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Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung E-Book

Florian Finkbeiner

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Beschreibung

Konservativ, nationalbewusst, rechts - diese Kategorien verschwimmen zusehends, da rechtspopulistische Protagonist*innen eifrig darauf bedacht sind, aus taktischen Erwägungen als eine nicht näher definierte »bürgerliche Mitte« zu erscheinen. Der offenbar immer noch in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptierte Begriff des Konservativen wird vielfältig benutzt, um national-chauvinistische Inhalte zu verschleiern. Florian Finkbeiner zeigt mit seiner Untersuchung konservativer Intellektueller im Zuge der deutschen Vereinigung von den 1980er zu den 1990er Jahren exemplarisch auf, wie es hierzu kommen konnte. Mit dieser Begriffsgeschichte des Konservatismus liefert er spannende Einsichten auch für die gegenwärtige politische Lage.

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Florian Finkbeiner, geb. 1988, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und hat in Göttingen und Trier Politikwissenschaft und Soziologie studiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Ideengeschichte, Konservatismus und Rechtsradikalismus sowie Politische Kulturforschung.

Florian Finkbeiner

Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung

Zum Wandel des konservativen Nationenverständnisses nach der deutschen Vereinigung

Dissertation, Georg-August-Universität Göttingen, 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unterhttps://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de

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© 2020 transcript Verlag, Bielefeld

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-5321-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5321-6 EPUB-ISBN 978-3-7328-5321-2https://doi.org/10.14361/9783839453216

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Inhalt

Dank

I. Einleitung

I.1 Zielsetzung und Exposition der Fragestellung

I.2 Forschungsstand

I.3 Eingrenzung des Gegenstands und methodisches Vorgehen

II. Theoretische Grundlagen

II.1 Die Diskussion um den Konservatismusbegriff

II.1.1 Die Schwierigkeit mit dem Ideologiebegriff

II.1.2 Die Varianz der Deutungsmuster

II.1.3 Traditionalismus versus Konservatismus

II.2 Die Geschichte des Konservatismus zwischen Liberalismus und Rechtsradikalismus

II.2.1 Die »dunkle« Seite des Konservatismus

II.2.2 Der Mythos der »Konservativen Revolution«

II.2.3 Die »Neue Rechte« zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus?

II.3 Das angespannte Verhältnis von Konservatismus und Nation

II.3.1 Das konservative Dilemma mit der Nation

II.3.2 Die historischen Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert bis zur »unheiligen Allianz«: Konservatives Arrangement mit dem Nationalismus

II.3.3 Die Umbrüche im 20. Jahrhundert bis Ende der 1970er Jahre

III. Der deutsche Konservatismus in den 1980er Jahren

III.1 Sozialgeschichtlicher Hintergrund

III.2 Konservatismus in der Strukturkrise

III.2.1 Konkurrierende Konservatismen

III.2.2 Die konservative Sinnsuche im Nationalen

III.3 Der nationale Konservatismus zwischen Reform und Radikalisierung

III.3.1 Nationale Romantik in geschichtspolitischen Debatten

III.3.2 Geistige Radikalisierung und Drang zum Geschichtsrevisionismus

III.4 Zwischenbilanz: Zur Bedeutung der Nation für die konservative Sinnsuche

IV. Konservatismus nach der deutschen Vereinigung

IV.1 Sozialgeschichtliche Umbrüche in den 1990er Jahren

IV.2 Konservatismus zwischen Aufschwung und Auszehrung

IV.3 Wandel nach dem Epochenumbruch

IV.3.1 Deutungen der weltpolitischen Umbrüche

IV.3.2 Der »Anschwellende Bocksgesang« und die Nationale Euphorie

IV.3.3 Nationale und konservative Hoffnungen auf das vereinigte Deutschland

IV.3.4 Die kulturelle Überhöhung des Nationenbegriffs

IV.3.5 Vom nationalen Konservatismus zur Gegenkultur

IV.4 Zwischenbilanz: Zur Mesalliance von Konservatismus und Nation

V. Der Konservatismus vor und nach der Epochenwende

V.1 Wandel der Themen

V.1.1 Religion und Tradition

V.1.2 Staat und Demokratie

V.1.3 Geschichte und Fortschritt

V.1.4 Kultur und Kulturkritik

V.1.5 Nation

V.2 Strukturbruch: Von der Religion zur Nation als Ersatzfunktion

V.3 Von Hoffnung über Ernüchterung zur Enttäuschung

V.4 Ergebnis und Einordnung

V.4.1 Gründe für den kurzzeitigen Erfolg

V.4.2 Versuch einer Verortung

V.4.3 Hypostasierung der Nation

V.4.4 Ist das noch konservativ? – Dimensionen einer Einordnung

V.4.5 Theorielosigkeit und Antiintellektualismus

V.4.6 Wandel des Konservatismus oder Etikettenschwindel?

V.4.7 Nation ohne Nationalismus?

VI. Fazit und Schlussbetrachtungen

VI.1 Die weiteren Entwicklungstendenzen – ein kurzer Ausblick

VI.2 Die Herausforderung des Konservatismus – struktureller Wandel seiner gesellschaftlichen Bedingungen

VI.3 Konservatismus: Zwischen Anziehung und Abstoßung

VII. Literaturverzeichnis

Dank

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Herbst 2019 an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen eingereicht habe. Allen, die mich hierbei unterstützt haben, möchte ich herzlich danken. An erster Stelle sind hier Franz Walter, Steffen Kühnel und Stine Marg als Promotionsbetreuer zu nennen. Vor allem aber möchte ich meinen Eltern und Stiefeltern danken: Anita und Joachim für die kritische Begleitung meiner Arbeit, die stete Aufmunterung und den strengen wie liebevollen Blick beim Korrekturlesen; Harald und Bettina für Unterstützung und Rat. Meinen Freunden Julian und Clemens danke ich für wertvolle Hinweise, Kritik und Ermunterung. Und ganz besonders möchte ich Gina danken, ohne deren theoretische wie praktische Unterstützung ich die Arbeit nicht hätte schreiben können.

Widmen möchte ich diese Arbeit meiner Oma, die die Veröffentlichung leider nicht mehr miterleben konnte.

Göttingen, März 2020

I.Einleitung

Heute werden »Konservatismus« und »Nation« gemeinhin zusammengedacht. Doch das Verhältnis dieser beiden geschichtlich-politischen Kategorien ist gespannt. Mehr noch: Der Konservative konnte früher mit der Nation überhaupt nichts anfangen. In seinem 1898 erschienenen Roman Der Stechlin beschreibt Theodor Fontane feinfühlig diese Ablehnung der Nation vonseiten eines bedachten Konservatismus. Als der alte Diener Engelke an die schwarz-weiß preußische Flagge noch einen roten Streifen annähen will, untersagt es ihm der alte Dubslav von Stechlin: »Laß. Ich bin nicht dafür. Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was Rotes drannähst, dann reißt es gewiß.«1 Dubslav ist der von Fontane gezeichnete Prototyp eines gemäßigten und besonnenen Konservativen, der sich nichts aus der Engstirnigkeit seiner Standesgenossen macht und noch warnt, dass sich der Konservatismus nicht auf den Nationalismus einlassen dürfe.

Seit einigen Jahren wird das Wort »konservativ« im politischen Feuilleton wieder verhandelt. So wird etwa immer wieder gefragt, ob die Christdemokratie überhaupt noch »konservativ« sei. Vielfach wird das Fehlen einer »wahrhaft« konservativen »Alternative« beklagt. Gleichzeitig versuchen politische Kräfte rechts der Mitte, den Begriff für sich zu vereinnahmen. Der politische Konservatismus zählt, wenn man ihn denn der groben Orientierung halber zunächst einmal im Singular verabsolutiert, zu den großen geistesgeschichtlichen und politischen Kräften der Moderne. Er gilt gemeinhin neben dem Liberalismus und dem Sozialismus als eine der drei großen politischen Theorien. Doch der Konservatismus ist schillernd. Abgeleitet vom lateinischen »conservare« bedeutet »konservativ« allgemein »bewahren« oder auch »aufrechterhalten«. Doch was als bewahrenswert begriffen werden soll, ist umstritten. Deshalb ist es auch unklar, was heute noch als »konservativ« gelten kann bzw. was »Konservatismus« heißen soll. »Konservativ«, so könnte zugespitzt werden, ist wieder (und nicht zum ersten Mal) zu einem Label verkommen, dessen Unschärfe man kaum fassen kann, weil dieser Begriff so deutungsoffen ist. Wie kaum ein anderer Begriff ist das Attribut »konservativ« ausgehöhlt. Denn dieses Kunstwort hat – ähnlich wie vergleichbare politische Kategorisierungen (»liberal«, »demokratisch«) – an historisch inhaltlicher Kontur verloren, weil es im Sprachgebrauch undifferenziert und unscharf ist.2 Bis heute hat sich weitgehend eine Deutung durchgesetzt, die »konservativ« mindestens mit gediegener Spießigkeit, teilweise aber auch intentional mit einem anrüchigen Charakter Richtung »rechts« und »reaktionär« verwendet. Doch damit zugleich die Ideenwelt des Konservatismus vorschnell abzutun wäre ein analytischer Fehlschluss. Max Horkheimer betonte in einem Spiegel-Interview 1970 die durchaus emanzipatorischen Momente des Konservatismus in Zeiten der beschleunigten Technokratisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Gegen die Dichotomie von »progressiv« und »repressiv« stellte Horkheimer die Einsicht, dass »richtige Aktivität nicht bloß in der Veränderung, sondern auch in der Erhaltung gewisser kultureller Momente besteht.«3 Deshalb sei der »wahre Konservative dem wahren Revolutionär verwandter als dem Faschisten, so wie der wahre Revolutionär dem wahren Konservativen verwandter ist als dem sogenannten Kommunisten heute.«4 An anderer Stelle spitzt Horkheimer dieses Dilemma noch drastischer zu, indem er die Voraussetzungen für eine solche Analogie problematisiert: »Das Ernsteste, womit wir uns heute zu beschäftigen haben, ist, daß es tatsächlich nur noch so wenige wirkliche Konservative gibt«5, um dann deren aus seiner Sicht elementarstes Wesensmerkmal zu betonen: »Der echte Konservative weiß um die Gebrechlichkeit des Daseins und will es hegen. Er will es nicht gewaltsam ändern, er will bewahren. Der Pseudokonservative sagt aber, es muß so bleiben, wie es war, und wenn darüber alles zugrunde geht.«6 Zweifellos liegen diese Einschätzungen in den sozialhistorischen Deutungskämpfen Anfang der 1970er Jahre begründet. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass etwa auch Iring Fetscher, ebenso wie Horkheimer beileibe kein Konservativer, zur gleichen Zeit an das progressive Potenzial des Konservatismus erinnert und sich gegen eine Stigmatisierung des Begriffs durch eine Konnotation mit »reaktionär« oder »rechts« richtet, dem dann allerdings selbst nur verhalten einen »demokratischen Konservatismus«7 entgegenhält.

