Nationalsozialismus in Niederösterreich - Stefan Eminger - E-Book

Nationalsozialismus in Niederösterreich E-Book

Stefan Eminger

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Beschreibung

Wie wird das Bundesland Niederösterreich zum NS-Reichsgau Niederdonau? Wie übt der Nationalsozialismus seine Herrschaft in Niederösterreich aus? Wer sind seine AnführerInnen und UnterstützerInnen? Welche Menschen werden verfolgt oder leisten Widerstand? Wie verhält sich die Masse der Bevölkerung? Welche kurz- und langfristigen Veränderungen setzt das NS-Regime in Gang? Diese und viele weitere Fragen beantwortet die vorliegende Geschichte des Nationalsozialismus in Österreichs größtem Bundesland: leicht verständlich und wissenschaftlich fundiert erzählt – vor allem für junge LeserInnen, aber auch für interessierte Erwachsene. Über vierzig Kurzbiografien ergänzen die Kapitel: Sie zeigen ganz normale wie auch außergewöhnliche Menschen – Frauen und Männer, die zwischen Zustimmung, Wegschauen und Ablehnung schwanken, Menschen, die verfolgt werden, sich schuldig machen oder auflehnen. Rund 280 Abbildungen und Fotografien vermitteln ein lebendiges Bild der Zeit. Ein Sach-, Personen- und Ortsregister macht das Buch zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk niederösterreichischer NS-Geschichte.

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Stefan Eminger / Ernst Langthaler / Klaus-Dieter Mulley

Nationalsozialismus in Niederösterreich

Opfer . Täter . Gegner

Nationalsozialismus in denösterreichischen Bundesländern

herausgegeben von Horst Schreiberim Auftrag von _erinnern.at_www.erinnern.at

Band 9

Stefan Eminger / Ernst Langthaler / Klaus-Dieter Mulley

Nationalsozialismus in Niederösterreich

Opfer . Täter . Gegner

Inhalt

Editorial

Werner Dreier, Horst Schreiber: Vorwort

Nationalsozialismus in Niederösterreich

Vor dem „Anschluss“

Welche Auswirkungen hat der Erste Weltkrieg?

Wie entsteht das Bundesland Niederösterreich?

Welche Probleme entstehen in der Wirtschaft?

Wie entwickelt sich die politische Lage?

Welche Rolle spielen die Wehrverbände?

Wie gewinnt die NSDAP an Einfluss?

Wie wird die Demokratie ausgeschaltet?

Welche Rolle spielt der Antisemitismus?

Josef Leopold: Erster von Hitler ernannter Gauleiter Niederösterreichs

Julius Kampitsch: Ein Maulwurf in der niederösterreichischen Landesregierung

„Machtergreifung“: Jubel und Angst

Wie kommen die Nationalsozialisten an die Macht?

Wie erleben die Menschen den „Anschluss“?

Wie verfahren die Nationalsozialisten mit ihren GegnerInnen?

Wie wird Niederösterreich zu Niederdonau?

Wie versuchen die Nationalsozialisten ein Gau-Bewusstsein zu schaffen?

Franz Danimann: Zeitzeuge und Aufklärer über die NS-Diktatur

Wilhelm Hanisch: Der feste Glaube an ein „Idealbild des deutschen Volkes“

Hugo Jury: Hitlers Vollstrecker in Niederdonau

NS-Herrschaft: Verlockung und Zwang

Was heißt NS-Herrschaft?

Wie stützen Bürgermeister, Bezirkshauptleute und Landesbeamte den NS-Staat?

Was sind die Aufgaben der NSDAP?

Wie üben Justiz und Gestapo Terror aus?

Welche Rolle spielt die Wehrmacht im Hinterland?

Paul Scherpon: Als Beamter politisch anpassungsfähig

Leopold Schuster: Fanatischer Nationalsozialist und Kreisleiter

Helene Naber-Binder: Von der „illegalen“ zur offiziellen BDM-Führerin

Arbeitswelten: Bauernhof und Rüstungsfabrik

In welche Richtung lenkt der NS-Staat die regionale Wirtschaft?

Wie arbeiten und leben die Menschen in der Landwirtschaft?

Wie arbeiten und leben die Menschen in Gewerbe und Industrie?

Welche Folgen hat die nationalsozialistische Wirtschaftslenkung?

Leopold Leitner: Ein Bergbauer schreibt an den „Führer“

Helene Pawlik: Eine polnische Zwangsarbeiterin am Bauernhof

Rupert Schober: Ein Ortsbauernführer drückt ein Auge zu

Helene Luckinger: Todesangst im Kartoffelkeller

Georg Meindl: Ein Konzernchef im Pakt mit der SS

Srulek Storch: Ein Bub namens „68.818“

Jugendalltag: Begeisterung und Verweigerung

Wie erfasst der Nationalsozialismus die Schuljugend?

Wie mobilisiert die Hitler-Jugend Burschen und Mädchen?

Wie entziehen sich Jugendliche der „totalen Erziehung“?

Elfriede Ecker: Schülerin der „Napola“

Anna Madlmayr: Ein Bauernkind an der „Heimatfront“

Emil Kikinger: Ein „Schlurf“ aus der Provinz

„Volksgenossen“: Gemeinschaftskult und Eigensinn

Wie formt der Nationalsozialismus die Gesellschaft um?

Wie mobilisiert das NS-Regime die Menschen?

Wie organisiert das NS-Regime die alltägliche Versorgung?

Heinrich Fahrngruber: Ein fotografierender Wehrmachtssoldat

Theodor König: Ein Kaufmann als Opfer der „Entjudung“

Anton Binder: Ein „Schwarzschlächter“ vor Gericht

„Gemeinschaftsfremde“: Zurichtung und Vernichtung

Was heißt „gemeinschaftsfremd“?

Wer gilt im NS-Staat als „asozial“?

Welche Maßnahmen werden gegen „Asoziale“ ergriffen?

Wer sind Roma und Sinti?

Wie werden Roma und Sinti im NS-Staat verfolgt?

Was geschieht im Lager Lackenbach?

Adam Milanovicz: Der „Bluthund von Oberlanzendorf“

Franz Haschek: Verfolgt als „Asozialer“

Cäcilia Gruber: Als „Zigeunermischling“ in den Fängen der Gestapo

„Endlösung“: Raubzug und Judenmord

Wie leben Juden und Nichtjuden vor 1938 zusammen?

Wo leben Juden und Jüdinnen in Niederösterreich?

Wie ergeht es der jüdischen Bevölkerung beim „Anschluss“?

Was passiert beim Novemberpogrom?

Was bedeutet „Arisierung“?

Wohin vertreiben die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung?

Was ist unter der „Endlösung“ zu verstehen?

Was wissen die „Volksgenossen“ vom Judenmord?

Familie Zimmer: Mit Wohltätigkeit das Leben der Kinder gerettet

Emmy Katherine Mahler: „Woher kommen plötzlich all diese schrecklichen Menschen?“

Josef Lande: Ein frommer Katholik jüdischer Herkunft

„Euthanasie“: Gesundheitswahn und Krankenmord

Was bedeutet „Euthanasie“ im Nationalsozialismus?

Was versteht man unter „Kindereuthanasie“?

Was geschah bei der „Aktion T4“?

Warum wird die „Aktion T4“ eingestellt?

War der Abbruch der „Aktion T4“ das Ende der NS-Euthanasie?

Waren alle Pflegekräfte willige Vollstrecker der NS-Euthanasie?

Emil Gelny: Der Massenmörder

Emilie Mayer: Pflegerin in Gugging, die sich dem Morden verweigert

Johann Mitterecker: Ein Bub auf dem „Spiegelgrund“

Widerstand: Einzeltat und Gruppenaktion

Was ist Widerstand?

Wie bekämpft das NS-Regime den Widerstand?

Welche Gruppen von organisiertem Widerstand gibt es in Niederösterreich?

Karl Flanner: Widerstandskämpfer im Kommunistischen Jugendverband Wiener Neustadt

Emil Ifkovics und Franz Josef Fröch: Jungkommunisten und Deserteure aus Felixdorf

Stefanie Engler: Mitglied der Provinzkommission der KPÖ

Alois und Stefanie Hanig: Hilfeleistung für Juden durch Taufen

Roman Karl Scholz: Augustiner-Chorherr, Nationalsozialist, Widerstandskämpfer

Anna Goldsteiner: Die Unterstützerin der Schlurfs von Pulkau

Terrorfinale: Regimezerfall und Mordserien

Warum kommt es zu Endphaseverbrechen?

Wie verlaufen die Todesmärsche?

Was geschieht beim Massaker von Stein und Umgebung?

Was passiert beim „Standgericht“ in Schwarzau im Gebirge?

Maria Grausenburger: Unerschrockene Retterin von Verfolgten

Alois Baumgartner: Ein Fanatiker, der seine Kollegen ans Messer liefert

Johann Wallner: Ein skrupelloser HJ-Führer

Nach dem „Umbruch“

Wie verlaufen Kriegsende und Befreiung?

Wie treffen Zivilbevölkerung und Rotarmisten aufeinander?

Warum kommt es zu massenhaften Vergewaltigungen?

Wie erleben Schulkinder das Kriegsende?

Wie verläuft der demokratische Wiederaufbau in Niederösterreich?

Was geschieht mit den (ehemaligen) Nationalsozialisten?

Gibt es eine „Wiedergutmachung“ für die Opfer der NS-Herrschaft?

Wie wird an die NS-Zeit erinnert?

Anton Burger: Ein NS-Täter auf der Flucht

Helene Gruber: Denunziert und verschleppt nach Ostsibirien

Peter Härtling: Das chaotische Leben eines Flüchtlingskinds

Anhang

Begriffe und Personen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Ortsregister Niederösterreich

Danke

Die Autoren

Editorial

Vorwort

Die große Geschichte im kleinen Raum erzählen: Damit das gelingen kann, braucht es Autorinnen und Autoren, die in der konkreten Landschaft angesiedelte und mit konkreten Menschen verbundene Geschichten so erzählen können, dass sich in ihnen ein überregionales und überindividuelles Bild der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft abzeichnet. Wie gut dies gelingen kann, zeigt das vorliegende Buch, das die Reihe „Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern“ als neunter Band abschließt.

Die Berichte über Verfolger und Verfolgte, über Gewalt und über Menschlichkeit, die sich an vertrauten Orten ereigneten und welche von Menschen handeln, die vielleicht vertraute Namen tragen, erleichtern die Annäherung an die nur schwer fassbare Geschichte einer mörderisch ausgrenzenden „Volksgemeinschaft“, einer vom rassistischen Überheblichkeitswahn getragenen Eroberungspolitik und von Völkermord. Am Konkreten lässt sich zeigen, welche Hoffnungen und Erwartungen in die großartige völkische Zukunft gesetzt wurden, aber auch wie jämmerlich und von exzessiver Gewalt begleitet das Ende des Tausendjährigen Wahns war.

