Naturgeschichte und dialogisches Verhalten als Quellen der Sozialethik - Siegfried Stephan - E-Book

Naturgeschichte und dialogisches Verhalten als Quellen der Sozialethik E-Book

Siegfried Stephan

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Beschreibung

Alle wissen, dass die Existenz der Menschheit gefährdet ist. Da ist die Sozialethik eine wichtige Methode der Existenzsicherung; aber wie schwer ist ihre Akzeptanz zu erreichen! Wichtige Gefährdungen der Menschheit waren der eher optimistischen „Aufklärung“ noch unbekannt, und dann gab es einen starken Zeitverzug beim Aufnehmen neuer Erkenntnisse ins herrschende Weltbild. Um selbst die „postmodernen“ Erkenntnisse zu berücksichtigen, wurde im Text die Entwicklung unseres heutigen Weltbildes vorangestellt. Die Sozialethik stützt sich zunächst auf das Erbgut der Menschheit. Lange angespart, war dieses Erbe zu sichten und darzustellen. Der Text zeigt, wie im Zusammenhang mit der Menschwerdung das dialogische Verhalten aufkam, sich ins gesamte menschliche Verhalten einzufügen hatte und zu einer weiteren, unverzichtbaren Quelle der Sozialethik wurde. Die Präzisierung des Dialogischen Prinzips der Philosphen, wie es noch von Stephan (2007) verwendet wurde, zum dialogischen Verhalten machte genauere Untersuchungen und weitgreifende Anwendungen möglich. Enge Beziehungen hat das dialogische Verhalten zu praktischen Problemen von der „Frauenfrage“ über die Wirtschaftsordnung bis zur Religion. Für die private Lebensführung ist seine biochemische Kopplung an das vom Oxytozin gesteuerte „Belohnungssystem“ interessant.

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Inhalt

Vorwort

Wir suchen ein praktikables Weltbild

1.1 Sinnesqualitäten aus dem Inneren Vorstellungsraum

1.2 Weltbilder im Angebot

1.3 Annäherung an die Probleme des Lebendigen

1.4 Ein Weltbild auf Grundlage der evolutionären Erkenntnistheorie

1.5 Wobei ein Weltbild Schaden nehmen kann

1.6 Was haben wir für unser Weltbild gewonnen?

Der wachsende Kosmos bringt die Lebensbedingungen hervor

2.1 Der Kosmos nach der kopernikanischen Wende: ewig und doch überschaubar

2.2 Der Kosmos hat Geschichte

2.3 Kosmologische Entdeckungen des 20. Jahrhunderts

2.4 Mit Raum und Zeit entsteht die Bühne allen Geschehens

2.5 Mit der Synthese chemischer Elemente wird Leben möglich

Irdische Lebensbedingungen

2.6 Sonnenlicht und die Synthese organischer Stoffe

Die biologische Evolution

3.1 Die biologische Evolution ist eine Erfolgsgeschichte

Optimierung geschieht nicht notwendig „darwinistisch“

Optimierung durch Vielfalt ökologischer Nischen und Lebensformen

Die Evolution zeigt keine Strategie und führt gerade so zur Vielfalt

3.2 Aus der Stammesgeschichte des Lebens

Kleine und große Katastrophen in der Geschichte des Lebens

3.3 Wie ist die Makroevolution zu verstehen?

3.4 Phylogenese und Ontogenese und die Verwandtschaft der Lebewesen

3.5 Der Beitrag der Verhaltenskunde

Menschwerdung aus schwierigem Erbe

4.1 Unser biologisches Erbe

Biologische Grundlagen

Geschichte und Verhalten

Denken

Stationen der Evolution zum menschlichen Verhalten

Zu Menschliches

Stolpersteine

Menschen sind begabt zu dialogischem Verhalten

5.1 Dialogisches Verhalten ist für Menschen unverzichtbar

Die Kultur ist die Natur des Menschen – aber sie genügt nicht

5.2 Was ist das eigentlich: dialogisches Verhalten?

Ein Zugang

Die Grenzen abstecken

Merkmale des dialogischen Verhaltens

5.3 Kam das dialogische Verhalten durch die Erfolgskontrolle?

Die Medizin zeigt: Es macht immerhin glücklich

Zusammenfassend zu den Eigenschaften und biologischen Grundlagen des Dialogischen

5.4 Wo in der Geschichte taucht das Dialogische auf?

5.5 Der adventive Charakter des dialogischen Verhaltens

Adventive Eigenschaften in der Evolution?

Besondere Beziehungen des dialogischen Verhaltens

6.1 Beziehungen zum philosophischen Hintergrund

Ist die Verknüpfung mit der Sprache notwendig?

Wort und Tat

6.2 Einbettung in die Entwicklungspsychologie

Dialogisches Verhalten im Sinne der Arterhaltung

Probleme von Alter und Armut

6.3 Eine prekäre Beziehung: Zufall und dialogisches Verhalten

6.4 Dialogisches und religiöses Verhalten

Ist ein dem Anfang gegebener Entwicklungstrieb wahrscheinlich?

Der adventive Charakter verweist auf die Religionen

Wenn das Dialogische von einem transzendenten Geber käme

Das Dialogische erlaubt es, Religion auszudrücken

Das Dialogische Prinzip und der Begriff der Seele

Dialogisches Denken und Theologie haben das Individuum im Fokus

Das Dialogische Prinzip als „das Gesetz“ des Herzens

Mit was für einer Theologie ist das Dialogische kompatibel?

Dialogisches Prinzip zwischen Prophetie und Aufklärung

Das Dialogische ergänzt das menschliche Verhalten

Dialogisches Verhalten für unser Überleben

Dialogisches Verhalten braucht Entscheidungsfreiheit und sucht Gestaltungsfreiheit

