Spätlese, trocken. - Siegfried Stephan - E-Book

Spätlese, trocken. E-Book

Siegfried Stephan

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Beschreibung

Länger als 2000 Jahre haben die Christen vor allem Jesu Lehre gesammelt, und Beiträge zur Ethik haben eine große Rolle gespielt. Dabei lag die Betonung auf Gleichnissen, also auf Geschichten aus dem Leben. Bei meiner Auswahl habe ich mich bemüht, die Vielfalt zu Wort kommen zu lassen; denn alle Zeiten hindurch zeigte sich die Menschheit zunehmend bunt. Als 2016 bei BoD mein Buch Naturgeschichte und dialogisches Verhalten als Quellen der Sozialethik erschien, wurde mir klar, dass die bei weitem wichtigsten Quellen der Sozialethik die Religionen sind, und dass das Christentum als die Lehre Jesu von Nazareths nicht nur besonders gut zugänglich ist, sondern auch allen Vergleichen standhält. In den folgenden Jahren erschloss ich diese Quellen, vor allem in der Übersetzung von Fridolin Stier und präsentierte die Ergebnisse im Rahmen ihres Kontextes. Das Ziel der Ethik, die Anwendung auf unsere Probleme, führte dazu, die Arbeit bis in die Neuzeit fortzusetzen und Fortschritte der modernen Wissenschaft zu berücksichtigen.

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Inhalt

Vorwort

Teil 1, JESUS VOLLENDET DIE MENSCHWERDUNG

Auf zum Neuen Testament

Gottes Initiative bei der Inkarnation Jesu

Verkündigung des Engels und Lobpreis Mariens

Maria, Trösterin der Erniedrigten

Die Inkarnation des Göttlichen und die Geburt Jesu

Anfang der Heilsbotschaft nach Markus

Jesus – Sohn Gottes …

… und Menschensohn

In der Wüste klärt sich Jesu Aufgabe

Mit diesem Programm beginnt Jesus zu lehren

Eine erste Begründung dafür, dass wir von Jesu Lehre Rettung erwarten

Jesus beruft Jünger

Die universale Ethik Jesu

Ein Fest für den verlorenen Sohn?

Es geht zuerst um den Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn

Jesus betet für alle, die das Wort annehmen – aber nicht für die Welt

Gottesliebe zusammen mit Nächstenliebe …

...

aber stets bedroht durch Eigeninteressen

Mehr über Jesu Gleichnisse

Wanderprediger: Heilungen, Wunder, Aussendung der Jünger

Die Heilungen

Ein Wahn namens Legion

Aussatz

Wunder als Zeichen von Glauben und Macht

Das Gesetz Christi – zunächst eine Ethik für die Jünger

Aussendung der Jünger

Eine Zwischenfrage: Wie reagiert Jesus auf offenbare Sünder?

Was uns Jesus sonst noch über Gott und Himmel verrät

Die beiden Schöpfungen

Jesu Lehre vom Himmelreich

Das Himmelreich und sein doppelter Advent

Lob der Zugänge zum Himmelreich

Für die Erde gut – und Voraussetzung für den Himmel?

Das Himmelreich ist so nah und so fern

Kreationisten und die verzögerte Parusie

Naherwartung und Messianische Ära

Übrigens ist die Zeit eine problematische Kategorie

Versuch einer direkten Annäherung an das, was »Himmelreich« meint

Jesu »Bergpredigt« lehrt eine Ethik neuer Art

Das Gute und die Politik

Gehorsam und Freiheit

Die Seligpreisungen

Bestätigung und Erhärtung des Gesetzes

Die Versöhnung untereinander

Ehe: Sakrament und Lebensform

Vom Segen freundlicher körperlicher Begegnungen

Freundschaft braucht Diskretion

Epigenetik

Darauf kann man schwören

Vom Amtseid

Problematisch: »Dem Bösen nicht widerstehen« (Feindesliebe)

Islam als Antithese

Weiter lehrt Jesus (laut Matthäus):

Tradierte und von Jesus bestätigte Gebote

Jesus lehrte als einer, der Vollmacht hat

Für die Sendung braucht Jesus – wie alle Propheten – eine Sonderstellung

An wen richtet Jesu seine Mahnungen?

