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Seitenzahl: 257
Phot. A. Bischoff, Jena.
Sechs Abschnitte aus WerkenvonErnst Haeckel.
Herausgegeben und mit einer Einleitung versehenvonCarl W. Neumann.
Mit dem Bildnis Ernst Haeckels und zahlreichen Abbildungen im Text.
LeipzigDruck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Hunderttausende führen den Namen Haeckels im Munde, urteilen über ihn und sein Lebenswerk und kennen doch nichts von ihm als sein vielbefehdetes Buch von den „Welträtseln“; vielleicht auch noch außerdem ein paar kleinere Schriften. Was er vor diesen in vierzigjähriger rastloser Forscherarbeit geschaffen hat, blieb für die meisten Geheimnis. Sie wissen, daß Haeckels Name aufs engste verknüpft ist mit jener großen Bewegung, die Darwin durch sein epochemachendes Werk „Die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreiche“ (1859) ins Leben rief, aber sie haben nur unklare Vorstellungen von der besonderen Art der Verdienste Ernst Haeckels. Ganz zu geschweigen von dem, was er unabhängig von Darwin in seinen voluminösen Monographien der Radiolarien, Kalkschwämme, Medusen usw. der Wissenschaft Großes geschenkt hat. Es ist daher angezeigt, der kleinen Auswahl von Abschnitten aus den bedeutendsten populären Werken des Jenaer Naturforschers, die dieses Bändchen vereinigt, wenigstens im Umriß ein Bild seines Lebens und Schaffens voranzustellen.
Ernst Haeckel wurde am 16. Februar 1834 als Sohn des Regierungsrats Karl Haeckel in Potsdam geboren, wuchs aber in Merseburg auf, wohin noch im ersten Lebensjahre des Knaben der Vater versetzt worden war. Wer Fäden sucht, die bereits aus den Tagen der Jugend ins spätere Leben und Wirken des reifen Mannes hinüberwehen, kommt nicht in Verlegenheit. Kraftstrotzender Übermut auf der einen Seite, auf der anderen die Neigung, in einsamen Wanderstunden geheime Zwiesprache zu halten mit allem, was kreucht und fleucht, grünt und blüht, sind von früh an hervorstechende Züge im Wesen des Knaben. Der Elfjährige durchstreift schon die Kreuz und die Quer das Siebengebirge, um die vermeintlich nur dort wachsende graue Erika ausfindig zu machen. Der Merseburger Gymnasiast liefert Beiträge zu Garckes „Flora Hallensis“ und legt sich in seinen Mußestunden ein Doppelherbarium an, eins für die „guten Arten“, die sich hübsch fügsam in Linnés System bequemen, und ein zweites für die „verdächtigen“ Genera, die dann, in langer Reihe geordnet, den ununterbrochenen Übergang von einer guten Art zur anderen demonstrieren. „Es waren die von der Schule verbotenen Früchte der Erkenntnis, an denen ich in stillen Mußestunden mein geheimes, kindisches Vergnügen hatte.“ In Wirklichkeit rührte der Gymnasiast da schon leise an jenes große Problem von der Dauer und Wandelbarkeit der Arten, das freilich vorerst nur in der Luft lag, aber ihn später so mächtig erfassen sollte.
Als dieses „Später“ im Jahre 1859 in greifbare Nähe zu rücken begann, fischte der fünfundzwanzigjährige Haeckel im Hafen von Messina nach allerlei Seetieren, vor allem nach Radiolarien, jenen trotz ihrer mikroskopischen Kleinheit so überaus reizvollen Strahltierchen mit dem vielgestaltigen, rhythmisch gewachsenen Kieselskelett, die wenige Jahre zuvor erst sein großer Lehrer Johannes Müller entdeckt hatte. Haeckel war Arzt seines Zeichens. Gehorchend dem Wunsche des Vaters — nicht seinem eigenen Triebe, der ihn vielmehr mit Macht zur Botanik drängte — hatte er in Berlin, Würzburg und Wien das medizinische Brotstudium absolviert und sich nach bestandenem Staatsexamen als praktischer Arzt in Berlin niedergelassen. Als Mann der Theorie aber fehlte ihm für die Praxis der rechte Sinn, wie er später oft scherzte, so daß ihm der Vater zur endgültigen Klärung der Berufsfrage noch ein weiteres Studienjahr in Italien, dem Land seiner Sehnsucht, bewilligte. Und dieses Jahr ward entscheidend. Das fesselnde Studium des Planktons, dem er schon früher (1854) als junger Student unter Führung Johannes Müllers auf Helgoland eine Zeitlang obgelegen hatte, schob die Botanik und Medizin nunmehr definitiv in den Hintergrund. Zoologie hieß die Losung, und schneller, als er’s sich träumen mochte, sollte er Fuß in ihr fassen. Im Mai 1860 kam er zurück nach Berlin, um seine sizilianischen Planktonschätze, Zeichnungen und Präparate, im großen Stil zu bearbeiten, und ehe das Werk noch vollendet war, saß er mit Hilfe seines einstigen Würzburger Studienfreundes Karl Gegenbaur als außerordentlicher Professor in Jena. Im gleichen Jahre (1862) erschien als ein riesiger Folioband mit 35 farbigen Kupfertafeln die „Monographie der Radiolarien“, die seinen Ruf als zoologischen Facharbeiter mit einem Schlage begründete, und daß auch das Tipfelchen auf dem i des Triumphes nicht fehle, verband er sich im August 1862 mit seiner „hochbegabten, feinsinnigen“ Cousine Anna Sethe zu glücklichster, aber leider nur kurzer Ehe. Schon anderthalb Jahre später, gerade an seinem dreißigsten Geburtstag, entriß ihm ein jäher Tod die geliebte Frau. Dem höchsten Glück folgte fast auf dem Fuße der schwerste Schicksalsschlag, der ihn treffen konnte. In dieser trübsten Zeit aber schrieb er — höchst seltsam zu sagen — in einem Zuge das tiefste, bedeutendste Werk seines Lebens, die „Generelle Morphologie der Organismen.“ Zwei starke Bände mit über 1200 Seiten Text.
