Nathaniel und Victoria 1: Unter goldenen Schwingen - Natalie Luca - E-Book
SONDERANGEBOT

Nathaniel und Victoria 1: Unter goldenen Schwingen E-Book

Natalie Luca

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Auto zum achtzehnten Geburtstag, aber keine Zeit, mit ihr zu feiern? Victoria ist maßlos enttäuscht von ihrem Vater, vor allem, weil es ihr erster Geburtstag seit dem Tod ihrer Mutter ist. Also steigt sie in den neuen Wagen und setzt ihn bei strömendem Regen prompt gegen eine Friedhofsmauer. Merkwürdigerweise bekommt sie dabei nicht den kleinsten Kratzer ab. Und noch merkwürdiger ist, dass niemand den blonden jungen Mann gesehen haben will, der sie aus dem Autowrack befreit hat. Sollte das etwa tatsächlich ein Schutzengel gewesen sein? Victoria muss der Sache unbedingt auf den Grund gehen und ihn wiedersehen… //Alle Bände der himmlischen Schutzengel-Reihe: -- Nathaniel und Victoria 1: Unter goldenen Schwingen -- Nathaniel und Victoria 2: Unter höllischem Schutz -- Nathaniel und Victoria 3: Unter irdischem Siegel -- Nathaniel und Victoria 4: Unter venetischer Sonne -- Nathaniel und Victoria 5: Unter südlichen Sternen -- Nathaniel und Victoria: Alle fünf Bände in einer E-Box// Die »Nathaniel und Victoria«-Reihe ist abgeschlossen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich eventuell Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2013 Text © Natalie Luca, 2013 Umschlagbild: shutterstock.com / © Oleg Gekman (Mädchen) / © Eva Bidiuk (Engel) Umschlaggestaltung: formlabor Innengestaltung: Gunta Lauck Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund

PROLOG

Man sagt, dass im Augenblick des Todes das eigene Leben an einem vorbeizieht – was in diesem Augenblick an mir vorbeizog, erklärte auf jeden Fall, warum ich an einer Friedhofsmauer sterben würde.

Als ich merkte, dass die Reifen auf dem Asphalt nicht mehr griffen, wusste ich noch nicht, dass ich Sekunden später tot sein sollte. Ich hatte die Kontrolle über den Wagen verloren – das kommt vor, wenn man auf einer regennassen Straße wie eine Idiotin das Gaspedal durchtritt – und das Auto schlitterte über die Fahrbahn. Meine Hände krampften sich wie Eisenklammern um das Lenkrad, während ich versuchte, mich an irgendetwas aus dem Führerscheinkurs zu erinnern, das mich davor bewahren würde, mich bei meiner ersten Autofahrt umzubringen. Während das Auto rutschte und das Heck ausscherte, zerrte ich das Lenkrad in die Gegenrichtung und trat panisch aufs Bremspedal. Doch die Reifen griffen nicht und der Wagen schlitterte ungebremst auf die Böschung zu.

Ich versuchte verzweifelt, das Auto auf der Straße zu halten, und trat das Bremspedal durch. Hinter der Böschung ragte die Friedhofsmauer bedrohlich auf, als würde sie nur darauf warten, dass mein Wagen daran zerschmetterte. Und plötzlich begriff ich, dass diese Mauer das Letzte war, was ich jemals sehen würde.

Obwohl es sinnlos war, stemmte ich meine Arme mit aller Kraft gegen das Lenkrad, so als könnte ich die heranrasende Gefahr von mir fortdrücken. In diesem Moment schleuderte mein Auto von der Straße und schoss über die Böschung.

Ich schloss die Augen. Der Tod also … er konnte nicht so schlimm sein. Nicht schlimmer als die Hölle in meinem Innern.

Ich erwartete den Aufprall – doch was ich stattdessen wahrnahm, war ein goldener Funke. Das sanfte Schimmern war so wunderschön, dass es meine Aufmerksamkeit im letzten Augenblick meines Lebens vollkommen fesselte. Ein Gedanke kam mir in den Sinn, es war eigentlich nur ein Gefühl, ein gutes Gefühl, das erste gute Gefühl seit Monaten – doch es dauerte nur den Bruchteil eines Augenblicks. Dann zerschellte mein Wagen an der schwarzen Mauer.

Ich dachte, das wäre das Ende.

Es war der Anfang.

DER TAG, AN DEM ICH STERBEN SOLLTE

13 Stunden, 27 Minuten früher.

In dieser Nacht kehrten die Albträume zurück. Ich wachte wieder schreiend auf, keuchend und schweißgebadet. Panisch schlug ich auf den Lichtschalter und sah mich im Zimmer um.

Ich war allein. Ich erschrak, als ich die Schritte auf dem Flur hörte, doch es war nur mein Vater, der im nächsten Moment seinen Kopf zur Tür hereinstreckte. Ich war es nicht gewohnt, dass er zu Hause schlief.

»Alles in Ordnung?« Er blinzelte müde gegen das schwache Licht meiner Nachttischlampe.

»Albtraum«, stieß ich hervor und ließ mich zurück in die Kissen sinken.

»Schon wieder? Willst du nicht endlich zum Arzt gehen?«

»Es geht schon«, murmelte ich.