8.1 Dialogisches Verhalten gehört zum Nebeneinander der Gewalten

8.2 Das Dialogische und die Korrektur von Ideologien

8.3 Welche Ausweitung verträgt ein dialogisches Verhältnis?

8.4 Wie viel dialogisches Verhalten braucht die Menschheit, und wie mag sie es bekommen?

Vom Ungenügen unseres dialogischen Verhaltens

Evas Mitgift? Adams Chance

Existieren in der Klemme zwischen Konkurrenz und Empathie

Unübersehbare Gefahren aus Wirtschaft und Gesellschaft

8.5 Über Verlauf und Vorhersage der Zukunft

Warten und Reifen gehören zur Evolution

Grundsätzlich beschränkte Welterkenntnis

Zukunft unter stets neuen Bedingungen

Zitierte Literatur

Vorwort

Von Anfang an wünschte ich mir: zu begreifen, wie die Naturgeschichte die Anthropologie aus sich entlässt, und zu erahnen, wie sich die Menschheit durch eine angemessene Sozialethik einigermaßen stabilisieren kann – in der Natur gibt es ja bis jetzt kein Bleiberecht. Eine solche Ethik muss berücksichtigen, was sie vorfindet, und die Quelle dafür ist die Naturgeschichte einschließlich der Menschwerdung. Sie braucht aber auch, sobald es um unser Schicksal geht, eine positive, menschenfreundliche Ausrichtung. Diese Quelle würden wir vielleicht in der „Liebe“ erkennen. So konnte sich Benedikt XVI. sogar dem alten Satz „Gott ist die Liebe“ anschließen. Aber als Bischof von Rom dreht er seine Zunge um und redet lateinisch weiter, und dann heißt es „Deus Caritas est“. Im Deutschen geht so etwas nicht, ohne etwa Eros und Sexus teilweise auszugrenzen, und „Caritas“ ist zu eng, sie grenzt z. B. die Sehnsuchtskomponente aus. Wir aber können wenigstens den fast vergessenen Begriff des Dialogischen Prinzips aufgreifen. Nur: Wo sitzt ein solches Prinzip in einer evolvierenden Welt?

Mein Versuch, diese Verbindung herzustellen, hatte zunächst (Stephan 2007) nicht überzeugt. Wollte da jemand das Dialogische Prinzip Bubers vor dem Vergessen retten? Aber um dieses konnte es schon nicht mehr gehen, denn genau besehen bin ich mit diesem Versuch in die Sache selbst, nämlich von der Philosophie in die positive Wissenschaft gesprungen und dabei in der Verhaltenskunde gelandet. Die gesuchte zielgebende Komponente der Sozialethik ist dann das dialogische Verhalten. Den Begriff aus dem Dialogischen Prinzip zu entwickeln, ist eine unumgängliche, aber lohnende Aufgabe.

Um nun auf die Sozialethik und damit die Lebenspraxis zu kommen: Sozialethik kann man beschreiben als unsere Versuche, die Furcht voreinander und damit einen Grund unserer Lebensangst zu minimieren. Zwei Quellen werden hier diskutiert. Warum räume ich – entgegen allen Ratschlägen – der Naturgeschichte als erster Quelle so viel Raum ein, obwohl es uns Menschen erst seit etwa zwei Millionen Jahren gibt? Weil in der Evolution vom Urknall an die für unser Verhalten wichtigen und für unser Thema relevanten Strukturen zu verschiedenen Zeiten sehr überraschend auftauchen. Und ich will möglichst wenig ohne Belege behaupten. Das aber erfordert eben diese breite Darstellung. Der Leser sollte auch bedenken, dass die Geschichte viele Jahrmilliarden tief aus dem Vergangenen kommt.

Dagegen richtet sich das, was über die andere Quelle, das dialogische Verhalten, zu sagen ist, auf die Zukunft. Und weil wir von der nichts Genaues wissen können (was ganz am Ende des Textes begründet wird), handelt es eigentlich nur von unserer Gegenwart, also von diesem Moment, in dem wir die Zukunft gestalten oder verpassen. Dennoch: Mehr als das Leben anderer Lebewesen wirkt unser Menschenleben oft weit über das Ableben hinaus. En bloc, und manchmal auch individuell, wirken wir weit in die Zukunft. Damit stellen diese beiden Quellen das Material unserer Sozialethik bereit und liefern gute Entscheidungsgrundlagen.

Auf der Suche nach einem menschenfreundlichen Verhalten bot das „Dialogische Prinzip“ einen Ansatz, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts besonders bei uns jungen Studenten Anklang fand. Als sich am Ende des Erwerbslebens mein Blick wieder auf die Sozialethik richtete, war der Begriff des „Dialogischen“ weitgehend aus den Diskussionen verschwunden. Da aber auch kein besserer Begriff zuhanden war, wagte ich den Versuch, das Dialogische Prinzip in unser modernes evolutionäres Weltbild zu integrieren (Stephan 2007). Dieser Versuch blieb unbeachtet. Die Probleme wurden aber immer größer und es fehlte ein Lösungsansatz, der die dialogischen Möglichkeiten einbezieht. Dann zeigte sich, dass das Dialogische eigentlich eine Weise des menschlichen Verhaltens ist; also ist im Kern das dialogische Verhalten zu beschreiben, zu erforschen und zu fördern. Im Laufe von sieben Jahren hat die Umsetzung dieses Ansatzes zum vorliegenden Buch geführt, das folgendermaßen aufgebaut ist:

Kapitel 1 soll dem daran interessierten Leser zeigen, mit welchem evolutionären Weltbild ich arbeite. Als Hüter der Weltbilder werden – unter anderen – Philosophen benannt, doch es geht nicht um Philosophie als solche. Auch ist dieser Boden nicht fest, sondern wir stehen auf einer Baustelle, und wir erfahren wie Gershom Scholem (1930): „So ist unsere Wahrheit nicht Wahrheit, nicht die Wahrheit. Die Wahrheit bezeugt sich selbst, doch unsere Wahrheit bedarf der Bewährung.“ Und das immer wieder neu.

Das Kapitel über das Weltbild mag zu ausführlich erscheinen; es musste aber dessen eigene Entwicklung skizziert werden, um zu zeigen, wie es sich nach der „Moderne“ ändern musste, um die Entdeckungen in Physik und Biologie, die Reaktionen auf die Katastrophen zweier Weltkriege und das Denken von den Anfängen her zu berücksichtigen. Ein Spaziergang über den Markt der Möglichkeiten lässt uns verstehen, wie stark wir Heutigen mit Weltbildern und Ideologien vergangener Epochen konfrontiert werden. So können wir im 2. und 3. Kapitel auch den lästigen Streit zwischen strengen Bibel-Fundamentalisten und nicht weniger engen Darwinisten nicht ganz übergehen.

Der Bericht über die lange Zeit der Entfaltung des leblosen Universums (Kapitel 2) befasst sich mit den Rahmenbedingungen unseres Lebens; denn alle Ressourcen, einschließlich der Raumzeit selbst, mussten zunächst entstehen. Wir beginnen in den äußersten Zeiten und Weiten des Weltalls, weil es nicht einmal unsere Körper ohne die „Asche“ ferner Sterne gäbe. Selbst die Naturgesetze sind bei der Entwicklung des Universums Schritt für Schritt hervorgetreten. Als unser Gründungsmythos zeigt dieser Uranfang, aus wie engen Verhältnissen wir kommen.