Allein diese Einlassungen verdeutlichen den umstrittenen und vielschichtigen Charakter des Konservatismus, der a priori schon gegen eine vorschnelle Gleichsetzung von »konservativ« und »reaktionär« spricht. Auf der einen Seite haben Konservative zwar immer schon darüber gestritten, was sie eigentlich genau am gesellschaftlichen Fortschritt ablehnen,8 aber aufgrund dieser erzwungenen Konfrontation mit dem Fortschritt mussten sie sich – im historischen Rückblick teilweise intensiver als ihre politischen Gegner – eben doch mit der Frage des Fortschritts und dessen Grundlagen wie Folgen auseinandersetzen. Dennoch muss festgestellt werden, dass diesem Konservatismus gleichzeitig fraglos eine Tendenz innewohnt, aus den teils scharfsinnigen gesellschaftlichen Krisenbeobachtungen unzureichende bzw. zumindest übertriebene politische Schlussfolgerungen zu ziehen.9 Ein Bonmot von Helmut Dubiel spitzt diese Widersprüche folgendermaßen zu: Zu einem großen Teil trieben Konservative die gleichen Fragen wie die »dogmatisch nicht bornierten Linken«10 um; beide teilten demnach die Diagnose einer kulturellen Krise des Kapitalismus in seinem jeweiligen Stadium, würden dann aber zu völlig unterschiedlichen Erklärungen der Krisengenese kommen.11 Diese Einlassungen zielen damit auch indirekt auf die These ab, dass im »Konservatismus« durchaus ein Potenzial von Gesellschaftskritik stecken kann, das gerade dann seine faszinierende Anziehungskraft entfaltet, wenn andere politische wie soziale Projekte drohen, sich in Moralismus und Utopismus zu verirren, denn die Fähigkeit zum real-pragmatischen Handeln sei eine der Stärken des Konservatismus.12 Diese These widerspricht freilich auf den ersten Blick dem im Alltagsverständnis verbreiteten Klischee, »konservativ« als den Gegenpol von »progressiv« zu verstehen. Diese Kontrastierung soll hier auch gar nicht in Abrede gestellt werden, allerdings meint diese im engen Sinne eine rein formalistische, binäre Trennung. Wo Grundfragen inhaltlicher Dimensionen jenseits dieser Abgrenzungslogik behandelt werden sollen, gelangt dieser Formalismus schließlich an seine Grenzen. Spätestens an diesem Punkt muss man gegenüber einer solchen Definition misstrauisch werden, denn wo die Gegenüberstellung von »konservativ« und »progressiv« über den formalistischen Rahmen hinaus als inhaltliches Gütekriterium betont wird, werden erkenntnistheoretische Fragen ad absurdum geführt, weil sie zu tautologischen Schlüssen führen müssen.13 Bezeichnend hierfür war, dass gerade in der sowjetischen Forschung diese manichäische Dichotomie weit verbreitet war. In diesem Sinne vertritt der ehemalige DDR-Historiker Ludwig Elm die These von einer »konstitutive[n] Gegnerschaft«14 zwischen »progressiv« und »konservativ«, die er gleichsetzt mit »links« und »rechts«. Es soll natürlich nicht jede Position, die diesen Formalismus vertritt, mit Elms These gleichgesetzt werden, aber es ist doch bemerkenswert, dass dieser Formalismus ganz offensichtlich Sollbruchstellen für die vertiefende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem »Konservatismus« besitzt, wenn diese Dichotomie so auffällig kongruent mit Elms Position ist. Wenn man umgekehrt nicht nur nach der Form, sondern auch nach dem Inhalt und vor allem den politischen Effekten des Konservatismus fragt, stößt man schnell auf gegenteilige Thesen: Hermann Lübbe beschrieb dieses Potenzial eines Reformkonservatismus einmal mit eigentümlicher Verve als »die Bestreitung der geschichtsphilosophisch interpretierten Zeitgemäßheit als irresistible Instanz der Legitimation politischer Forderungen«, oder mit den Worten: »Es ist die Verweigerung der Pflicht zur Mitfahrt auf dem Zug der Zeit.«15 Denn der gesellschaftliche Fortschritt ist nie geradlinig, sondern es ist die »Tücke der Moderne«, dass ihr »Rationalisierungs- und Optimierungsanspruch […] stets nicht-intendierte Problemlagen«16 gebärt. Der moderne Fortschritt lässt damit immer auch Leerstellen zurück. Und dies ist ein »ständiger Nährboden für keineswegs unplausible konservative Skepsis und Einreden«17. Damit sollte mehr als ausreichend betont sein, dass der »Konservatismus« nicht einfach abgetan werden sollte, sondern dass gerade diese Widersprüchlichkeit nicht nur jeweils zu unterschiedlicher Wertung führt, sondern vielleicht gerade hier ein Wesensmerkmal des Konservativen selbst zu suchen ist. Denn im Kern zeigt sich diese Ambivalenz, dieses teilweise Pendeln zwischen konservativen und teils reaktionären Positionen, allein schon in der berühmten Schrift Betrachtungen über die Französische Revolution18, verfasst 1790 vom »Ahnherr[n] des konservativen politischen Denkens«19 Edmund Burke. Denn Burke schwankt in seiner Kritik an der Französischen Revolution bereits zwischen radikaler Infragestellung gesellschaftlicher Veränderungen und einem praktischen Abwägen von Realpolitik vor dem Hintergrund einer vom Staat geschützten und durch die Religion innerlich gestärkten gesellschaftlichen Ordnung. Auf diese (vermeintliche) Widersprüchlichkeit des Konservatismus wird noch zurückzukommen sein.

Setzt man sich mit Phänomenen eines politischen Konservatismus auseinander, muss man besonders die Begriffskonjunkturen und die damit implizierten Deutungskämpfe berücksichtigen, weil sich soziokulturell ein entsprechender konservativer Gegenstand ändern kann. Allein in der noch kurzen Historie der Bundesrepublik hat der sprachliche Bedeutungsgehalt von »konservativ« schon einige Wandlungen erlebt.20 Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre war das Wort gesamtgesellschaftlich diskreditiert und wurde kaum öffentlich gebraucht, nicht einmal zur Selbstbeschreibung. Demgegenüber war »konservativ« in den 1960er Jahren weit verbreitet, hatte allerdings vor allem durch die Studentenbewegung einen eher anklagenden Charakter und wurde gleichgesetzt mit »reaktionär« und »faschistisch«. Doch in Reaktion darauf wurde das Signum ab Mitte der 1970er Jahre politisch neu aufgeladen und vereinnahmt. Nun wollten sich auch Sozialdemokraten nach Erhard Eppler als »wertkonservativ« verstehen, ebenso wie die Ökologiebewegung; Franz Josef Strauß deutete den Konservatismus nun als moderne Kraft, denn »konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren«21. Das Wort verlor damit langsam seinen anprangernden Beiklang und wurde nach den Ernüchterungen der 68er-Jahre begrifflich umgedeutet. Auch Anfang der 1980er Jahre verstanden sich die Grünen zumindest teilweise als »wertkonservativ«. Doch in jener Zeit setzte zugleich eine neue sprachliche Codierung ein, nun wurden die sogenannten »Neokonservativen« ebenso wie die »Altkonservativen« wiederum teilweise als »Reaktionäre« abgestempelt, wofür beispielhaft Jürgen Habermas zu nennen ist, der in den 1980er Jahren Hermann Lübbe mit dieser Beurteilung bezeichnete.22 Erstaunlich hieran war vor allem, dass beide – sich eigentlich widersprechenden Deutungsmuster – parallel nebeneinander stehen, teilweise geradezu kongruent erscheinen konnten. Seit den 1990er Jahren nivelliert sich dieser sprachpolitische Bedeutungskampf, zeigt aber gerade hierdurch die innere Widersprüchlichkeit des Begriffs auf. Denn während »konservativ« weiterhin subtil einen anklagenden Ton hat und eine Affinität zu »rechts« suggeriert wird, wollen immer größere Teile der Gesellschaft, und nicht mehr nur das traditionelle Bürgertum, eine konservative Lebensweise pflegen.23 Der formale Begriff des »Konservatismus« kann also ganz offensichtlich je nach seiner Relation zur Sozialgeschichte auch ganz verschiedene Implikationen haben, was zu unterschiedlichen politischen Konsequenzen führt.24 Folgt man dieser Position, bedeutet dies, dass eine politisch-theoretische Beurteilung politischer Phänomene als Maßstab auch die soziokulturelle Verortung des jeweiligen Gedankensystems miteinbeziehen muss. Dieser – so allgemein formuliert – möglicherweise banal klingende Zusammenhang ist für die vorliegende Untersuchung allerdings von besonderer Bedeutung. Denn überträgt man diese Einsicht auf die Thematik des Konservatismus, dann bedeutet dies wiederum, dass auch die politisch hochumkämpfte Deutungsspanne zwischen »konservativ« und »rechts« a priori nicht allgemein gelöst werden kann, sondern sich nur am Einzelfall zeigt. Dieses Dilemma hat Klaus von Beyme als ein stetes Forschungsproblem bei der Beschäftigung mit dem Konservatismus benannt. Denn forschungspraktisch wäre eigentlich eine Unterscheidung zwischen einem »engen« und einem »weiten« Konservatismusbegriff geboten, doch gerade die Komplexität und Sonderrolle des deutschen Konservatismus mit all seinen Wandlungen und Brüchen würden theoretisch wie praktisch eine solche künstliche Aufteilung gerade verbieten.25 Folgt man also diesen begriffsgeschichtlichen, sprachpolitischen, soziokulturellen und polit-theoretischen Erwägungen, dann bleibt am Ende nur die Einsicht, dass eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Konservatismus zunächst immer mit einem offenen Verständnis von Konservatismus arbeiten muss.