Noch während er an der italienischen Küste in Plankton schwelgte, erfuhr er, es sei da von England ein „ganz verrücktes“ Buch nach Deutschland herübergekommen, dessen Verfasser nicht bloß das Linnésche Dogma von der Unveränderlichkeit der Arten bestreite, sondern auch an Stelle des einmaligen planvollen Schöpfungsaktes ein großes Gesetz kontinuierlicher Entwicklung des Lebens zu künden die Dreistigkeit habe: Darwins „Entstehung der Arten“. Dieses ketzerische Buch, das die Fachzoologen von damals entweder ganz totschwiegen oder schlankweg für „Humbug“ erklärten, zog Haeckel gleich bei der ersten Lektüre ganz unwiderstehlich in seinen Bann und ließ ihn fortan nicht mehr los. Bereits in den „Radiolarien“ war er ganz kurz darauf eingegangen, um dann auf der Stettiner Naturforscherversammlung von 1863 ausführlich, und zwar in zustimmendem Sinne, zu Darwins Ideengang Stellung zu nehmen. Die große Mehrzahl der Fachgenossen war freilich noch anderer Ansicht. Ein angesehener Zoologe erklärte Darwins Buch für den „harmlosen Traum eines Nachmittagsschläfchens“, ein anderer verglich die „naturphilosophischen Phantasien“ mit dem Tischrücken, ein namhafter Geologe meinte, daß dem „vorübergehenden Schwindel“ bald die Ernüchterung folgen müsse, und ein Anatom prophezeite, nach wenigen Jahren werde kein Mensch mehr davon sprechen. Tempora mutantur!
Auf Haeckel machte die Ablehnung so wenig Eindruck, daß er sich, obwohl tief niedergedrückt durch den Tod der geliebten Gattin (er hat später, 1868, zum zweitenmal geheiratet), mit fliegender Feder daran machte, die ganze biologische Wissenschaft, soweit sie zusammenhing mit dem Problem der Entwicklung, aus der von Darwin geschaffenen Basis ganz neu zu gruppieren und umzugestalten. Eine Art wissenschaftlichen Testaments sollte die „Generelle Morphologie“ werden. Auch damals, wie dreiunddreißig Jahre später in den „Welträtseln“, gedachte er mit dem Ende des Werkes einen Strich unter seine Lebensarbeit zu machen. Gelegentlich der Feier seines sechzigsten Geburtstages hat er es selber so dargestellt: „Ich lebte damals ganz als Einsiedler, gönnte mir kaum drei bis vier Stunden Schlaf täglich und arbeitete den ganzen Tag und die halbe Nacht. Dabei lebte ich in so strenger Askese, daß ich mich eigentlich wundern muß, heute noch gesund und lebendig vor Ihnen zu stehen.“ Durch eifrige, hastige Arbeit wollte er alle die seelischen Schmerzen betäuben, und dann — ja, was dann kommen sollte, wußte er selbst nicht. Tatsache ist aber, daß er in weniger als Jahresfrist die mehr als zwölfhundert engen Druckseiten aufs Papier brachte. Tatsache ist ferner, daß er in diesem monumentalen Werk alle, aber auch wirklich alle die wichtigen Konsequenzen schon zog und alle wesentlichen und entscheidenden Anschauungen seiner monistischen und genetischen Philosophie schon entwickelte, deren Ausbau im einzelnen sein ganzes künftiges Leben beschäftigt hat. „In der Methode naturwissenschaftlicher Forschung“, sagt Bölsche sehr treffend, „bedeutet das Werk einen Markstein, an dem man die ganze Geistesarbeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisieren und werten kann. Für die allgemeine biologische Systematik beginnt mit ihm eine neue Epoche in der Weise, wie es fünfzig Jahre vorher bei Cuvier und nochmals über fünfzig weiter zurück bei Linné der Fall gewesen war. Was es für die Zoologie im engeren Sinne ist, hat ein gewiß kompetenter Urteiler wie Richard Hertwig dreißig Jahre später in das einfache Wort zusammengefaßt: daß wenige Werke so viel beigetragen haben, das geistige Niveau der Zoologie zu heben.