmer bleiben und jede Nacht den Mond betrachten und darauf warten, dass sie eines Tages dort hoch wandeln könnte. Zu ihren Eltern, die sie nicht kannte. Sie schwieg und blinzelte den Schleier von ihren Augen weg.
Der Dschungel war dunkler als auf dem Hinweg. Graue Wolken zogen auf. Nanna blickte zur Seite, etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren bei den Hügeln angekommen. Zu ihrer Rechten ragten mehrere Erhebungen über die Baumwipfel empor. Wenn Nanna dort oben stünde, könnte sie die gesamte Kuppel überblicken. Und darüber hinaus.
Ihre Brust schnürte sich zusammen. Sie stockte, rang nach Luft und blieb stehen. Da war ein Licht, dort oben bei den Felsen.
Eine Reflexion? Einbildung? Blitze zuckten durch ihren Kopf. Bilder eines Mannes, eines Fremden. Nein, kein Mann, ein Junge mit zerschlissener Kleidung, zerzaustem Haar und wirrem Blick.
Er starrte Nanna direkt in die Augen und in ihre Seele. Noch nie zuvor hatte sie so viel Leben und Tiefe in einem Gesicht gesehen. Die schwarzen Pupillen saugten sie auf wie ein Tornado. Wie ein Strudel. Sie wurde in eine andere Zeit geschleudert, das Bild vor ihren Augen flimmerte. Tränen rannen über ihr Gesicht, die Emotionen kamen explosionsartig.
»Nanna? Naa-nnaa! Alles okay? Gehts dir gut?«
Nanna blickte in einen von Wolken verhangenen Himmel. Sie spürte Nässe unter sich. Die Baumwipfel schwankten im Wind. In ihren Ohren rauschte es wie ein Wasserfall. »Wo … wo bin ich?«, stammelte sie. Jemand drückte ihre Hand. Ihr Kopf war wie in Watte gepackt, doch allmählich erkannte sie Marius’ Gesicht. Er hockte neben ihr am Boden. »Sind wir … sind wir noch im Dschungel? Wer war der Junge da oben auf dem Berg?«
Marius strich ihr über den Kopf. »Du bist ohnmächtig geworden. Hast du zu wenig gegessen oder getrunken?«
»Nein. Nein, ich … vielleicht nur die Aufregung.« Nannas Herz raste. Wer war das dort oben? Was war nur los mit ihr?
»Aktiviere bitte dein Health-Programm, nur zur Sicherheit, falls doch irgendetwas nicht stimmt.« Marius schob Nannas Ärmel nach oben und deutete auf ihren Chip.
»Ja, ist gut.« Nanna wusste, dass alles in Ordnung mit ihr war, körperlich zumindest. Sie aktivierte trotzdem ihren Chip und startete das Programm. Nach wenigen Sekunden bestätigte der Signalton ihre Gesundheit und Marius nickte.
»Dann wohl doch nur die Anspannung. Ach Herzchen, haben dich die Männer so durcheinander gebracht?« Er lachte.
»Ja, das wird es sein, die Hormone und all das Adrenalin waren wohl zu viel für mich.« Nanna beschloss, ihr Erlebnis für sich zu behalten. Sie blickte zum Hügel. Das Licht war verschwunden. Gewitterwolken verdeckten die Felsen. Verlor sie nun den Verstand?
Sie ließ sich von Marius aufhelfen und strich ihr Kleid glatt.
»Geht es wieder, Liebes?«
»Ja, alles in Ordnung, danke. Ich habe auch nicht viel geschlafen, letzte Nacht. Und gegessen natürlich auch nicht wirklich viel. Nur Süßes …«
Sie hoffte, das klang glaubhaft genug. Marius sah sie mit diesem ganz bestimmten Gesichtsausdruck an und schmunzelte. Dann setzten sie ihren Weg fort. Doch etwas war anders. Nanna starrte auf ihre Füße. Jeder Schritt, den sie tat, fühlte sich an wie eine weitere Veränderung. Diese Augen. Wem gehörten diese faszinierenden, wilden Augen? Augen, die so viel gesehen haben mussten. War es einer der Männer gewesen? Nein, das war keiner dieser perfekt gekleideten und frisierten Gestalten, die aussahen wie Roboter und doch Menschen sein sollten. Die Person aus Nannas Vision war so viel anders, ein Junge, ein Wilder.