I.1Zielsetzung und Exposition der Fragestellung

Diese Studie analysiert den Wandel der politischen Theorie dessen, was sich selbst Konservatismus nannte, im Zuge der deutschen Vereinigung. Zwischen den 1980er und 1990er Jahren hat sich dieser fraglos verändert. Vor allem hat sich in dieser zeithistorisch verdichteten Phase das Verhältnis von Konservatismus und »Nation« grundlegend gewandelt, wie später zu zeigen sein wird. Wie sich diese schleichende Entwicklung abspielte und welche Bedeutung diese Veränderung auf den politisch-theoretischen Gehalt des Konservatismus insgesamt hatte, ist kaum erforscht. Dabei ist gerade dieses Spannungsverhältnis bis heute umstritten und zugleich aufgrund von tagesaktuellen politischen Ereignissen wie dem Erfolg der AfD von hoher Aktualität und Relevanz. Vermehrt stellt man sich nämlich die Frage, was überhaupt »Konservatismus« in Deutschland bedeutet26, was der politische Konservatismus mit »Nation« zu tun hat bzw. wie sich dieses Wechselverhältnis denn entwickelt hat.27 Gerade diese Frage wird auch unabhängig von der Konservatismusforschung sowohl in der Politischen Ideengeschichte28 als auch in den Geschichts- und Sozialwissenschaften29 diskutiert.30

Betrachtet man die Literatur der letzten Jahre, fällt auf, wie polarisierend die Konservatismus-Debatte geführt wird. Die bereits angesprochene Dichotomie spiegelt sich in der Forschung wider. Mit diesem Spannungsverhältnis muss man sich auseinandersetzen, denn weder darf eine solche Untersuchung auf ein vorschnelles und dadurch undifferenzierendes Urteil noch auf eine vermeintlich pauschale Legitimation oder gar »Rettung« von konservativen Ideen hinauslaufen. Diese Arbeit interessiert sich für den inneren Zusammenhang des konservativen Denkens in den 1980er und 1990er Jahren. Dieser kann nicht allein von außen erschlossen werden, also nicht nach den heute gängigen Klassifizierungsmustern medialer Sprache, sondern nach Kurt Lenk nur durch die Betrachtung der inneren »Konsistenz seiner theoretischen Entwürfe« in Verbindung mit dem »aus der Einheit des von ihm Kritisierten«31. Denn die Konturen eines zeitspezifischen Konservatismus werden erst durch seine Reaktion auf den Zeitgeist sichtbar. Dies zeigt sich beispielsweise bereits am Ursprung des Konservatismus, der geläufig als »Reaktion auf Rationalismus und Aufklärung«32 und damit als Gegenbewegung zur Französischen Revolution gesehen wird. Obwohl es allerdings bereits vor 1789 konservative Strömungen gab33, ist es doch letztlich vor allem entscheidend, dass die Französische Revolution als welthistorische Zäsur eine Art Auslöser für die Konstitution eines politischen Konservatismus war.34 Verallgemeinert man dieses Muster, dann darf behauptet werden, dass der theoretische Gehalt des Konservatismus überhaupt erst dadurch entsteht, dass er soziohistorisch und -kulturell zum »Reflektierenmüssen wider Willen« (Kurt Lenk) gezwungen wird. Karl Mannheim zufolge ist genau dies der Punkt, an dem aus »Traditionalismus« eine Form des »Konservatismus« werde.35 Im Vordergrund stehen daher die konservativen Reaktionsformen auf gesellschaftliche Prozesse, d.h. die Frage, welche Konsequenzen aus der Reflexion dieser Prozesse gezogen werden und wie man sich letztlich gegenüber sozialem Wandel verhält.36 Allein die begriffs- und ideengeschichtlichen Betrachtungen dieses politischen Phänomens reichen daher nicht aus, um die Ambivalenzen des Konservatismus einzufangen, diese müssen vielmehr zusammen mit sozial- und kulturgeschichtlichen Blickwinkeln verbunden werden.37

Im Vordergrund dieser Studie steht aus mehreren Gründen der Wandel des Konservatismus und dessen politischer Ideenwelt in den 1980er und 1990er Jahren: In dieser Zeitspanne sind nicht nur die bereits erwähnten Bedingungen und Strukturen der Wandlungsprozesse sehr verdichtet vorgegeben, sondern dieser Wandel, der sich in jenen Jahren abzeichnete, übt bis heute einen Einfluss darauf aus, welchen Gehalt der Konservatismus überhaupt noch haben kann. Die Umwälzungen von 1989/90 – das Ende des Kalten Krieges, die deutsche Vereinigung und die Implosion des Sowjetsozialismus – haben politische, geostrategische, wirtschaftliche und soziokulturelle Folgen gezeitigt und von einem Sieg des Liberalismus träumen lassen. Die Entwicklung des Konservatismus seit den 1980er Jahren zählt zu dessen wichtigsten Entwicklungsphasen, denn in dieser Zeit wurden Paradigmen, Topoi und Narrative geprägt, die bis heute in diesem politischen Lager relevant sind. Doch wie dieser Wandel genau vonstattenging, ist bisher wenig erforscht. Ein vorrangiges Ziel der Konservativen war mit der nationalen Vereinigung zwar erreicht. Aber letztlich ging der Konservatismus dennoch nach einer kurzen aufwühlenden Umbruchsphase als Verlierer aus diesen Entwicklungen hervor. In der Dynamik zwischen nationaler Hoffnung und der folgenden Enttäuschung von konservativer Seite über die Gestaltung jener nationalen Vereinigung hat sich der deutsche Konservatismus gewandelt. Wie Martin Greiffenhagen etwa für die Betrachtung des Konservatismus im Allgemeinen feststellte, ist der »Moment des Verlustes […] der Moment der Entdeckung«38, indem sich der Kern der jeweiligen Idee herauskristallisiert und sich dem Umbruch stellt. Betrachtet man das konservative Spannungsverhältnis zwischen realpolitischem Gehalt und reaktionären Tendenzen nach rechts im historischen Verlauf, fällt eine Schieflage sofort ins Auge: Bis in die 1980er Jahre konnte relativ eindeutig eine »konservative« von einer »rechtsradikalen« Position unterschieden werden. Freilich unterlagen auch diese Kategorisierungen den jeweiligen zeithistorischen Deutungskämpfen und besaßen mitunter fließende Übergänge, aber gewisse Personen – Politiker wie Intellektuelle – konnten meistens doch der einen oder anderen Position zugeordnet werden, sodass sich mit der jeweiligen politischen Einordnung ein gewisses Bild verbinden ließ. Doch seit den 1990er Jahren, und im Prinzip bis heute, fällt eine solche kategoriale Zuteilung immer schwerer. Allein dieser Umstand rechtfertigt schon die Frage nach dem Wandel in diesem politischen Spektrum in eben diesem Zeitabschnitt. Mit dem Tod des »große[n] Modernisierer[s] unter den Konservativen«39 Franz Josef Strauß ging in den 1980er Jahren eine ideengeschichtliche und sozialkulturelle Umwälzung innerhalb des Konservatismus einher40 – und damit auch die Frage, wie sich eine »konservative« Position im aufgeklärten Sinne zur gesellschaftlichen Realität zu stellen habe. Denn dies ist letztlich der schmale Grat, auf dem die Konservativen immer schon balancieren mussten; zwischen der verschwiegenen Kontinuität ihres Denkens und ihren sozialgeschichtlich spezifischen Leistungen des realpolitischen Handelns.41 Mit den Umbrüchen von 89/90, mit dem Ende des Staatssozialismus, mit der staatlich-nationalen Einheit Deutschlands und deren Folgen haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für den Konservatismus, sei es hinsichtlich der praktischen Politik, sei es hinsichtlich einer theoretischen Programmatik, gravierend verändert.

Das grundlegende Problem bei der Analyse des Konservatismus, das sich auf den ersten Blick stellt, ist die Vakanz der Begrifflichkeit. Diese vorweggenommene Kritik ist wichtig für die nachfolgenden Ausführungen, damit nicht von vorneherein der Eindruck einer unzureichenden Reflexion oder einer stillen Relativierung bestimmter Positionen entsteht. Eine begrifflich präzise Definition »des« Konservatismus kann heute kaum mehr zufriedenstellend geliefert werden. Es gibt zwar unzählige Definitionsversuche – auf die später noch genauer eingegangen werden soll –, aber diese haben sich letztlich als unzureichend und nicht haltbar erwiesen, weil sie in der Regel in ihrer Anwendung und weiterführenden Übertragung auf einen Gegenstand beliebig bleiben, womit sie im engen Sinne ihren Charakter als »Definition« schon längst verloren haben.42 Bereits Axel Schildt hat auf die sich teils widersprechende Entwicklung des deutschen Konservatismus, dessen »Anpassungsleistungen, Lernprozesse[…] und Formveränderungen«43 hingewiesen. Weil zunächst von der jeweiligen zeithistorischen Prägung des Begriffs und der Selbstbezeichnung ausgegangen werden muss, ist es nicht sinnvoll, eine Definition von außen überzustülpen.44 Deshalb muss eine ideengeschichtliche Betrachtung auch die sozialgeschichtlichen Umbrüche berücksichtigen, da erst vor diesem jeweiligen Hintergrund die Wandlungen des Konservatismus jenseits der spezifisch theoretisch-inhaltlichen Debatte nachvollziehbar werden.45 Damit wird zwar noch kein Begriff vorausgesetzt, aber man kann sich zumindest vorsichtig dem Gegenstand mittels des zu bestimmenden Verhältnisses zu zeitgenössischen Phänomenen nähern.46 Auf die Frage »Was ist Konservatismus?« antwortete Golo Mann: »Diese Frage ist mir immer ein wenig ungeschickt erschienen, weil er ja nichts anderes sein kann als das, wovon die Leute, die sich konservativ nennen, sagen, daß er es sei; und sie haben die wunderlichsten Sachen darüber gesagt.«47 Historisch betrachtet finden sich zwar einige Paradigmen und Topoi, die abstrakt für konservatives Denken stehen können, wie etwa Skeptizismus, maßvolle Reform, historische Kontinuität, Religion und Moral, die Betonung von Ordnung und Macht, aber auch von Dezentralität und Eigentum.48 Aber diese Kategorien sind dennoch relativ oberflächlich und abstrakt, da sowohl ihr Verhältnis zueinander als auch ihr jeweils zeithistorisch bedingter konkreter Inhalt sich mit der Zeit wandeln. Kurzum: Eine vorgefertigte begriffliche Definition des »Konservatismus« kann diese Arbeit als Rahmen aus diesen genannten Gründen gerade nicht strukturieren. Es scheint vielmehr umgekehrt sinnvoller, offen von der jeweiligen zeithistorischen Bedeutungsebene im Wechselspiel von Fremd- und Selbstzuschreibung auszugehen – bezogen auf die Autoren, die sich selbst konservativ nennen –, um überhaupt dem auf die Spur zu kommen, was soziokulturell als »Konservatismus« angesehen wird.