“ Im ersten Bande wurden mit Hilfe einer selbstgeschaffenen wissenschaftlichen Kunstsprache, die heute vielfach zum eisernen Bestande der Zoologie gehört, die Grundbegriffe des Lebens, der Formenbildung und -umbildung, der Individualität und natürlichen Verwandtschaft, die Gesetze der Anpassung, Vererbung und Auslese methodologisch neu festgestellt. Im zweiten Bande wurde auf Grund der vergleichenden Anatomie, der Stammesgeschichte (Phylogenie) und Keimesgeschichte (Ontogenie) der dreifache Beweis für die Abstammungslehre versucht und das Ganze gekrönt durch das von Haeckel zum erstenmal scharf formulierte und auf das gesamte Gebiet der organischen Formenwelt angewandte „biogenetische Grundgesetz“, wonach die Entwicklungsgeschichte des Einzelwesens eine gedrängte, stark abgekürzte und häufig abgeänderte Wiederholung der Entwicklung des zugehörigen Stammes ist. Daß ein derartig weit in die Zukunft vorauseilendes wissenschaftliches Werk bei all seinen Vorzügen auch Unvollkommenheiten und Irrtümer aufweisen mußte, braucht kaum noch ausdrücklich betont zu werden. Kommende Jahre haben manche der Hypothesen, die Haeckel zum erstenmal aufgestellt hatte, von Grund aus verändert oder völlig verworfen, und auch er selbst ist nicht müde geworden, zu bessern und nachzuprüfen. Dem Werke selbst aber bleibt doch der Ruhm unbestritten, zum erstenmal „eine markige Skizze der belebten Natur im neuen Lichte der Entwicklungslehre und zugleich ein ganzes Programm für die biologische Forschung der nächsten Zukunft entworfen zu haben“.
Im Herbst 1866 war das große Werk abgeschlossen. Physisch und geistig erschöpft, ging Haeckel, ohne erst noch das Erscheinen der „Morphologie“ abzuwarten, auf Reisen, besuchte Darwin auf seinem Landsitze Down bei London und fuhr danach, den Rat seiner Freunde befolgend, nach Teneriffa, um dort unter Palmen Erholung zu suchen. In weiterer Folge ging dann die Reise nach Lanzerote, der kleinen vulkanischen Ozeaninsel, deren waldlose Kraterlandschaften stark an die Bilder vom Monde erinnern. Hier wurden in Gemeinschaft mit Richard Greeff und zwei jüngeren Zoologen vor allem Medusen und Siphonophoren (Staatsquallen) studiert, die das Meer in verschwenderischer Fülle herbeitrug, und in viermonatiger eifriger Arbeit kamen die Schätze zusammen, die Haeckel später die Abfassung seiner preisgekrönten „Entwicklungsgeschichte der Siphonophoren“ (mit 14 Tafeln, 1869) ermöglichten.
Sechs Monate blieb er von Jena fern. Wenn er indessen bei seiner Heimkehr erwartet hatte, die „Generelle Morphologie“ würde in der Zwischenzeit die Geister wachgerüttelt haben, so sah er sich bitter enttäuscht. Die Fachgenossen ignorierten sie völlig oder verspotteten sie als ein „Konglomerat naturwissenschaftlicher Träumereien“, und die außerhalb der Fachwissenschaft stehende Leserwelt wußte auch damals so wenig wie heute von der Existenz des bedeutsamen Werkes. „Generelle Morphologie.“ Schon der Titel sah keineswegs aus nach sehr weiter Verbreitung. Und im übrigen galt — in einem gewissen Sinne — wohl wirklich auch das, was der Verfasser selbst später von seinem Hauptwerke sagte: es sei zu weitschweifig und schwerfällig geschrieben gewesen.
Indessen enttäuscht sein, heißt nicht auch entmutigt sein. Wenn man den naturphilosophischen Kern aus der „Morphologie“ herausschälte, die Grundzüge der Entwicklungtheorie knapp und klar, aller sachwissenschaftlichen Schwere entledigt, noch einmal für weitere Kreise populär darstellte und gleichzeitig den Stoff chronologisch anordnete, d. h. den Gang der Entwicklung des Weltganzen vom Einfachen zum Komplizierten, vom Urnebel zum Menschen herauf vorführte, so müßte es doch in der Tat seltsam zugehen, wenn einem so beschaffenen Auszug der Erfolg versagt bleiben sollte. Aus solchen Erwägungen heraus hielt Haeckel im Wintersemester 1867/68 vor einem aus Laien und Studierenden aller Fakultäten zusammengesetzten Publikum Vorträge, die 1868 als „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ auch in Buchform erschienen — damals ein einzelner schmaler Band, der im Laufe der Zeit sich verdoppelte und heute in zwölf verschiedenen Übersetzungen vorliegt. Und dieses Buch drang nun tatsächlich durch. Es wurde nicht bloß von Gebildeten aller Stände gelesen, es zwang auch die Fachgenossen des Verfassers jetzt definitiv, so oder anders sich mit der neuen Auffassung und Darstellung der Entwicklungslehre auseinanderzusetzen. Das gab dann den Anlaß zu bitteren Kämpfen und Debatten, zu kräftigen Angriffen und ebenso kräftiger Gegenwehr. Besonders das „biogenetische Grundgesetz“ war der Zankapfel, der sowohl die Empiriker als auch die Philosophen aus ihrer anfänglichen Passivität aufschreckte und auf das Kampffeld rief.