Erst spät und unter sehr besonderen Voraussetzungen entstand darin das irdische Leben (Kapitel 3). Die ausführliche Darstellung der biologischen Evolution auf der Erde macht sichtbar, wie lange unser biologisches Erbteil angespart wurde und wie spät sich die Menschheit entfaltet hat. Die Evolution des Verhaltens wird eigens dargestellt.

Innerhalb dieser biologischen Entwicklung wurden die besonderen Eigenschaften der Menschen erworben (Kapitel 4), und zwar neben körperlichen Merkmalen auch Religiosität, Kulturfähigkeit und schließlich das dialogische Verhalten (Kapitel 5), das sich in ein schon bestehendes Verhaltensmosaik einfügen musste.

Die Beziehungen des dialogischen Verhaltens zu anderen Lebensbereichen (Kapitel 6) betreffen unter anderem die Entwicklungspsychologie (6.2), und auch der Verbindung mit der Religiosität wird Aufmerksamkeit zuteil (6.4).

Die Rolle des dialogischen Verhaltens als Teil des menschlichen Verhaltensmosaiks (Kapitel 7) zeigt seine Bedeutung für die Lösung menschlicher Probleme und als eine wichtige Quelle der Sozialethik (Kapitel 8). Das führt auf die Frage, ob und wie die Menschheit zu einem hinreichenden dialogischen Verhalten kommen könnte (8.4), und schließlich zeigen sich die Grenzen unserer Voraussagen (8.5), aber auch die Hoffnungen der Menschheit.

Die Abbildungen wurden unter CorelDraw 3X Version 13 unter Ausnutzung der Ebenentechnik und mit Bezier-Kurven bearbeitet.

1 Wir suchen ein praktikables Weltbild

Nicht jedes Weltbild ist für eine sich entwickelnde Welt geeignet. Welches in Frage kommt, wurde nach und nach klar, als die Wissenschaftler mit der Evolution und ihrer Dynamik konfrontiert wurden.

1.1 Sinnesqualitäten aus dem Inneren Vorstellungsraum

Die Weltgeschichte ist die angemessene Szenerie, in der sich die Evolution abspielt. Aber wir sind es selbst, die aus Ererbtem, Erlerntem und Erdachtem mit den Eindrücken unserer Sinne ein Weltbild bauen. Die Sinneseindrücke sind also das, was wir von der Welt erkennen; aber sie sind selber nicht primär, sie entstehen im uns gegebenen inneren Vorstellungsraum aus den empfangenen Informationen. Das geschieht sogar zwischen den Tierarten auf unterschiedliche Weise. So haben Vögel einen „Farbkanal“ mehr zur Verfügung als Menschen und empfangen damit sicher an Farben reichere Bilder, während die Kühe auf der Weide auf einen Teil der Farbenpracht ihrer Futterstellen verzichten müssen, die uns erfreuen. Bei uns Menschen entscheidet schon eine Genmutation darüber, ob wir die Farben Rot und Grün unterscheiden, und diese Rotgrünblindheit ist nicht einmal extrem selten. Andererseits dürfen wir annehmen, dass die meisten Sinnesqualitäten von den meisten Menschen ähnlich wahrgenommen werden; sonst hätten die Werke von Malern und Komponisten kein Publikum, alle Bauwerke teilten das Schicksal des legendären Turmes von Babel, man könnte sich nicht über die Schönheit von Blumen und Landschaften unterhalten und schon gar nicht gemeinsam arbeiten. Und es fehlte nicht nur eine gemeinsame Ästhetik, sondern selbst über die einfachsten Dinge des Alltags gäbe es keine Verständigung.

Die verschiedenen Qualitäten erkennen wir aber doch sehr unterschiedlich intensiv. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Reich der Farben, das mir beruflich vertraut ist: Den Bodenkundler interessieren die Eigenschaften von Pflanzenstandorten. Auf einige kann er leicht schließen. Er erkennt an der Farbe von Eisen, ob der Boden oxidiert oder reduziert, vorwiegend nass oder trocken ist. Die Farben sind dabei Rot, Braun, Gelb bzw. Olivgrün, Bläulich bis Schwarz. Beim Vergleich verschiedener Bodentiefen ergeben sich Aussagen über Verwitterung, Wasserhaushalt (z. B. Staunässe) und anderes, die für den Landwirt wichtig sind. Aber über die viel häufigeren Stoffe Aluminium und Silizium oder die Versorgung mit Phosphor und Stickstoff gibt die Farbe keine Auskunft. Und das Braun des Oberbodens wird oft von der Farbe der Humusstoffe überdeckt. Schon dieses eine Beispiel zeigt also: Die zufällig wahrnehmbaren Sinnesqualitäten haben große praktische Bedeutung, sie entscheiden darüber, was uns erscheint und was das überhaupt nicht tut – was also unser Wissen von der Welt bestimmt. Es scheint sicher zu sein, dass die Umsetzung von Signalen in bestimmte Reize der Sinnesorgane den üblichen Abläufen der Stammesentwicklung gefolgt ist. Völlig unbekannt ist dagegen, worin die uns so geläufigen Sinnesqualitäten selber bestehen, ja selbst über die Bühne ihres Auftritts wissen wir nichts, über unseren inneren Präsentationsraum. Deutungsversuche zu diesen Erscheinungen finden sich erwartungsgemäß vor allem im Umkreis der Romantik. Aster (S. 336) schreibt, dass z. B. Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer den Punkt, an dem sich uns der Weg über die „Erscheinung“ zum „An sich“ öffnet, im ICH suchen; Goethe würde sich da wohl anschließen.

Wenn nun unser „Realismus“ sowieso im Kopf stattfindet, kann man Expressionisten wie Franz Marc nicht gut vorwerfen, dass sie die Welt umgefärbt darstellen. Sie und wir alle sehen ja schon immer unsere eigenen und vielleicht ganz persönlichen Farben, für die wir je selber das „Urheberrecht“ haben. Nun leben wir fast alle in einer von Reizen überfluteten Umwelt, und das nötigt auch dem Künstler immer stärkere Signale ab, vor allem, wenn es um Emotionen geht. Aber zugegeben: Auf diese Weise schaukelt man gemeinsam den Reizpegel hoch.

Die modernen Maler nehmen also ein Verfügungsrecht wahr, das nur auf seine Entdeckung gewartet hatte. Sie entdeckten dabei, vielleicht mit Goethes Farbenlehre beginnend, das erstaunliche Eigenleben der Lichterscheinungen. Im 20. Jahrhundert schließen sich Experimente wie Robert Delaunays Farbkreise an, die wir im Pariser Centre Pompidou bewundern können und denen sich August Macke angeschlossen hatte. Vom Eigenleben der Farben zu dem der Formen war dann nur kleiner Schritt, etwa zu Lyonel Feiningers Ortschaften und zum Kubismus. Biologisch kann dieses Vorhaben aber dann nicht mehr überzeugen, wenn es die Natur meint. Gärten und Architektur mögen es sich gefallen lassen, sie sind ja per se Umsetzungen menschlichen Planens. Der Kreis dieser Betrachtung schließt sich von selbst, wenn uns bewusst wird, dass die Musik mit ihren Klängen und Rhythmen von jeher so umgeht.