Ohne einzelne Ergebnisse der Analyse vorwegnehmen zu wollen, lässt sich aber als Orientierung bereits hier Folgendes festhalten: Zwar mag es durchaus einen lebensweltlichen Konservatismusbegriff geben, der für persönliche Ansichten, Haltungen oder Gesinnungen geeignet sein kann. Aber es scheint kaum eine umfangreiche, der historischen Dynamik angemessene Definition eines theoretischen Konservatismus, also eines Konservatismus im Sinne eines komplexen Deutungssystems, möglich. Um eben diese Dimension geht es in dieser Studie, sie interessiert sich weniger dafür, ob sich jemand persönlich als konservativ versteht oder nicht, sondern sie fragt letztlich danach, ob es überhaupt noch einen Konservatismus als Deutungssystem geben kann, ob es also überhaupt noch eine Ideenwelt gibt, die Theorie und Praxis, politische Vorstellungen und Alltagsleben sinnhaft und sinnstiftend verbinden kann. Gibt es also, überspitzt gefragt, überhaupt noch eine konservative Gesellschaftstheorie, was schließlich eine Art Grundvoraussetzung wäre für das Bestehen eines solchen Deutungssystems? Um noch ein mögliches Missverständnis von vorneherein auszuräumen: Sicher gibt es einige Grundparadigmen und Topoi, die für einen Konservatismus stehen oder die zumindest grob etwas »Konservatives« umschreiben.49 Hierzu zählen ein prinzipieller Skeptizismus (vor allem als Skepsis gegenüber großen Worten) und eine empathische Menschenfreundlichkeit (wie sie von Fontane im Stechlin idealisiert wurde). Den Konservatismus zeichnen darüberhinaus auch ein gewisser Hang zu Pragmatismus und Realpolitik aus sowie ein skeptisches Menschenbild und ein bedachter, fast schon reservierter Blick auf Geschichte und Gesellschaft. Aber – und dies wird entscheidend sein für die nachfolgende Untersuchung – diese Grundparadigmen mögen zwar für privatistische Alltags- oder Gesinnungstheorien ausreichen50, aber sie allein begründen noch keine konservative (Gesellschafts-)Theorie und reichen erst recht nicht aus für ein kohärentes Deutungssystem.51

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Wandel des deutschen Konservatismus in einer ausgewählten Phase, und zwar zwischen den 1980er und 1990er Jahren. Dieser Umbruch ist gerade deshalb von Bedeutung, weil er die Kategorien, die bis heute teilweise gültig sind, nach den kulturrevolutionären Phasen der 1960er und 1970er Jahren neu verhandelt hat. Vor allem aber kommt eine neue Dimension hinzu: Die Bestimmung des Verhältnisses von Konservatismus und Nation. In dieser Zeitspanne, die maßgeblich vom Epochenumbruch 1989/90 geprägt war, befindet sich der Konservatismus in einer ideen- wie sozialgeschichtlichen Krise. Dass das »Nationale« und das »Konservative« zusammengehören, ist heute im Alltagsverständnis dermaßen fest verankert, dass es kaum mehr infrage gestellt wird. Doch betrachtet man den Konservatismus in seiner historischen Entwicklung, fällt schnell auf, dass diese beiden Ebenen, sowohl die Ordnungskategorie als auch die damit verbundenen Weltvorstellungen, nicht immer zueinander gehörten.52 In diesem Zusammenhang lautet die Forschungshypothese dieser Untersuchung: Einen Ausweg aus dieser Krise suchen Vertreter des Konservatismus, indem sie den Gedanken der Nation hypostasieren. Das bedeutet, dass der Konservatismus dem nunmehr alten – aber soziokulturell gesehen wieder neuen – zentralen Gedanken der »Nation« zugleich die Qualität einer gesellschaftlichen Realität zuschreibt und die Nation damit als Leitgedanken für die soziale Praxis überbewertet, also mit Immanuel Kant »hypostasiert«.53 Christian Staas beispielsweise zeigte sich kürzlich in der Zeit bezüglich der historischen Entwicklung des Konservatismus in Deutschland geradezu überrascht darüber, dass in der Konservatismusdebatte Anfang der 1980er Jahre die »Nation« und das »Nationale« fehlen würden und diese Kategorien, die doch heute scheinbar selbstverständlich zum »Konservatismus« gehören, überhaupt keine Rolle gespielt haben.54 Andererseits ist dieses diffus »Nationale« seit den 1990er Jahren schleichend ins »Konservative« übergangen, wie sich an einer Bemerkung von Dirk van Laak ablesen lässt, der über die konservativen Kreise jener Jahre schreibt, dass »die Nation« eine »irritierende Renaissance«55 erlebe. Ob diese wirklich »irritierend« ist, wird sich im Laufe dieser Studie zeigen, aber diese Bemerkung verdeutlicht in jedem Fall auch die theoretische Relevanz des Vorhabens. Denn diese Hypothese impliziert, dass entlang der Nationenvorstellungen, an denen sich zunächst allgemein von außen betrachtet augenscheinlich einiges gewandelt hat, zumindest in einem Ausschnitt dieser Wandlungsprozess greifbar werden kann.56 Verfolgt man diesen Gedanken weiter und legt das Gewicht zunächst auf den soziohistorischen Kontext, dann liegt es nahe, davon auszugehen, dass sich in eben jener Umbruchszeit nicht nur abstrakt die Idee der Nation,57 sondern auch gesamtgesellschaftlich gewisse Ordnungsvorstellungen verändert haben, die wiederum auf den Wandel des Konservatismus eingewirkt haben können.

Die vorliegende Untersuchung möchte folgende Fragen klären: Wie wandelt sich erstens der intellektuelle Gehalt des deutschen Konservatismus im Übergang von den 1980er zu den 1990er Jahren? Wie agiert das konservative Lager zweitens in dem Vereinigungsprozess und wie reagiert es auf dessen Vollendung? Warum sind die »Konservativen« drittens trotz der deutschen Vereinigung 89/90, die schließlich auch ihr Ziel war, letztlich die Verlierer dieser Entwicklung oder fühlen sich zumindest als solche?58 Ist die nationale Vereinigung unter dem Zeichen der D-Mark überhaupt das, was Konservative wollten? Die Hypothese der Hypostasierung des Nationalgedankens weiterverfolgend dient die Frage nach der Nation in dieser Arbeit als zentrale Kategorie bzw. als roter Faden quer durch alle Debatten. Sie soll als eine Art Hebel dazu dienen, die ideengeschichtlich-theoretischen, sozial-philosophischen sowie sozialgeschichtlichen und lebensweltlichen Wandlungen dieses »Konservatismus« aufzuzeigen und einzuordnen. Denn während die »Nation« als Element und Kategorie im Weltanschauungssystem des Konservatismus bis in die 1980er Jahre kaum eine Rolle spielt,59 werden seitdem die Kategorien »konservativ« und »Nation« weitgehend zusammengedacht. Dementsprechend muss es zeitgeschichtlich eine Phase gegeben haben, in denen sich diese einander angenähert haben. Deshalb ist viertens auch zu klären, was die jeweiligen »Konservativen« unter »Nation« verstehen, welche Funktionen sie ihr beimessen und was für eine Nation sie politisch anstreben. Erst vor diesem Hintergrund kann herausgearbeitet werden, wie sich der Epochenumbruch auf den Konservatismus ausgewirkt hat und welche Bedeutung dies insgesamt besitzt.

An dieser Stelle bietet es sich an, den übergeordneten Gedankengang der Untersuchung kurz zu skizzieren, damit die nachfolgenden Ausführungen besser nachvollzogen werden können. Daher werden zentrale Gedanken, Thesen und Erkenntnisse, die im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausführlich dargelegt und diskutiert werden60, schon einmal umrissen, damit der rote Faden für diese Analyse ersichtlich wird: Die Arbeit untersucht den Wandel des Konservatismus im Zuge der deutschen Vereinigung von den 1980er zu den 1990er Jahren. Im Vordergrund steht dabei das Verhältnis von Konservatismus und Nation, bzw. die Frage, wie sich das konservative Nationenverständnis in jener Zeit gewandelt hat und was dies schließlich für jenes Phänomen, das man »Konservatismus« nennt, bedeutet. Das Forschungsziel dabei ist es, die Entwicklung der theoretischen Debatten um konservative Positionsbestimmung in einem eingegrenzten, sich selbst als »konservativ« verstehenden Kreis zu analysieren. Die Studie setzt dazu an dem historischen Umbruchspunkt der deutschen Vereinigung an und untersucht diese Debatten am Beispiel von ausgewählten Akteuren wie Karlheinz Weißmann, Rainer Zitelmann, Heimo Schwilk und Günter Rohrmoser im Wechselverhältnis zu den theoretischen Auseinandersetzungen in der Zeitschrift Criticón. Ausgehend von der Forschungshypothese, dass der Gedanke der Nation im Konservatismus jener Zeit hypostasiert (und damit als Leitgedanke für die soziale Praxis überbewertet) wird, wird grundlegend der Wandel des konservativen Nationenverständnisses analysiert.