Stellte sie sich selbst so einen Profillosen vor? Jemanden von draußen? Möglich, dass sie nun aus Angst vor ihrem neuen Leben zu fantasieren begann. Sie musste an etwas anderes denken.
Nanna hob ihren Blick und betrachtete den Androiden, wie er sich mechanisch den Weg bahnte. Kein Zögern lag in seinen Schritten, keine Unsicherheit.
Sollte Nanna Saraya von dem Vorfall berichten? Natürlich, sie erzählten sich doch alles, oder? Aber wenn sich ihre Freundin nun ihretwegen Sorgen machte? Das wollte sie nicht, sie zerbrach sich schon genug den Kopf über Nannas Ängste.
Nein, sie würde die Sache ganz einfach vergessen und an etwas anderes denken. Wahrscheinlich war es ein harmloser Tagtraum gewesen, so etwas kam bei ihr doch häufiger vor. Ihre sogenannten Visionen. Diesmal war es eben stärker und intensiver als sonst. Wahrscheinlich zu viel frische Luft und zu viel Aufregung, das war sie nicht gewohnt.
Nanna versuchte, die letzten Meter in Freiheit zu genießen. Sie berührte die Blätter einer Schlingpflanze. Sie zupfte eine Blüte ab, himmelblau wie ihr Kleid, und schnupperte daran.
Wie wäre es wohl, außerhalb von Pueriton oder Maternita zu leben, hier im Dschungel? So viel Nanna wusste, hatten das schon einige ausprobiert, aber niemand hatte es lange ausgehalten. Zu viele Ungeziefer, zu wenig Komfort.
Der Mensch brauchte die Technik. Ohne Hilfsmittel waren sie verletzlich. Der Dschungel bedeutete Dreck, Krankheiten, giftige Tiere und die unberechenbare Natur − obwohl selbst diese in Elysion größtenteils gesteuert wurde.
Nanna würde liebend gern all den Luxus hinter sich lassen und in den Dschungel gehen. Doch dazu musste sie noch warten, erst in Maternita würde sie die Chance dazu bekommen, es einmal auszuprobieren.
»Was war denn los, Mondmaus?« Saraya blickte Nanna mit Augen an, die selbst wie zwei Vollmonde wirkten. Grüne Vollmonde. Die wilde Haarmähne kitzelte ihren Hals, als ihre Freundin sie in den Arm nahm. Sie roch nach Bubbletea.
»Du bist noch weißer als weiß, hast du unterwegs ’nen Geist gesehen oder haben dich die Männer so erschreckt?« Sarayas kratzige Stimme kribbelte auf Nannas Schulter und am liebsten würde sie einfach so in den Armen ihrer Freundin liegen bleiben. Das Herz klopfte wie verrückt und ihr Verstand schien spurlos verschwunden. Auf den Hügeln verloren? Bei dem Jungen? Welcher Junge? Wer war ER?
»Du verschweigst mir doch etwas. Ich merk es ganz genau, dein Puls ist auf mindestens Dreihundert.« Saraya packte sie bei den Schultern und blickte sie an, als wäre sie eine Schwerverbrecherin. »Du redest jetzt!«, befahl sie, als wäre sie ein Roboter.