An ihre Grenze kommen alle Aktivitäten, wenn ihre Produkte nicht mehr verstehbar sind und dann nicht wirklich kommuniziert werden können, weil sich das Ich einsam gegen den Rest der Welt abschließt. Die Kunst lebt aus der Sehnsucht nach mindestens einem Du. Und auch Weltbilder haben etwas mit Kunst zu tun.

Die neuere Naturwissenschaft ergänzt das Weltbild auf andere Weise: Zunächst wissen die Biologen, dass die Sinneseindrücke bei höheren Lebewesen aus den physikalisch-chemischen Möglichkeiten der Sinnesorgane und Gehirne einerseits und aus dem unterschiedlichen Geschehen der Auslese andererseits hervorgegangen sind. Aber nun kommen – gerade zum Verdruss der Romantiker – die vielen technischen Möglichkeiten hinzu, durch immer bessere Apparate Informationen zu bekommen. Wie für Kant in seinen kritischen Untersuchungen ist es dabei auch für uns immer wichtig, Grundlagen und vor allem auch Grenzen der Gültigkeit verwendeter Begriffe und Grundsätze zu beachten. Die Daten selbst liegen primär zunehmend in den Formelsprachen der Technik vor und haben ihre Individualität verloren. Erst sekundär wandelt man sie vielleicht in Tabellen und Schaubilder um, damit sie wieder einem breiteren Publikum zugänglich werden (siehe hierzu weiter unten Abb. 2). Zunehmend erscheinen uns nun die meisten Naturdinge sachlich neutral. Ein Problem bleibt allerdings: Auch dem Physiker zeigt sich nur, was mit seinen Apparaten in Wechselwirkung tritt, und das ist beileibe nicht alles.

Das direkte, naive Weltbild hat Erlebnisse und macht daraus, interpretierend, ein Bild. Das abgeleitete hat Messungen, die es erlebbar darstellt. Beides wird von uns verwoben. Ist nun unser Dasein (im Sinne Heideggers) ein „In-der-Welt-Sein“, dann gehören Mensch und Welt unauflösbar zusammen: Das Weltbild wird zum Ernstfall des Daseins.

1.2 Weltbilder im Angebot

Wer heute unsere Welt betrachtet, wie das mit ausgeklügelten Instrumenten möglich ist, der sieht eine riesige Kugel aus Phänomenen mit von innen nach außen wachsendem Alter. Seine eigene, heutige Präsenz bildet die Mitte und ganz draußen liegen zig Milliarden Jahre alte Erscheinungen. Diese Einschränkung unserer Möglichkeiten, die eine Folge der unabänderlichen Lichtgeschwindigkeit ist, sie soll zu unserer bleibenden Verunsicherung am Anfang stehen. Und die besonders rätselhafte Teilchenverschränkung? Die ändert daran nichts; sie ist gewissermaßen Privatsache der beteiligten Teilchen.

Das jeweilige Weltbild war nicht immer und überall so stark im Umbau und Aufbau begriffen wie jetzt. Bis zum Mittelalter waren zwar die Lebensumstände wechselvoll, wenn wir etwa an die Zeit der europäischen Völkerwanderungen denken; aber wirklich neuartige Beobachtungen blieben selten, so dass die in den Mythen der Völker überlieferten Weltbilder für Jahrtausende genügten. Wohl sind schon aus dem Altertum auch Beobachtungen bis hinauf zum Sternenzelt bekannt, doch dem erblühenden Abendland war zunächst nur die geozentrische Vorstellung mit der ptolemäischen Himmelskunde – der einzigen damals zur praktischen Orientierung geeigneten – und mit einem konstanten Pflanzen- und Tierbestand überliefert worden. Die keltischen, germanischen und slawischen Mythen mit ihren Götterwelten hatten nur verblassende Spuren hinterlassen, und nun wurde das von den Christen vermittelte Weltbild der biblischen „Genesis“ maßgebend, eine korrigierte orientalische Mythologie, in der z. B. die Sterne ihren göttlichen Status schon verloren hatten. Dann kam aus verschiedenen Quellen die griechisch-römische Mythologie hinzu. Zwischen der antiken Philosophie und dem biblischen Weltbild gab es ein Konfliktpotenzial, dessen Auflösung nun anstand. Für die Bemühung um ein gemeinsames Weltbild sind etwa die Namen Albertus Magnus (um 1200–1280) und seines Schülers Thomas von Aquin zu nennen (vgl. Craemer-Ruegenberg 2004). Man kann nicht sagen, dass es wirklich gelungen sei, die Vorstellungen aus den hellenistischen Sklavenhaltergesellschaften mit denen des Jesus von Nazareth zu versöhnen. Zum antiken Weltbild gehören außerdem der Mangel an menschlichen Erfahrungen und die Kopfgeburt eines hierarchischen Weltsystems. Aus dessen Schatzkästlein soll hier nur die Behauptung des „physiologischen Schwachsinns des Weibes“ erwähnt werden, die immerhin die Hälfte der Menschheit langfristig entmündigte.

Wachsende technische Verbesserungen brachten die Mittel für die Naturbeobachtungen und die zunehmende Befreiung der Wissenschaften aus sachfremden Vorgaben; und seither erlebt das Abendland einen raschen Zugewinn an Wissen über Welt und Geschichte. Einige Wegmarken dieses Prozesses werden sich am Rande unserer späteren Ausführungen zeigen. Im Schoße der mittelalterlichen Kultur begann so die Dynamik der Neuzeit. Diese setzte in Form großer Entdeckungen ein, die zu „der Aufklärung“ geführt hatten, die inzwischen zu unserem gemeinsamen Wissen gehört, das vorausgesetzt werden kann. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert feierten die Erforscher der Kosmologie und der Biologie neue Triumphe, und das herrschende Weltbild bekam eine evolutionäre Grundlage.

Was die Erde angeht, über die wir inzwischen ständig unterrichtet werden, so hat sie sich seit langem kaum verändert, wir können sie bereisen und uns auf ihr zu Hause fühlen (Abb. 1). Doch immer wieder werden wir an den Einfluss erst jüngst erkannter Strukturen erinnert und sogar mit nützlichen und gefährlichen anthropogenen Phänomenen konfrontiert. Zwei willkürliche Beispiele sind als Kontrast in Abb. 2 angedeutet.