Stefan Eminger, Ernst Langthaler und Klaus-Dieter Mulley wenden sich auch jenen zu, deren Leben und Leiden gewöhnlich nicht im Mittelpunkt des historischen Interesses und des Gedenkens stehen: den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Landwirtschaft und Industrie etwa oder den als „asozial“ gebrandmarkten und verfolgten Menschen. Das Buch versammelt viele Geschichten, so die des Strulek Storch, der als fünfzehnjähriger KZ-Zwangsarbeiter Stollen für das Rüstungsunternehmen Steyr-Daimler-Puch ausbrach, oder jene der drei Jahre jüngeren Elfriede Ecker, deren Begeisterung für den „Führer“ und die „große“ Zeit in der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt gestärkt wurde und bis ins hohe Alter anhielt. Die Menschengeschichten berichten von Begeisterten und Angepassten, von Widerständigen und Widerstehenden, von Menschen, die zu Opfern, und solchen, die zu Tätern wurden. Es gelingt den Autoren, diese Geschichten in eine erklärende und die regionalen Verhältnisse beschreibende Sozialgeschichte des Landes Niederösterreich während des Nationalsozialismus einzubetten. Das Buch gibt ausreichend Anlass zum Nachdenken: Wie war es möglich, dass Adam Milanowicz, „der Bluthund von Oberlanzendorf“, vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, in kurzer Zeit wieder im Heimatort integriert und Obmann des örtlichen Fußballvereins werden konnte? 2.500 Menschen, ein Drittel der jüdischen Bevölkerung von Niederösterreich, wurden ermordet, nahezu alle anderen vertrieben. Emmy Mahler, konfrontiert mit Nachbarn, die sie in ihrer Wohnung überfielen und beraubten, weil sie sich als „Volksgenossen“ ein Recht zur Ausplünderung der jüdischen Familie nahmen, hält fest: „Es waren Leute wie ich. Heute sind sie wilde Tiere. Ich habe Angst vor jedem Einzelnen von ihnen.“

Wozu diese Geschichten erzählen? Vielleicht um dazu beizutragen, dass niemand mehr Angst vor den Nachbarn zu haben braucht.

Werner Dreier

_erinnern.at_

Reihenherausgeber

Horst Schreiber

Nationalsozialismus in Niederösterreich

Vor dem „Anschluss“

Welche Auswirkungen hat der Erste Weltkrieg?

Als Ende Oktober des Jahres 1918 in Prag die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wird und in Wien im Niederösterreichischen Landhaus die „Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs“ zusammentritt, glauben am Land nur wenige an den politischen „Umbruch“.1 Die Provinzzeitungen üben sich in Durchhalteparolen. Noch am 10. November 1918, also zwei Tage vor der Ausrufung der Republik im Wiener Parlamentsgebäude, warnt etwa das christlich-soziale „Neue Wochenblatt“ im Viertel unter dem Manhartsberg vor „Betrügern“, die meinten, es gäbe keinen Kaiser mehr: „Wer ein echter Deutscher ist, der bewahrt auch in bösen Zeiten dem angestammten Herrscher Liebe und Treue und jagt zum Teufel, welche mit Lüge und Verleumdung ihre dunklen Geschäfte betreiben.“2 Für die katholische Bevölkerung ist kaum vorstellbar, dass es den Kaiser nicht mehr geben sollte; umso klarer hatten sie vielfach das Feindbild vor Augen: den jüdischen „Kriegsgewinnler“.

Feierstimmung herrscht bei der Ausrufung der Republik im November 1918 nur in den Städten, hier in Wiener Neustadt. (Stadtarchiv Wiener Neustadt)

Die Nachricht vom politischen „Umbruch“ in Wien verbreitet sich auch am Land wie ein Lauffeuer. Dort hat das harte Regime der Kriegswirtschaft den Ruf der Monarchie zwar arg beschädigt, eine revolutionäre Aufbruchsstimmung gibt es dennoch keine. Die Bauern begeistern sich nicht für die Republik, spontane Kundgebungen finden am flachen Land nicht statt. Die Beendigung des Krieges und der Verzicht des Kaisers auf die Regierungsgeschäfte lassen die Bauern hoffen, endlich von den Fesseln der Ablieferungspflicht befreit zu sein. Die Gräben zwischen Stadt und Land, zwischen Konsumenten und Produzenten, zwischen Arbeitern und Bauern werden noch tiefer, als dies bereits im Krieg der Fall war. Christlichsozial-konservative Politiker, wie der Reichsratsabgeordnete Pfarrer Matthäus Bauchinger, werben bei den Landwirten um Solidarität mit der Stadtbevölkerung. „Der Landwirt“, meint er, „sei auch aus Nächstenliebe schon verpflichtet, für die Ernährung seines deutschen Mitmenschen jedes Opfer zu bringen, wenn es ihm möglich ist, ein größeres Quantum als das Vorgeschriebene abzuliefern, damit wir die kritische Zeit übertauchen können.“3 Die Sozialdemokraten rufen in nahezu jeder Versammlung dazu auf, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Heinrich Schneidmadl aus St. Pölten etwa warnt vor der offenbar verbreiteten Ansicht, „weil kein Kaiser mehr regiert, könne Jeder tun, was er will“.4

Sorge machen vor allem die quer durch das Land in ihre Heimat zurückflutenden tausenden ausländischen Kriegsgefangenen sowie die rund 200.000 heimkehrenden Soldaten aus der Armee des Kaisers. Die jüngeren unter ihnen haben kaum etwas Anderes gelernt als das Kriegshandwerk; ihre Eingliederung in ein ziviles Arbeitsleben stößt insbesondere im städtischen Bereich auf Schwierigkeiten. Die noch fehlende Staatsgewalt führt zu unsicheren Verhältnissen, es häufen sich Plünderungen und Flurdiebstähle. Denn in den Industrieregionen des Landes, vor allem aber in Wien, herrschen Hunger und Not. In ihrer Verzweiflung strömt die Stadtbevölkerung aufs Land, um Lebensmittel gegen Wertsachen einzutauschen oder sonstwie ihr Überleben zu sichern. Vor allem in den stadtnahen Regionen kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen städtischen „Hamsterern“ und Bauern, die für ihre Nahrungsmittel mitunter sehr viel verlangen.

Die Spannungen zwischen „schwarzen“ Bauern und „roten“ Arbeitern, zwischen Stadt und Land kommen in diesem Wahlplakat der Sozialdemokraten von 1920 deutlich zum Ausdruck. (Wienbibliothek im Rathaus)

Für Ordnung sorgt neben der örtlichen Gendarmerie eine neue bewaffnete Macht – die „Volkswehr“, gegründet vom sozialdemokratischen Unterstaatssekretär für Heerwesen, Julius Deutsch. Sie soll das Land im Inneren und auch an den Grenzen schützen. Die christlichsozial-katholischen Bauerngemeinden misstrauen diesem republikanischen Heer. Für sie ist die Volkswehr eine „linksgerichtete Organisation“: weil die Mannschaften „Soldatenräte“ bilden, denen kommunistische „Rote Garden“ ebenso eingegliedert werden wie Arbeitslose aus dem Wiener Neustädter Industriegebiet, und es immer wieder zu Konflikten kommt. Vor allem aber, weil die Verwaltung die Volkswehr zu Hilfe ruft, um die Bauern zu zwingen, die vorgeschriebene Menge an Lebensmitteln abzuliefern. Daher gründen die Dorfbewohner Bürger-, Orts- und Bauernwehren. Einige von ihnen bilden später den Kern der niederösterreichischen „Heimatschutzbewegung“. Der geringe Respekt der DeutschösterreicherInnen vor dem Gewaltmonopol des neuen Staates wird zum Geburtsfehler der Ersten Republik.

Wie entsteht das Bundesland Niederösterreich?

Das niederösterreichische Landhaus in der Herrengasse 13 in Wien steht am Beginn der Republik im Mittelpunkt. Hier erfolgt die Gründung des neuen Staates „Deutsch-Österreich“ und hier wird auch das Bundesland Niederösterreich aus der Taufe gehoben. (Niederösterreichische Landessammlungen)

Niederösterreich ist bis zum Herbst 1918 ein Kronland der k. u. k. Monarchie.5 Wie die Gründung des neuen Staates „Deutsch-Österreich“ erfolgt auch die Schaffung des Landes Niederösterreich im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse. Hier treffen sich am 5. November 88 Abgeordnete des letzten Landtages und 32 niederösterreichische Abgeordnete des Reichsrates. Sie bilden die Provisorische Landesversammlung von Niederösterreich, die Vorläuferin des Landtages, und wählen den Wiener Christlichsozialen Leopold Steiner zum Landeshauptmann. Die Großstadt Wien gehört damals zu Niederösterreich. Die drei Stellvertreter sind Mandatare der drei großen Parteien: der Bauer Johann Mayer aus Bockfließ für die Christlichsozialen, der Krankenkassenbeamte Albert Sever aus Wien für die Sozialdemokraten und der Gastwirt und Postmeister Karl Kittinger aus Karlstein an der Thaya für die Großdeutschen. Sie bilden mit Landeshauptmann Steiner die Provisorische Landesregierung. Doch nach den ersten Landtagswahlen in Niederösterreich unter Beteiligung von Frauen am 4. Mai 1919 steht der Sozialdemokrat Albert Sever – das erste und bisher letzte Mal – an der Spitze des Landes. Die sozialdemokratische Partei beendet die Vorherrschaft der Christlichsozialen in Niederösterreich: Von 120 Mandaten erhält sie 64 Mandate, die Christlichsozialen kommen auf 45, die Deutschnationalen auf 8; drei Mandate gehen an die tschechischen Sozialisten in Wien. Der Erfolg der Sozialdemokraten beruht auf deren Stärke in Wien und in den größeren Provinzstädten; die Christlichsozialen sind fast ausnahmslos im ländlichen Raum siegreich.

Albert Sever bleibt eineinhalb Jahre lang Landeshauptmann von Niederösterreich. Dann erfolgt die Trennung von Wien und Niederösterreich. Die Vertreter des Niederösterreichischen Bauernbundes wollen nämlich verhindern, dass die Sozialdemokratie das Land regiert, die Christlichsozialen der westlichen Bundesländer, dass das bei weitem bevölkerungsreichste Land ganz Österreich dominiert. Niederösterreich wird dadurch wirtschaftlich ärmer und zum Bauernland, in dem sich eine Kleingemeinde an die andere reiht. Die Wiener Sozialdemokratie sieht auch Vorteile in der Trennung. In einem selbstständigen Bundesland Wien ist sie die unangefochten stärkste politische Kraft. Am 30. November 1920 gibt sich das Land Niederösterreich eine eigene Verfassung, am 29. Dezember 1921 wird das Trennungsgesetz beschlossen. Es beendet die jahrhundertealte Einheit von Wien und dem Land Niederösterreich, wo die Wahlen im Frühjahr 1921 die völlig veränderten politischen Verhältnisse offenbaren. Die Christlichsozialen erringen mit dem Bauernbund die absolute Mehrheit mit 32 Mandaten. Die Sozialdemokraten erreichen nur noch 22 Sitze, die Deutschnationalen lediglich sechs.

Am Beginn der Republik ist monatelang nicht klar, wo die Grenzen des Landes, zugleich Staatsgrenzen gegenüber der neuen Tschechoslowakei, verlaufen. Pläne, die deutschsprachigen Gebiete in Südmähren und Teilen Südböhmens an Niederösterreich anzugliedern, scheitern. Tschechoslowakische Truppen besetzen im Dezember 1918 Znaim und andere Gebiete Südmährens. Die Regierung in Prag erhebt sogar Anspruch auf Grenzgebiete des Wald- und Weinviertels. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zwischenfällen; zeitweilig sind Grenzorte wie Hohenau an der March oder Rabensburg von tschechischen Soldaten besetzt. Klarheit schafft erst der Vertrag von Saint Germain-en-Laye, der am 20. Juli 1920 in Kraft tritt. Das Land Niederösterreich verliert Gebiete um Feldsberg (Valtice) und bei Gmünd mit insgesamt 18.600 Menschen an die Tschechoslowakei.