Nanna glich einem Schatten. Sie konnte nichts tun, nicht reden, nicht reagieren. Selbst das Health-Programm konnte nichts ausrichten. Ganze drei Mal hatte sie es versucht. »Okay, ich sehe schon, du bist gerade ein echtes Mondkalb. Jetzt schlaf ’ne Runde, ich zieh mir meine Serie rein. Wenn du wieder bei Sinnen bist, sag Bescheid.«
Nanna rollte sich wie ein Kätzchen zusammen. Sie vernahm die Stimmen aus dem Fernseher, hörte Saraya kommentieren und dann entfernten sich die Geräusche allmählich. Der Schlaf umhüllte sie wie ein Freund und trug sie auf die Hügel im Dschungel. Dort traf Nanna wieder auf den mysteriösen Jungen. Er stand einfach da, in Lumpen und mit stechenden schwarzen Augen, als würde er alles verstehen, alles kennen. Er winkte sie zu sich und ihr Herz verknotete sich. Eine unerträgliche Sehnsucht befiel sie, sie wollte zu ihm, zögerte keine Sekunde. Sie MUSSTE mit ihm gehen, egal wohin er sie führte. Hauptsache dieses Ziehen in ihrer Brust würde nachlassen. Ihr Platz war nicht in Elysion.
Was waren das nur für verrückte Gedanken? So durfte sie nicht denken, wie konnte sie nur? Alles war doch genauestens geplant, es gab keinen anderen Weg, sie würde verlorengehen. Hoffnungslos. Und doch, diese Gedanken waren ihr nicht fremd. Doch nie zuvor hatten sie so stark an die Oberfläche gedrängt wie jetzt gerade. Ihre Vision musste das ausgelöst haben, anders konnte sie es sich nicht erklären. Ein Deckel war geöffnet worden, eine Mauer eingerissen, eine Illusion in ihrem Bewusstsein war bei dem Zusammenbruch im Dschungel in sich zusammengefallen.
In diesem Moment wurde ihr eines ganz deutlich bewusst.
Es gab kein Zurück mehr.
Die Tür war geöffnet worden und würde sich nie, nie wieder verschließen lassen. Und dann kamen die Worte. »Ich kann das nicht«, presste Nanna hervor.
»Was?«
»Das! Heiraten und Kinder und das alles«, stammelte Nanna. Sie hatte sich aufgesetzt und hörte sich selbst reden, sah sich selbst dort auf dem Bett sitzen, als würde sie neben sich stehen.
»Aber … du musst!« Noch nie hatte sie Saraya so schockiert gesehen, nicht mal, als sie ihr erzählt hatte, dass sie Bryan aus ›Lost Children‹ absolut langweilig fand, wo doch wirklich ALLE von ihm träumten.
»Ich weiß, aber genauso muss ich eine Möglichkeit finden, um zu fliehen.« Saraya konnte offensichtlich noch schockierter sein, so wie jetzt. Nanna bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur? Sie musste jetzt schleunigst den Mund halten, was dachte sie sich nur dabei?
»Fliehen? Wovor? Wohin?« Saraya verlor sämtliche Fassung, ihre Gesichtszüge entglitten ihr, als hätte jemand sämtliche Muskeln durchtrennt und jede ihrer Nervenbahnen gelähmt.
»Ach, vergiss es, ich habe nur geträumt!«, ruderte Nanna zurück. Sie durfte Saraya nicht in Gefahr bringen. Wenn die Androiden erführen, was in ihr vorginge, dann hinge auch Saraya mit drin.
»Was hast du denn geträumt? Du machst mir wirklich Angst, Mäuschen.« Saraya setzte nun ihr Mama-Gesicht auf und nahm sie in die Arme. »Du bist total nassgeschwitzt. Jetzt erzähl, verdammt nochmal, was haben dir die Schweine angetan?« Jetzt spuckte sie Feuer, ihr kleiner Drache. Nanna zwang sich zur Ruhe, sie musste von der Männergeschichte ablenken, vielleicht wäre die Wahrheit weniger schlimm?