Noch lebhafter aber entbrannte der Streit, als Haeckel im Jahre 1872 in seiner „Monographie der Kalkschwämme“ (zwei Bände Text mit einem Atlas von 60 Bildertafeln) den „Versuch zur analytischen Lösung des Problems von der Entstehung der Arten“ gemacht und dabei zum erstenmal die berühmte und fruchtbare Gasträatheorie aufgestellt hatte, d. h. die Zurückführung aller höheren Tiere mit Einschluß des Menschen auf eine uralte gemeinsame Stammform, deren ganzer Körper zeitlebens nur aus zwei Zellschichten (Haut und Magen) besteht. Das war die hypothetische Gasträa oder das Urdarmtier. Bei seinen Untersuchungen über die Keimesgeschichte der Kalkschwämme war Haeckel aufgefallen, daß sich das Kalkschwamm-Individuum in ganz ähnlicher Weise aus dem Ei entwickelt, wie er es früher schon mehrfach bei anderen Tieren beobachtet hatte. Die befruchtete Eizelle teilt sich, und die neuentstandenen Zellen setzen die Teilung so lange fort, bis sich ein ganzer Zellhaufen gebildet hat, ein „Maulbeerkeim“, wie man ihn seiner äußeren Form wegen nannte. In diesem Maulbeerkeim bildet sich, da sämtliche Zellen aus Gründen der Ernährung nach außen drängen, eine Höhlung, die größer und größer wird und schließlich dem ganzen früheren Zellklumpen das Aussehen eines winzigen Gummiballs gibt; aus dem Maulbeerkeim ist allmählich ein kugeliger „Blasenkeim“ geworden. Nun geht die Entwicklung in der Weise weiter, daß sich an einem Pol die Zellenschicht einsenkt und sich zuletzt völlig an die innere Seite der nicht eingestülpten Wand anschmiegt, so daß ein doppelwandiger Becher mit einer Öffnung zustande kommt, eine sogenannte „Gastrula“. Die äußere Zellenschicht funktioniert als Leibes-, die innere als Darmhaut; die Becheröffnung bildet den Gastrulamund. Ganz plump veranschaulichen kann man sich diesen Gastrulationsprozeß, indem man einen durchstochenen Gummiball so tief einbeult, daß Wand an Wand zu liegen kommt.
Eine Gastrulation wie die geschilderte vollzieht sich aber nicht bloß bei einer Anzahl von Schwämmen, sondern auch bei vielen Nesseltieren (Polypen, Medusen), bei Würmern, Stachelhäutern und Manteltieren, ja sogar bei dem niedrigsten Wirbeltier, dem Lanzettfisch. Ähnlich — nur die Form der Gastrula ändert sich — spielt sich der Vorgang aber auch in der Keimesgeschichte aller höheren Tiere ab, und eben auf diesem durchgängigen Vorkommen der Gastrula begründete Haeckel seine hypothetische Gasträatheorie. Inzwischen hat man auch wirklich noch lebende Tierformen entdeckt, die dem Bild jener hypothetischen Gasträa annähernd noch völlig entsprechen.
Es hat lange gedauert, bis die hier flüchtig angedeutete Gasträatheorie, die heute allgemein für eine der wichtigsten und fruchtbarsten in der ganzen Entwicklungsgeschichte gilt, sich durchsetzen konnte. Ihr Entdecker aber ließ sich auch hier durch die Gegnerschaft nicht beirren. Nachdem er die Theorie in der „Monographie der Kalkschwämme“ mitgeteilt und in den „Studien zur Gasträatheorie“ näher begründet hatte, ließ er sie einstweilen selbst für ihren Sieg sorgen und wandte sich inzwischen einer neuen großen Aufgabe zu: dem schwierigen Versuch, das biogenetische Grundgesetz in seinem ganzen Umfang auf den Menschen anzuwenden und aus den empirischen Tatsachen seiner Keimesgeschichte den historischen Stufengang seiner Stammesgeschichte hypothetisch zu ergründen. Das geschah in der „Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen“, die 1874 herauskam. Erst die beiden folgenden Jahre brachten dann zwei weitere Hefte der „Studien zur Gasträatheorie“.