Aus Gründen der besseren Verständlichkeit mag hier auch auf das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung hingewiesen werden: In dieser Studie wird herausgearbeitet, wie sich dieser Wandel vollzogen hat (von der Annäherung und Vereinnahmung über die Instrumentalisierung bis zur vollständigen Übernahme der nationalen Kategorie ins konservative Denken). Die Hypostasierung der Nation führt dazu, dass der Begriff der »Nation« zum Bezugspunkt jeglicher konservativer Selbstlegitimation wird und damit das Ideengerüst des Konservatismus selbst nachhaltig verändert. Die Arbeit zeigt, dass die Kategorie der Nation in der Theorie des Konservatismus an die Stelle der Religion tritt. Dieser Wandel bedeutet nicht nur eine qualitative Veränderung, sondern er steht auch symptomatisch für den strukturellen Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen für den Konservatismus selbst. Die Studie dokumentiert die Ursachen für den Weg der Konservativen zum Nationalen: Als Theorie, Denkgebäude und Deutungssystem lief der Konservatismus Gefahr, im Zuge der gesellschaftlichen Erosion der Religion ohne einen adäquaten Ersatz selbst zu erodieren. Die hier untersuchten Intellektuellen versuchen in dem Moment der durchschlagenden Säkularisierung in der Kategorie der Nation einen Ersatz für den zunehmenden Bedeutungsverlust der Kategorie der Religion zu finden. Doch die Nation kann die Funktion der Religion gerade nicht erfüllen, weshalb es das übergreifende Ergebnis dieser Arbeit ist, nachzuweisen, inwiefern diese Aporie der Selbstlegitimation eben in der Sache selbst begründet und damit struktureller Natur ist.

I.2Forschungsstand

Im Vergleich zum Sozialismus und Liberalismus ist der Konservatismus in seinen Entwicklungssträngen und inneren Dynamiken weniger erforscht.61 Es dominieren Untersuchungen zu einzelnen Epochen, Organisationen und Parteien oder auch Biographien.62 Es liegen nur wenige Versuche vor, die historischen wie politischen Entwicklungen zu erklären.63 Allerdings wächst in den letzten Jahren das Interesse an Untersuchungen über den historischen Wandel und dessen Zusammenhang mit einer theoretisch-inhaltlichen Auseinandersetzung konservativer Positionen.64 Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren wurde im Zuge der »Tendenzwende« kontrovers über das Phänomen des »Konservatismus« gestritten.65 Auf diese polarisierte Debattenlage mit den wichtigsten Positionen etwa von Helga Grebing oder Martin Greiffenhagen, die bis heute zu den bekanntesten in diesem Feld gehören66, wird später genauer eingegangen. An dieser Stelle kommt es vor allem darauf an, einführend gewisse Tendenzen aufzuzeigen. Denn beim Blick auf den Forschungsstand fällt ein gewisses Ungleichgewicht ins Auge: Erstens überwiegen vor allem einführende und allgemeine Werke gegenüber empirischen Untersuchungen.67 Zweitens zeigt sich bei der Literatur eine Polarisierung: Ein großer Teil ist entweder politisch daran interessiert, den Konservatismus als rechtsradikale Erscheinungsform unter den »Rechtsextremismus« zu subsumieren; ein anderer Teil ist wiederum daran interessiert, gewisse konservative Tendenzen ins Irrationale zu relativieren. Dies ergibt sich gerade aus dem Umstand, dass ein Teil der Literatur von Autoren stammt, die selbst diesem Lager angehören oder sich zumindest selbst dazu zählen. Dafür steht exemplarisch die Studie von Sebastian Maaß, die sich darum bemüht, gewisse rechtsradikale Positionen zu verharmlosen. Dies wird schon daran deutlich, dass Maaß die »Neue Rechte« »aufgrund ihres intellektuellen Niveaus und des fehlenden Bezugs zum Nationalsozialismus«68 von jeglichem Rechtsextremismus freispricht und allein damit begründend dem bürgerlichen Konservatismus zuordnet.

In Bezug auf das Forschungsinteresse grenzt sich der Forschungsstand nochmals ein, denn die bereits beschriebene allgemeine Tendenz zeigt sich auch im Kleinen für diesen Forschungsgegenstand: Über das ambivalente Verhältnis von Konservatismus und Nationalismus etwa liegen kaum Untersuchungen vor.69 Im 19. Jahrhundert waren Konservatismus und Nationalismus noch Todfeinde. In der Nachkriegszeit waren parlamentarische Konservative wie Adenauer die westlich-europäische Kraft überhaupt und maßen damit der Nation zumindest nicht primäre Bedeutung bei. Aber in den 1980er und vor allem in den 1990er Jahren waren Konservative nationalistische Verfechter. Dieses Spannungsverhältnis ist überraschenderweise von der Forschung bisher kaum angegangen worden.70 Bereits in den 1980er Jahren, aber vor allem seit der Vereinigung, wird gerade in gesellschaftlichen Krisenzeiten immer wieder die sogenannte »nationale«, sprich: »deutsche Identität« diskutiert.71 Diese Sehnsucht resultiert aus einem unklaren gesellschaftlichen Selbstverständnis und einem offen gebliebenen Nationenverständnis seit der Berliner Republik.72 Die Frage, welches Nationenverständnis sich in den politischen Umwälzungen der Vereinigungsjahre im Konservatismus entwickelt und durchgesetzt hat, ist kaum erforscht. Es existieren hierzu überhaupt nur wenige Arbeiten. Deshalb sei an dieser Stelle kurz auf diese Beiträge verwiesen, weil die dabei offenbar werdende Forschungslücke auch die Relevanz des hier im Vordergrund stehenden Forschungsinteresses begründet und zugleich auch thematisch in diese Debatte einführt: Holger Czitrich legte mit Konservatismus und nationale Identität in der Bundesrepublik Deutschland73 eine der ersten Untersuchungen dazu vor. Allerdings ist Czitrich vor allem daran interessiert, lediglich »rechte« Tendenzen zu entlarven, weshalb selbst der Betreuer der diesem Buch zugrunde liegenden Dissertation, Lothar Albertin, in seinem Vorwort euphemistisch einräumte, dass es sich bei der Studie mehr um eine »Streitschrift«74 handele. Eine erste allgemeine Annäherung an diese Thematik bietet Holger Kochs Studie Konservatismus zwischen Kontinuität und Neuorientierung zum Epochenumbruch im Zuge der deutschen Vereinigung.75 Koch untersuchte allerdings eher selektiv konservative Politiker und Intellektuelle wie Kurt Biedenkopf, Wolfgang Schäuble, Günter Rohrmoser und Karlheinz Weißmann, um den gemeinsamen »politisch-programmatischen Aktivismus der deutschen Konservativen« herauszuarbeiten und um damit ein »hegemoniefähige[s] Gesellschaftsmodell«76 des Konservatismus zu beweisen. Friedemann Schmidt arbeitete sich demgegenüber in seiner Untersuchung Die Neue Rechte und die Berliner Republik auch an diesen erwähnten Studien explizit ab, indem er nach dem genauen Verhältnis von »Konservatismus« und »Rechtsextremismus« im Spannungsverhältnis einer sogenannten »Neuen Rechten« fragte.77 Auf einige Erkenntnisse der detaillierten Untersuchung kann diese Arbeit aufbauen und sie als Anhaltspunkte nehmen. Allerdings stößt die Studie an Grenzen: Schmidt zufolge hätte diese »Neue Rechte« entscheidenden Anteil an der »Normalisierung« des neuen deutschen Nationalstaates gehabt. Dabei überdehnte er tendenziell den Rahmen seiner Analyse, weil er die Theoriedebatten in ihrer öffentlichen Wirksamkeit partiell überbewertete.78 Dennoch ist Schmidts Untersuchung für die vorliegende Arbeit empirisch-analytisch die ergiebigste, wie sich im Kontrast etwa an der Studie Nationalkonservatismus in der alten Bundesrepublik von Markus Liebl zeigt.79 Dieser untersuchte mit einer Diskursanalyse die nationalkonservativen Debatten zwischen 1969 und 1989. Dabei kommt er zumindest zu dem Ergebnis, dass die Frage der »Nation« gegen Ende der 1980er Jahre immer wichtiger im konservativen Lager geworden sei. Aber Liebl bemüht sich letztlich, einen genuinen »Nationalkonservatismus« als eigenständige Strömung herauszuarbeiten, bleibt dabei allerdings sowohl historisch als auch theoretisch eine Begründung weitgehend schuldig. Insofern lässt sich eine deutliche Lücke im Forschungsstand identifizieren, denn sowohl in historischer als auch theoretischer Hinsicht fehlen weiterführende Untersuchungen zum Wandel des Konservatismus80, einerseits im Untersuchungszeitraum von den 1980er zu den 1990er Jahren, andererseits zum Verhältnis von Konservatismus und »Nation« bzw. dem konservativen Nationenverständnis. Die vorliegende Arbeit ist damit an der Schnittstelle dieser beiden Themenkomplexe zu verorten.

I.3Eingrenzung des Gegenstands und methodisches Vorgehen

Die Kontingenz des Konservatismus stellt die Forschung vor Probleme, denn die mehrdeutige Verwendungsweise des Begriffs und die Inkongruenz von Selbst- und Fremdzuschreibung erschweren eine analytische Kategorisierung. Was also »konservativ« bedeutet, kann nicht vorgefertigt definiert, sondern nur im Einzelfall mithilfe von Orientierungspunkten analysiert werden.81 Aus diesem Grund wird der Forschungsgegenstand mithilfe von zwei Vorüberlegungen eingegrenzt: Selbst in einem bereits eingekreisten Untersuchungszeitraum – Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre – wäre erstens eine empirisch-analytische Untersuchung für das ganze »konservative« Lager im allgemeinen Sinn aufgrund der Fülle an Material kaum zu bewerkstelligen. Zweitens implizieren Forschungsfrage und Forschungshypothese einen Wandel in der theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung, der daraufhin zu untersuchen ist, wie sich das Verhältnis von Konservatismus und Nation verändert hat.