Welche Probleme entstehen in der Wirtschaft?

1918 zerfällt die Monarchie, an ihre Stelle treten Nationalstaaten. Diese Entwicklung verwandelt Niederösterreich fast über Nacht in ein Grenzland. Die neuen Staaten, wie die Tschechoslowakei und Ungarn, machen ihre Grenzen dicht und heben Zölle ein. Niederösterreich ist nicht länger Teil eines riesigen, arbeitsteiligen Wirtschaftsraumes, es muss auf eine kleinräumige Wirtschaft umstellen.6

In der Landwirtschaft gelingt dies, die Produktion erreicht 1925 das Vorkriegsniveau, besonders die Zuckerproduktion im Osten des Landes erlebt einen beachtlichen Aufschwung. Die Ausbeutung slowakischer SaisonarbeiterInnen hat daran großen Anteil. Das Problem sind die enormen Unterschiede zwischen den Betrieben in wohlhabenderen und armen Regionen. Die „Körndlbauern“ in der Ebene, so im Marchfeld, sichern die Nahrungsmittelversorgung. Sie nutzen ihre Wirtschaftskraft, um politisch Einfluss zu üben: im Bauernbund und auf die Landesregierung, wo die großen Landwirte ihre Interessen durchzusetzen wissen. Im Gegensatz dazu ringen die Höfe in den Ungunstlagen des Waldviertels und im alpinen Süden des Landes um ihre Existenz. In der Industrie gibt es zwar Erfolge. Im Raum St. Pölten erleben die Maschinenfabrik Voith AG und die Glanzstoffwerke einen Aufschwung, die Berndorfer Metallwarenfabrik erwirbt sich internationales Ansehen. Doch der für Niederösterreich so bedeutenden Eisen- und Metallbranche und der nicht minder wichtigen Rüstungsindustrie gelingt die Umstellung auf Friedensproduktion und auf die Bedürfnisse eines Kleinstaates nur wenig. Die Arbeitslosigkeit bleibt daher stets überdurchschnittlich hoch, auch die Zahl der „Ausgesteuerten“. Diese Arbeitslosen erhalten kein Arbeitslosengeld mehr und sind auf Almosen der Fürsorge und privater wie kirchlicher Organisationen angewiesen.

Die Zuckerfabrik in Leopoldsdorf im Marchfeld ist Teil der wenigen Erfolgsgeschichten der Ersten Republik, Aufnahme 1930er Jahre. (Bildarchiv Austria)

Die drückende Wohnungsnot seit dem Weltkrieg belastet die Bevölkerung außerhalb des „Roten Wien“ während der gesamten Ersten Republik. In Gmünd dienen die Baracken des ehemaligen Flüchtlingslagers der ärmeren Bevölkerungsschicht als Unterkunft. (Stadtarchiv St. Pölten)

Als sich in der Bevölkerung schon Zuversicht breitmacht, bricht 1929 die Weltwirtschaftskrise aus. In kurzer Zeit sinkt die Industrieproduktion österreichweit um mehr als ein Drittel, der Staat muss mit viel Geld die größte Bank der Republik, die Creditanstalt für Handel und Gewerbe, vor der Pleite bewahren. In Niederösterreich bricht die Metall-, Maschinen- und Textilindustrie ein. Im Raum Wiener Neustadt sind 60 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Arbeit, Tausende Familien stehen vor dem Nichts. Dem Tourismus geht es nicht besser. 1928 hatte Niederösterreich noch so viele Fremdenbetten wie Kärnten und Tirol zusammen. Doch in der Krise reisen die Menschen nicht mehr, die Nächtigungszahlen fallen ins Bodenlose.

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nimmt die Arbeitslosigkeit zwar ab, doch sie bleibt hoch. Die österreichische Regierung spart. Ein ausgeglichenes Budget ist ihr wichtiger als Investitionen. Ein Anschluss Österreichs an Deutschland scheint vielen Menschen attraktiv.

Wie entwickelt sich die politische Lage?

Die politische Kultur in Niederösterreich ist von vier maßgeblichen Faktoren geprägt:7 Erstens lebt in den zahlreichen Klein- und Kleinstgemeinden der ländlichen Regionen eine katholisch-konservative Bevölkerung, die politisch überwiegend christlichsozial eingestellt ist. Die Ortspfarrer haben erheblichen Einfluss auf die Ansichten und Meinungen der DorfbewohnerInnen, die zahlreichen katholischen Vereine dienen der Christlichsozialen Partei als Vorfeldorganisationen. Ein weit verzweigtes landwirtschaftliches Genossenschaftswesen bindet die Bevölkerung an den christlichsozial orientierten NÖ Bauernbund, der stets den Landeshauptmann stellt.

Zweitens haben seit Ende des 19. Jahrhunderts ArbeiterInnen in den industriellen, suburbanen Zentren im Umkreis von Wien, im Wiener Becken, im Traisen- und Ybbstal und entlang der Westbahnstrecke zahlreiche Arbeitervereine gegründet und eine Arbeiterkultur entwickelt. Diese Regionen gelten ebenso als sozialdemokratische „Hochburgen“ wie die von Eisenbahnern dominierten Gemeinden entlang der wichtigsten Bahnlinien. Zudem stützt sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei auf ihre dominante Stellung in den Gewerkschaften.

Drittens prägt in den kleinen Bezirksstädten ein ehemals liberal-freisinniges, jedenfalls aber betont deutschnational eingestelltes Bürgertum das öffentliche Leben. Diese Gewerbetreibenden, Beamten, Lehrer und Freiberufler bilden ein lose verbundenes „völkisch-deutschnationales“ Milieu. Sie treffen sich im „Deutschen Turnverein“, im „Schulverein Südmark“, in schlagenden Burschenschaften oder „Akademischen Tafelrunden“. Politisch fühlen sie sich zunächst der „Großdeutschen Volkspartei“, später auch dem Landbund und der NSDAP zugehörig.

Viertens wird die politische Kultur des Landes Niederösterreich durch die Bundeshaupt- und Großstadt Wien geprägt. Ungeachtet der Trennung 1922 übt Wien als wirtschaftliches, kulturelles und politisches Zentrum weiterhin eine beträchtliche Sogwirkung auf sein Umland aus. SchülerInnen, Studierende, Wirtschaftstreibende, Kulturschaffende und Arbeitssuchende zieht es vom Land in die Großstadt. Umgekehrt strahlt Wien auf Niederösterreich aus.

Die Kräfteverhältnisse zwischen den drei politischen Lagern sind bis 1932 relativ stabil. Die Christlichsozialen dominieren und erreichen bei Landtagswahlen stets die absolute Mehrheit. Die Sozialdemokraten kommen immer auf mehr als ein Drittel der gültigen Stimmen, die Parteien der betont Deutschnationalen erreichen zusammen etwa 15 Prozent. Die politische Kultur im Land ist durchtränkt von Antisemitismus. Alle bürgerlichen Parteien haben die Judenfeindlichkeit in ihren Programmen verankert; im politischen Tageskampf bedienen sich bisweilen auch die Sozialdemokraten antisemitischer Stereotypen.

Die Landtagswahl im April 1932 deutet Veränderungen an. Die Christlichsozialen verlieren zwar nur leicht, büßen aber ihre absolute Mehrheit ein. Sie kommen jetzt auf 28 Mandate. Das ist genau die Hälfte aller Sitze. Auch die Sozialdemokraten müssen kleinere Verluste hinnehmen (20 Mandate). Starke Veränderungen spielen sich innerhalb des betont deutschnationalen Segments ab. Hier gelingt es der NSDAP, fast alle Stimmen aufzusaugen. Die Nationalsozialisten erreichen 14 Prozent und acht Mandate, während die Großdeutsche Volkspartei auf 2 Prozent abstürzt und aus dem Landtag ausscheidet. Im Vergleich zu Wien und Salzburg, wo gleichzeitig ebenfalls Landtagswahlen stattfinden, ist der Sieg der Nationalsozialisten in Niederösterreich weniger deutlich ausgefallen. In Wien kommt die NSDAP auf 17 Prozent, in Salzburg auf 21 Prozent der gültigen Stimmen.

In vielen Dörfern organisiert die katholische Kirche die Jugend in katholisch-deutschen Burschenvereinen und Marianischen Jungfrauenkongregationen. Vordergründig unpolitisch, bilden diese Verbände einen Teil der christlichsozialen Vorfeldorganisationen. Die Abbildung zeigt den katholischdeutschen Burschenverein Obersdorf mit Pfarrer Augustin Joch, 1929. (Sebastian Neid)

Welche Rolle spielen die Wehrverbände?

Obwohl im Landtag eher ein Klima der Zusammenarbeit herrscht, sind Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern auf lokaler Ebene häufig. Private Wehrverbände heizen diese Konflikte an.8 Aus den „Bürgerwehren“ der unmittelbaren Nachkriegszeit entstehen auch in Niederösterreich militante „Heimatschutz“-Formationen. Die Sozialdemokratie gründet 1923 den „Republikanischen Schutzbund“, der ihre Veranstaltungen schützen sollte. Es ist eines der größten politischen Versäumnisse der Ersten Republik, dass es nie zu einer Abrüstung dieser Wehrverbände kommt. Aus parteipolitischem Kalkül unterlassen es die bürgerlichen Regierungen, das Gewaltmonopol des Staates zu schützen.

Wiener Neustadt im Industrieviertel ist in der Zwischenkriegszeit eine Hochburg der Sozialdemokratie. Im Vordergrund der beim politischen Gegner gefürchtete Kom-mandant des Republikanischen Schutzbundes der Stadt, Josef Püchler, bei einer Versammlung. (Marianne Neuber, Josef Püchler – Niederösterreichischer Kommunalpolitiker und Schutzbundkommandant für das Viertel unter dem Wienerwald [1883–1971], Hausarbeit [Wien 1981])

In der Grenzstadt Laa an der Thaya sind die Deutschnationalen stark vertreten. Das „Deutsche Haus“ des Deutschen Turnvereins von Laa an der Thaya im Festschmuck anlässlich des Gaujugendtreffens 1932. (Verein zur Förderung der Erneuerung von Laa an der Thaya, Bildarchiv Jaitner)

Die Auseinandersetzungen beim Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 mit 89 Toten markieren einen dramatischen Einschnitt in der Geschichte der Wehrverbände. Die strikt antisozialdemokratischen und zunehmend antidemokratischen Heimwehren erleben jetzt einen spektakulären Aufschwung. Doch sie sind zerstritten. Betont deutschnational orientierte Formationen stehen gegen eher christlichsozial orientierte Gruppen um Julius Raab und dem Bauernbund. Der letzte gemeinsame Akt ist die Ableistung des antidemokratischen „Korneuburger Eides“ am 18. Mai 1930. Der Skandal ist perfekt, denn neben Raab leisten auch Landeshauptmannstellvertreter und Bauernbundobmann Josef Reither sowie andere christlichsoziale und großdeutsche Mitglieder des Landtages den Schwur. Kurz darauf bricht die Heimwehr in Niederösterreich auseinander. Ihre große Zeit ist zwar vorüber, doch hat sie antidemokratische, teils auch faschistische Einstellungen weit über ihre Anhänger hinaus verbreitet, die Militarisierung der Bevölkerung vorangetrieben und als Sammelbecken für ehemalige und zukünftige Nationalsozialisten eine wichtige Rolle gespielt. Insbesondere Heimwehrleute der betont deutschnationalen Richtung landen in den frühen 1930er Jahren bei der NSDAP; allen voran der spätere NS-Gauleiter und Reichsstatthalter in Niederdonau, Hugo Jury.