»Saraya, Ich hatte vorher eine Vision.« Sie versuchte, es so neutral wie möglich zu erzählen. So, als wäre das nichts Besonderes und absolut kein Grund, sich aufzuregen.
»Das hast du doch öfter, warum führst du dich auf, als würden dich Monster jagen?«
»Diesmal war es eben irgendwie verwirrend und sehr real.« Saraya atmete laut aus. Sie blickte Nanna an, als wäre sie ein Kleinkind, das Gespenstergeschichten erzählte. »Ich hab das Gefühl, diese Vision wollte mich warnen, mir deutlich machen, dass ich … ich will einfach nur noch weg, verstehst du?«
Saraya erhob sich, öffnete den Fridge in der Ecke und holte zwei Smoothies heraus. Sie drückte einen davon Nanna in die Hand und schnaufte dabei, als hätte sie drei Stunden Fitness hinter sich. »Was redest du denn da? Das sind nur die Nerven, die Aufregung durch die Veränderung. Nanna, wir sind keine Kinder mehr, wir sind fast volljährig und unser Leben ändert sich von Grund auf. Natürlich spielt da die Psyche verrückt, das haben wir doch ausführlich besprochen.«
»Ja, aber bei mir ist es anders, Saraya, du weißt, dass etwas nicht mit mir stimmt. Du weißt es, sei ehrlich. Ich gehe kaputt, wenn ich nicht endlich etwas unternehme. Hier in Pueriton ist die Welt einigermaßen behütet, aber du weißt genau, dass es härter wird. Wir MÜSSEN heiraten, jemanden, den wir nicht kennen, wir MÜSSEN Kinder bekommen, all das, ich …«
Saraya spielte mit Nannas Haaren, starrte gedankenverloren auf ihre Hände und zuckte mit den Schultern. »In einem Jahr komme ich doch nach. Dann wird alles wieder gut und wir schwärmen von unserem neuen Leben und unseren Männern. Vielleicht wird diese Zeit wunderschön! Versuch doch mal, dich darauf zu freuen!« Nun klang sie beinahe verzweifelt. Sie konnte der Wahrheit einfach nicht ins Auge sehen.
»Ich muss mir etwas einfallen lassen, aber mach dir keine Sorgen, ich verhalte mich ruhig und ich werde versuchen, tapfer zu sein. Bitte, vertraue mir!«
»Ich versuche es. Aber was hast du denn vor? Sag mir bitte alles, du musst keine Rücksicht auf mich nehmen, ich mache mir mehr Sorgen, wenn du mir nichts erzählst. Also, bitte!«
Nanna hatte einen Entschluss gefasst, in genau diesen Minuten. Sie musste Elysion verlassen. Die Härte dieser Wahrheit tat weh. Ihr blieben drei Wochen. Wäre sie erst einmal bei ihrem Mann, würde es von Tag zu Tag schwieriger werden. Und wenn sie ein Kind unter dem Herzen trüge, gäbe es kein Entrinnen mehr, denn dann zählte nur noch das Kind und nicht mehr sie selbst. »Ich werde Elysion verlassen!«
Saraya fehlten zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben die Worte. Ihre Mimik war so sonderbar, dass Nanna fast schmunzeln musste, wenn die Erschöpfung nicht so groß gewesen wäre. »Du bist komplett verrückt!«, murmelte Saraya.