»Ich habe einen 16-Stunden-Tag vor mir, Vicky, ich brauche meinen Schlaf ...«

»Tut mir leid«, sagte ich leise.

Er schüttelte den Kopf und schloss die Zimmertür. Ich schaltete das Licht aus und starrte in der Dunkelheit an die Zimmerdecke.

Dieser Albtraum war bisher der Schlimmste gewesen. Ich wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn.

In dieser Nacht schlief ich nicht wieder ein.

Da es mein Geburtstag war, konnte der Tag wohl nicht noch schlimmer werden; davon war ich fest überzeugt, als ich mich ein paar Stunden später mit dunklen Ringen unter den Augen durch den Schultag quälte.

Ich ahnte noch nicht, wie sehr ich mich irren sollte.

»… und weil Chrissy nicht weiß, dass Mark auf sie steht, und er das allein nie auf die Reihe kriegen wird, müssen wir eben Amor spielen.«

»Was?«, murmelte ich. »Lass mich raten: wieder ein Spruch von deiner Oma?«

Anne zuckte mit den Schultern und grinste verlegen. Sie war bei ihrer Großmutter aufgewachsen und gab ständig Ausdrücke von sich, die kein Mensch mehr verwendete. Einige der anderen fanden sie deshalb uncool. Ich fand das nicht. Sie war meine beste Freundin.

»Ich soll also so tun, als wäre ich ein kleiner fetter Engel?«, fragte ich.

Anne nickte enthusiastisch. »Wenn es hilft, die beiden zusammenzubringen? Ich weiß genau, wie wir das anstellen werden.«

Meine Müdigkeit war schlagartig verschwunden. »Nein. Vergiss es.«

»Aber deine Geburtstagsparty ist dafür ideal!«

Ich stöhnte. »Nein. Keine Party.«

»Es ist alles schon geplant! Und ich habe das perfekte Outfit.«

Ich stopfte meine Schulbücher in die Tasche, während hinter uns die anderen Schüler aus dem Physiksaal hinausströmten. Annes Enthusiasmus machte mir ein schlechtes Gewissen.

»Hör mal, ich bin einfach nicht in Stimmung für eine Party. Tut mir leid.«

Anne sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld an. Sie schüttelte den Kopf und ihre kurzen blonden Locken hüpften. »Es wird Zeit, dass du aus deinem Schneckenhaus herauskommst. Du kannst dich doch nicht ewig verstecken.«

»Ich weiß«, sagte ich leise.

Genau genommen konnte ich mich überhaupt nicht verstecken. Das, was mich verfolgte, fand mich überall.

Nahezu überall.

»Also abgemacht?«, drängte Anne. »Heute um sieben Uhr im Charley’s?«

»Victoria? Kannst du mir bitte helfen?«

Ich blickte auf. Herr Wagner, der Physiklehrer, sah mich auffordernd an.

»Geh schon vor«, sagte ich zu Anne und ließ meine Tasche auf den Tisch sinken. »Ich komme gleich nach.«

»Warte, bis du die Stiefel siehst, die ich für die Party gekauft habe.« Anne zwinkerte mir zu und verließ mit den anderen Schülern die Klasse. Das Thema war definitiv nicht beendet. Seufzend wandte ich mich zum Lehrertisch.

Herr Wagner, groß und schlaksig, mit runder Hornbrille und blauen Augen, war jenseits der Vierzig, und hatte trotzdem erstaunliche Ähnlichkeit mit einem neugierigen Kind. Seit ich ihn kannte trug er karierte Hemden, die nie ganz in seiner Hose steckten, und eine altmodische Wuschelfrisur, die seinen seltenen Friseurbesuchen trotzig standhielt. Er unterrichtete Physik und Religion mit chaotischer Hingabe, und er war der einzige Lehrer, den ich mochte.

»Ich fürchte, die räumen sich nicht von selbst weg, obwohl Schüler das immer noch zu hoffen scheinen.« Wagner deutete auf mehrere Stapel Experimentierkästen, die wir während der Stunde benutzt hatten, und die sich nun auf dem Lehrertisch türmten. »Tut mir leid, dass ich dich aufhalte«, sagte er, während er etwas unbeholfen einen Kasten nach dem anderen auf seinen Arm stapelte.

»Nicht so schlimm.« Ich schob die Kästen rasch gegen seine Ellenbeuge, als der Stapel zu kippen drohte. Dass ich froh war, dem Geburtstagspartygespräch mit Anne entkommen zu sein, behielt ich für mich – obwohl ich das Gefühl hatte, dass Wagner mich nicht zufällig genau in diesem Moment gerufen hatte.

Gemeinsam trugen wir die Kästen zu der kleinen Kammer hinter dem Lehrerpult. Wagner warf mir einen Blick von der Seite zu. »Schlechter Tag?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Schlechtes Jahr.«

Wagner schwieg. Er betrat die Kammer und hielt mir umständlich die Tür auf, als ich mich hinter ihm hineinzwängte. Der kleine Raum war mit Kisten vollgeräumt und roch nach Staub.

»Mein Geburtstag«, sagte ich.

»Das tut mir leid«, sagte Wagner betroffen.