Die Heimwehren sind zwar zerstritten, allen gemeinsam ist aber die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie. Heimwehraufmarsch bei Pöchlarn, vermutlich 1929. (Niederösterreichisches Landesarchiv)

Der Schlossherr von Rosenau im Waldviertel, Georg Ritter von Schönerer, ist einer der Ahnherren der NSDAP in Niederösterreich. Aufnahme um 1890. (Stadtarchiv Zwettl)

Wie gewinnt die NSDAP an Einfluss?

Vom Sektierertum zur Kleinpartei

Die Wurzeln der NSDAP reichen zurück in die Nationalitätenkämpfe der Habsburgermonarchie in den deutschsprachigen Gebieten Böhmens.9 In einer Turnhalle in Aussig (Ústí nad Labem) schließen deutschvölkisch gesinnte Männer 1903 mehrere deutsche Arbeitervereine zusammen und gründen die „Deutsche Arbeiterpartei“ (DAP). Sie wenden sich gegen Kapitalismus, Klerikalismus und den „Internationalismus“ der sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaftsbewegung.

Die Partei hat ihren Rückhalt in Deutsch-Böhmen, kann ihren Einfluss vereinzelt aber auch auf deutschnationale Gewerkschaften in Niederösterreich ausdehnen. Sie trifft auf die erbitterte Gegnerschaft der Sozialdemokraten, die der DAP vorwerfen, die Interessen der ArbeiterInnen zu verraten und mit Industriellen zu kooperieren.10 Im Frühjahr 1918 benennt sie sich um in „Deutsche nationalsozialistische Arbeiterpartei“ (DNSAP).

Adolf Hitler und andere Vertreter des NS-Regimes berufen sich immer wieder auf Schönerer als einen ihrer wichtigsten Wegbereiter. Hier im Rahmen einer Ausstellung im Wiener Messepalast 1942. (Stadtarchiv Zwettl)

Damals ist er noch vollkommen unbekannt: Als Wahlredner „Hittler aus München“, wie er in der St. Pöltner Zeitung „Volkswacht“ bezeichnet wird, spricht der spätere Reichskanzler Großdeutschlands vor der Nationalratswahl 1920 u. a. in St. Pölten. Erinnerungstafel an die Rede im Großgasthof Pittner. (Stadtmuseum St. Pölten)

Die DNSAP spricht vor allem Handlungsgehilfen und kleine Angestellte der Post- und Bahnverwaltung an.11 Bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 erreicht sie in Niederösterreich (ohne Wien) magere 2.695 Stimmen (0,4 Prozent). Die Partei ist am ehesten im Waldviertel erfolgreich, wo sich wirtschaftliche Rückständigkeit mit der antisemitisch-deutschvölkischen Tradition eines Georg Ritter von Schönerer verbindet. Bei den Nationalratswahlen 1920 erreichen die Nationalsozialisten in Niederösterreich 9.934 Stimmen (1,5 Prozent). Im Waldviertel holen sie die Hälfte aller Stimmen, in Gmünd werden sie nach den Sozialdemokraten sogar zweitstärkste Partei.

In Deutschland hat sich unterdessen 1919 eine „Deutsche Arbeiterpartei“ gegründet, die sich ab 1920 NSDAP nennt und bald Adolf Hitler untersteht. Es kommt zu engen Kontakten mit der österreichischen DNSAP. In den frühen 1920er Jahren tritt Hitler bei Versammlungen in Niederösterreich auf, etwa in St. Pölten, Krems und Gmünd.

Nach internen Streitigkeiten tritt der Wiener Postgewerkschafter Karl Schulz an die Spitze der österreichischen NS-Partei, die man in der Folge auch als „Schulz-Gruppe“ bezeichnet. Sie kandidiert 1924 in Niederösterreich bei den Gemeinderatswahlen und kann in 49 der insgesamt etwa 1.700 Gemeinden Mandate erringen. Die deutsche NSDAP unter Adolf Hitler nimmt immer mehr Einfluss auf die österreichischen Nationalsozialisten, deren Partei sich bald ebenfalls NSDAP nennt. Es kommt zur Abspaltung einer noch radikaleren, hitlertreuen „Kremser Clique“, die eine kompromisslose, putschistische Strategie verfolgt und Wahlbündnisse mit anderen Parteien strikt ablehnt. Sie nimmt 1926 den Zusatz „Hitlerbewegung“ in ihren Parteinamen auf und wirbt mit zunehmendem Erfolg in den eher demokratisch, sozial-national orientierten Ortsgruppen der „Schulz-Gruppe“.

Bei den Nationalrats- und Landtagswahlen im April 1927 kandidiert die Hitlerbewegung auf einer eigenen Liste als „Völkisch-sozialer Block“ (im Weinviertel als NSDAP), während die „Schulz-Gruppe“ ein Wahlbündnis mit der „Einheitsliste“ der Christlichsozialen und Großdeutschen eingeht und bald von der politischen Bildfläche verschwindet. Die Hitlerbewegung erreicht bei den Nationalratswahlen in Niederösterreich 8.620 Stimmen (1,1 Prozent). Deutlich überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt sie in den politischen Bezirken Krems und Gmünd. Im August ernennt Hitler den vormaligen NS-Kreisleiter des Waldviertels und Hauptmann des Bundesheeres, Josef Leopold, zum „Gauleiter für Niederösterreich“.

Von der Kleinpartei zur Mittelpartei

Bei den Nationalratswahlen 1930 kann die NSDAP in Niederösterreich mit 34.307 Stimmen (4 Prozent) ihre Wähleranzahl gegenüber 1927 nahezu vervierfachen. Der rasante Aufstieg der NSDAP in Deutschland wirkt stimulierend. Mit radikalem Antisemitismus, aggressiven Werbemethoden und durch gewaltsame Zusammenstöße mit politischen Gegnern macht die NSDAP auf sich aufmerksam. Entscheidend ist, dass die NS-Propaganda nun immer mehr auch von Persönlichkeiten verbreitet wird, die in den Städten, Märkten und Dörfern über einiges Ansehen verfügen, wie etwa Akademiker, Lehrer oder wohlhabendere Gewerbetreibende.

Der radikal antisemitische „St. Pöltner Beobachter“ ist das Sprachrohr der frühen Nationalsozialisten in St. Pölten. Die Zeitung erscheint von 1922 bis 1932. (Stadtarchiv St. Pölten)

Das zeigt sich eindrucksvoll bei den niederösterreichischen Landtagswahlen vom April 1932. Mit 110.808 Stimmen (14 Prozent) schafft die NSDAP den Sprung von der Klein- zur Mittelpartei. Die Nationalsozialisten holen acht Mandate und stellen mit ihrem Anführer Josef Leopold nun auch einen Landesrat in der Landesregierung. Die NSDAP gewinnt große Teile des deutschnationalen Wählerpotentials (Großdeutsche, Landbund, Heimatblock). Nach wie vor findet sie in der christlichsozial orientierten Bauernschaft und in der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft wenig Unterstützung. Auch bei den nachfolgenden Gemeinderatswahlen, die noch bis Mai 1933 abgehalten werden, kann die NSDAP kräftig zulegen. In Stein, Krems, Zwettl, Gmünd und einigen kleineren Gemeinden des Waldviertels stellt sie sogar den Bürgermeister.

Im Landtag machen die Nationalsozialisten kein Hehl aus ihren Absichten. Ihr Landesrat und „Gauleiter“ Josef Leopold lehnt das demokratische Gremium ab und erklärt umgehend: „Wir kämpfen nicht um Parlamentssitze, die Mandate sind für uns das Mittel zur Eroberung der deutschen Freiheit, die ihr System in den 13 Jahren der Nachkriegszeit Stück für Stück dem überstaatlichen, jüdischen Weltbankkapital ausgeliefert hat. (…) Das Haus selbst lehnen wir grundsätzlich ab (…).“12

In Zwettl, dem Zentrum des oberen Waldviertels, gelingt der NSDAP bei der Gemeinderatswahl am 12. März 1933 ein Erdrutschsieg. Gegenüber den letzten Wahlen 1929 können die Nationalsozialisten ihren Anteil von einem Mandat auf neun Mandate steigern. Sie sind damit stimmenstärkste Partei und stellen mit dem Rechtsanwalt Franz Beydi (Abbildung) den Bürgermeister. (Stadtarchiv Zwettl)

In der Illegalität

Nach der Ausschaltung des Parlaments durch Kanzler Engelbert Dollfuß Anfang März 1933 intensiviert die NSDAP ihre Aktivitäten auf der Straße. Als in Krems am 19. Juni 1933 Mitglieder der SA einen Handgranatenüberfall auf christlich-deutsche Turner verüben, bei dem es einen Toten und 17 Schwerverletzte gibt, wird die NSDAP verboten. Sie verliert auch alle Mandate in der Landesregierung, im Landtag und in den Gemeinderäten.

Auf die härtere Gangart des Dollfuß-Regimes reagiert die illegale NSDAP mit einer beispiellosen Terror- und Propagandawelle. Bis Mitte 1934 verüben NS-Aktivisten unzählige Anschläge auf Bahnlinien, Telegrafenmasten, Häuser und Anschlagkästen der christlichsozialen und der sozialdemokratischen Partei. Eine Flut von NS-Flugblättern überschwemmt das Land, auf die Straßen werden aus Papier gestanzte Hakenkreuze gestreut, Häuser, Plakatwände, Fabriksschlote und Züge mit Parolen beschmiert. Es sind meist Angehörige der Hitler-Jugend sowie arbeitslose Aktivisten der SA, die oft mit Wissen der deutschvölkisch eingestellten Honoratioren in den Ortschaften jenen NS-Terror verbreiten, der parteiintern den Zusammenhalt der illegalen Organisation stärken und nach außen die Botschaft platzieren soll: Wir sind die kommende Macht. Den entscheidenden Umschwung zugunsten der Nationalsozialisten bringt Schuschniggs außenpolitische Kursänderung durch das Juliabkommen 1936. Da dieser die Unterstützung Italiens verloren hat, muss er sich um ein besseres Verhältnis zu Hitler-Deutschland bemühen und den heimischen Nationalsozialisten Zugeständnisse machen. Auch in Niederösterreich soll mit vermeintlich „gemäßigten“ Nationalsozialisten ein „Ausgleich“ erfolgen.