Die „Anthropogenie“ war zugleich eine geniale und — kühne Tat. Nicht genug, daß Haeckel als erster die gesamte Entwicklungsgeschichte des Menschen unter großen philosophischen Gesichtspunkten historisch darlegte und damit anfing, die genetische Betrachtung auch auf die Zellen, Gewebe, Organe und Funktionen auszudehnen, er besaß auch die in den Augen der „Exakten“ unerhörte Kühnheit, den spröden Stoff gemeinverständlich zu fassen, die wissenschaftlichen Geheimnisse der Embryologie einem größeren Leserkreise auszuliefern und den gebildeten Zeitgenossen schonungslos ihren tierischen Ursprung klarzumachen. Bis dahin hatte man sich begnügt, die sicheren, weil direkt wahrnehmbaren Tatsachen möglichst genau zu beschreiben; nun kam da wieder der popularisationswütige Jenenser Professor und verknüpfte auch auf dem Gebiet der menschlichen Entwicklungsgeschichte mit Tatsachen kühne genealogische Hypothesen! Die „Würde der Wissenschaft“ war in Gefahr, und die Angriffe fielen abermals, wie nach dem Erscheinen der „Schöpfungsgeschichte“, schneeflockendicht auf das neue Werk. In Wirklichkeit hat die Würde der Wissenschaft in den vier Jahrzehnten, die seit dem Erscheinen der „Anthropogenie“ jetzt verflossen sind, so wenig darunter gelitten, wie das Werk selbst an Bedeutung verloren hat. Die beiden reich illustrierten Prachtbände, die fortgesetzt neue Auflagen erleben, gelten immer noch unbestritten als die beste zusammenhängende Darstellung des großen Wundergebiets der menschlichen Entwicklungsgeschichte, die in der gesamten naturwissenschaftlichen Literatur existiert.
Auch in der Folgezeit hat Haeckel fast unausgesetzt im schärfsten Kreuzfeuer der durch die Entwicklungslehre erzeugten Debatten gestanden. Besonders wiederum nach dem 18. September 1877, wo er in München auf der 50. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte über „Die heutige Entwicklungslehre im Verhältnis zur Gesamtwissenschaft“ sprach und unter anderem forderte, die Deszendenztheorie müsse als wichtiges Bildungsmittel auch in der Schule ihren berechtigten Einfluß geltend machen — eine Rede, die Rudolf Virchow zu seinem vielbesprochenen Gegenvortrage über „Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate“ Veranlassung gab. Im Jahre vor jener Münchener Naturforscherversammlung hatte Haeckel in seiner Schrift: „Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebensteilchen“ bereits zu erweisen versucht, daß das „unbewußte Gedächtnis“ eine allgemeine Funktion nicht bloß der Zelle, sondern auch aller Protoplasma-Moleküle der Zelle (Plastidule) sei, mit anderen Worten: daß die Zellseele, die Grundlage der erfahrungsmäßigen Psychologie, selbst wieder zusammengesetzt sei aus den psychischen Tätigkeiten der kleinsten Teilchen des Protoplasmas: „die Plastidule ist demnach der letzte Faktor des organischen Seelenlebens“. Das zog er auch jetzt, in der Münchener Rede, mit Nachdruck heran bei der Besprechung des bedeutungsvollen Umschwungs in der Beurteilung der „Seelenfrage“; ist doch die Annahme der Beseelung aller Materie ein notwendiges Postulat für die folgerichtige Durchführung der monistischen Entwicklungslehre und damit der monistischen Weltanschauung. Virchow war aber auch damit nicht einverstanden. Die Theorie der Zellseele erklärte er für ein „bloßes Spiel mit Worten“, und ganz entschieden bestritt er das wissenschaftliche Bedürfnis, das Gebiet der geistigen Vorgänge über den Kreis derjenigen Körper hinaus auszudehnen, in und an denen wir sie wirklich sich darstellen sehen. „Wir haben keinen Grund, jetzt schon davon zu sprechen, daß die niedrigsten Tiere psychische Eigenschaften besitzen; wir finden dieselben nur bei den höheren, ganz sicher nur bei den höchsten“ usw. Und dann kam im Anschluß an die Bekämpfung der Zellseelentheorie die Bekämpfung der Deszendenztheorie überhaupt, nicht mit Gründen der Wissenschaft, sondern — im Staatsinteresse! „Nun stellen Sie sich einmal vor,“ rief der Redner emphatisch aus, „wie sich die Deszendenztheorie heute schon im Kopfe eines Sozialisten darstellt! Ja, meine Herren, das mag manchem lächerlich erscheinen, und ich will hoffen, daß die Deszendenztheorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und daß der Sozialismus mit ihr Fühlung genommen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein.“ Zuletzt resumierte sich Virchow dahin, daß man nicht lehren und es nicht als eine Errungenschaft der Wissenschaft bezeichnen könne, „daß der Mensch vom Affen oder von irgendeinem anderen Tier abstamme“. Heute schütteln wir lächelnd den Kopf über all diese Velleitäten. Damals jedoch galt die Virchowsche Rede für eine „moralische Tat“ sondergleichen, die auf Jahrzehnte hinaus allen grundsätzlichen Gegnern der Abstammungslehre ein Ansporn zu doppeltem Eifer in ihrer Bekämpfung wurde.