Wenn es um den theoretischen Gehalt von Positionierungen geht, sind zum einen Intellektuelle als Stichwortgeber für Debatten in einem politischen Lager von zentraler Bedeutung.82 Zum anderen muss aber auch dieses Lager eingeschränkt werden. Um den Lagerbegriff selbst nicht zu überdehnen, also nicht vorschnell für eine lebensweltliche Konstituierung im Sinne des Milieubegriffs zu verallgemeinern, bietet es sich an, diesen Lagerbegriff entsprechend eines definierbaren Rahmens zu verwenden.83 Einen solchen klar bestimmbaren Rahmen für theoretische Debatten lieferten zu dieser Zeit politische Zeitschriften. In ihnen versammeln sich die Diskussionsthemen, die auch von Intellektuellen angestoßen werden, die innerhalb eines sich zu diesem politischen Lager zuordnenden Kreises kursieren. Eine Zeitschrift ist damit eine Art Resonanzrahmen für die theoretische Auseinandersetzung innerhalb eines solchen Lagers und damit können auch in diesem Ausschnitt die Impulse ausgewählter Intellektueller bestimmt werden. Die Figur des politischen Intellektuellen und Theoretikers, desjenigen, der sich einmischt, interveniert und das politische Handeln voranbringen will, besitzt unabhängig von dessen politischem Standpunkt eine ambitionierte Rolle: Zum einen muss er die diffusen Ideen, Versatzstücke und Parolen des eigenen Lagers zusammenbinden und diese zugleich mit konzeptionellen Ideen verknüpfen; und zum anderen muss er aus »Erfahrungsfragmenten eine kohärente Erzählung«84 über Wesen, Ziel und Gehalt der politischen Strömung konstruieren, kurzum: Sinnzusammenhänge stiften. Es kommt freilich ebenfalls vor, dass ein Intellektueller in jenen Jahren als Position nur in Worte fasst, was das entsprechende Lager schon länger umtreibt und debattiert. Dann ist er zwar kein »Intellektueller« mehr im klassischen Sinne, er wird aber zum »Advokat einer Gegenkultur«85. Insofern kann an den Positionierungs- und Legitimationsmustern von Intellektuellen der Referenzrahmen als eine Art Gradmesser innerhalb eines Lagers zumindest partiell abgelesen werden. Ein solches konservatives Lager lässt sich allerdings wiederum nur in einem Ausschnitt analysieren. Da in dieser Arbeit vor allem der theoretische Aspekt im Vordergrund steht – und nicht etwa der milieuhaft-lebensweltliche – soll dieses Lager am Beispiel einer Zeitschrift als Hauptobjekt analysiert werden, die durch den Blick auf eine andere Zeitschrift ergänzt werden soll.

Zur Auswahl der Zeitschrift wurden zwei Kriterien bestimmt: Zum einen sollte die Zeitschrift im gesamten Untersuchungszeitraum die im konservativen Lager diskutierten Debatten widerspiegeln, also von Anfang bzw. Mitte der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre als anerkannt und bedeutend gelten. Zum anderen sollte das Organ einen theoretischen Anspruch besitzen, also versuchen, die von Intellektuellen genannten Stichworte aufzugreifen, zu verhandeln und weiterzuentwickeln. Eigentlich hätte sich als drittes Kriterium noch das Sigel der politischen Einordnung angeboten. Doch entsprechend der Forschungsliteratur findet sich in diesem Untersuchungszeitraum keine Zeitschrift, die allein als genuin »konservativ« gilt, nicht umstritten ist und dabei einen theoretischen Anspruch vertritt.86 Daraufhin wurde dieses Kriterium modifiziert, sodass in dem Organ entsprechend der Literatur auch konservative Positionen verhandelt werden sollten.87 Entsprechend dieser Auswahlkriterien verkleinert sich der mögliche Kreis solcher Zeitschriften: Die Zeitbühne von William S. Schlamm spielte ab Ende der 1970er Jahre kaum mehr eine nennenswerte Rolle.88 Die Zeitschrift Mut, die ihr Profil erst später wandelte, war äußerst umstritten und galt in dieser Zeit sogar teilweise als »rechtsextrem«.89 Das Deutschland-Magazin und die Politische Meinung waren zwar im sogenannten konservativen Milieu lebensweltlich sicherlich bedeutend, aber ihnen wird kein außerordentlich großer theoretischer Anspruch nachgesagt.90 Unter anderem auch aus diesem Grund fällt auch die Junge Freiheit (JF) durch das Raster. Fraglos wird diese Zeitung ab Mitte der 1990er Jahre zu einem wichtigen Medium im konservativen bis rechtsradikalen Spektrum. Doch vor allem zwei Gründe sprechen gegen diese Wahl. Als Schüler- und Studentenzeitung 1986 gegründet, ist sie bis Anfang der 1990er Jahre nur spärlich aussagekräftig und kann damit nicht den Resonanzrahmen für den gesamten Untersuchungszeitraum abdecken.91 Außerdem ist das theoretische Niveau dieses Mediums durchwachsen, schließlich verstand sich die JF auch als »rechte taz«92, die vor allem öffentlichkeitswirksame Formate ausprobieren wollte.93 Allerdings erhielt die Junge Freiheit vor allem gegen Ende des Untersuchungszeitraums eine große Bedeutung im Lager, weshalb auch nicht ganz auf sie verzichtet werden kann.94 Daher werden die zentralen Texte in dieser Zeit, die entsprechend bisheriger Untersuchungen als paradigmatisch eingestuft wurden, ebenfalls einordnend behandelt.95 Aufgrund dieser Kriterien wurde daher die Zeitschrift Criticón ausgewählt. 1970 von Caspar von Schrenck-Notzing gegründet, sollte sie »die intellektuelle Neuformierung des 1969 entmachteten konservativen Lagers in Deutschland fördern.«96 Aus diesem Grund war die Zeitschrift als Debattenmagazin und Rezensionsorgan konzipiert97 und vereinigte unterschiedliche Strömungen, um einen »modernen« Konservatismus zu entwerfen.98 Die Zeitschrift gilt als eines der wichtigsten konservativen Theorieorgane jener Jahre.99 Sie besaß – für eine monatlich erscheinende Debattenzeitschrift – eine relativ hohe Auflage (von über 8.000 Exemplaren), vor allem aber war ihre Klientel – anders als bei vergleichbaren politischen Zeitschriften – das »gehobene« gebildete Milieu. Aus diesem Grund betont Armin Pfahl-Traughber den besonderen Stellenwert dieser Zeitschrift ausdrücklich, denn ihre Leser waren vor allem »Hochschullehrer, Journalisten, Lehrer, Studenten und Unternehmer«.100 Der Charakter, verschiedene Positionen zur Diskussion miteinander zu konfrontieren, war zwar in den 1970er Jahren noch deutlich stärker ausgeprägt, aber Criticón galt auch noch Anfang der 1990er Jahre als Zeitschrift, die sowohl etabliert-gemäßigte Konservative, Traditionalisten wie auch Jungkonservative vereinigte.101 Neuere Studien übergehen diesen durchaus streitbaren Gehalt, wenn sie die Zeitschrift vorschnell als Organ der »nationalrevolutionäre[n] Rechten«102 abtun. Andere wiederum sprechen von dem »Intelligenzblatt der deutschen Neokonservativen«103, als »intellektuelle[r] Kernmarke«104 des deutschen Konservatismus oder als bedeutendster »Rechtsintellektuellenzeitschrift«105. Eine solche Einschätzung ist aber unzureichend, weil sie den politisch-programmatischen Wandel der Zeitschrift übersieht.106 Dennoch rechtfertigen auch diese Einordnungen die hier vorgenommene Auswahl, wenn zeitgenössisch dieses Organ sowohl in der Selbst- wie in der Fremdbeschreibung zumindest partiell zum konservativen Lager gerechnet wird.107 Deshalb eignet sie sich als Resonanzrahmen für die theoretischen Debatten, die von Intellektuellen angestoßen werden oder deren Positionen zumindest auch in diesem Organ diskutiert werden.

Die vorliegende Arbeit untersucht die Positionen von ausgewählten Intellektuellen im Wechselverhältnis zu den zentralen Debatten im Zeitraum von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre, und geht der Frage nach, wie diese Impulse ausschnittsweise im konservativen Lager am Beispiel von Criticón verhandelt wurden. Im Vordergrund steht nicht die Zeitschrift selbst, sondern die Analyse der politischen Leitbilder, die von Intellektuellen in einem politischen Lager ausgehen. Dabei interessiert auch die feststellbare Resonanz der angebotenen Ordnungsvorstellungen in den Debatten im Untersuchungszeitraum, denen in der Forschungsliteratur eine gewisse Bedeutung für die Entwicklung nationaler Kategorien zugemessen wird.108 Die Analyse dieses »Wirkungszusammenhangs«109 verläuft im Sinn qualitativer Sozialforschung nach einem hermeneutischen Verfahren. Das methodische Vorgehen ist dabei angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse110 und an die Deutungsmusteranalyse.111 Dabei wird ein Methodenpluralismus angewandt, daher werden diese Methoden dem spezifischen Gegenstand angepasst und miteinander kombiniert, um zu möglichst aussagekräftigen Resultaten im Sinne der übergeordneten Forschungsfrage zu gelangen.112 Die zu untersuchenden Kategorien werden in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse sowohl theoriegeleitet als auch induktiv am Material gebildet, um anschließend entsprechende Hypothesen aufzustellen und zu prüfen.113 Die Auswertung wiederum nimmt Anleihen an der Deutungsmusteranalyse, weil es in dieser Arbeit nicht nur um die reine Analyse von identifizierten Mustern114, sondern auch um die damit implizierten übergeordneten »kulturellen Dimensionen« der Legitimation und Rechtfertigung sozialer Ordnung geht.115 Im Vordergrund der Untersuchung steht die Auseinandersetzung mit programmatischen Impulsen und Ordnungsvorstellungen, die von Aussagekraft sind bezüglich des wechselseitigen Verhältnisses von »Konservatismus« und »Nation«, um daran anschließend den übergeordneten Wandel des Deutungssystems des Konservatismus analysieren zu können. Ein solches Vorgehen, über Intellektuelle und deren Positionen die tieferliegenden Debatten herauszuarbeiten, wurde bereits in anderen Analysen gewählt.116 Insofern orientiert sich das Programm entsprechend auch an solchen Untersuchungen. In der heutigen Forschungslandschaft ist das Vorhaben damit an der Schnittstelle einer polit-theoretischen wie ideenhistorischen, sozial- wie kulturgeschichtlichen Forschung und der »intellectual history« angesiedelt.117