Abb. 1: „Woher kommst du geflogen?“, fragten unsere Töchter Uta und Wiltrud 1972. „Aus Esperanza in Argentinien.“ „Woher?“ Da haben wir gemeinsam die jetzige Erdgestalt aus dem Atlas auf diese Styroporkugel gemalt (Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis).

Abb. 2: unten: Messungen zeigen die Vorgänge der Plattentektonik, die unseren Globus langfristig immer wieder verändern. An den orangefarbenen Linien dringt Material des Erdmantels auf, während Krustenmaterial an den violetten Subduktionszonen (meist Tiefseegräben) eíngezogen wird. Für die Details gibt es gute Literatur. oben: Das (hier olive) Magnetfeld der hellblau gemalten Erde leitet elektrisch geladene Teilchen des Sonnenwindes (orange Pfeile) um die Erde herum. Sie dringen meist nur an den Polen in die Atmosphäre ein. Viele Teilchen werden eine Zeit lang in den „Van-Allen-Gürteln“ (grün bzw. gelb angeschnittene Ringe im Magnetfeld) gefangen. Hier wird gezeigt, dass die Ergebnisse vieler Messungen erst nach Umwandlung in Zeichnungen unser Weltbild bereichern.

Wenn wir auf Ansätze der jüngeren Philosophie hinweisen, welche die Struktur des inzwischen erreichten Weltbildes zu deuten versuchen, haben wir zu bedenken, wie begrenzt unsere Erfahrung ist. Zudem trennt man inzwischen die erkennbare Natur von allem dazu „Transzendenten“. Jenes aber bleibt uns dunkel, und wir müssen darauf verzichten, auch noch das zu ergründen, was nicht sinnlich erfahrbar ist; denn wir verfügen nicht über die Möglichkeit der Überprüfung. Damit reduziert sich die erlaubte Methodik weitgehend auf die Instrumente, die den Naturwissenschaften zur Verfügung stehen – unter dem ausdrücklichen Bekenntnis zur Unerreichbarkeit des möglichen Transzendenten. Wir schließen uns aber keineswegs der Meinung an, was wir nicht erfassen, gäbe es nicht.

Es ist bemerkenswert, dass unser Material zu großen Teilen uralt ist, sei es als Himmelserscheinungen, die sich durch ihre Entfernung zur Erde einerseits und die konstante Lichtgeschwindigkeit andererseits eine bis in die Jahrmilliarden reichende Alterszuweisung gefallen lassen mussten, sei es als terrestrische Zeugnisse, die als fossil erkannt wurden, oder solche, für die mit physikochemischen Methoden ein bisweilen hohes Alter gemessen wurde.

Die aufkommende historische Forschung erwies die Gegenstände der Erkenntnis als geschichtlich und entdeckte eine weitgehende Unabhängigkeit der Epochen und konnte schreiben: „Ich aber behaupte: Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht … in ihrem eigenen Selbst“ (Leopold v. Ranke, zitiert von J. v. Uexküll, 1956, S. 150). Noch an der Wende zum 20. Jahrhundert war das technisch aufstrebende Europa von wissenschaftlichem Elan und evolutionärer Fortschrittshoffnung beseelt, es hatte seine Grenzerlebnisse noch nicht erleiden müssen, und das naturwissenschaftliche Weltbild kannte weder die Relativität von Raum und Zeit noch die Anfangssingularität des Urknalls.

Doch schon hatte Wilhelm Dilthey (1833–1911), dessen Lebensbegriff nach R. Mayer (1921/1988, S. XI) mit Hegels Begriff des Geistes konvergiert, seinen Schlussakkord im Denken der Neuzeit zum Klingen gebracht (Dilthey, 1924/2008). Darin stellt er – relevant auch für unser Weltbild – fest, dass es eine einheitliche Perspektive für die Anschauung der Welt nicht geben kann, sondern dass deren drei nötig sind:

„Die Wirklichkeitserkenntnis hat ihre Grundlage in dem Studium der Natur. Denn dieses allein vermag den Tatsachen eine Ordnung nach Gesetzen abzugewinnen.“ Darin regiert die Kausalität. Diese Welterklärung (die man selbstverständlich nicht auf Außernatürliches anwenden kann) nimmt aber leicht „die Form der Interpretation der geistigen aus dieser physischen Welt an“.

Sind dagegen Anschauung und Verhalten vom Gefühl bestimmt, richtet sich die Aufmerksamkeit auf Werte und Sinn und erblickt in dem „vielen Einzelwirkenden ein ihm immanentes Göttliches, das nach dem im Bewusstsein auffindbaren Verhältnis teleologischer Kausalität die Erscheinungen bestimmt“.

„Wenn aber das Willensverhalten die Weltauffassung bestimmt, dann entspringt das Schema der Unabhängigkeit des Geistes oder seiner Transzendenz.“ „Jede dieser Weltanschauungen enthält in der Sphäre des gegenständlichen Auffassens eine Verbindung von Welterkenntnis, Lebenswürdigung und Prinzipien des Handelns“ (Dilthey, a. a. O., S. 100, 101).

Am Ende seines Wirkens schreibt Dilthey in seiner Dankesrede „Traum“: „Diese Typen der Weltanschauung behaupteten sich nebeneinander im Laufe der Jahrhunderte. Es ist uns versagt, diese Seiten zusammenzuschauen. Das reine Licht der Wahrheit ist nur in verschieden gebrochenem Strahl für uns zu erblicken“ (Dilthey, a. a. O., S. 155).

Im frühen 20. Jahrhundert treten unter dem Eindruck der Weltkriegserlebnisse Existenzialismus und Phänomenologie, Dialogisches Denken sowie nihilistische Vorstellungen auf. Auch die Frage nach dem SEIN und seinem Sinn wird reaktiviert. Die Phänomenologie Husserls (1859–1938) bedeutet den Beginn einer grundsätzlichen Zuwendung der philosophischen Weltbild-Maler zur Welt selber, indem Husserl sich und seinen Schülern auferlegte: „Wir wollen auf ,die Sachen selbst‘ zurückgehen.“ Das führt von der Zentrierung auf das Subjekt weg und damit auch weg vom Idealismus (vgl. Loos, 2013, S. 19–24).