Beschlagnahmtes NS-Propagandamaterial, Mistelbacher Beobachter 1936. (Niederösterreichisches Landesarchiv)

Auf diese Weise gewinnen Nationalsozialisten an Bedeutung, die beim „Anschluss“ 1938 und zum Teil auch danach zentrale Rollen im NS-Regime spielen werden: etwa Julius Kampitsch, der 1934 als Mitglied des Heimatschutzes in die Landesregierung aufgenommen wird und bald zur NSDAP wechselt; der Gauleiter der NSDAP Niederösterreichs, Roman Jäger, der St. Pöltner Lungenfacharzt Hugo Jury, der ab Mai 1938 Gauleiter der NSDAP und Reichsstatthalter werden soll, oder der spätere NS-Bürgermeister von St. Pölten Emmo Langer. Schrittweise kaltgestellt wird hingegen Josef Leopold, der an der revolutionär-putschistischen Strategie festhält.

Wie wird die Demokratie ausgeschaltet?

Am 4. März 1933 nutzt Kanzler Engelbert Dollfuß, ein Agrarfunktionär aus Niederösterreich, eine Geschäftsordnungspanne des Nationalrates und schaltet das Parlament aus.13 Seine niederösterreichischen Parteifreunde tragen diesen Schritt mit. Im Haus von Landeshauptmann Karl Buresch in Groß-Enzersdorf, gleichzeitig Klubobmann der Christlichsozialen Partei, vereinbart die Regierungsspitze am 5. März 1933, „daß nunmehr für einige Zeit autoritär regiert werden müßte, (…)“.14

Die Bundesregierung handelt in der Folge auf der Grundlage einer Notverordnung und setzt klare Schritte in Richtung Diktatur: Vorzensur oppositioneller Zeitungen, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote, Einschränkung des Streikrechts, Auflösung des Republikanischen Schutzbundes, Verbot der KPÖ, dann der NSDAP. Im Herbst eröffnet die Regierung das Anhaltelager Wöllersdorf, in dem bis 1938 Tausende Regimegegner aus ganz Österreich festgehalten werden.15

Im Landtag bleibt das kompromissorientierte Klima zwischen den christlichsozialen Bauernbündlern und den Sozialdemokraten zwar erhalten, dennoch wird am 12. Februar 1934 auch in Niederösterreich gekämpft.16 Obwohl die Parteispitze der niederösterreichischen Sozialdemokratie buchstäblich bis zur letzten Sekunde versucht, Gewalt zu vermeiden, schließen sich Teile der Parteibasis dem Aufstand des illegalen Republikanischen Schutzbundes an. In Mödling und Neunkirchen, im Traisen-, Ybbs- und Gölsental sowie in St. Pölten kommt es zu teils heftigen Kämpfen. Der Aufstand bricht bald zusammen, zurück bleiben in Niederösterreich 15 Tote. Dollfuß demonstriert Härte. Die Sozialdemokratische Partei und alle ihre Vereine werden aufgelöst, sämtliche Mandate der Sozialdemokraten auf Landes- und Gemeindeebene aberkannt. In St. Pölten verurteilt ein Standgericht die Schutzbündler Alois Rauchensteiner und Johann Hoys zum Tod. Die beiden werden am 16. Februar hingerichtet.

Der Lehrer Emmo Langer (1891–1949) tritt 1929 der NSDAP-Hitlerbewegung bei und hilft mit, den Nationalsozialisten in der bürgerlichen Gesellschaft der Stadt Ansehen zu verleihen. Von 1932 bis zum Parteiverbot 1933 vertritt er die NSDAP im NÖ Landtag, beim „Anschluss“ ist er Mitglied der Landesregierung, von Juli 1938 bis April 1945 fungiert er als Bürgermeister von St. Pölten. (Stadtarchiv St. Pölten)

Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in der Uniform der Kaiserjäger bei seiner Rede am Wiener Trabrennplatz im September 1933. In dieser Rede kündigt er den Aufbau eines „christlichen Ständestaates“ an. (Bildarchiv Austria)

Die Gräben in der niederösterreichischen Gesellschaft vertiefen sich. Den Kampf gegen drei in die Illegalität gedrängte politische Gruppierungen (SDAP, KPÖ, NSDAP), die zusammen gut die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren, kann das Regime nicht gewinnen.

Welche Rolle spielt der Antisemitismus?

Merkmale des Antisemitismus

Antisemitismus heißt in der öffentlichen Debatte ganz allgemein Feindschaft gegenüber Juden und Jüdinnen.17 Der Begriff umfasst sämtliche Formen von Hass und Vorurteilen gegen Juden, unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext. In den Geschichtswissenschaften hingegen wird der Begriff von der älteren Judenfeindschaft abgegrenzt. Antisemitismus steht für die moderne Judenfeindlichkeit, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Rassismus verbindet. Dennoch hat dieser moderne Antisemitismus weit in die Vergangenheit zurückreichende Wurzeln. Er knüpft an die jahrhundertealte Judenfeindlichkeit der christlichen Kirchen an, geht aber über diese hinaus. Denn der Antisemitismus argumentiert rassistisch. Jude oder Jüdin zu sein, ist nicht mehr bloß eine Frage der Religion, also von Kultur, sondern eine Angelegenheit von Herkunft und Biologie, also von Natur. Antisemiten schreiben Juden und Jüdinnen pauschal bestimmte körperliche Eigenschaften wie auch spezifische Verhaltens- und Denkweisen zu und behaupten, dass diese „den Juden“ angeboren seien.

Hintergrund des rassistischen Antisemitismus sind neue Probleme in der Mehrheitsgesellschaft. Diese lösen Unsicherheiten und Ängste aus, die von Antisemiten benützt werden, um Juden und Jüdinnen als Schuldige und deren Beseitigung als Lösung der Probleme zu präsentieren. Komplexe Entwicklungen und Sachverhalte werden auf diese Weise vereinfacht und auf eine vermeintliche Ursache zurückgeführt.

Der moderne, rassistische Antisemitismus tritt auch in Niederösterreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt in Erscheinung. Er wendet sich insbesondere gegen die 1867 in den Staatsgrundgesetzen der Habsburgermonarchie erlassene Gleichstellung von Juden mit Nichtjuden und macht „die Juden“ für alle negativen Begleiterscheinungen der Modernisierung verantwortlich. Die Bankiersfamilie Rothschild, die auch in Wien eine Niederlassung betreibt, wird zur bevorzugten Projektionsfläche antisemitischer Mythen. Nach dem Massensterben im Ersten Weltkrieg, das völkische Ideologen als lebensbedrohlichen Aderlass am deutschen „Volkskörper“ deuten, nimmt der Antisemitismus an Schärfe zu.

Der Antisemitismus findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen in fast allen politischen Parteien und in deren Vorfeldorganisationen. Die Ausgrenzung von Juden und Jüdinnen durch einen latenten, in der Gesellschaft und im Alltag gepflegten Antisemitismus wird lange vor dem „Anschluss“ 1938 möglich gemacht.

Der Antisemitismus der Nationalsozialisten kann an eine lange Tradition der christlichen Judenfeindlichkeit anknüpfen. Plakat der Ausstellung „Der ewige Jude“ in der Wiener Nordwestbahnhalle, 1938. (Bildarchiv Austria)

Der Antisemitismus der Deutschvölkischen

Georg Ritter von Schönerer (1842–1921), Gutsherr und Schlossbesitzer in Rosenau, ist einer der wichtigsten Vertreter des rassischen Antisemitismus in Niederösterreich. Seine Popularität im Waldviertel macht diese Region schon früh zu einer Hochburg der Nationalsozialisten. (Stadtarchiv Zwettl)

Träger und Sprachrohr des modernen Antisemitismus ist in Niederösterreich zunächst die so genannte deutschvölkische Bewegung.18 Sie besteht vor allem aus akademischen, deutschnationalen Burschenschaften und Turnvereinen und findet in Georg Ritter von Schönerer einen einflussreichen Agitator. Kennzeichen dieser Bewegung ist ein radikaler, antiklerikaler, antisemitisch-rassistischer, später auch antimarxistischer Deutschnationalismus, der „das Volk“ als Nation nach biologischen Merkmalen zu definieren sucht.

Der 1842 in Wien geborene Schönerer lebt seit 1869 im Schloss Rosenau im Waldviertler Kamptal. Er erwirbt sich dort den Ruf eines leutseligen, freigiebigen Gutsherrn, der Feuerwehren, Volksbüchereien und zahlreiche soziale Projekte unterstützt. Grundpfeiler seiner politischen Agitation ist schon bald der Antisemitismus. Er tritt gegen die Einwanderung russischer Juden auf, die vor Pogromen auf der Flucht sind, und will „die Juden“ in Gettos sperren. Den Antisemitismus feiert er als „die größte nationale Errungenschaft dieses Jahrhunderts“. Nachdrücklich betont er den rassistischen Charakter seiner Judenfeindschaft: „Unser Antisemitismus richtet sich nicht gegen die Religion, sondern gegen die Rasseeigentümlichkeiten der Juden, die sich weder unter dem früheren Drucke, noch unter der jetzigen Freiheit geändert haben (…).“19

Wenn auch Schönerers Anhängerschaft außerhalb des Waldviertels überschaubar bleibt, so hat seine rassistisch-antisemitische Agitation dennoch großen Einfluss auf die deutschnationale Presse und auf das Vereinswesen. Der von ihm geförderte „Bote aus dem Waldviertel“ (1878–1922) bringt in jeder Ausgabe antisemitische Artikel, die der späteren nationalsozialistischen Agitation um nichts nachstehen. Unterstützung findet Schönerer auch in der von seinem glühenden Anhänger Josef Faber seit 1883 in Krems herausgebrachten „Österreichischen Land-Zeitung“. Diese heißt seit 1939 „Donauwacht“. Als offizielles Nachrichtenorgan der NSDAP ist die „Donauwacht“ ein direktes Bindeglied zwischen dem Rassismus Schönerers und der NS-Ideologie.

Der rassistische Antisemitismus durchzieht in unterschiedlicher Ausprägung sämtliche Vereine, die sich zum völkischen Deutschnationalismus bekennen. In den kleinen Provinzstädten Niederösterreichs sind es überwiegend Teile des Mittelstandes, die in diesen Organisationen ihr antisemitisches Gedankengut pflegen. Während die deutschvölkischen Turnvereine mehrheitlich bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts keine Juden aufnehmen, führen die Männergesangsvereine von Amstetten und St. Pölten den „Arierparagraphen“ seit Anfang der 1920er Jahre in ihren Statuten.