Reinheit und Unreinheit: ein entscheidender Beitrag Jesu zur Ethik

Nicht nur Juden suchen Jesus

Teil 2, JESUS IN SEINER MESSIANISCHEN ZEIT

Jesus auf dem Weg nach Jerusalem

Vorbereitung der Jünger als Zeugen für Jesu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt

Es fällt nicht immer leicht, Gott zu vertrauen

Weibliche Zeugen: Maria und Marta

Fraueninitiativen verschiedenster Art

Auferweckung des Lazarus zur Vergewisserung der Jünger

Gleichnisse statt Gebote

Der Herr und die Kinder

Vergiftete Atmosphäre durch verlogene Selbstdarstellung

Glaubensschwäche?

Bei euch sei es nicht so!

Antworten – verbal oder durch Taten

Das Leitbild

Eine Jesus-Gemeinde? Es steht mehr auf dem Spiel

Ein Mindestmaß an Mitgestaltung der Gesellschaft

Gebet und Ethik

Das Vaterunser: ein Riesenschritt zum Himmelreich

Heilig sich weise Dein Name

Liebe

Das Vaterunser ist Jesu Antwort auf unsere Existenzfragen

Als Abschluss eine Doxologie

Betend »online bleiben«

Das WIR im Vater UNSER

Freundschaft – leiblich und geistig angelegt

Liebe mit Treue und Verfügbarkeit – und der Hass?

Das Abschiedsmahl Jesu

Die Fußwaschung

Die Eucharistie

Wunderbares Zeichen, aber kein Wunder und keine Zauberei

Der gesellige Jesus

Verurteilung und Sterben Jesu, Wachsen seiner Botschaft

Jesus vor den Machthabern

Auferstanden

Jesus nach seiner Himmelfahrt

Das Johannes-Evangelium als eine eigene Ethikquelle

Eins mit dem Vater

Himmel und Erde ganz neu?

Teil 3, DIE KIRCHE UND IHRE BEFREIUNG VON HINDERLICHEN TRADITIONEN: Apostelgeschichte, Römerbrief

Die Apostelgeschichte nach Lukas

Saulus/Paulus

Wie durch Petrus das Christentum zu den Völkern gebracht wurde

Paulus vor den Athenern

Von des Paulus Fahrt nach Rom

Brief des Apostels Paulus an die Römer

TEIL 4, DAS ERBE DER ISRAELITEN

Das ethische Erbe der Israeliten

Die Lebensbedingungen im gelobten Land

Ökologisch wichtige Gebote für einen schwierigen Lebensraum

Nachhaltigkeit

Wenn die Nachhaltigkeit vernachlässigt wird …

...

und das Ackerland knapp wird

Andere Gegend, andere Bedürfnisse

Teil 5, HEUTIGE PROBLEME

Die notwendige Berücksichtigung der Ökologie

Leidende Menschen, gefühllose Natur

Die Warnung der Venus

Die Opfer von Naturkräften

Desertifikation, eine sehr moderne Katastrophe

Jesus lehrt einen Weg darüber hinaus

Zurück zur Lebenspraxis

Reduktion auf den Erfolg

Diakone als Strukturelement

Uns ist die Verantwortung für das Brot für morgen zugewachsen!

Ökologie und Naturschutz vor offenen Fragen

Schwerpunkt Klimaschutz

Ökologie ist eine Frage der Ethik

Was zur Übervölkerung zu sagen wäre

»Laudato si‘«

Hinweise auf das Schicksal der christlichen Ethik in der Kirchengeschichte

Kreuzzüge

Renaissance

Der Fall Galileo Galilei

Information und Ideologie unter der Verbindung von »Thron und Altar«

Absolutismus

Kolonisation und Mission

Die »Theologie der Befreiung«

Befreiung dort, naive Selbstaufgabe hier?

Fallen der Befreiung

Was wäre heute zu tun?

Ökologie ist schwierig, und die Natur verzeiht keine Fehler

Die Staatskunst ist noch heikler

Ist unsere Moral kaputt?

Christentum und Sozialismus, zwei Wege zum »Himmelreich«?

Der ideologische Kampf der Marxisten

Globalisierung

Jesu Ethik und die modernen Imperien

Ein Hinweis auf das politische Schicksal Lateinamerikas

Leitungsstrukturen der Kirche

Gewaltenteilung und Freiheit in und für unsere Gemeinden

Soll ich meines Hüters Bruder sein?

Wie steht es heute mit dem Gottesglauben?