Die Naturphilosophie wird nun zunehmend durch die Entdeckungen der Kosmologie verunsichert. Dort hatte zu Sir Rutherfords Zeiten die unermessliche Leere in und zwischen den Atomen ungläubiges Staunen erregt, aber nun kam deren Erfülltheit mit Kraftfeldern in den Blick, wie auch der innere Aufbau der Atomkerne bis herunter zu den Quarks, der Teilchen-Welle-Dualismus und die Vermittlung der Kräfte durch Austauschteilchen, sogenannte Bosonen. Bei Letzteren war das Photon sogar der täglichen Erfahrung schon geläufig, während in jüngster Zeit das Higgs-Boson zu Medienaufmerksamkeit („Gottesteilchen“) kam. In der Physik nimmt die Suche nach inneren Strukturen sportliche Dimensionen an, wobei man sogar den Aufbau von Quarks hoffnungsfroh untersucht und für deren Bestandteile schon den Namen Preonen reserviert hat – falls es sie denn gibt (Don Lincoln, 2013, S. 46–53). Das wird hier erwähnt, weil es zeigt, wie das Denken in allen Bereichen ähnliche Wege geht.

1.3 Annäherung an die Probleme des Lebendigen

Die physikalische Grundlage der Naturwissenschaften enthält allerdings Paradoxa: der Zeit, der Quantenphysik und der Kosmologie. Und für das evolutionäre Weltbild ist das Paradox der Zeit ein kritischer Punkt, weil es insbesondere die Entstehung komplexer Strukturen im Dunklen lässt. Gerade aus dieser Klemme hat Ilya Prigogine herausgeführt und dafür 1977 den Nobelpreis für Chemie bekommen. Die nötigsten Informationen entnehme ich dem Wikipedia-Artikel „Ilya Prigogine“:

Die klassische Physik behandelte ihre Themen unabhängig von der jeweiligen Zeit und ihrer Richtung, die für sie umkehrbar ist. Sie konnte deswegen thermodynamische Probleme nur für abgeschlossene Systeme im Gleichgewicht lösen und erkannte für solche Systeme eine Zunahme der Entropie, also der Unordnung. Prigogine untersuchte das Verhalten offener Systeme fern vom Gleichgewicht, die Energie und/oder Stoffe mit ihrer Umgebung austauschen. Das sind die Dissipativen Strukturen, und diese hält der Durchfluss von Energie vom Gleichgewicht fern. Unter diesen Bedingungen können Ordnung und stabile Strukturen entstehen, die Entropie im Inneren also abnehmen, während sie außerhalb entsprechend zunimmt. Für gewisse dissipative Strukturen, deren Chemie jener von Lebewesen entspricht, hat Prigogine höhere Ordnungsniveaus aus chaotischen Grundzuständen mathematisch herleiten können. Mit der Theorie dissipativer Strukturen hat er, wie im genannten Wikipedia-Artikel festgestellt wird, erstmals Geschichtlichkeit und irreversible Ereignisse in die Physik integriert und damit ein auch für unser Thema wichtiges Tor zum gemeinsamen Weltbild geöffnet. „Die Physik der Nichtgleichgewichtsprozesse, mit der sich Begriffe wie Selbstorganisation und dissipative Strukturen verbinden, führt den Zeitpfeil ein, also den Begriff der Irreversibilität. Diese spielt eine konstruktive Rolle: Die Entstehung des Lebens wäre ohne sie undenkbar“ (a. a. O., S. 3).

Damit war die Möglichkeit der spontanen Entstehung von Leben (Urzeugung) erwiesen. Aber noch konnten sich die Biologen nur schwer vorstellen, dass Leben ohne eine geheimnisvolle Kraft auskommen kann, ohne eine vis vitalis oder Entelechie. Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts spielte dieser Vitalismus eine Rolle. Selbst der erfolgreiche Entwicklungsphysiologe Hans Driesch hielt daran fest, dass eine „Maschine“ undenkbar sei, die überall im Körper dessen Bauplan bereithalten könne, wie es für Regenerationsversuche notwendig wäre. Doch dann zeigte sich, dass die Erbanlagen in allen Zellkernen und damit in großer Zahl bereitstehen – ein Beispiel dafür, wie auch Fortschritte der Biologie unser Weltbild immer wieder umgestalten.

Als die biologische Evolution entdeckt und zunehmend aufgeklärt wurde, zeigte sich, dass mit den Körpern auch das Verhalten an der großen Entwicklung beteiligt war. Sonst hätten die Lebewesen nie in ihrem jeweiligen Ambiente Fuß fassen können und hätten sich erst recht nicht aneinander – miteinander oder gegeneinander, je nachdem – vervollkommnen können. Die wohl erste umfassende Darstellung der „Naturgeschichte menschlichen Erkennens“ wurde von Konrad Lorenz 1973 vorgelegt (wir zitieren hier aus der Taschenbuchausgabe von 1979).

Leider lässt es Konrad Lorenz bezüglich der Menschwerdung mit der Erfindung des begrifflichen Denkens bewenden und übersieht sowohl die Bedeutung als auch die Eigenständigkeit des dialogischen Verhaltens. Es ist auch anzumerken, dass ihm entgangen ist, dass beim darwinistischen Evolutionsgeschehen nicht nur Mutation und Auslese, sondern auch jeweils in geeigneter Weise veränderliche, also mutierbare Grundstrukturen vorauszusetzen sind.

In der kulturellen und auch politischen Kommunikation zeigt sich die stets naheliegende Unterdrückung von Fakten im Weltbild aus der Gesellschaft heraus: Wie Heidegger (in „Sein und Zeit“, 1926/2006) erkennt, dringt das Sein des Daseins meist nicht zu seiner eigentlichen Möglichkeit durch, sondern verdeckt sie durch die Sorge, die geleitet wird vom Man mit seinem Gerede, seiner Neugier und Zweideutigkeit (a. a. O., §§ 35–37). Damit repräsentiert das „Man“ aber andererseits die alltägliche Kultur des jeweiligen sozialen Umfeldes, ohne das kein Mensch existieren kann. Was sich ihm im zeitlichen Querschnitt als „Verfallen“ zeigt, sehen wir im Längsschnitt, historisch, als den erreichten Stand der biologischen und dann auch kulturellen Entwicklung der Menschheit. Ohne Bezug auf Heidegger stellt Martin Buber (2002, S. 16) fest: „Das Ich des Grundwortes Ich-Es, das Ich also, dem nicht ein Du gegenüber leibt, sondern das von einer Vielheit von »Inhalten« umstanden ist, hat nur Vergangenheit, keine Gegenwart. Mit anderen Worten: Insofern der Mensch sich an den Dingen genügen lässt, die er erfährt und gebraucht, lebt er in der Vergangenheit, und sein Augenblick ist ohne Präsenz.“ Das können wir auf Heideggers „Man“ übertragen.