Ich hob überrascht den Kopf, doch Wagner bemerkte es anscheinend nicht. Er schwieg eine Weile und stapelte seine Kästen auf ein Regal.

»Weißt du, was das Beste an dieser Kammer ist?«, fragte er plötzlich.

Ein wenig überrumpelt blickte ich mich in dem engen Raum um. Die Regale waren bis zur Decke vollgestopft mit alten Büchern und sperrigen Kisten. Von der Decke hing eine einzelne Glühbirne, die hin und wieder flackerte, und es roch nach Generationen staubiger Physikstunden.

»Keine Ahnung.« Ich bemühte mich, nicht unhöflich zu klingen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendetwas an dieser miesen kleinen Kammer ›gut‹ war, geschweige denn ›das Beste‹.

Wagner blickte mich über den Rand seiner runden Brille an. »Der Rest der Welt bleibt draußen.«

»Oh.« Ich sah mich nochmals um. Irgendwie hatte er Recht, und plötzlich erschien mir der kleine Raum viel einladender.

»Jeder von uns braucht hin und wieder so einen Ort«, sagte Wagner. »Einen Ort, an dem alles, was wir nicht wollen, draußen bleibt.«

Ich lächelte schwach. »Wann kann ich einziehen?«

»Ich fürchte, dieser hier ist nur für Notfälle bestimmt. Keine Dauerresidenz.« Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. »Es ist gut, dass du heute trotzdem zur Schule gekommen bist.«

»Ich hatte die Wahl zwischen schlimm und schlimmer.«

»Es gibt ein ›schlimmer‹ als die Schule?«

Ich machte eine vage Kopfbewegung.

Wagner fuhr fort, Kästen in das Regal einzuräumen. »Zu Hause?« Er nahm mir zwei Kästen aus den Armen.

»Mein Vater hat viel zu tun im Büro. Er arbeitet bis spätnachts und ist oft unterwegs.« Ich ärgerte mich über mich selbst, als mir auffiel, wie entschuldigend meine Worte klangen.

Wagner neigte nachdenklich den Kopf zu Seite. »Es ist seine Art, mit eurem Verlust umzugehen.«

»Es ist seine Art, mit allem umzugehen«, murmelte ich.

Der Lehrer blickte mich lange an. »Ich kann verstehen, wenn du dich verletzt fühlst. Oder zornig, oder traurig, oder enttäuscht. Aber du darfst nicht zulassen, dass diese Gefühle dich beherrschen, verstehst du?«

Sein intensiver Tonfall verwirrte mich. Ich schluckte und starrte auf die Kästen vor mir im Regal. Meine Augen waren fest auf die Beschriftungen an ihren Seiten geheftet. »Mein Vater ist die meiste Zeit fort, und meine Freunde …« Ich brach ab und schüttelte den Kopf.

» … verstehen dich nicht?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Und deshalb bist du enttäuscht?«

Ich schwieg.

»Du solltest froh darüber sein. Es bedeutet, dass sie sich nicht vorstellen können, was du durchmachst. Oder wäre es dir lieber, sie hätten ähnliche Erfahrungen wie du?«

Ich erstarrte entsetzt. »Nein. Natürlich nicht. Es ist nur … manchmal ist es so schlimm, dass ich nicht mehr weiß, was ich tun soll …« Ich verstummte, als ich meine eigenen Worte hörte. Es war die Wahrheit, doch ich hatte sie noch nie ausgesprochen, erst recht keinem Lehrer gegenüber.

Wagner nickte nachdenklich. »Ich verstehe. In solchen Fällen …« Er streckte die Hände zu den Seiten aus. »Ich präsentiere: den ›Ort-ohne-den-scheußlichen-Rest-der-Welt‹, wir haben von Montag bis Freitag geöffnet.«

Ich schmunzelte leicht. »Danke.« Nach kurzem Nachdenken fügte ich hinzu: »Ich glaube, ich habe meinen eigenen ›Ort-ohne-den-scheußlichen-Rest-der-Welt‹.«

»Sehr gut! Geh dorthin, wenn es schlimm wird. Das hilft.«

Dass Wagner nicht fragte, um was für einen Ort es sich handelte, war einer der Gründe, warum ich ihn mochte. Ich fragte mich, ob ich mit ihm auch darüber sprechen konnte, was mich an meinen geheimen Ort trieb. Würde er verstehen, was niemand sonst verstand?

»Danke für deine Hilfe, Victoria.« Wagner räumte den letzten Kasten in das Regal. »Ist noch etwas?«

Ich zögerte einen Moment. »Nein. Alles okay«, murmelte ich dann und verließ rasch den Physiksaal.

Draußen stieß ich mit Anne zusammen, die vor der Tür auf mich gewartet hatte.