Haeckel hat im Jahre 1878 in seiner Schrift „Freie Wissenschaft und freie Lehre“ ausführlich auf Virchows Münchener Rede geantwortet, im übrigen aber auch die Entscheidung dieses Streites der Zukunft anheimgegeben. Nur ganz gelegentlich ist er später auf die Debatten zurückgekommen, vor allem in seinen Berliner Vorträgen; „Der Kampf um den Entwicklungsgedanken“ (1905). Ihn lockten zunächst wieder wichtigere und fruchtbarere Aufgaben.
Schon 1864 und 1865 waren im Anschluß an die „Monographie der Radiolarien“ die ersten Teile eines umfangreichen Prachtwerkes über die Medusen erschienen, deren Studium Haeckel seit den Tagen von Helgoland immer von neuem entzückt hatte. Jetzt galt es nicht bloß den Abschluß dieses Werkes, dessen erster Band 1879 unter dem Titel „Das System der Medusen“ (mit 40 Tafeln in Farbendruck) und dessen zweiter (mit 32 Tafeln) 1881 unter dem Titel „Die Tiefsee-Medusen der Challengerreise und der Organismus der Medusen“ herauskam, jetzt galt es auch die mikroskopische Durchforschung der riesigen Radiolarienschätze und weiter der Siphonophoren und Tiefsee-Hornschwämme, die die berühmte wissenschaftliche Expedition der englischen Korvette „Challenger“ in den Jahren 1873 bis 1876 gesammelt und deren Bearbeitung die englische Regierung Haeckel anvertraut hatte. Zehn Jahre mühsamer Arbeit verflossen, bis das neue große Radiolarienwerk (2750 Seiten Text und 140 Tafeln) zum Abschluß gebracht war, zwei weitere Jahre, bis auch das „System der Siphonophoren“ (mit 50 Farbendrucktafeln) und die „Tiefsee-Hornschwämme“ (mit 8 Tafeln) erscheinen konnten. Besonders das Radiolarienwerk ist bewundernswert. 810 Arten waren bekannt, als Haeckel 1877 die Arbeit in Angriff nahm; als er zehn Jahre später den Abschlußstrich machte, hatte er 3508 neue Arten hinzuentdeckt! Alle diese zauberhaft schönen, mikroskopisch kleinen Meeresgeschöpfe hatte sein Ordnungssinn nicht nur benannt und beschrieben, sondern nach wissenschaftlichen Grundsätzen auch übersichtlich gruppiert und nach Verwandtschaftsgraden in ein System von 85 Familien, 20 Ordnungen, 4 Legionen und 2 Unterklassen gebracht. Welch beispielloses Gedächtnis, welch kritisches Unterscheidungsvermögen war dazu nötig! Und welch ein künstlerisch geschulter Blick war erforderlich, um die subtilen und schwierigen Formen dann auch im Bilde noch festzuhalten! Nur einmal noch in seinem späteren Leben gelang ihm ein gleich phänomenales Werk, wenn auch anderer Art: die dreibändige „Systematische Phylogenie“, der Entwurf eines natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeschichte, der 1896 vollendet wurde. „Man mag im einzelnen, ja in Hauptpunkten verschiedener Ansicht sein,“ sagt darüber der Züricher Zoologe Professor Arnold Lang, „aber staunend und bewundernd müssen wir stehen vor diesem Werke, staunend über die ungeheure Fülle des Wissens, die sich in diesem Umfange vielleicht nie mehr in einem Kopfe vereinigen wird, bewundernd vor der geistigen Arbeit, mit welcher einerseits die unzähligen Einzelerscheinungen verknüpft werden und anderseits der ganze riesige Stoff in formal vollendeter Weise übersichtlich gegliedert wird.“
Von allen diesen hervorragenden Gaben des unermüdlichen Spezialforschers und Detailarbeiters Haeckel weiß in der Regel der Laie nichts oder so gut wie nichts. Für ihn kommt zunächst nur der „populäre“ Verfasser der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“, der „Welträtsel“ und „Lebenswunder“ in Frage. Zumal der Verfasser der „Welträtsel“, der sich vermaß, über irdische und himmlische Dinge so temperamentvoll sein Urteil abzugeben. Höchstens daß dieser und jener auch noch das verdienstvolle Tafelwerk der „Kunstformen der Natur“ kennt, in dem vom Standpunkt des Ästhetikers die wundersamen Kunstgebilde der Radiolarien, Schwämme, Siphonophoren usw., aber auch die aus der höheren Tier- und Pflanzenwelt als vorbildlicher Ornamentenschatz für das moderne Kunstgewerbe zusammengestellt sind. Kein Wunder deshalb, daß man auch unter Gebildeten vielfach den schiefsten und ungerechtesten Urteilen begegnet, sobald einmal auf Haeckel und dessen Wirken und Schaffen die Rede kommt.