Der Glaube an Gott ist die Grundlage des Verhaltens der Christen …

...

und vielleicht ein Beitrag zur Ethik für Bruder Jedermann

Mit dem persönlichen Reifen kann der Glaube wachsen

Gott erkennen? Wir verstehen doch kaum unsere Welt

Barmherzigkeit als Praxis der Sozialethik

Kein Wein ohne Beeren, keine Weinbeeren ohne Weinstock

FINALE

Anhang: EINFÜHRUNG ZU UNSERER QUELLE

Texte des Neuen Testaments, übersetzt aus uralten Sprachen

Die Texte der frühen Kirche als christliche Offenbarung

Die Präsentation der Botschaft im Gottesdienst

Ethische Probleme durch eine enorme zeitliche Differenzierung

Herkunft unserer Textstellen, »Textkritik« und Bedeutung des Kontextes

Zwischen Textfundamentalisten und Textkritikern

Bemerkung zur sogenannten Textkritik

Quellen und Textstellen

Hinreichend gute Übersetzung noch nach 2000 Jahren

Über die Reinheit dieser Quellen

Literatur

Vorwort

Aus wissenschaftlicher Neugier, aber auch als Beitrag zur Bewältigung der Probleme unseres Lebens und Tuns, hatte sich 2016, für mich selbst unerwartet, aus dem Themenkreis Naturgeschichte und menschliches Verhalten ein Beitrag zur Ethik entwickelt. Nun zeigte sich, dass die Religionen eine viel reichere Quelle der Ethik und damit eine wichtige Aufgabe sind. Mit dem jetzigen Text kann ich Ihnen, lieber Leserin und lieber Leser, die Ergebnisse von fast drei weiteren Jahren Lesen und Nachdenken vorlegen, und zwar vor allem aus der Hauptquelle der christlichen Religion, aus dem »Neuen Testament«.

Dies ist eine späte Suche – sie bestimmte mein 83. Lebensjahr, und da drängt die Zeit. Es ist wie im Weinberg, wo man im Spätherbst nicht weiß, wie viele der letzten überreifen Beeren noch gepflückt werden können – Spätlese eben. Zu sichten sind hier aber keine Trauben, sondern es geht um die Worte Jesu und seiner Jünger, wie sie vor rund zweitausend Jahren »abgefüllt« worden sind – erst recht Spätlese.

Jeder Bibelleser wird von den charaktervollen, doch ziemlich herben Texten überrascht, die man insoweit als trocken bezeichnen kann. Dem Leser soll das zugute kommen: durch ausgiebiges Zitieren aus der erlesenen Übersetzung des Fridolin Stier. Und ich darf es weitgehend beim Neuen Testament belassen, denn das Judentum steht hinter Jesu Lehre. Wer dazu mehr sucht, lese Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung«. Die anderen Religionen konnten mich nur da überzeugen, wo sie ebenfalls zum Dialogischen gelangt sind. Bei den profanen Kulturen aber werden die Verhaltensnormen viel zu stark durch Interessen bestimmt, sie erscheinen mir zu befangen.

Zwei Klarstellungen sind im Voraus notwendig. Die erste betrifft das Verhältnis zwischen Ergebnissen der Philosophie und der Erfahrungswissenschaften. In der Philosophie hat sich »Ockhams Rasiermesser« als nützlich erwiesen, das Sparsamkeit bei Schlussfolgerungen verlangt, während in den Erfahrungswissenschaften allein die Befunde zählen, auch dann, wenn sie komplizierter sind.

Ein einfaches Beispiel: Sigmund Freud (und nicht erst er) hat auf philosophischer Grundlage allem Liebevollen und allem Erotischen den gemeinsamen Namen Libido gegeben. Die Physiologie unterscheidet dabei jedoch mindestens nach den im Hintergrund wirksamen Hormonen zwischen dem Bereich der Wohlfühlhormone und dem Bereich der Geschlechtshormone und verlangt zu Recht eine entsprechende Korrektur (siehe unten!).

Die zweite Schwierigkeit kommt aus der Bewertung der Tradition. Tradition kommt nicht erst aus der Religion, weil entsprechende Überdauerungsinstrumente für alle Generationenfolgen – bis weit ins Tier- und Pflanzenreich – unverzichtbar sind. Der Vererbung in der Biologie entsprechen in der Kultur Tradition und Schrift. An die Stelle der Mutationen aber treten in den Kulturen andersartige Veränderungen, und auch die Ausleseprozesse funktionieren anders. Notwendig sind aber auch hier entsprechende Möglichkeiten, weil sonst keine Evolution möglich wäre, und auch in den Kulturen, einschließlich der Religionen, sind Lernprozesse zur Anpassung und Entwicklung notwendig.