»Also nochmal zu der Party …«

»Hör mal, Amor, selbst wenn ich wollte, ich habe gar keine Zeit. Mein Vater hat etwas geplant.«

Anne blickte mich überrascht an. »Der Workaholic ist in der Stadt?«

Ich nickte. »Schlechtes Gewissen, nehme ich an.«

»Was habt ihr vor?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Egal, wir schmeißen die Party auf jeden Fall.« Anne blieb hartnäckig, während wir auf den Ausgang zusteuerten. »Das sind wir Mark und Chrissy schuldig.«

»Ich glaube, sie würden es überleben.«

Anne warf mir einen strengen Blick zu. »Nur weil dich keiner der Jungs interessiert, müssen wir anderen nicht auch wie im Kloster leben.« Sie imitierte die Stimme ihrer Großmutter. »›Der Himmel weiß, du brichst Herzen, Schneewittchen.‹«

Schneewittchen – so nannte mich Annes Oma seit meiner Kindheit. Vermutlich lag es an meinen langen, dunklen Haaren, meinem hellen Teint und meinen blauen Augen.

Im Gegensatz zu Anne, die ständig mit ihrer Figur auf Kriegsfuß stand, hatte ich wenig für Styling übrig. Ich hatte mir nie viel aus Make-up gemacht, trug am liebsten Jeans und T-Shirts, und meine Haarmähne ließ ich meistens einfach offen. In den letzten Monaten hatte ich mir jedoch noch weniger Gedanken um mein Äußeres gemacht, als davor.

In meinem Leben gab es nämlich ein davor und ein danach.

Davor war alles in Ordnung gewesen.

Danach …

Genau genommen gab es in meinem Leben nur ein davor.

Anne kicherte noch immer, als wir auf den Schulhof traten, doch der stürmische Wind fegte ihr Lachen von den Lippen. Ich warf einen unbehaglichen Blick nach oben. Schwarze Wolken jagten über den Himmel. Während wir uns über den Schulhof Richtung Busstation kämpften, wickelte ich mich in meine Jacke und schlug den Kragen hoch.

»Ich hasse dieses Wetter«, schimpfte Anne durch ihren Schal hindurch. »Oh nein, auch das noch! A-Liga voraus.«

Ich folgte ihrem Blick. Auf dem Schulparkplatz standen zwei neue BMW Sportwagen mit laufenden Motoren. Ihre Bässe vibrierten mit der Art von Clubmusik, für die Jugendliche in unserem Alter nicht einmal einen Namen hatten. Die Wagen waren umringt von Gruppen von Schülern, und in der Mitte standen, sich in den Blicken der anderen sonnend, die Mädchen der A-Liga.

»Wie nett von euch, uns auf die Semesterbeginn-Party eurer Fakultät einzuladen!«, flötete Ariana gerade dem jungen Mann im vorderen Wagen zu und warf ihre langen blonden Haare über die Schulter. Das Mädchen neben ihr, Katharina, in einem pinkfarbenen kurzen Trenchcoat, lachte. Sarah, die Dritte, beugte sich zum Fenster der beiden Jungs im hinteren Wagen hinunter und unterhielt sich kichernd mit ihnen.

»Diese Art von Gewerbe ist auf dem Schulgelände verboten«, zischte Anne giftig, als wir uns an den Schülern vorbeischoben, die immer noch die Autos angafften.

Ariana lehnte sich gegen die Kühlerhaube des vorderen Wagens, lächelte und spielte mit einer Haarsträhne.

»Wie affig«, zischte Anne.

»Einfach ignorieren«, flüsterte ich zurück. Doch es war zu spät. Ariana hatte uns entdeckt.

»Seht nur, wer zum Bus geht! Sollen wir euch mitnehmen?« Arianas Stimme klang spottend.

»Nein, danke!«, schoss Anne zurück, und murmelte leiser: »Wir stehen nämlich nicht auf betrunkene Studenten, die uns flachlegen wollen.«

»Oh, doch nicht auf die Party!« Arianas falsches Lachen klang glockenhell über den Parkplatz. Sarah und Katharina stimmten mit ein. »Nein, Dummerchen. Aber wir können euch bis zur Bushaltestelle mitnehmen!«

»Einfach ignorieren«, insistierte ich und zog Anne weiter, die ›arrogantes Aas‹ murmelte. »Einfach ignorieren …«

Als wir außer Hörweite der Drei waren, fauchte Anne ärgerlich: »Wenn wir wenigstens auch ein Auto hätten …« Dann hellte sich ihr Blick plötzlich auf. »Warte! Du bist achtzehn! Du darfst ab heute fahren!«

»Genau. Dürfen. Nicht können.«

Anne überhörte diesen Einwand. »Ihr habt doch noch das Auto deiner Mutter, oder? Das ist doch jetzt deins – tut mir … leid …«

Ein Blick in mein Gesicht hatte genügt. Anne verstummte und starrte den restlichen Weg zur Bushaltestelle betreten zu Boden.

Ich rammte meine Stiefel härter als notwendig auf den Asphalt. Meine Finger schlossen sich in der Jackentasche um meinen Schlüsselbund und fanden den Schlüssel mit dicker schwarzer Plastikverschalung, der seit Juni daran hing. Ich hatte ihn dabei, um einige Dinge aus dem roten Mini Cooper zu holen, der vor unserem Haus parkte – den Glücksbringer meiner Mutter, und einige DVDs, von denen Anne wahrscheinlich gar nicht mehr wusste, dass ich sie mir geliehen hatte. Seit Juni ging ich jeden Tag an dem Wagen vorbei und brachte es nicht übers Herz, mich dem Auto zu nähern, geschweige denn, die Sachen herauszuholen. Und Anne erwartete tatsächlich, dass ich diesen Wagen fuhr?