Allein schon die rein quantitative Arbeitsleistung dieses Mannes muß mit Bewunderung erfüllen. Wenn man erwägt, daß außer den genannten populären und wissenschaftlichen Werken, die er von Auflage zu Auflage stets neu zu bearbeiten und zu verbessern bestrebt war, noch eine Menge kleinerer Aufsätze und Abhandlungen seiner Feder entflossen sind, und daß neben all diesem noch seine Lehrtätigkeit an der Jenaer Hochschule und seine alljährlichen Forschungsreisen einhergingen, so muß angesichts solcher Schaffenskraft selbst den Arbeitsfreudigsten ein gelindes Gruseln anwehen. Hinzu kommt aber noch, daß Haeckel auch die Originale seiner wundervollen Farbendrucktafeln, von denen allein die großen Monographien rund 360 an der Zahl aufweisen, großenteils selbst aquarelliert hat, wobei ihm sein hochentwickeltes Zeichen- und Maltalent sehr zustatten kam.
Wie sehr übrigens Haeckel stets Forscher und Künstler in einer Person war, das zeigen am besten seine weit über tausend farbenprächtigen „Wanderbilder“, von denen ein kleiner Teil unter diesem Titel erschienen ist. Wohin seine Forschungsreisen ihn immer auch führten — und er hat mehr als dreißig in seinem Leben gemacht — immer und überall war das Malzeug sein Weggefährte. Hatte die Feder ihr Pensum vollendet oder fühlte der Forscher sich abgespannt von der mühsamen zoologischen Facharbeit, so dürstete die Seele des Künstlers, des Ästhetikers dann um so glühender nach einem Trunk aus dem sprudelnden Quell der Gesamtnatur, und er ruhte nicht eher, als bis er ihr irgendein Stück ihrer Schönheit mit Stift oder Pinsel entwunden hatte. Auf dem blauen Meer wie auf ragenden Berggipfeln, unter den sengenden Strahlen der Tropensonne wie im Schatten des Urwalddickichts, in den russischen Steppen wie im nordischen Fjord — allüberall war der nimmersatte Schönheitssucher in Haeckel dem Forscher ein steter Begleiter. Seine mit Hildebrandtscher Farbenglut gemalten Wanderbilder muß man gesehen, seine formvollendeten reichillustrierten Reisebücher „Arabische Korallen“, „Indische Reisebriefe“ und „Aus Insulinde“ muß man gelesen haben, um seinen heiligen Enthusiasmus für alles Wahre, Schöne und Gute dem ganzen Umfange nach zu begreifen.
In wundervoller Geschlossenheit liegt heute das arbeits- und früchtereiche Lebenswerk Haeckels vor unseren Augen, das Lebenswerk eines Forschers, Künstlers und Philosophen. Und das eines Kämpfers, wie man hinzufügen darf. Niemand kann leugnen, daß er bei all seiner Genialität recht oft auch gefehlt hat wie ein ganz sterblicher Mensch, daß ihm sein heißes Temperament oft die Sehweite kürzte und daß seine Philosophie, seine Weltanschauung an Lücken und Schwächen nicht arm ist. Jeder hat die Philosophie, die in ihm ist. Er hat die seine, die aus dem fruchtbaren Boden der Erfahrungswissenschaften hervorgewachsen und deshalb allen rein spekulativen Erkenntnistheorien wenig hold ist. Er hat sie zum Abschluß gebracht und ist glücklich darin. Ihm ist es genug, das Unerforschte so in die Enge getrieben zu haben, daß es sich wie von selbst ihm ergeben muß. Aber niemand, der wirklich sein Lebenswerk kennt, kann auch leugnen, daß Haeckels ganze fünfzigjährige Beschäftigung mit der Natur und Hingebung an die Natur, daß sein ganzes Forschen und Denken nichts anderes war als ein Ausfluß religiösen Sehnens, als Herzenssache, Gemütssache. Ihm, der der Wahrheit um ihrer selbst willen nachspürte, war ganz notwendig das Wahre identisch mit dem Göttlichen.
Ernst Haeckel kann, wenn er die Inventur seines Lebens macht, wohl zufrieden sein. Das höchste Glück der Erdenkinder hat er erreicht und gewährt: das Glück der Persönlichkeit, und seinen Namen hat er mit unvergänglichen Lettern tief eingegraben in die Annalen der Menschheitsgeschichte. „Spätere Generationen“, sagt Wilhelm Bölsche, auf dessen ausgezeichnete Biographie des Gelehrten der Leser ausdrücklich verwiesen sei, „werden uns um einen Mann wie Haeckel beneiden. Von anderen wird man Folianten wälzen, zum Nachschlagen, ohne auf das Titelblatt mit dem Namen zu achten. Bei ihm wird man den Namen suchen. Von seiner geistigen Persönlichkeit wird man sich erzählen. Daß man mit ihm streiten konnte, wird man verstehen. Daß Zeitgenossen seine Größe nicht sahen — dafür wird man nur ein Achselzucken haben.“
*
Die sechs kurzen Abschnitte aus einigen der bedeutendsten gemeinverständlichen Werke Ernst Haeckels, die dieses Sammelbändchen vereinigt, vermögen natürlich nur einen schwachen Begriff von der wissenschaftlichen Gesamtleistung des berühmten Naturforschers zu vermitteln. Wenn sie dem einen oder anderen Welträtsel-Leser, dem einen oder anderen für Fragen der Naturwissenschaft Interessierten zum Anlaß werden, die Werke selbst in die Hand zu nehmen, ist ihr Hauptzweck erreicht. Nichtsdestoweniger ist zu erwarten, daß die Lektüre der einzelnen Kapitel auch an und für sich jedem Leser genußreiche und anregende Stunden bescheren wird.