Aber wer den Reden Jesu zugehört hat, dem musste nicht nur die Aufforderung auffallen, dass wir uns ändern sollen. Natürlich zeigt er zunächst betont auf unsere Abweichungen von göttlichen Geboten, vom rechten Weg; doch da gibt er auch Lehren der Form »Moses hat euch gesagt … ich aber sage euch«, jeweils mit Begründung. Also kann nicht jede Schrift des Alten und des Neuen Bundes wörtlich fixierte, unverrückbare Tradition sein, und so ist vieles hinterfragbar. Was ist da noch sicher? Göttliche Gebote und den Propheten anvertraute Gottesreden stehen jedenfalls fest: Gott führt uns nicht in die Irre!

Menschliche Rede aber, so wichtig sie auch für alles geistliche Leben ist, ist immer als Gespräch angelegt mit der Möglichkeit von Irrtum und Korrektur. Wir sind schließlich alle nur Menschen und nur ausnahmsweise spricht Heiliger Geist »wörtlich« aus Menschen. Und weil das so ist, sind unsere Traditionen veränderlich, dürfen reifen, sind kein Besitzstand und Ruhekissen und keine Oase in einer Welt, die sich rapid verändert.

Wollen wir uns über das vergewissern, was da theologisch heute (und von Anfang an) weitgehend gilt, bieten sich die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils an, und man findet sie bei Rahner & Vorgrimler (z. B. 1966) in der »Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung«. Was das Konzil über das zu sagen hat, was man von Gott und der Welt erkennen kann, hat schon der Apostel Paulus im Römerbrief geschrieben, und das Konzil zitiert im 1. Kapitel – Die Offenbarung: »… dass Gott, aller Dinge Ursprung und Ziel, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen selber erkannt werden kann.« (Römerbrief 1, 20). Es lehrt weiter: »… seiner Offenbarung sei es zuzuschreiben, dass, was im Bereich des Göttlichen der menschlichen Vernunft an sich nicht unzugänglich ist, auch in der gegenwärtigen Lage des Menschengeschlechtes von allen leicht, mit sicherer Gewissheit und ohne Beimischung von Irrtum erkannt werden kann.«

Zum Thema der Ethik aber sagte das 2. Kapitel unter Punkt 7. aus: Was Gott zum Heil aller Völker geoffenbart hat, das sollte unversehrt erhalten bleiben. »Darum hat Christus der Herr … den Aposteln geboten, das Evangelium, das er als die Erfüllung der früher ergangenen prophetischen Verheißung selber gebracht und persönlich öffentlich verkündet hat, allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen.« Das ist für mich die Grundlage aller Bemühungen.

Werfen wir einen Blick auf die Verhaltensregeln, die von Jesus gelehrt und in der frühen Kirche tradiert worden sind, dann erfahren wir, dass Jesus und seine Jünger sich zunächst zum jüdischen Volk, in Palästina und in den zahlreichen jüdischen Gemeinden im Nahen Osten, gewendet hatten. Und es zeigte sich, dass in den meisten Synagogen der Weg der Christen abgelehnt und sogar heftig bekämpft wurde. Aus der Apostelgeschichte des Lukas werden wir erfahren, dass nicht nur die Beschneidung der Knaben, sondern auch die »dem Gesetz« im Laufe der Zeit hinzugefügten Gebote den Menschen »aus den Völkern«, also auch uns, erlassen wurden. Von den älteren Reformatoren sind die einen oder anderen Gedanken aus dem Alten Testament wieder aufgegriffen worden, während in den letzten Jahrhunderten eher um alttestamentliche Lehren zur Geschichte der Natur und der Menschen gerungen wird. Wenn nun aber das Anliegen dieses Büchleins der Beitrag des Christentums zu einer rettenden Ethik ist, kann der geschichtskundliche Beitrag des Alten Testaments hier weitgehend unbedacht bleiben.

Die folgenden Sätze ergeben sich aus den hier betrachteten Teilen des Neuen Testaments: der Guten Botschaft nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas und nach Johannes, der Apostelgeschichte des Lukas und dem Brief des Paulus an die Römer. Die meisten konkreten Differenzen zu den Vorgaben des allgemeinen Menschenverstandes und auch der jüdischen Schriftgelehrten erklären sich allein schon aus Jesu Lehre, dass das Böse aus dem Inneren des Menschen kommt und weniger von außen. Wir können in vielen der jüdischen Reinheitsgebote, wie schon in der Beschneidung der Knaben, in erster Linie Alleinstellungsmerkmale sehen, die der Verbreitung der Botschaft und dem gemeinsamen Erreichen des Gottesreiches entgegenstehen. Nach Jesu Lehre sollen sich die Christen vor allem durch ihre Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe von den Anderen absetzen.