»Was ist denn mit euch los?« Chrissys Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie und Mark standen an der Bushaltestelle. Chrissys Bruder Tom, der nicht auf unsere Schule ging, war auch dabei.

»A-Liga«, murmelte ich rasch. Ich spürte Annes Blick auf mir, doch ich sah bewusst nur Chrissy und Mark an.

»Die blöden Ziegen«, sagte Mark. »Vergesst die doch.« Auf seinem runden, sonst meist gutmütigen Gesicht erschien ein verächtlicher Ausdruck. Er strich sich seine dunkelblonden Haarsträhnen aus der Stirn, die unter seiner Kappe hervorlugten.

»Warum nennt ihr sie eigentlich ›A-Liga‹?«, fragte Tom. Er war größer und sportlicher gebaut als seine zierliche Schwester, hatte stachelige, dunkle Haare und die gleichen Lachgrübchen wie Chrissy.

»Weil sie sich für etwas Besseres halten, so etwas wie die ›Elite der Schule‹«, sagte Chrissy. Sie machte mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft und verzog dabei das Gesicht, so dass sich die Sommersprossen auf ihrer Nase kräuselten. Ihre buschigen, rotbraunen Haare quollen unter ihrer Kapuze hervor. »Und weil in ihren Namen so viele ›A‹ vorkommen.«

»Und weil noch eine Menge anderer Worte mit ›A‹ auf sie zutreffen«, fügte Anne hinzu. »Wie affektierte Angeber.«

»Das ist ihr Hobby«, sagte ich zu Tom.

»Nicht bloß Hobby«, sagte Anne. »Ich hab’s zu einer Kunstform erhoben!«

Tom grinste und Anne strich sich verlegen ihre kurzen blonden Locken hinters Ohr.

»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich Tom.

»Letzte Stunde ist ausgefallen.« Er zuckte mit den Schultern und boxte Mark vorsorglich in die Rippen, bevor der ›Schweinerei‹, murmeln konnte. »Ich fahre mit meinem besten Kumpel hier in die Stadt.«

»Vergesst aber nicht, heute Abend zu Vics Party zu kommen«, sagte Anne. »Um sieben im Charley’s, alles klar?«

»Kommst du auch?«, fragte Mark Chrissy.

»Wenn ich rechtzeitig vom Training wegkomme«, seufzte sie. »Julius Caesar ist in der letzten Zeit so eine Diva …«

»Mach Leberkäse aus ihm, Schwesterherz«, grinste Tom.

»Das ist ein hoch prämiertes Dressurpferd, du Idiot. Und ich fürchte, das ist ihm völlig bewusst.«

Anne machte eine nicht gerade unauffällige Kopfbewegung in meine Richtung.

» … was mich natürlich nicht davon abhalten wird, zur Party zu kommen«, fügte Chrissy rasch hinzu.

Anne nickte zufrieden und wandte sich an mich. »Geburtstagskind?«

Ich zögerte. Dann fiel mir wieder ein, was Herr Wagner zu mir gesagt hatte: dass ich mich von dem, was mich verfolgte, nicht beherrschen lassen durfte.

Leicht gesagt.

Ich riss mich zusammen und setzte ein Lächeln auf. »Also gut, ich werde da sein.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Der große weiße Karton stand noch genau so auf dem Wohnzimmertisch, wie ich ihn an diesem Morgen vorgefunden hatte. Mein Vater musste ihn gestern spätabends mitgebracht haben, denn als ich morgens aufgestanden war, war mein Vater bereits auf dem Weg ins Büro gewesen.

Doch wenigstens hatte er die Nacht zu Hause verbracht.

Ich hatte den Karton am Morgen ignoriert, in der Hoffnung, dass es sich dabei nicht um die einzige Reaktion meines Vaters auf meinen Geburtstag handelte.

Schließlich war es mein erster Geburtstag danach.

Nun stand ich allein im Wohnzimmer und starrte den Karton an. Auf der Vorderseite prangte der Name der besten Konditorei der Stadt, und daneben lag ein schlichter weißer Umschlag.

Ich schluckte. Enttäuschung machte sich in mir breit und mit einem Kloß im Hals hob ich den Deckel des Kartons an. Darin war eine perfekte Schokoladentorte mit makelloser Glasur. So anders als meine letzte Geburtstagstorte … die Glasur war klebrig gewesen und zerlaufen, und meine Mutter und ich hatten lachend in der Küche gestanden und uns die Schokolade von den Fingern geleckt …

Etwas schnürte mir die Kehle zu. Ich schluckte. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich schloss rasch den Karton.

Zögernd griff ich nach dem weißen Umschlag. Etwas Kleines, Schweres lag darin, und als ich ihn öffnete, glitten eine Karte und ein Schlüssel heraus.

»Liebe Viktoria, alles Gute zum Geburtstag. Papa.«

Selbst wenn ich Ritas Handschrift nicht erkannt hätte, wäre es offensichtlich gewesen, dass mein Vater die Karte nicht selbst geschrieben hatte. Erstens nahm ich an, dass er wenigstens meinen Namen richtig geschrieben hätte, und zweitens nannte ich ihn seit Jahren nicht mehr Papa. Ich nannte ihn Ludwig.