»Ich weiß, aber ich war noch nie zuvor so klar bei Verstand. Es ist, als wäre es schon immer mein Plan gewesen. Ich hab mich nur nicht getraut, es mir einzugestehen. Bitte, Saraya, es tut mir so unendlich leid, dass ich dich damit belaste, ich bin eine grottenschlechte Freundin.«
Nun erwachte der kleine Feuerdrache wieder zum Leben. Sie sprang auf und schnappte sich einen Schokoriegel. »So ein Blödsinn, jetzt hör aber auf, du bist die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann. Jetzt lass uns erst mal abwarten, ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, wie du dir das vorstellst. Es gibt nichts da draußen, außerhalb von Elysion, wo willst du denn hin? Nanna, ich unterstütze dich in allem, was du tust, aber das ist eine Sache, die einfach rein logisch nicht möglich ist. Oder hab ich da irgendwas verpasst?«
»Meine Vision hat mir gezeigt, dass der Mythos der Profillosen wahr sein kann. Ich bin mir sicher, dass ein Leben außerhalb von Elysion möglich ist und ich fühle, dass mein Weg dorthin führt.«
Tränen sammelten sich in Sarayas Augen. Das Grün ging unter und schimmerte wie Glas, Nannas Brust zog sich zusammen und auch sie fühlte Tränen aufsteigen. Wie sehr wünschte sie sich, dass Sarayas Zukunftspläne wahr werden würden, aber das war nicht möglich. Sie wusste es einfach.
»Nanna, ich glaube, dass das Leben auf dem Mars nicht schlecht sein wird, hab doch Vertrauen. Warum sollte unsere Kolonie war Schlechtes wollen? Warum? Wir sind doch eine Einheit? Das ergibt keinen Sinn. Vielleicht findet das alles nur in deinem Kopf statt. Vielleicht wurde irgendetwas falsch gemacht, bei deiner Erziehung. Rede doch noch mal mit Marius darüber, er wird dich sicher beruhigen können. Ihm kannst du doch vertrauen. Er war immer für dich da.«
»Ich bin so furchtbar verwirrt und doch weiß ich das ganz sicher. Mein Weg ist ein anderer. Ich kann es nicht erklären, aber vielleicht werde ich es irgendwann verstehen. Wir wissen so wenig über unsere Welt, das kann nicht richtig sein. Wir werden von unseren Eltern getrennt, werden von Robotern erzogen, dürfen Elysion nicht verlassen und keiner erzählt uns, was uns als Erwachsene dort oben auf dem Mars erwartet. Wir kennen niemanden aus der Kolonie, keiner nimmt Kontakt zu uns auf.
Wieso? Wenn es nichts zu verbergen gibt, dann können sie doch mit uns kommunizieren, sich uns zeigen, mit uns sprechen, oder nicht? Und was, wenn ich nicht mit meinem Mann zusammenleben will? Was, wenn ich keine Kinder bekomme? Was geschieht dann mit mir? Keiner spricht mit uns darüber. Uns wird nur gesagt, was normal ist, wie es ablaufen soll. Heiraten, Kinder bekommen, und dann zur Kolonie auf den Mars.
Und dann? Was ist dort oben? All das fühlt sich für mich einfach nur falsch an. Falsch und bedrohlich. Ich fühle, als würde ich innerlich zu Eis erstarren. Vor Angst. Ich werde die nächsten fünf Jahre mit einem Mann verbringen müssen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich habe überhaupt noch nie zuvor einen Mann gesehen. Das ist verrückt. Ich muss Kinder bekommen, aber ich bin doch selbst noch eins. Ich will noch nicht erwachsen sein. Ich will hier bei dir bleiben. Warum wird uns nicht mehr über unsere Zukunft erklärt, dann wäre ich vielleicht beruhigter. Aber diese Ungewissheit …«
Saraya wischte zuerst sich selbst die Tränen von der Wange und dann auch die ihrer Freundin. Sie sagte nichts mehr, schloss Nanna einfach nur in ihre Arme und drückte sie ganz fest an sich.
Die Bibliothek war der Himmel für Nanna. Die Bücher wie Sterne, die Wörter der Sternenstaub und all die Geschichten aus der Vergangenheit zogen sie an und verschlangen sie wie schwarze Löcher.