Der Antisemitismus der Christlichsozialen

Rassistisch-antisemitische Tendenzen treten seit der Jahrhundertwende auch im entstehenden katholisch-christlichsozialen Lager in Erscheinung. Sie knüpfen an den Antisemitismus des populären christlichsozialen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger an und gewinnen zu Beginn der Ersten Republik an Gewicht. Bereits 1904 veröffentlicht das „Deutsch-christlichsociale Organ zur Vertretung der Interessen des politischen Bezirkes Mödling“ einen Leitartikel, der viel von der späteren nationalsozialistischen Agitation vorwegnimmt: „Die Merkmale der jüdischen Rasse sind doch so offenkundige, dass es wahrlich keines besonderen Scharfblickes bedarf, einen Juden auf seine Rassenabstammung zu erkennen; wer jedoch trotz dieser durch das Auge vermittelten Erkennbarkeit nicht zu dem richtigen Begriff kommt, der möge seiner Nase vertrauen, sie wird ihm den in seiner Nähe befindlichen Juden mit ziemlicher Bestimmtheit verraten und wenn auch dieser Sinn im Stich lassen sollte, der wird aus dem frechen Benehmen der betreffenden Person, das eben so frech ist, dass es ebenfalls ein besonderes Merkmal der jüdischen Rasse bildet, mit unfehlbarer Sicherheit auf die jüdische Abstammung schließen können.“20

Der charismatische Wiener Bürgermeister Karl Lueger (Amtszeit: 1897–1910) entdeckt schon früh die mobilisierende Kraft des Antisemitismus. Er setzt die Judenfeindlickeit gezielt als politisches Mittel ein. Lueger in seinen späten Jahren, ca. 1907. (Niederösterreichische Landesbibliothek)

Insbesondere vor Wahlen verknüpfen die Christlichsozialen Angriffe auf die Sozialdemokratie mit antisemitischen Parolen. So rufen sie 1919 zur Mobilisierung für den „schärfsten Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr“ auf,21 und im „Bauernbündler“, der meistgelesenen Zeitung Niederösterreichs und offizielles Organ des Bauernbundes, wird die Sozialdemokratie als „Judenschutztruppe“ dargestellt: „Unter Patronanz der Sozialdemokraten schreitet die Verjudung auch der öffentlichen Ämter unheimlich vorwärts. Die Führer sind grossteils jüdischer Nation. Die Redakteure sind Juden. Das macht jeden Einsichtsvollen kopfscheu.“22

Sehr deutlich wird die Sündenbockfunktion der Juden in einem Leitartikel des „Bauernbündlers“, der anlässlich des jüdischen Weltkongresses 1925 in Wien erscheint. Alles, was dem konservativ-katholischen Weltbild widerspricht, wird „den Juden“ zugeschrieben, die als Beherrscher der Welt erscheinen: „Juden beherrschen das Kapital, die Börse: Juden sind die Herren der öffentlichen Meinung, weil sie das Zeitungswesen beherrschen.“

Im Bereich der Kultur verbindet der Autor den katholischen Antimodernismus mit Judenfeindlichkeit: „Juden sind die Schundliteraten, die im Theater und ‚Witzblättern‘ unser Jungvolk entnerven; Juden betören durch Einführung der modernen Tänze die Hirne der tanzlustigen Jugend; Juden haben sich der Führung im modernen Sport bemächtigt.“

In der Politik hätten „die Juden sich durch den Sozialismus und Kommunismus den deutschen Arbeiter zum Sklaven gemacht“, und es seien Juden, „die unsere Religion in den Kot zerren!“ Der „schwer in jüdischen Ketten“ liegenden Bevölkerung wird abschließend geraten: „Ihr Christen aller Stände! Zerreißt die Ketten des weltbeherrschenden Judentums! Schließt ihr Arier alle, ob Arbeiter oder Bauer, ob Beamter oder Handelsmann, schließt die Reihen zum rücksichtslosen, tatkräftigen Kampf gegen die jüdischen Blutsauger! Seid Brüder, werdet Kampfgenossen!“23

Der Antisemitismus der Sozialdemokraten

Obwohl vom politischen Gegner als „Judenschutztruppe“ bezeichnet und obwohl prominente Persönlichkeiten dieser Partei der jüdischen Religion angehören, ist auch die Sozialdemokratie nicht ganz frei von Judenfeindlichkeit. Insbesondere in ihrer Propaganda gegen „Kapitalisten“ und Großgrundbesitzer aktivieren sozialdemokratische Zeitungen antijüdische Vorurteile. So ist immer wieder von „jüdischen Bankmagnaten und jüdischen Industrieherren“ die Rede, und auch die klassenbewusste Unterscheidung in jüdische Kapitalisten, die „fetten Profit“ machten, und jüdische Bankangestellte, die „abgebaut“ würden, also in „gute arme“ und „böse reiche“ Juden, leistet antijüdischen Einstellungen Vorschub.24

Antisemitische Karikatur in einer sozialdemokratischen Wochenzeitung des Weinviertels, 1919. (Volksbote. Sozialdemokratisches Wochenblatt für das Viertel unter dem Manhartsberg, 29.11.1919)

Darüber hinaus hat der sozialdemokratische Antisemitismus vereinzelt auch eine rassistische Ausprägung. So finden sich bisweilen in sozialdemokratischen Zeitungen Karikaturen von „Großkapitalisten“ oder „Ausbeutern“, die antisemitische Stereotypen, wie etwa eine bestimmte Form der Nase, aufweisen.

Antisemitismus im Alltag

Die Auswahl an Zitaten aus der Parteipresse zeigt, dass Antisemitismus in Niederösterreich zum Alltag gehört.25 Für seine Ausbreitung waren in den 1920er Jahren weniger die zahlenmäßig unbedeutenden, zerstrittenen Nationalsozialisten von Belang als vielmehr die Vereine und Zeitungen der Großdeutschen, Christlichsozialen und teils auch der Sozialdemokraten.

Vor Weihnachten 1933 werden in Tulln an die 200 solcher Zettel gestreut. Die Behörden vermuten dahinter Nationalsozialisten oder Geschäftskonkurrenten jüdischer Kaufleute. (Niederösterreichisches Landesarchiv)

Im dörflichen und kleinstädtischen Alltag vor 1938 laufen Einschluss und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung nicht selten parallel. So erledigt die Hausfrau einer deutschvölkisch eingestellten Familie ihre Einkäufe beim jüdischen Kaufmann, der christlichsoziale Altbauer lädt seinen jüdischen Nachbarn zur Feier seiner Goldenen Hochzeit, der spätere NSDAP-Kreisleiter beliefert den jüdischen Händler regelmäßig mit Eiern.

Trotzdem sind Juden und Jüdinnen im gesellschaftlichen Leben der Dörfer und Städte niederschwelligen, für die Betroffenen jedoch schmerzhaften Diskriminierungen ausgesetzt. Etwa wenn die Frau eines jüdischen Kaufmannes im deutschnational dominierten Scheibbs auf einem Maskenball nach der Demaskierung gemieden wird, obwohl sie als Maskierte oft zum Tanz aufgefordert wurde. In der Schule spielt die Haltung der Lehrer eine wichtige Rolle. In Scheibbs bekommen jüdische Kinder kein Nikolo-Geschenk und beim Karfreitagsgebet müssen sie den Raum verlassen. In der deutschvölkischen Hochburg Krems werfen ihnen Schulkameraden an den Kopf: „Mit Judenkindern spiel ich nicht!“ oder „Sag einmal, du bist doch auch ein Jude, was hast du für ein Merkmal, ein Horn?“ Ältere Schüler äußern sich mitunter noch deutlicher. So empfangen sie in der Realschule Krems einen jüdischen Mitschüler mit dem Lied: „Er kommt daher auf platte Füß’, die Nase krumm, die Haare kraus, das ist der Jude aus Galizien, haut’s ihn raus, haut’s ihn raus“.

Menschengeschichten

Josef Leopold: Erster von Hitler ernannter Gauleiter Niederösterreichs

Anlässlich seines 50. Geburtstages wird Josef Leopold als „Vorkämpfer des Nationalsozialismus in der Ostmark“ gefeiert. 1927 ernennt ihn Adolf Hitler persönlich zum Gauleiter der NSDAP in Niederösterreich. Und in den 1930er Jahren steigt er zum Landesleiter der Nationalsozialisten in Österreich auf. Warum also wird Leopold bei der Postenvergabe nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Niederösterreich bewusst übergangen?

Der Langenloiser Josef Leopold (1889–1941) zählt schon früh zu den wichtigsten Nationalsozialisten in Niederösterreich. Hitler macht den Berufssoldaten bereits 1927 zum Gauleiter des Landes, zwischen 1935 und 1938 steht Leopold sogar an der Spitze der illegalen österreichischen NSDAP. (Niedersterreichische Landesbibliothek)

Berufssoldat und Nationalsozialist

Josef Leopold kommt am 18. Februar 1889 in Langenlois als ältestes von acht Kindern einer Winzerfamilie zur Welt. Er besucht die fünfklassige Volksschule, 1904/1905 die Obst- und Weinbauschule. 1910 rückt er zum dreijährigen Militärdienst in ein k. u. k. Infanterieregiment ein, erwirbt den Rang eines Feldwebels und verpflichtet sich, weiter zu dienen. 1915 gerät Leopold in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im Februar 1918 in die Heimat zurückkehrt. Seine militärischen Dienstbeschreibungen sind ausgezeichnet. Im November 1918 lässt er sich für die Volkswehr anwerben, dem neuen Heer der Republik. Er schlägt die Offizierslaufbahn ein und wird sozialdemokratischer Soldatenrat. Doch bald wechselt er zu den Nationalsozialisten, weil ihm die Sozialdemokratie, so behauptet er später, zu „verjudet“ gewesen wäre. Zielstrebig übernimmt Leutnant Josef Leopold die Ortsgruppe Krems der NSDAP, 1925 die Kreisleitung des Waldviertels. Unter den österreichischen Nationalsozialisten tobt ein heftiger Machtkampf um die Führung. Leopold schlägt sich auf die Seite Hitlers und unterstellt die Waldviertler NSDAP der „Hitlerbewegung“. Zum Dank bestellt Hitler ihn am 29. August 1927 zum Gauleiter von Niederösterreich. Darauf ist Leopold sein Leben lang sehr stolz. Und dies verschafft ihm auch Respekt und Einfluss unter den österreichischen Nationalsozialisten.

Parteiaufbau und Gefängnishaft

Josef Leopold scheut im Kampf um den politischen Aufstieg der NSDAP in Niederösterreich vor keinem Mittel zurück: Politische Gegner, ob sozialdemokratisch oder christlichsozial, beschimpft er auf das Ärgste, wiederholt sprengt er ihre Versammlungen mit Unterstützung der Schlägertruppe der SA. Sein radikaler Populismus findet in der Weltwirtschaftskrise bei hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Not vielerorts Zuspruch. Zwischen 1929 und 1932 entstehen in vielen Gemeinden Ortsgruppen der Partei, und auch lokale Turnvereine unterstellen sich der NSDAP. Bei den Landtagswahlen im April 1932 gewinnt die NSDAP in Niederösterreich acht Mandate und stellt einen Landesrat: Josef Leopold. Doch bereits ein Jahr später muss er zurücktreten. Im Landtag fallen Leopold und seine Gesinnungsgenossen durch ihr wüstes Verhalten auf, sie schreien, pöbeln und sind an keiner Zusammenarbeit interessiert. Auf den Straßen im Land organisieren sie gewalttätige Zusammenstöße und im Juni 1933 einen Terroranschlag in Krems mit einem Toten und sechzehn Verletzten. Daraufhin verbietet die Bundesregierung die NSDAP, im niederösterreichischen Landtag stimmen Christlichsoziale und Sozialdemokraten dafür, den nationalsozialistischen Abgeordneten die Mandate zu entziehen. Leopold muss seine Funktion als Landesrat aufgeben, betätigt sich weiter illegal für die NSDAP und wandert dafür mehrmals ins Gefängnis. Er verliert daher auch seine berufliche Stellung. Eine Disziplinarkommission entlässt Hauptmann Josef Leopold aus dem Bundesheer.

Hermann Stingl, der provisorische Bürgermeister von Krems, begrüßt den bekanntesten Nationalsozialisten der Stadt, Josef Leopold, kurz nach dem „Anschluss“. Doch Leopolds Stern war bereits im Sinken. (Robert Streibel, Krems 1938–1945. Eine Geschichte von Anpassung, Verrat und Widerstand [Weitra o. J.])