Ich drehte den Schlüssel in meinen Händen. Er war in schwarzen Kunststoff einfasst und darauf waren zwei Buchstaben eingeprägt.

VW.

Ludwig hatte mir … ein Auto geschenkt?

Im nächsten Moment schreckte mich das Klingeln meines Telefons auf. Ludwigs vorwurfsvolle Stimme dröhnte vom anderen Ende der Leitung.

»Ich habe mich schon gefragt, ob mein Geschenk nicht angekommen ist!«

»Ich habe es gerade erst aufgemacht«, erwiderte ich.

»Jetzt? Um halb sechs Uhr nachmittags?«

»Ich war in der Schule.«

»Richtig …« Ludwig zögerte. Seine Stimme zeigte eine Spur von Unsicherheit und er bemühte sich um einen scherzenden Ton. »Dann sind die Ferien wohl wieder vorbei, was?«

»Seit vier Wochen.«

»Tatsächlich?«

»Es ist Ende September. Sogar in Hong Kong.«

Ich atmete lang und lautlos aus, um meinen aufsteigenden Zorn unter Kontrolle zu bringen. Es gibt nur noch euch beide, dachte ich. Reiß dich zusammen.

»Vicky, du weißt, dass diese Dienstreisen für meine Arbeit wichtig sind. Wir haben darüber gesprochen.«

Darüber gesprochen? Mir blieb fast die Luft weg. Die Hälfte der Zeit wusste ich nicht einmal, ob Ludwig in Hong Kong war oder in Wien, und alles, was er mir gegeben hatte, war die Telefonnummer seiner Sekretärin Rita – für Notfälle.

Doch ich hatte keine Lust auf Streit. Nicht schon wieder. Nicht heute.

»Danke für die Torte«, sagte ich. »Und für den … äh … Schlüssel.«

»Richtig!« Ludwigs Tonfall änderte sich schlagartig. »Ich dachte mir, dass dir mein Geschenk gefallen wird! Zu schade, dass ich nicht da bin, um dein strahlendes Gesicht zu sehen. Damit hast du nicht gerechnet, nicht wahr?«

Ich biss die Zähne zusammen und starrte auf das Bild über dem Sofa, um weder den Schlüssel noch die Torte ansehen zu müssen. Es war ein Druck von Klimt, dem Lieblingsmaler meiner Mutter. Dieses Bild hatte sie besonders geliebt. Es zeigte eine dunkelhaarige Frau, die ein prachtvolles, goldenes Kleid trug. Das Licht brach sich in den unterschiedlichen Goldtönen und erweckte den Eindruck, als würde das Bild strahlen.

»Du bist jetzt achtzehn, es ist Zeit, dass du ein Auto hast.«

»Ich habe ein Auto.«

»Du hast ein …? Ach, du meinst … aber du fährst den Wagen doch nicht. Es ist besser, wenn du deinen Eigenen hast. Ich werde den Alten verkaufen …«

»Nein!« Ich brauchte einen Moment, um mich zu fassen. »Ich behalte Mamas Auto! Ich werde es fahren, ich wollte nur noch nicht … ich meine, ich habe es noch nicht gebraucht – jedenfalls gebe ich es nicht her …«

»Schon gut«, erwiderte Ludwig beschwichtigend. »Wir müssen das nicht sofort entscheiden. Sieh dir doch mal dein neues Auto an. Es ist ein hellblauer VW, steht unten auf dem Parkplatz, zwei Autos hinter dem Wagen deiner Mu…, hinter dem Mini Cooper. Die Papiere sind im Handschuhfach.«

»Ich … ich sehe ihn mir an.«

»Du solltest noch ein paar Fahrstunden nehmen, deine Führerscheinprüfung ist ja schon eine Weile her. Ich werde Rita bitten, die Fahrschule anzurufen …«

»Nicht nötig, ich kümmere mich schon darum.“«

»Aber such dir einen schöneren Tag als heute aus, bei Unwetter fahren die Leute immer wie die Irren.« Im Hintergrund läuteten Telefone. »In der Firma machen sich alle verrückt wegen des Vertragsabschlusses. Ich muss morgen wieder nach Hong Kong fliegen.«

»Mh.« Was änderte es, ob er in Hong Kong schlief, oder bei einer seiner Affären? Er war nicht da und ein Kontinent mehr oder weniger zwischen uns machte keinen Unterschied.

»Tut mir leid, dass ich heute nicht da sein kann, Vicky. Wir holen das nach, in Ordnung? Wir gehen essen, oder … «

Es würde wahrscheinlich nie passieren.

»In Ordnung«, sagte ich. »Kein Problem.«

»Was hast du denn heute noch Schönes vor? Feierst du mit deinen Freunden?«

»Ja«, sagte ich leise. »Sie geben eine Party für mich.«

»Großartig! Erzähl ihnen von deinem neuen Auto, sie werden dich alle beneiden.«

Ich schluckte und presste die Lippen zusammen. »Ich muss jetzt Schluss machen, ich komme zu spät«, murmelte ich. »Sie warten schon auf mich.«

»Genieß die Torte, und viel Spaß bei der Party!«

»Ludwig?«

»Ja?«

Ich zwang mich zu dem nächsten Wort. »Danke.«

Im Hintergrund hörte ich Ritas Stimme, und dann Ludwigs, als er ihr antwortete.