Biologisch beruht die Entwicklung des Weltbildes vor allem auf einer Optimierung der Gehirne, die in den Individuen als den Gliedern von Generationsketten stattfindet. Für uns besteht ein Hauptproblem darin, dass sich im jeweiligen „Man“ ganze Netzwerke von Individuen bzw. ihren Einzelgehirnen kollektiv so ausdrücken, wie es die kulturellen Möglichkeiten jeweils nahelegen. Ein Übergehirn gibt es ja nicht. Die biologische Entsprechung ist gegeben in der Aufteilung der Art in Individuen mit ihren Einzelhirnen und deren Kooperation in Paaren, Familien, Gesellschaften und Generationen. Damit zeigt sich die „Sorge“ als Nachfolgerin einstiger biologischer Strukturen, als verbliebene Bindung und Verbindlichkeit, wobei nun die Entscheidungen, die namens und für Sozietäten getroffen werden, mit Einzelinteressen konkurrieren. Das „Man“ aber ist, wenn wir es so im Rahmen der Evolution deuten, das Ergebnis des alltäglichen Verhaltensbedarfs in Wildnis wie Zivilisation. Damit hat alles „uneigentliche“ Verständnis als Verständnis der begegnenden Welt eine sehr unmittelbare, doch nur bedingt zuverlässige Quelle. Wohl war inzwischen deutlich geworden, dass eine Philosophie notwendig ist, die ohne Vor-Urteile von ihren Gegenständen selber ausgeht, also eine phänomenologische Grundlage hat, denn Phänomenologie heißt: „Das, was sich zeigt, so, wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ (Heidegger), was für den authentischen Charakter eines Weltbildes unerlässlich ist.

Eine solche Phänomenologie mit Bodenhaftung wurde dann in mehreren Schritten entwickelt. Einer ist die Strukturphänomenologie Heinrich Rombachs (vgl. D. Lorenz, 2013, S. 127–147), fortgesetzt von Klaus Hemmerle.

Das eng verwandte dialogische Denken hat einen seiner Startpunkte bei Dilthey: Buber hatte ihn, was die Philosophie angeht, als seinen Lehrer angesehen, nach dessen Programm sich auch Rosenzweig gerichtet hat (Casper, S. 18 bzw. 66), der sich weiterhin auf Schelling und Hermann Cohen beruft. Ebners Weg begann eher direkt bei den Philologen (Bernhard Casper, 2002, S. 15). Dass die dialogischen Denker insbesondere von Heidegger nicht beachtet wurden, ist vielleicht zeitgeschichtlich bedingt, haben doch gerade Buber und Rosenzweig die Heiligen Schriften vor allem für die jüdischen Gemeinden ins Deutsche übersetzt.

Bei allen aber ist eine starke Beziehung zur Sprachphilosophie zu spüren, für die Sprache zwar Geschichte hat, aber nicht mit der biologischen Evolution zusammen betrachtet wird. Übrigens kann man diese geistig so beweglichen Denker einer aufregenden, turbulenten Epoche nicht auf ihre Lehrer festlegen. Vielmehr hätten sie und andere die Epoche prägen können. Doch Politiker jeder Couleur und auch die Wirtschaft waren in alten Ideologien gefangen und Hinhören war deren Sache nicht.

Dem dialogischen Denken fehlt in seiner ursprünglichen Gestalt die Verbindung zur Naturgeschichte. Um hier eine Brücke zu bauen, werden wir ihm einigen Zwang antun müssen; denn in die Geschichte der Natur und des Menschen tritt es als Komponente des Verhaltens ein, und als dialogisches Verhalten werden wir es später auch definieren müssen.

Der vorliegende Text sieht das dialogische Verhalten in engem Zusammenhang mit der Menschwerdung; denn die beim Menschen vorgefundene und von der Wissenschaft gut belegte Abschwächung vieler biologischer Festlegungen des Verhaltens schafft nicht nur die notwendige Freiheit zur Realisierung von Aktionen, die aus dem erwachenden einsichtigen Denken kommen; sie erlaubt auch erst ein dialogisches Verhalten. Was dadurch möglich wird, ist andererseits für jene Abschwächung notwendig. Es handelt sich insgesamt um einen zusammenhängenden Entwicklungsprozess, eine Koevolution, die zwingend zur Menschwerdung gehört.

Eine Grundfrage jeden Weltbildes ist die nach dem Sein. Schon der späte Schelling hatte es vor das Denken gesetzt. „Denn nicht, weil es ein Denken gibt, gibt es ein Seyn, sondern weil ein Seyn ist, gibt es ein Denken“, zitiert ihn Reinhold Mayer (in Rosenzweig, 1921/1988, S. XXV). Auch verliert es bei den Dialogischen Denkern seinen feststellenden und verfügenden Charakter. Es bleibt aber weiterhin so stark an der Sprache festgemacht, dass das Sein der vormenschlichen Lebenswelt hier kaum Aufmerksamkeit erlangt. Denn „Sein zeigt sich“ jetzt „als das sich je neu im Zwischen Ereignende, das in der je neu sich ereignenden Sprache zwischen Menschen hell wird und zum Ausdruck kommt als das der Zeit und des Anderen, der ist wie ich, bedürfende“ (Casper, a. a. O., S. 332). Auch die konstituierende Rolle der Sprache für das Sein können wir nicht akzeptieren, da wir daran festhalten, dass Sein – und sogar Erkennen – vor der Sprache möglich ist. Wohl respektieren wir die Bedeutung der Sprache für das dialogische Verhältnis.

Rosenzweig, 1921/1988, stellt die Zuspitzung der Ontologie auf die Frage: „Was ist eigentlich ...?“, fest und sieht darin einen entscheidenden Fehler. Nun zielt aber die Naturwissenschaft gerade mit dieser Frage auf ihre Ergebnisse. Und auch wir benötigen zur Abgrenzung des dialogischen Verhaltens einen Satz von entsprechenden Antworten – Definitionen. Wie anders könnten wir arbeiten? Bei genauer Überlegung zeigt sich jedoch, dass es eigentlich um die Frage geht: „Was macht eigentlich ...?“, womit die Dynamik berücksichtigt wird.

Leider hat kaum jemand den Brückenschlag vom dialogischen Menschen zur übrigen Natur im Sinn. Andererseits wird von naturphilosophischer Seite aus der Mensch nicht als dialogischer wahrgenommen. Zur Zeit wird der Mensch meist nur so weit in die Naturphilosophie einbezogen, wie er und seine Kulturen darwinistisch darstellbar sind.