Die ersten beiden Abschnitte „Inhalt und Bedeutung der Abstammungslehre“ und „Schöpfungsperioden und Schöpfungsurkunden“ sind der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (11. Auflage, 1911, Verlag von Georg Reimer in Berlin) entnommen. Es sind zwei von den dreißig darin vereinigten Vorträgen über die Entwicklungslehre im allgemeinen und die von Darwin, Goethe und Lamarck im besonderen, Vorträge, die selbst dem ohne jede wissenschaftliche Vorbildung an sie herantretenden Laien verständlich sind. Der dritte Abschnitt über „Die Gasträatheorie“ dagegen will schon ein bißchen „studiert“ sein, wie klar und anschaulich Haeckel das schwierige Thema auch zu behandeln verstanden hat. Wenn wir unter den dreißig Vorträgen der „Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen“ (6. Auflage, 1911. Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig) gerade diesen zum Abdruck erwählten, so geschah es, weil er im Rahmen des zweibändigen Werkes noch wiederum ein Stück besonderen Eigenwerks darstellt, insofern Ernst Haeckel selbst, wie schon ausgeführt wurde, der Entdecker der bedeutsamen Gasträatheorie ist. Der Abschnitt „Erfahrung und Erkenntnis“, in dem der Verfasser im Anschluß an Schleiden und Johannes Müller ein für allemal programmatisch seinen Standpunkt zur Naturphilosophie festlegte, entstammt der 1866 erschienenen „Generellen Morphologie“ (von der ein teilweiser, unveränderter Abdruck unter dem Titel „Prinzipien der Generellen Morphologie der Organismen“ 1906 bei Georg Reimer herausgekommen ist), der Abschnitt „Arabische Korallen“ dem kleinen, durch zahlreiche Abbildungen und farbenfreudige Aquarell-Reproduktionen geschmückten Prachtbande gleichen Titels, in dem Ernst Haeckel 1875 seinen Ausflug nach den Korallenbänken des Roten Meeres beschrieb, zugleich einen Blick in das Leben der Korallentiere erschließend (Verlag von Georg Reimer). In dieser unübertrefflich lebendigen Schilderung, nicht minder in der ihr folgenden über „Brussa und den asiatischen Olymp“, kommt neben dem Naturforscher in Haeckel vor allem der feinempfindende Ästhetiker zur Geltung, der schönheitsuchende Künstler wie der Meister des Worts.
Für die Erlaubnis zur Wiedergabe des Aufsatzes über „Brussa“, der 1875 in der Deutschen Rundschau erschien und seitdem nicht wieder abgedruckt wurde, bin ich Sr. Exzellenz Herrn Geheimrat Haeckel zu besonderem Danke verpflichtet, für die Genehmigung zum Nachdruck der übrigen Abschnitte außerdem den Herren Verlagsbuchhändlern Dr. de Gruyter (i. Fa.: Georg Reimer) und Wilhelm Engelmann.
Leipzig, Ostern 1912.
Carl W. Neumann.
Natur und Mensch.
Die geistige Bewegung, zu welcher der englische Naturforscher Charles Darwin im Jahre 1859 durch sein berühmtes Werk „Über die Entstehung der Arten“[1] den Anstoß gab, hat während des seitdem verflossenen kurzen Zeitraums eine beispiellose Tiefe und Ausdehnung gewonnen. Allerdings ist die in jenem Werke dargestellte naturwissenschaftliche Theorie (gewöhnlich kurzweg die Darwinsche Theorie oder der Darwinismus genannt) nur ein Bruchteil einer viel umfassenderen Wissenschaft, nämlich der universalen Entwicklungslehre, welche ihre unermeßliche Bedeutung über das ganze Gebiet aller menschlichen Erkenntnis erstreckt. Allein die Art und Weise, in welcher Darwin die letztere durch die erstere fest begründet hat, ist so überzeugend, und die entscheidende Wendung, welche durch die notwendigen Folgeschlüsse jener Theorie in der gesamten Weltanschauung der Menschheit angebahnt worden ist, muß jedem tiefer denkenden Menschen so gewaltig erscheinen, daß man ihre allgemeine Bedeutung nicht hoch genug anschlagen kann. Ohne Zweifel muß diese ungeheure Erweiterung unseres menschlichen Gesichtskreises unter allen den zahlreichen und großartigen wissenschaftlichen Fortschritten unserer Zeit als der bei weitem folgenschwerste und wichtigste angesehen werden.