»Schon gut«, sagte er abgelenkt zu mir. »Bei uns ist gerade die Hölle los. Mach’s gut, Vicky.«

»Ja …«

Klick.

Ich starrte das strahlende Gemälde der Adele an und drehte gedankenverloren den Autoschlüssel in meinen Händen. Und plötzlich fiel mir auf, was fehlte.

Es gab keine Blumen.

Ich ließ meinen Blick über den Wohnzimmertisch schweifen, die Anrichte, bis hinüber ins Esszimmer – es waren überhaupt keine Blumen da. Meine Mutter hatte Blumen geliebt. Sie hatte stets dafür gesorgt, dass auf dem Wohnzimmertisch ein blühender Stock gestanden hatte, einer auf der Anrichte neben dem Bücherregal, und auf dem Esszimmertisch eine Vase mit einem liebevoll arrangierten Strauß.

Jetzt gab es nichts Lebendiges mehr in dieser Wohnung. Das einzige Geräusch kam von der Wanduhr, und das monotone Ticken erdrückte mich. Ich ertrug die Stille nicht, denn mit ihr kamen die Erinnerungen. Sie überschwemmten mich, wie ein Sumpf, der immer höher und höher stieg, bis ich das Gefühl hatte, darin zu ertrinken. Wagner hatte Recht. Die Einsamkeit machte es noch schlimmer. Ich ertrug die Gesellschaft anderer kaum noch, aber genauso wenig ertrug ich es, allein zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr ertrug, denn egal, was ich tat, etwas zog mich in die Tiefe, wie ein Strudel, dem ich nicht entkommen konnte.

Wie so oft, versuchte ich auch jetzt, mein Herz zu verschließen. Ich versuchte, die schrecklichen Gedanken aus meinem Kopf zu zwingen. Ich versuchte, mir einzureden, wie viel Glück ich doch hatte. Ich hatte ein Auto bekommen, und Freunde, die eine Party für mich schmeißen wollten, wenn ich es nur zuließ. Warum fühlte ich mich dann so elend?

Nüchtern griff ich nach meinem Handy und suchte Annes Nummer im Kurzwahlspeicher. Vielleicht konnten wir uns schon eher treffen. Das war besser als hier herumzusitzen, gefangen in Erinnerungen.

Mein Blick fiel auf die Torte, und plötzlich schossen Bilder durch meinen Kopf. Ich war wieder siebzehn, die Glasur war eine Katastrophe, und Mama und ich alberten mit schokoladeverschmierten Löffeln herum …

Nur ein paar Monate später hatte sie kaum noch die Kraft gehabt, sich in die Küche zu schleppen. Was ihr der Krebs an Energie gelassen hatte, hatte die Chemotherapie aus ihrem sterbenden Körper gesaugt.

Ich legte das Handy zur Seite. Ich fühlte Zorn in mir brodeln und kämpfte die Tränen zurück. Warum musste mein verdammtes Leben nur so sein? Ich hasste es. Ich hasste, dass meine Mutter nie wieder zurückkommen würde. Ich hasste, dass es meinem Vater egal war. Ich hasste die Düsternis, die mich einschloss wie eine zähe Masse, in die kein Tageslicht drang.

Jetzt gab es nur noch einen Ort, an den ich gehen konnte. Ich warf einen raschen Blick auf die tickende Wanduhr. Die Tore des Friedhofs schlossen um 18 Uhr. Mir blieben noch 25 Minuten.

Kalter Wind peitschte mir den Regen ins Gesicht, während ich zur Bushaltestelle rannte. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt, schwarze Wolkenfetzen jagten über mich hinweg, und Wind und Regen mischten sich zu einer grauen Wand, durch die ich mich kämpfen musste.

Es waren nicht nur die Kälte und der Zeitdruck, die mich antrieben. Es war das Gefühl, dass mir etwas im Nacken saß. Ich kannte dieses Gefühl, doch so schlimm wie an diesem Tag war es noch nie gewesen.

Als ich bei der Haltestelle ankam, warteten dort bereits mehrere Leute zusammengedrängt im Wartehäuschen. Ich spähte nervös die Straße hinunter. Es war kein Bus in Sicht, und plötzlich ertönte eine Stimme aus einem Lautsprecher, der am Wartehäuschen montiert war.

Die Frau von der Leitstelle sagte irgendetwas über schlechtes Wetter und die Behinderung des Fahrbetriebs, doch die Durchsage war kaum zu verstehen, so sehr rauschte die Verbindung.

Ich fluchte leise und schaute auf die Uhr. Mir blieben weniger als zwanzig Minuten. Wenn der Bus sich verspätete, würde ich es nicht schaffen. Aber ich musste es schaffen … ich ertrug den Gedanken nicht, in die Wohnung zurückzukehren. Etwas trieb mich, hetzte mich, jagte mich, und es gab nur einen Ort, an dem ich sicher war.

In dieser Sekunde traf ich meine Entscheidung. Den neuen Schlüssel in meiner Tasche, rannte ich los.