Das bei den Lebewesen so wichtige schweigende Erkennen war unbeachtet geblieben, bis Carus und später Freud das Unbewusste entdeckten. Und das stille, aber mächtige Schaffen der Evolution kam erst nach und nach in den Blick. Das Problem liegt bei der Schnittstelle zwischen unbewusstem und bewusstem Erkennen. Erst die evolutionäre Erkenntnistheorie bekam das Wirken der stummen ratiomorphen Erkenntnis in den Blick, die spätestens seit der Menschwerdung von der uns bekannteren rationalen zu verbalen Aussagen (Begriffen) führenden Erkenntnis ergänzt wird.

1.4 Ein Weltbild auf Grundlage der evolutionären Erkenntnistheorie

Für die Frage: „Was ist eigentlich?“, musste die Menschheit übrigens nicht auf die Philosophen warten, denn als Überlebensfrage stellte sie sich schon unseren frühesten Vorfahren bei jedem verdächtigen Rascheln im Wald, bei jedem auffälligen Muster im Laub und bei allen Bewegungen im Gras der Steppe. Lebenswichtig war also das Erkennen von Gefahren, aber außerdem von Nahrung, Weg, Geschlechtspartner, andere Artgenossen und allem anderen, was jeweils zur Umwelt eines Lebewesens gehört. Solche Umwelten gehören zu den Lebewesen und sind von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen abhängig, und somit gibt es deren viele, wie besonders Jakob Johann von Uexküll gezeigt hat.

Auf der Grundlage intensiver Beobachtungen und ihrer Zuordnung zum Stammbusch der Lebewesen ergibt sich eine evolutionäre Erkenntnistheorie, wie sie in den 1970er Jahren im Kreis um Konrad Lorenz auf der Grundlage der vergleichenden Verhaltenskunde formuliert wurde. Sie sagt uns, dass das Leben bei seiner Evolution selbst die notwendigen Methoden „erfunden“ hat, da es nur so bestehen konnte. Dafür hatte Campbell den Begriff „hypothetischer Realismus“ geprägt (K. Lorenz, 1979).

Das Leben lernt demnach, indem es den Lehrstoff aus der Umgebung extrahiert (R. Riedl, 1980). So waren schon die vernunftlosen (wenngleich nicht unvernünftigen) lebendigen Gebilde der Urzeit in der Lage, relevante Strukturen ihrer Umwelt wiederzuerkennen und diese Kenntnis zu vererben. Ihre für (und durch) diese Aufgabe zunehmend optimierten Einrichtungen bezeichnet man als ratiomorphe Apparate, bei denen es sich um die Ergebnisse einer sehr langen Koevolution unter ständiger Kontrolle der Umwelt handelt. Sie sind der Vernunft analog und werden beim Menschen zunehmend von der Vernunft selber abgelöst. Wenn es sich so verhält, dann müssen wir uns wohl nicht um die Möglichkeit des folgerichtigen Schließens, um die Logik kümmern. Hätte der Mensch diese Fähigkeit nicht in die Wiege gelegt bekommen, hätte die Menschheit sich nicht optimieren, ja nicht einmal entstehen und in der Natur überleben können.

1.5 Wobei ein Weltbild Schaden nehmen kann

Wenig sinnvoll ist die Konstruktion von Weltbildern in Anlehnung an eine Ideologie. Richtet sich das Weltbild z. B. an Platon oder Aristoteles aus oder ist es auf den Materialismus als Grundlage festgelegt, setzt es die exklusive Gültigkeit des Darwinismus voraus oder bleibt es eng an den Schöpfungsmythos der biblischen „Genesis“ gebunden, dann ist es jeweils zu weitgehend vorbestimmt.

Nach einem Artikel von Annette Claus im Bonner Generalanzeiger vom 15./16.03.2014 sagt der Bonner Psychiater René Hurlemann: „Liebesschwüre, Liebeskummer, Treue, Verrat, überhaupt die ganz große Liebe sowie sämtliche Gedichte, Bücher und Lieder, die Menschen je über sie geschrieben haben: Aus naturwissenschaftlicher Sicht verbrämen sie etwas sehr Profanes, denn Liebe ist nicht mehr und nicht weniger als ein biochemischer Prozess.“ Dass alles, was Menschen aus Fleisch und Blut geschieht, sich in einem biochemischen Kontext abspielt und dort Strukturen vorfindet, die den körperlichen Anteil des Geschehens übernehmen, ist trivial. Aber ebenso selbstverständlich ist doch, dass es die andere Seite des während vieler Jahrmillionen evolutionär organisierten Geschehens gibt mit wachsenden Neuronenzahlen und ihren Verknüpfungen, mit Gefühlen, Gedanken, Entscheidungen und Taten, ohne die nur ein chemisches Chaos und höchstens ein Sturm in der Retorte erfolgt. Alle vorgestellten Experimente können die Erfahrung nicht entkräften, dass die Erinnerung an eine zärtliche Umarmung sehr haltbar sein kann und sogar das bewirken mag, was wir Prägung nennen, und dass die Detailfülle eines Erlebnisses für dessen Erinnerung wichtig ist, da ja der Botenstoff oft gleich, also unspezifisch ist. In diesem Fall geht es um die Reduktion auf das genetisch Vorgegebene. Ein Analogon dazu wäre die Behauptung, dass im Staat Parlament und Regierung nur ausführend für die Gesetzbücher tätig sind statt umgekehrt. Das genüge zur Kennzeichnung dessen, was man Reduktionismus nennt und was ein evolutionäres Weltbild entwertet. Ein Phänomen sei „nicht mehr und nicht weniger als“, bedeutet regelmäßig eine ungerechtfertigte, unnötige und kommunikationsfeindliche Grenzüberschreitung im wissenschaftlichen Diskurs.

Jedes Weltbild muss heute berücksichtigen, dass in den letzten hundertzwanzig Jahren die Physik, und parallel dazu die Psychologie, die noch von Kant als Voraussetzung allen Denkens erhobenen Kategorien und damit den Rahmen relativiert hat, in dem unter anderem auch alles Leben erklärt werden muss und der nach Einsteins Relativitätstheorien von der Raumzeit mit ihrer besonderen Dynamik aufgespannt wird. Dadurch, dass sich die Astrophysik von der Vorstellung des ewig gleichen Universums verabschiedet hatte, wurde das neuzeitliche Systemdenken (wie etwa das hegelsche) entwertet, eben relativiert. Die Quantenmechanik hat Phänomene wie eine prinzipielle Unschärfe aufgedeckt und damit der Erkennbarkeit der Welt unüberwindbare physikalische Grenzen aufgezeigt. Auf biologischer Seite schließlich hat die evolutionäre Erkenntnistheorie sogar Raum und Zeit als „Kategorien a posteriori“ erkannt, die vom ratiomorphen Apparat beim Begegnen mit den Dingen dieser Welt extrahiert worden sind.