Doch was macht überhaupt einen konservativen Intellektuellen aus? Zwar kann man diesen Begriff sicherlich etwa für Arnold Gehlen in den 1960er Jahren anwenden, aber spätestens ab den 1980er Jahren wird es schwieriger, den Typus auf den ersten Blick zu identifizieren, denn ein solches Signum wird in jenen Jahren immer stärker abhängig von entsprechenden Deutungskämpfen.118 Die Auswahl der Intellektuellen erfolgt daher nach bestimmten Selektionskriterien: Wie es erst kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung hieß, war der deutsche Konservatismus, war die konservative Intelligenz in jenen Jahren insgesamt im Umbruch begriffen, weshalb man gerade nicht allein mit einem aktuell geprägten »Konservatismus«-verständnis an die damaligen Kreise herantreten dürfe.119 Daher wird dieser mögliche Kreis an Personen in mehreren Schritten eingegrenzt: In einem ersten Verfahren wurde nach der Eigenkategorisierung und Selbstbeschreibung selektiert, ob den Intellektuellen das Signum nicht nur fremd zugeschrieben wurde, sondern ob sich diese dementsprechend auch selbst als »konservativ« charakterisierten. Durch dieses Raster fielen etwa Intellektuelle wie Hermann Lübbe, der sich in den 1980er Jahren zwar zwischenzeitlich als »Neokonservativer« beschrieb, damit allerdings mehr das Liberale als etwas genuin »Konservatives« meinte.120 In einem zweiten Schritt wurde danach selektiert, wer sich auch mit dem politischen Projekt eines »Konservatismus« theoretisch auseinandergesetzt hat, wodurch etwa literarische Verarbeitungsformen beispielsweise eines Karl Heinz Bohrer oder Botho Strauß herausfallen. Um nicht von vornherein dem begrifflichen Verwirrspiel in die Falle zu gehen, d.h. der begrifflichen Vereinnahmung zu leichtfertig Glauben zu schenken, wurde zumindest in einem überblicksartigen Raster danach gefragt, in welchen Zusammenhängen die auch als »konservativ« charakterisierten Persönlichkeiten agierten. Hierdurch fallen etwa Hans-Dietrich Sander oder Hellmut Diwald aus dem Raster, die schon in den 1980er Jahren, vor allem aber in den 1990er Jahren auch innerhalb des sogenannten »konservativen« Lagers als »rechtsextrem« kritisiert wurden und teilweise offen mit rechtsradikalen Zusammenhängen kooperierten wie etwa mit dem »Deutschen Kolleg« von Reinhold Oberlercher. Allein durch diese Kriterien verkleinert sich der mögliche Auswahlrahmen auf nur wenige Personen: Weil eine genauere Auswahl oberflächlich kaum mehr mit abstrakten Kriterien selektiert werden kann, ohne dass hierdurch vorschnell und unreflektiert politische Meinungen übernommen werden, erfolgt als letzter Selektionsschritt vor allem aus pragmatischen Gründen und der Operationalisierung wegen eine Bestimmung mithilfe der Forschungsliteratur. Hierbei wurde darauf geachtet, welche Personen – ob man diese politische Einordnung nun teilt oder nicht, ist zweitrangig – zu dieser Zeit in der Literatur als wichtige »konservative« Intellektuelle benannt wurden. Diese Vorgehensweise schließt dabei natürlich nicht aus, dass diese Charakterisierungen aufgrund des politischen Bedeutungswandels selbst hinterfragt werden müssen und sich im Verlauf der Untersuchung selbst herausstellen kann, dass diese politische Einordnung als »konservativ« als unzureichend einzustufen wäre. Entscheidend ist hierbei vor allem, dass diesen Intellektuellen eine zentrale Bedeutung im Lager zugesprochen wird. Aufgrund dieses letzten – von außen herangetragenen – Kriteriums grenzt sich die Auswahl relativ schnell auf einen bestimmten Personenkreis ein: Fast einhellig werden für jene Jahre besonders vier Personen hervorgehoben, die im konservativen Lager jener Zeit anerkannt und diskutiert wurden sowie durch programmatische Schriften oder öffentliche Wortmeldungen in den wichtigsten Medien eine gewisse öffentliche Wirkung erzielten.

Als Hauptvertreter einer neuen Generation des Konservatismus und bedeutende »rechtskonservative Intellektuelle«121 werden in diesem Zusammenhang in der Sekundärliteratur zumeist Rainer Zitelmann, Karlheinz Weißmann, Heimo Schwilk und Günter Rohrmoser genannt.122 Der Historiker Zitelmann, der mit seiner Dissertation Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs Ende der 1980er Jahre schlagartig bekannt wird123, gilt Anfang der 1990er Jahre gar als »Galionsfigur«124 einer neuen konservativen Intelligenz. Als Cheflektor der profilierten Verlagsgruppe Ullstein/Propyläen125, später auch als Ressortleiter der Rubrik »Geistige Welt« in der Welt126, übt er einigen öffentlichen Einfluss aus. Günter Rohrmoser, der an der Universität Stuttgart Ordinarius für Philosophie ist und vor allem Sozialphilosophie lehrt, gilt überhaupt als einer der zentralen Intellektuellen für den bundesdeutschen Nachkriegskonservatismus.127 Er zählt zur Ritter-Schule und stand in den 1960er Jahre noch der SPD nahe. Ab Ende der 1970er Jahre wird er durch programmatische Schriften wie Zeitzeichen oder Religion und Politik in der Krise der Moderne lagerübergreifend bekannt. Als Mitbegründer des Studienzentrums Weikersheim, einer christlich-konservativen Denkfabrik, agiert er auch als Berater für die Union, vor allem für die CSU. Das »konservative[] Urgestein«128 Rohrmoser steht für einen religiösen, bürgerlichen Kulturkonservatismus, der sich parteipolitisch in der Union äußern will, aber im Laufe der programmatischen Entwicklung der CDU immer stärker mit dieser Parteitendenz hadert. Auch der Historiker Weißmann, der in den 1980er Jahren als Nachwuchstalent der konservativen Kreise gilt, genießt Anfang der 1990er Jahre ein außerordentlich hohes Renommee. Er gilt als programmatische »Hauptfigur« dieser »Gruppe junger Konservativer«129, der 1995 sogar anstelle des Historikers Hans Mommsen in der berühmten Propyläen-Reihe Geschichte Deutschlands den Band über den Nationalsozialismus verfassen darf.130 Das Buch löste heftige Debatten aus und Weißmann ist zwar heute nur mehr in Kreisen rechts der Mitte bekannt, zeithistorisch aber hatte er außerordentlichen Einfluss. Heimo Schwilk ist vor allem als Journalist und Verleger bekannt. Der leitende Redakteur der Welt am Sonntag ist in jenen Jahren besonders als Organisator bedeutsam. Das auch von ihm im Ullstein Verlag herausgegebene Werk Die selbstbewußte Nation131 gilt als zentrales »Manifest«132 der jungen konservativen Intelligenz jener Jahre, in dem auch Zitelmann und Weißmann publizierten. Gerd Wiegel nennt neben diesem auch Westbindung (Zitelmann/Weißmann) und Rückruf in die Geschichte (Weißmann) gar als die zentralen programmatischen Schriften jener Jahre.133 Diese Werke gelten als die wichtigsten »konservative[n] Wortmeldungen«134 jener Zeit. Schmidt bestätigte in seiner Untersuchung den »programmatische[n] Charakter«135 dieser Schriften und betonte dabei deren hohe Resonanz im Criticón-Lager, weshalb damit auch der Kreis der einbezogenen Personen methodisch abgeschlossen wird. Diese neue Riege an »Rechtsintellektuellen« auf der publizistischen Bühne machte sich auf, die »Nation« kulturell wiederzubeleben.136 Sie hatten daher entscheidenden Einfluss auf den Wandel des konservativen Nationenverständnisses. Diese Intellektuellen sollen an dieser Stelle freilich nicht überbewertet werden, sondern ihre Bedeutung und Relevanz für die theoretisch-inhaltliche Weiterentwicklung – abgeleitet aus den bisherigen Untersuchungen – soll hierbei zunächst thesenhaft übernommen und erst später am konkreten Gegenstand überprüft werden. Diese Intellektuellen stehen mit ihren Positionen, Kritiken und Interventionen insofern nur stellvertretend seismografisch für die Diskurse in diesem diffusen politischen Lager.137 Indem diese Personen mit ihrem Werk und ihren Vorstößen in den sozialgeschichtlichen Kontext eingebettet werden, soll an ihnen und den von ihnen stark geprägten Debatten tendenziell die theoretisch-inhaltliche Weiterentwicklung analysiert werden. Damit wird ausdrücklich nicht der Anspruch erhoben, dass diese Intellektuellen in irgendeiner Form repräsentativ für eine Strömung im Lager wären. Wie man im Verlauf dieser Arbeit sehen wird, diversifiziert sich das politische Lager in jenen Umbruchsjahren dermaßen, dass eine solche Klassifizierung selbst immer schwieriger wird.