Aufstieg und Fall

Drei Jahre nach ihrem Verbot ist die NSDAP, obwohl immer noch im Untergrund, wieder eine ernst zu nehmende politische Kraft. Seit 1935 hat Josef Leopold die gesamtösterreichische Landesleitung der NSDAP inne, im Jahr darauf verhandelt er mit Bundeskanzler Kurt Schuschnigg über eine legale Betätigung der Nationalsozialisten. Protzig stellt er ein imposantes Auto der Oberklasse, Marke „Horch“, zur Schau, das ihm ein Parteifreund zur Verfügung stellt. Regelmäßig fährt er von Krems in die Wiener Teinfaltstraße, wo die Landesleitung der NSDAP offiziell ein Büro eröffnet. Bei vielen Parteifreunden kommt das schlecht an. Ebenso, dass Leopold seinen Traum von einem nationalsozialistischen Österreich mit radikalen Mitteln erreichen will, gegen den Willen Hitlers und der Führungsriege der Kärntner NSDAP, die den Staat mit Parteigängern unterwandern wollen. Josef Leopold arbeitet einen Plan aus, um die österreichische Regierung mit Hilfe der SA zu stürzen. Seine innerparteilichen Rivalen setzt er ab: den Kärntner Gauleiter Hubert Klausner und dessen mächtige Unterstützer Friedrich Rainer und Odilo Globocnik. Doch dieses Mal verliert Leopold den Machtkampf. Sein Putsch-Plan scheitert kläglich, im Jänner 1938 entdeckt ihn die Polizei bei einer Razzia im Büro der NSDAP in der Teinfaltstraße. Hitler hält das Vorgehen von Josef Leopold für parteischädigend, ja geradezu für verrückt, und enthebt ihn am 21. Februar 1938 seiner Funktion als österreichischen Landesleiter der NSDAP. Damit ist die Parteikarriere Leopolds zu Ende.

Tod an der Front

Nach dem „Anschluss“ schöpft Leopold nochmals Hoffnung, wieder als Gauleiter Niederösterreichs eingesetzt zu werden. Angesichts seiner Verdienste gewährt Hitler ihm ein politisch bedeutungsloses Mandat im Reichsrat in Berlin und den Titel eines „Reichsinspektors im Stab des Stellvertreters des Führers“. Eine Position mit Macht bekommt er nicht mehr. Leopold bettelt die Reichsleitung der NSDAP an, wenigstens einen Parteiposten in der „Ostmark“ zu erhalten. Doch er ist längst in Ungnade gefallen, wie seine Frau bitter anmerkt. Einige Zeit später versucht es Leopold nochmals. Er intrigiert gegen Gauleiter Jury, nimmt gegen dessen Pläne der Angliederung Mährens an Niederdonau vehement Stellung, beklagt das Unrecht, das ihm widerfahren wäre, und dient sich als Gauleiter für „seinen Gau Niederdonau“ an. Alles vergebens, kaum jemand nimmt ihn noch ernst. So bleibt ihm nur mehr sein früherer Beruf als Soldat. Am 1. April 1940 rückt Josef Leopold als Oberstleutnant und Bataillonskommandant in die Wehrmacht ein, am 24. Juli 1941 fällt Josef Leopold an der Ostfront durch einen Artillerietreffer.26

Julius Kampitsch: Ein Maulwurf in der niederösterreichischen Landesregierung

Julius Kampitsch, geboren am 19. September 1900, stammt aus einer angesehenen Hoteliersfamilie aus Payerbach. Er ist 12 Jahre alt, als sein Vater stirbt, in der Folge führt seine Mutter das Hotel alleine. Im Ersten Weltkrieg muss er nicht einrücken, er kann kaum seinen rechten Arm bewegen und ist daher für den Militärdienst untauglich. Kampitsch absolviert das Gymnasium mit Matura in Seitenstetten, anschließend eine gastwirtschaftliche Praxis im Dominikanerkeller in Wien. 1925 übernimmt der nun 25-Jährige die Leitung des familieneigenen Hotels in Payerbach an der Rax. Der politisch interessierte junge Mann schließt sich den „Großdeutschen“ an, mit denen viele Hoteliers und Gastwirte sympathisieren. Die Großdeutsche Volkspartei, gegründet im August 1920, ein Zusammenschluss verschiedener deutschnationaler Gruppen, besteht überwiegend aus Akademikern, Beamten und Gewerbetreibenden. Sie tritt entschieden für einen Anschluss Österreichs an Deutschland ein. Die Partei ist antisemitisch, antiklerikal und antimarxistisch eingestellt. Mit dem Landbund, dessen Anhängerschaft überwiegend auf die bäuerliche Bevölkerung beschränkt ist, bildet die Großdeutsche Volkspartei in Österreich das sogenannte „deutschnationale Lager“. Über viele Jahre stellt es mit der Christlichsozialen Partei die Bundesregierung.

Der Hotelier aus Payerbach, Julius Kampitsch, kommt 1934 als Vertreter der Heimwehr in die NÖ Landesregierung. Er wendet sich den Nationalsozialisten zu und gilt als Informant des NS-Führers Josef Leopold. Porträtaufnahme. (Stadtarchiv St. Pölten)

Stütze der Austrofaschisten, Spitzel der Nationalsozialisten

Nach dem Brand des Justizpalastes in Wien gründen die seit dem Ende der Monarchie bestehenden bürgerlichen Selbstschutzverbände zahlreiche neue Ortsgruppen. So auch in Payerbach. Einer dieser Verbände ist die Heimwehr, gegründet vom militanten, völkisch-deutschnationalen steirischen Heimatschutz. Ihr tritt Kampitsch 1927 bei. Bald avanciert er zum „Gauleiter“ für das Semmering-Rax-Gebiet. Später unterstellt sich seine Truppe der niederösterreichischen Heimwehr, bleibt jedoch dem „Steirischen Heimatschutz“ und der völkisch-nationalen Gesinnung verbunden. Als der Heimatschutz 1931 nach der Macht im Staate greift, will Kampitsch mit dem gewaltsamen Umsturzversuch nichts zu tun gehabt haben. Er redet sich damit aus, nur politischer, nicht aber militärischer Leiter im Viertel unter dem Wienerwald gewesen zu sein. Als der Heimatschutz bei den Nationalratswahlen unter der Führung von Ernst Rüdiger Starhemberg als eigene wahlwerbende Gruppe antritt, wird Julius Kampitsch zwar nur an die 17. Mandatsstelle gereiht. Doch im Juli 1932 zieht er in den Nationalrat als Ersatz für Johann Auinger ein, der sich aus dem Parlament verabschiedet. In einer Debatte über die Feiertagsruhe stellt sich Kampitsch als gläubiger Katholik dar, in der Budgetdebatte als vehementer Förderer des Fremdenverkehrs.

Nach der Ausschaltung des Parlaments verhilft ihm seine enge Freundschaft mit dem Heimwehrführer Eduard Baar-Baarenfels 1934 zu einem Sitz in der austrofaschistischen Landesregierung Niederösterreichs. Er wird Landesrat, steigt im November 1935 als Landesstatthalter zum Stellvertreter des Landeshauptmannes auf, schließlich auch zum Vizepräsidenten des Gewerbebundes. Kampitsch gehört nach wie vor dem völkisch-deutschnationalen Flügel des Heimatschutzes an, pflegt aber gleichzeitig Verbindungen zu den illegalen Nationalsozialisten. Spätestens seit 1935/1936 ist er für sie als „Maulwurf in der Landesregierung“ aktiv und informiert sie über jede politisch bedeutsame Entscheidung. Mit anderen illegalen Nationalsozialisten gehört Julius Kampitsch einem „Viererausschuss“ für Niederösterreich an. Er soll eine Aussöhnung der Regierung mit den illegalen Nationalsozialisten herbeiführen und sie in die austrofaschistische Einheitspartei „Vaterländische Front“ (VF) eingliedern. In seinem Dienstzimmer in der Landesregierung empfängt Kampitsch den illegalen Gauleiter der NSDAP Josef Leopold und bespricht mit ihm, wie man verhaftete Nationalsozialisten freibekommen könnte.

Kurzzeit-Landeshauptmann und Ariseur jüdischen Vermögens

Im März 1938 schlägt die große Stunde von Julius Kampitsch: In der Nacht vom 11. zum 12. März 1938 übernimmt er überfallsartig den Posten des Landeshauptmannes, lässt am Landhaus in der Herrengasse die Hakenkreuzfahne aufziehen und gibt den Bezirkshauptmannschaften fernmündlich den Befehl, nichts gegen die nationalsozialistische Machtübernahme in den Bezirken zu unternehmen. Am 12. März begrüßt Kampitsch die Beamtenschaft im Landhaus in seiner Eigenschaft als geschäftsführender Landeshauptmann. Doch schon am Nachmittag muss er sein Amt aufgeben und dem niederösterreichischen Gauleiter der NSDAP Roman Jäger den Sessel des Landeshauptmannes überlassen. Im Mai 1938 scheidet Julius Kampitsch auch aus der Landesregierung. Sein Verhältnis zur neuen Machtelite der Partei ist zerrüttet, aus Payerbach kommen Anfeindungen, seine frühe Parteimitgliedschaft wird angezweifelt. Kampitsch zieht daraufhin nach Wien. Er versteht es, dennoch Nutzen aus seinem nationalsozialistischen Engagement zu ziehen und erwirbt aus jüdischem Besitz kostengünstig die Pension Elite.

Vor dem Volksgericht

Nach dem Krieg kommt Julius Kampitsch vor Gericht. Zeugen charakterisieren ihn als Opportunisten ohne tiefergehende politische Überzeugung, stets bedacht auf den eigenen Vorteil. Eine Person verwendet sich für ihn: Die Schwester der Besitzerin der von Kampitsch arisierten Pension. Sie durfte mit dessen Erlaubnis bis zu ihrer behördlichen Zwangsaussiedlung 1940 weiterhin im Haus wohnen. Im November 1946 befindet das Volksgericht Julius Kampitsch nach dem Verbots- und Kriegsverbrechergesetz für schuldig, den Nationalsozialisten in der Illegalität geholfen und 1938 zu ihrer Machtübernahme entscheidend beigetragen zu haben. Es verurteilt ihn zu 20 Jahren Kerker mit Vermögensverfall, begnadigt ihn jedoch schon nach drei Jahren Haft.

Nach seiner Entlassung arbeitet Julius Kampitsch ab 1951 in der Handelskammer. Er stirbt am 14. Mai 1974 in Wien.27

„Machtergreifung“: Jubel und Angst

Wie kommen die Nationalsozialisten an die Macht?

Kräftemessen in der österreichischen NSDAP

Auch in Niederösterreich erfolgt die NS-Machtübernahme „von oben“ und „von unten“: zum einen am Sitz der Landesregierung und -verwaltung in Wien, zum anderen auf regionaler und lokaler Ebene in den Bezirken und Gemeinden. Doch in der illegalen NSDAP ist man uneins darüber, auf welchem Weg die Machtergreifung erfolgen und wer dann das Sagen haben soll.