Saraya war ein Goldschatz, weil sie ihr diesen Moment ermöglicht hatte. Nanna bekam weiche Knie, wenn sie sich ausmalte, was ihrer Freundin blühte, wenn das rauskäme. Miguel hatte eine komplette Woche im Arrest-Room verbringen müssen, nachdem er hier allein erwischt worden war. Es gab nichts Schlimmeres, als diesen weißen leeren Raum, in dem man nur mit sich selbst und seinen Gedanken ausharren musste. Nanna war bisher nur einmal drin gewesen, doch das war der nächtliche Ausflug durch die Flure von Pueriton wert gewesen.
Aber keiner konnte sich besser ins Schlüsselsystem hacken wie Saraya. Sie beherrschte sämtliche Türschlosscodes im Schlaf und keine Methode war vor ihr sicher. Sie konnten gar nicht mehr mitzählen, wie oft sie schon auf der Blacklist gestanden hatte wegen ihrer »Begabung«. Und auch den Arrest-Room kannte sie besser als jeder andere hier.
Doch es hielt sie nicht davon ab, die Schließmechanismen außer Kraft zu setzen, es war wie eine Sucht für sie. Nanna beneidete sie um ihre Furchtlosigkeit, obwohl Saraya sonst sehr regeltreu war. Eigentlich war sie eine richtige Idol-Person, was vermutlich auch der Grund dafür war, dass die Androiden sie jedes Mal wieder durchkommen ließen. Hoffentlich kamen sie ihr diesmal nicht auf die Schliche, denn sie tat es nur für Nanna.
Doch nun stand Nanna hier, umgeben von echten Büchern. Bücher zum Anfassen, Bücher zum Riechen. Jahrzehnte alte Druckerschwärze, moderndes Papier und Kaffeeflecken, die ihre Vorfahren wie ein Andenken hinterlassen hatten.
Die meisten der Bücher waren in Kunststoff-Särge verbannt worden. Doch viele standen frei zugänglich in Regalen.
Nanna blieben ganze zwanzig Minuten, dann würde das System wieder aktiviert werden.
Ihr Puls raste und ihre Haut kribbelte wie unter Strom.
Was suchte sie eigentlich? Ihr blieb keine Zeit zum Träumen. Sie brauchte Bücher über die Vergangenheit. Geschichten über das Draußen. Über das Zuvor. Bevor sie irgendetwas unternehmen konnte, um ihr Schicksal zu beeinflussen, brauchte sie Wissen. Wissen und Informationen.
Sie stolperte durch die Gänge. Sonnensysteme, Planeten, Physik, Chemie, Sternenkunde, Roboterkunde, Pflanzenkunde, Insekten. Nein. Nein. Nein. All diese Themen brachten sie nicht weiter. Wo waren die wahren Schätze? Alte Bücher.
Sie erreichte die letzten Gänge und mit jedem Begriff wurde ihr wärmer ums Herz. Geschichte des Jahres 1900, Kriege, Könige der Antike, Die letzten Städte …
Da! Nannas Puls beschleunigte sich, sie berührte die in blauem Einband gehaltenen Exemplare: Der Mythos der Profillosen, Die Letzte Stadt, Die Große Klimakrise, Die Neuen Seuchen, Die Neue Welt … Nanna blätterte die Seiten durch und die, die ihr Interesse weckten, speicherte sie auf ihrem Chip im Arm. Ihr blieben noch genau acht Minuten. Das war nicht genug Zeit, doch die Überschriften, die sie bisher aufgeschnappt hatte, ließen ihr Blut kochen.
Die große Flut, Schwarze Löcher, Weiße Hoffnung, Leben auf dem Mars, Profillose − Erfahrungsberichte, Ist ein Leben außerhalb der Kuppel möglich?, Portale in der Kuppel und wo sie vermutet werden, Eltern und ihre Kinder.
Nannas Kopf drohte zu platzen und sie brach ab. Lieber etwas zu früh hier heraus, bevor sie riskierte, Saraya zu gefährden. Nanna erachtete ihre Ausbeute für genügend und stellte das letzte Buch, das sie in Händen hielt, zurück ins Regal.