Das Verhältnis von Konservatismus und Nation ist, wie eingangs betont, gespannt. Aus diesem Grund wird zunächst theoretisch herausgearbeitet, welche Begriffsverständnisse von »Konservatismus« in der Forschung existieren und wie diese in Verbindung zum Nationenbegriff stehen (Kapitel II). Außerdem wird ein historischer Überblick dieses Verhältnis genauer bestimmen und überleiten zur sozialhistorischen wie theoretischen Situation des Konservatismus in den 1980er Jahren. Den Hauptteil dieser Arbeit bilden zwei Themenkomplexe, in denen die Leitbilder, Vorstellungen und Ideen innerhalb des politischen Lagers analysiert werden, um die Entwicklungen der konservativen Nationenkonzepte untersuchen zu können. Diese Auseinandersetzungen werden eingebettet in eine sozialgeschichtliche Analyse der bundespolitischen Debatten über die deutsche Nationenfrage. Der erste Themenkomplex (Kapitel III) untersucht den Konservatismus in den 1980er Jahren. Im Vordergrund stehen vor allem die Umwälzungen im konservativen Lager, beispielsweise die Ernüchterung der Konservativen über die aus ihrer Sicht ausgebliebene »geistig-moralische Wende« Helmut Kohls oder die Aufspaltung dieses Lagers etwa bezüglich des »Neokonservatismus«. Darauf aufbauend werden anhand von zentralen Debattensträngen die Entwicklungen jener Jahre nachvollzogen, um das jeweilige dominierende konservative Nationenverständnis genauer zu untersuchen. Die so herausgearbeiteten Leitbilder dienen später auch als Kontrastfolie für die Bewertung der Umwälzungen im konservativen Lager nach der deutschen Vereinigung. Der zweite Themenkomplex (Kapitel IV) behandelt die Umbrüche Anfang der 1990er Jahre und deren Auswirkungen auf den Konservatismus. Anhand der zentralen Debatten und der entsprechend prägenden Intellektuellen richtet sich der Blick auf eine Analyse der Geschichts- und Gesellschaftsbilder in Bezug auf die Vorstellungen von einer »deutschen Nation«. Dabei geht es um eine Analyse ihrer zentralen programmatischen Schriften und deren jeweiliges Nationenverständnis. Ein solches Nationenverständnis kann allerdings nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im Kontext der konservativen Deutungen des bundesdeutschen Geschichtsbildes analysiert werden. Aus diesem Grund müssen weitere Leitbilder und Kategorien genauer untersucht werden, die mit dem jeweiligen Nationenverständnis in Verbindung stehen können. Daher werden neben den konservativen Geschichtsdeutungen und den kulturkritischen Mustern138 auch die Vorstellungen von »West«- und »Ostdeutschland«139, zum sogenannten Ernstfall, zur Bedeutung des Antikommunismus oder auch das jeweilige Verständnis von Nation, Staat und Demokratie herausgearbeitet. Die damit gewonnenen Leitbilder sollen Rückschlüsse auf den grundlegenden Wandel und die Diversifikation des Konservatismus ermöglichen. Zunächst werden hierfür die bedeutendsten Kategorien der 1980er und der 1990er Jahre verglichen. Danach sollen die Ergebnisse thesenhaft zugespitzt und diskutiert werden, indem diese auf den sozialhistorischen Kontext rückbezogen werden (Kapitel V). Am Ende sollen ausgehend von den zentralen Ergebnissen über das Verhältnis von Konservatismus und Nation grundlegende Überlegungen über den Wandel des konservativen Nationenverständnisses und dessen Bedeutung für das Verständnis von Konservatismus an sich stehen (Kapitel VI). Damit soll verdeutlicht werden, inwiefern die Hoffnung aufs »Nationale«, einer Enttäuschung über unerfüllte Wunschvorstellungen entsprungen, zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel im konservativen Lager geführt hat, der die – 1991 noch von solch einem Konservativen wie Alexander Gauland als »unheilig«140 titulierte – Allianz des »Nationalen« und des »Konservativen« bis heute bestimmen sollte.

1 Fontane, Theodor: Der Stechlin, Zürich 1983, S. 15.

2 Vgl. Vierhaus, Rudolf: Konservativ, Konservatismus, in: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 3, Stuttgart 1982, S. 531-565, hier S. 531.

3 Horkheimer, Max: »Was wir ›Sinn‹ nennen, wird verschwinden«, in: Der Spiegel 1-2/1970, S. 79-84, hier S. 82.

4 Ebd.

5 Horkheimer, Max: Zur Psychologie des Totalitären, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt a.M. 1985, S. 77-83, hier S. 82.

6 Ebd.

7 Fetscher, Iring: Konservative Reflexionen eines Nicht-Konservativen, in: Merkur Jg. 27 (1973) H. 305, S. 911-919, hier S. 911.

8 Vgl. Schale, Frank: Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik, in: Liebold, Sebastian; Schale, Frank (Hg.): Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik, Baden-Baden 2017, S. 9-29, hier S. 9.

9 Vgl. Honderich, Ted: Das Elend des Konservativismus. Eine Kritik, Hamburg 1994.

10 Dubiel, Helmut: Was ist Neokonservatismus? Frankfurt a.M. 1985, S. 15.

11 Vgl. a.a.O., S. 14.

12 So auch Lenk, Kurt: Deutscher Konservatismus, Frankfurt a.M. 1989, S. 17.

13 Gegen die strikt formalistische Trennung von »konservativ« und »progressiv« sprach sich bereits von Krockow aus, vgl. Krockow, Christian Graf von: Der fehlende Konservatismus. Eine Gegenbilanz, in: Grebing, Helga (Hg.): Konservatismus. Eine deutsche Bilanz, München 1971, S. 98-121.

14 Elm, Ludwig: Der deutsche Konservatismus nach Auschwitz. Von Adenauer und Strauß zu Stoiber und Merkel, Köln 2007, S. 10.

15 Lübbe, Hermann: Fortschrittsreaktionen. Über konservative und destruktive Modernität, Graz 1987, S. 15.

16 Walter, Franz: Rebellen, Propheten und Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 16.

17 Ebd.

18 Vgl. Burke, Edmund: Betrachtungen über die Französische Revolution, Hg. von Ulrich Frank-Planitz, Zürich 1987.

19 Stein, Tine: Konservatismus in Deutschland heute. Politische und intellektuelle Erneuerungsversuche, in: Kommune 5/2007, S. 5-16, hier S. 8.

20 Vgl. Steber, Martina: Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1980, Berlin 2017.

21 Zit. n. Möller, Horst: Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell, München 2016, S. 636.

22 Habermas, Jürgen: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985, S. 39f.

23 Vgl. Koppetsch, Cornelia: Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Bonn 2015.

24 Vgl. Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 19; Steber: Die Hüter der Begriffe, S. 6; Schumann, Hans Gerd: Einleitung, in: ders. (Hg.): Konservativismus, Köln 1974, S. 11-22, hier S. 17.

25 Vgl. Beyme, Klaus von: Konservatismus. Theorien des Konservatismus und Rechtsextremismus im Zeitalter der Ideologien 1789-1945, Wiesbaden 2013, S. 9.

26 Vgl. dazu jüngst etwa Kühnlein, Michael (Hg.): konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft, Berlin 2019.

27 Vgl. Klunker, Christoph Kai: Beobachtungen zum heutigen Konservatismus in Deutschland. Eine Untersuchung nach Edmund Burke, Frankfurt a.M. 2016; Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S. 12.

28 Vgl. Goering, Timothy D. (Hg.): Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven, Bielefeld 2017.

29 Vgl. exemplarisch Nolte, Paul: Sozialgeschichte und Ideengeschichte. Plädoyer für eine deutsche »Intellectual History«, in: ders.: Transatlantische Ambivalenzen. Studien zur Sozial- und Ideengeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, München 2014, S. 391-414.

30 Jedenfalls ist die Perspektive, Konservatismus und Nation würden zusammengehören, allein auf die Gegenwart bezogen. Sie hält der historischen Sachlage, wie sie im Laufe der Arbeit (Kapitel II.3) aufgezeigt wird, nicht stand. Deshalb verzerrt eine Sichtweise, die eine Zusammengehörigkeit von Konservatismus und Nation allein aus der Gegenwart ableitet und als allgemeine Prämisse setzt, den Blick auf die Entwicklungsdynamik des Konservatismus. Diese Verzerrung gipfelt dann beispielsweise in der These von Thomas Biebricher, das Beziehungsverhältnis umzudrehen und den Europabezug der Konservativen als vermeintliche Ausnahme einzustufen: »Eigentlich ist es erstaunlich, wie europafreundlich die deutschen Konservativen in den letzten 50 Jahren immer waren«, erklärt Biebricher (Ernst, Andreas: »Der Konservatismus hat sich ideell erschöpft«. Interview mit Thomas Biebricher, in: Neue Zürcher Zeitung, 27.03.2019). Doch wie diese Arbeit argumentiert, ist es vielmehr erstaunlich, wie sich Konservatismus und Nation gerade vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung angenähert haben.

31 Lenk: Deutscher Konservatismus, S. 57.

32 Ebd.

33 Epstein, Klaus: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770-1806, Frankfurt a.M. 1973, S. 14.

34 Grebing, Helga: Aktuelle Theorien über Faschismus und Konservatismus. Eine Kritik, Stuttgart 1974, S. 20.

35 Mannheim, Karl: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1984; vgl. Mannheim, Karl: Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland, in: Schumann, Hans Gerd (Hg.): Konservativismus, Köln 1974, S. 24-75.

36 Vgl. Lenk: Deutscher Konservatismus, S. 59.

37 Vgl. Schale: Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik, S. 11; Bösch, Frank: Das Gestern im Heute für morgen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.2018, S. 5.

38 Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986, S. 67.

39 Walter, Franz: Charismatiker und Effizienzen. Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2009, S. 165.

40 Vgl. Sommer, Theo: Kein Maß, kein Mittelmaß. Franz Josef Strauß in Bonn und in Bayern. Vierzig Jahre Politik als Kampf, in: Die Zeit, 07.10.1988.

41 Vgl. Lenk: Deutscher Konservatismus.

42 Zur Veranschaulichung sei eine solche beliebige Definition genannt, die es später in viele Lehr- und Einführungsbände geschafft hat: »Unter politischem Konservatismus werden hier allgemein – im Gegensatz zu nicht explizit artikuliertem traditionalen Verhalten – jene Denkansätze, Weltanschauungen, Ideologien, Organisationen, Gruppen, sozialen Milieus und politischen Konzepte verstanden, deren Grundtendenz mehr auf die Bewahrung des Gewordenen und Bestehenden gerichtet ist als auf dessen Veränderung« (Puhle, Hans-Jürgen: Konservatismus und Neo-Konservatismus: deutsche Entwicklungslinien seit 1945, in: Eisfeld, Rainer; Müller, Ingo (Hg.): Gegen Barbarei. Essays Robert M.W. Kemper zu Ehren, Frankfurt a.M. 1989, S. 399-423, hier S. 400, Herv. i. O.).

43 Schildt, Axel: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 5.

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