Zwei Gruppen stehen einander gegenüber: zum einen der elitäre Kreis um Kärntner SS-Führer und den katholisch-deutschnationalen Wiener Rechtsanwalt Arthur Seyß-Inquart, die in enger Verbindung mit Hitler und dessen Verbindungsleuten in Österreich stehen. Seit 1937 ist dieser Gruppe auch der St. Pöltner Arzt Hugo Jury zuzurechnen. Durch Forderungen an Bundeskanzler Schuschnigg versucht sie immer mehr Bewegungsfreiheit für die Nationalsozialisten in Österreich zu erreichen. Ihre Strategie ist, den Staat und die Monopolpartei des Staates, die VF, zu unterwandern und so die Macht zu übernehmen.

Im Machtkampf der österreichischen Nationalsozialisten setzt sich der katholisch-deutschnationale Wiener Rechtsanwalt Arthur Seyß-Inquart mit seinen Verbündeten aus der SS gegen den Niederösterreicher Josef Leopold durch. Seyß-Inquart im ehemaligen Bundeskanzleramt am Ballhausplatz in seinem Büro, 1938. (Bildarchiv Austria)

Zum anderen formiert sich die Gruppe um den Kremser Josef Leopold, dem Landesleiter der österreichischen NSDAP. Der grobschlächtige Leopold stützt sich auf die SA. Er hat die Masse der illegalen Parteiangehörigen hinter sich, strebt einen kollektiven Eintritt der NSDAP in die VF an und zeigt sich einer putschistischen Strategie der Machtergreifung nicht abgeneigt. Leopold will Bundeskanzler eines nationalsozialistischen Österreich werden. An seiner Seite stehen auch der Wiener Gauleiter Leopold Tavs und der junge niederösterreichische Gauleiter Roman Jäger.

Als Leopold merkt, dass er bei Hitler allmählich an Ansehen verliert, schließt er die Kärntner Gruppe und seinen ehemaligen Vertrauten Hugo Jury aus der Partei aus. Im Jänner 1938 erarbeitet er mit seinen Anhängern das Konzept eines Putsches mit der Ausrufung einer nationalsozialistischen Gegenregierung in Linz.28 Doch der Plan des niederösterreichischen NSDAP-Führers fliegt auf. Die Polizei findet am 25. Jänner 1938 in einem Wiener Büro im Rahmen einer Hausdurchsuchung „ein Aktionsprogramm für das Jahr 1938“.29 Damit ist Leopold politisch am Ende. Er wird nach Berlin beordert und verliert im Februar seinen Posten als Landesleiter.

Auf die nationalsozialistische Agitation in den Bezirksstädten und Gemeinden hat das kaum Auswirkungen, denn die NSDAP in Niederösterreich ist bereits gut organisiert: Es gibt eine Führung (Gauleitung) unter dem Weißenkirchner Absolventen der Rechtswissenschaften Roman Jäger. Jeder politische Bezirk (Kreis der NSDAP) hat einen Kreisleiter. Diesem unterstehen Ortsgruppenleiter, welche die in vielen Gemeinden bestehenden Ortsgruppen führen. Nahezu alle aktiv tätigen Nationalsozialisten gehören der SA (Sturmabteilung) an, dem Wehrverband der NSDAP.

Berchtesgaden: Hitler demütigt Schuschnigg

Am 12. Februar zitiert Hitler Kanzler Schuschnigg auf seinen Sommersitz auf dem Obersalzberg nach Bayern. Das Treffen wird für Schuschnigg eine Demütigung. Von Hitler massiv unter Druck gesetzt, gibt er dessen Forderungen nach: Nationalsozialisten sind zu enthaften, Arthur Seyß-Inquart muss Innen- und Sicherheitsminister werden, Einzelbeitritte von Nationalsozialisten in die VF müssen ermöglicht werden und anderes mehr.

Nun vergrößert sich der Handlungsspielraum der NSDAP auch in Niederösterreich. Das gemeinsame Anhören von Rundfunkübertragungen, der sogenannte „Gemeinschaftsempfang“, wird erlaubt. Bereits am 5. März findet in Klosterneuburg so ein „Gemeinschaftsempfang“ der Nationalsozialisten statt, um der Ansprache des Innenministers Arthur Seyß-Inquart zu lauschen. Rund 5.000 Personen kommen. Die TeilnehmerInnen nehmen eine „Entschließung“ an, in der die Nationalsozialisten ihre „Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen anständigen Volksgenossen“ bekunden. Gleichzeitig wird „die Notwendigkeit der Entfernung von Störern des deutschen Friedens betont und ruhig, aber bestimmt die sofortige Enthebung der ärgsten Hetzer von allen Ämtern gefordert“. Der Beschluss wird „an die entsprechenden Stellen weitergeleitet, um überall unseren unbeugsamen Willen zur Beseitigung von Schädlingen zu bekunden“.30 Innenminister Arthur Seyß-Inquart verfügt, dass fortan das Tragen des Hakenkreuzabzeichens und der sogenannte „Deutsche Gruß“ erlaubt sind, das Deutschlandlied bei feierlichen Veranstaltungen nach der ersten Strophe der österreichischen Bundeshymne gesungen werden darf und das Hissen der Hakenkreuzfahne unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist.31 Wenig später sind viele Ortsgruppen des Deutschen Turnerbundes und andere bislang verbotene deutschvölkische Vereine behördlich wieder zugelassen. In den Bezirkshauptmannschaften werden die regionalen Führer der NSDAP über Ge- und Verbote instruiert. Dies kommt einer offiziellen Anerkennung der Kreisleitungen der NSDAP gleich. Gauleiter Jäger befiehlt für jeden Ort „volkspolitische Referenten“ zu bestimmen, die den Kontakt zwischen NS-Partei, Behörden und VF sicherstellen sollen. Während Jäger erst für den Herbst mit einer Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich rechnet, sehen andere die politische Situation realistischer. Der Bezirkshauptmann von Amstetten berichtet schon Ende Februar, als Nationalsozialisten ganz offen Weisungen und Aufforderungen plakatieren, dass es „die Auffassung aller Bewohner des Bezirkes, gleichgültig welcher Schattierung sie angehören, also Vaterländer und Illegale aller Richtungen, sei, dass es sich um die erste Etappe der Machtergreifung handelt“.32

Mit solchen Plakaten versucht Landeshauptmann Josef Reither die niederösterreichische Bevölkerung für Schuschniggs Volksbefragung zu mobilisieren. (Niederösterreichisches Landesarchiv)

Volksbefragung: Schuschnigg versucht den Befreiungsschlag

In dieser Situation, am 9. März, kündigt Kanzler Schuschnigg völlig überraschend für den 13. März eine Volksbefragung „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ an. Es ist ein letzter, verzweifelter Versuch, die bereits laufende Machtübernahme durch die Nationalsozialisten aufzuhalten.

Bereits am Tag danach, am 10. März, versammelt Landeshauptmann Josef Reither die Bezirkshauptleute des Landes und gibt ihnen Weisungen für die Durchführung der geplanten Volksbefragung.33 Die Abstimmungsmodalitäten sind undemokratisch. Das Wahlmindestalter wird auf 24 Jahre hinaufgesetzt, um die zahlreichen jugendlichen Nationalsozialisten fernzuhalten. Es gibt vorerst nur einen offiziellen Abstimmungszettel. Dieser ist auf einer Seite mit „Ja“ bedruckt. Wer mit „Nein“ stimmen möchte, muss einen Zettel in der gleichen Größe mit dem Wort „Nein“ handschriftlich beschreiben. Später wird verlautbart, dass selbstverständlich auch Nein-Zettel aufliegen würden. Den Abstimmungszettel kann man offen, gefaltet oder in einem Kuvert abgeben, das aber nicht beigestellt wird.34 Schuschnigg rechnet mit einer deutlichen Mehrheit.

Plötzlich kommt Leben in viele Teile der Bevölkerung. Alle ständestaatlichen Organisationen und Vereine rufen dazu auf, mit „Ja“ zu stimmen. Die VF mobilisiert ihre lokalen Organisationen. VF-Funktionäre touren mit Lastautos durch die Gemeinden und werben für die Volksbefragung. Rathäuser und Gemeindeämter sind mit Kruckenkreuzfahnen beflaggt.

Die Nationalsozialisten sind beunruhigt. In den „Wiener Neuesten Nachrichten“ gibt Hugo Jury am 11. März bekannt, dass es die Nationalsozialisten ablehnen, „an einer gesetzlich nicht fundierten und einen verfassungswidrigen Zustand heraufbeschwörenden Aktion teilzunehmen“.35 Hitler ist alarmiert und beauftragt den Chef des Generalstabes, den Einmarsch in Österreich vorzubereiten. Über seine Handlanger in Österreich fordert er die Absage der Volksbefragung. Als sich Schuschnigg weigert, droht Hermann Göring ultimativ mit dem Einmarsch und verlangt neben der Absetzung der Befragung den Rücktritt Schuschniggs und die Ernennung Seyß-Inquarts zum Kanzler. Schuschnigg lenkt ein und informiert um 14:30 Uhr Bundespräsident Wilhelm Miklas von der Absage der Volksbefragung.36 Um 18:14 Uhr geht diese Entscheidung über das Radio an die Öffentlichkeit.

Das niederösterreichische Landhaus in der Wiener Herrengasse 13 wird der Sitz der Gauselbstverwaltung von Niederösterreich. Das Gebäude, beflaggt mit Hakenkreuzen, 1939. (Niederösterreichische Landessammlungen)

Gauleiter Roman Jäger hat seine Kreisleiter schon am Vormittag nach Wien zu einer Besprechung bestellt. Der Korneuburger Kreisleiter Hammetter berichtet darüber: Jäger „(…) gab einen Kurzbericht und forderte uns auf, in die Kreisstädte zu marschieren, auch dann, wenn geschossen würde, um die Regierung Schuschnigg in die Knie zu zwingen. Wir Kreisleiter fuhren sofort in unsere Kreisstädte und um 7 Uhr abends marschierten in meiner Kreisstadt 10.000 Menschen um gegen die Regierung Schuschnigg zu demonstrieren.“37 Erst auf Grund dieser Weisung beginnen in den größeren Städten Niederösterreichs erste Demonstrationen der Nationalsozialisten. Um 19:47 Uhr gibt der Bundeskanzler in einer berühmt gewordenen Radiorede seinen Rücktritt bekannt. Er teilt mit, dass er der Gewalt weiche und verabschiedet sich mit den Worten „Gott schütze Österreich“. Nach der Rede Schuschniggs kommt es zu immer größeren Kundgebungen, die sich im Laufe der Nacht zum Samstag und in den nächsten Tagen zu spontanen und brutalen Übergriffen auf Verwaltungsorgane, politische GegnerInnen und Juden steigern.

Die NS-Machtübernahme im Niederösterreichischen Landhaus

Landeshauptmann Josef Reither sowie weitere niederösterreichische Landesräte befinden sich am 11. März in einer Tagung des land- und forstwirtschaftlichen Genossenschaftswesens anlässlich des 50. Todestages von Friedrich Wilhelm Heinrich Raiffeisen. Während der Veranstaltung wird er zum Bundeskanzler gerufen und nimmt an den Besprechungen, die letztlich zur Absage der Volksbefragung führen, teil. Gegen 19:30 Uhr betritt der Landeshauptmann noch einmal das Landhaus, um persönliche Unterlagen abzuholen.38