Auf der Straße, direkt vor der Parkanlage, die mein Wohnhaus umgab, stand ein nagelneuer, hellblau glänzender VW, zwei Plätze hinter dem roten Mini Cooper, der seit Juni unbewegt auf dem Parkplatz stand.

Ich hatte meine Führerscheinprüfung vor Monaten bestanden und war seither nicht mehr gefahren. Die Vorstellung, meine erste Autofahrt bei starkem Regen zu machen, war wenig verlockend. Doch ich hatte keine Wahl.

Ich hielt die Luft an, drückte auf den neuen Schlüssel und der hellblaue VW entriegelte die Türen. Bevor ich einstieg, wandte ich mich noch einmal zu dem roten Mini um, und zögerte. Etwas drängte mich gewaltsam in meinen neuen Wagen, und ich spürte Widerstand in mir. Ich riss mich los und zog meinen Schlüsselbund aus der Tasche. Bebend öffnete ich die Fahrertür des Minis und lehnte mich hinein. Der vertraute Geruch des Wagens, jetzt kalt und abgestanden, schlug mir entgegen wie eine Mauer aus Erinnerungen. Ich zwang mich, meinen Blick starr auf die Windschutzscheibe gerichtet zu halten, und fädelte mit tauben Fingern einen Anhänger vom Rückspiegel. Ein kleiner goldener Flügel – der Glücksbringer meiner Mutter.

Eine dumme Idee, jetzt Auto zu fahren, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Du wirst dich umbringen.

Doch als sich meine Finger um den kalten Anhänger schlossen, brachen Erinnerungen mit neuer Kraft über mich herein. Viele Stunden hatten meine Mutter und ich in diesem Wagen verbracht, geredet und gelacht … einmal so sehr, dass Mama ihren Kaffee verschüttet hatte, ich erinnerte mich an den Tag, als mein Blick auf die Flecken auf dem Sitz fiel.

Es würde nie wieder so sein. Nie wieder. Ich fühlte mich elend und mein Magen drehte sich um. Ich kämpfte die Übelkeit nieder, stolperte aus dem Mini heraus und stieg in meinen neuen VW ein. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich es kaum schaffte, den Anhänger an meinem Rückspiegel zu befestigen.

Dann startete ich den Motor.

Der Regen wurde stärker und ich konnte nur hoffen, dass Ludwig Recht behielt. Wenn die Leute tatsächlich wie die Irren fuhren, würde ich nicht weiter auffallen.

Ich kannte den Weg auswendig, was sehr hilfreich war, da ich vollkommen damit beschäftigt war, den Wagen unter Kontrolle zu bringen. Ich musste es vor 18 Uhr schaffen, sonst würde ich vor verschlossenen Toren stehen. Als der Motor zum dritten Mal abstarb, stiegen mir Tränen der Wut in die Augen.

Die Sicht war schlecht, der Regen war jetzt sintflutartig und der Verkehr stockte. Ich fluchte, während ich erfolglos versuchte, mich zwischen den Autos nach vorne zu schlängeln. Mein Blick klebte an der Uhr auf dem Armaturenbrett.

Noch 14 Minuten.

Wieder eine rote Ampel.

Noch 12 Minuten.

Ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Bei diesem Gedanken schnürte sich mir die Kehle zu und ich fühlte einen bitteren Geschmack im Mund. Mir wurde heiß und ich lockerte hastig meinen Schal. Ich spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen.

Als ich endlich auf die einsame Straße neben den Gärtnereien einbog, zeigte die Uhr sieben Minuten vor 18 Uhr. Die Straße lag schnurgerade vor mir. Das heftige Unwetter machte es unmöglich, weiter als ein paar Meter zu sehen, doch ich kannte diese Straße genau. In den vergangenen Monaten war ich fast jeden Tag hier gewesen. Es war dieselbe Strecke, die der Bus nahm. Links neben der Fahrbahn lagen die Gärtnereien mit ihren Gewächshäusern, und rechts erstreckten sich hinter der Böschung brachliegende Felder. Mir blieb nur noch wenig Zeit, denn ich wusste, dass der Friedhofswärter das Tor jeden Tag pünktlich schloss.

Noch fünf Minuten. Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf die graue Masse vor mir und trat aufs Gas.

EIN GOLDENER SCHILD

Die Nadel auf dem Tachometer schoss nach oben. 50 … 60 … 70 km/h. Vier Minuten vor 18 Uhr.

Das Unwetter peitschte gegen die Fenster, so dass ich den Wagen fast blind steuerte. Ich bemerkte die Friedhofsmauer erst, als sie direkt neben mir auftauchte. Lang und schwarz erstreckte sie sich hinter der Böschung entlang der Straße. Das Tor war nicht mehr weit.

Und dann passierte es. Mein Wagen begann zu schlittern. Die Reifen griffen nicht mehr und rutschten über die glatte Straße. Etwas durchriss den Nebel in meinem Verstand. In Panik versuchte ich, gegenzulenken, doch der Wagen schleuderte unkontrolliert über den nassen Asphalt. In diesem Augenblick realisierte ich, dass es zu spät war. Ich hatte die Kontrolle verloren.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!