Das ist nun auch schon der im Neuen Testament entfaltete Kern der christlichen Ethik, und der ist positiv und nicht negativ. Das Gegenteil, die Absonderung, wie sie manche Sekten lehren, ist demnach unchristlich und langt auch nicht zur Ökumene. Und wer seine Ethik nicht aus dem Neuen Testament ableiten kann und dann irgendwo im Alten Testament oder sogar sonst wo nachgräbt, bewegt sich auf unsicheren Pfaden.

Wird also festgestellt, dass etwas eine Tradition ist, so ist zwar durchaus unsere Aufmerksamkeit angesprochen. Es ist jedoch nicht schon per se unantastbar!

Die Tradition als solche ist also ein legitimes Kind der menschlichen Natur und immer kommt es auf ihren Inhalt an. Sie hat aber außerdem oft Verbindung zu zwei zentralen Begriffen der christlichen Ethik, auf die unbedingt zu achten ist. Das sind die Treue und die Verantwortung, beide mit engster Verbindung zur Liebe.

Das Erbe der Israeliten werde ich den vorzüglichen modernen Quellen entnehmen. Es findet nämlich seine wichtigste Quelle in der Verbindung von Religion und Ökologie.

Um keinen Leser durch zu viel Philologie abzuschrecken, habe ich den Abschnitt, der sich auf die Herkunft und Auslegung der Bibel bezieht, als Anhang an den Schluss gestellt, vor die Liste der verwendeten Literatur.

Teil 1,JESUS VOLLENDET DIE MENSCHWERDUNG

Bemerkung zur Überschrift: Mit Menschwerdung ist gemeint, dass erst in Jesus von Nazareth die Erschaffung der Menschen ihr Ziel erreicht hat. Das meint aber nicht, die Menschheit sei nun als solche perfekt – das kann sie nur zusammen mit Ihm sein –, und sie ist auch insofern nicht komplett, als ihre gesamte Geschichte einschließlich ihrer natürlichen Entwicklung und kulturellen Entfaltung dazu gehört. Und dass die Geschichte weitergeht, das erleben wir täglich.

Auf zum Neuen Testament

Nun hält mich nichts mehr von dem Versuch ab, die ethisch relevanten Texte aus den großen Evangelien zu einem Büchlein zusammenzufassen. Wie kann das gehen? Ich werde sie wohl hintereinander lesen müssen, in der üblichen Reihenfolge von Matthäus über Markus und Lukas, den sogenannten synoptischen Evangelien, bis zu dem besonders eigenständigen des Johannes. Damit ist klar, dass das Matthäus-Evangelium den Rahmen abgibt, in den dann auch das einzutragen ist, was bei den anderen hinzukommt, zum Beispiel gleich zu Beginn Zitate aus den Erhebungen des Lukas.

Wir begeben uns nun, auf der Suche nach Offenbarungen Jesu, zu den von seinen Jüngern und ihren unmittelbaren Schülern mit so großer Mühe und Sorgfalt niedergeschriebenen Texten, die oft unter erheblichen Gefahren von Leser zu Leser und von Gemeinde zu Gemeinde weitergegeben worden sind, damit ja nichts Wichtiges verloren geht, insbesondere nichts von dem Auftrag, mit dem Jesus zu uns gekommen ist. Ich will nicht von dem abgehen, was der Text darlegt, treffe aber gerade so auch auf Aussagen, die in unserer Zeit leicht übersehen werden.

Wir müssen tatsächlich nicht lange nach einem Programm für Jesu Leben und Lehre und so für die christliche Ethik suchen, denn indirekt beginnt schon Lukas damit seinen Bericht. Sowohl die Verkündigung durch den Engel Gabriel als auch Mariens »Magnifikat« sind programmatisch! Was also sagen uns diese adventlichen Texte? Nehmen wir die sensiblen Worte von der Grenze zwischen Himmel und Erde wörtlich aus Fridolin Stiers Übersetzung.

Gottes Initiative bei der Inkarnation Jesu

Verkündigung des Engels und Lobpreis Mariens

Die Sendung des Engels zu Maria beschreibt Lukas (1, 26 bis 38) so:

»… ward der Engel Gabriel von Gott her entsandt in eine Stadt Galiläas namens Nazaret zu einer Jungfrau, die angetraut war einem Mann namens Josef aus dem Haus Davids. Der Name der Jungfrau war Maria. Und er trat bei ihr ein und sprach: Sei gegrüßt, Hochbegnadete, der Herr ist mit dir. Sie aber erschrak sehr bei dem Wort und machte sich Gedanken, was dieser Gruß bedeute. Da sprach der Engel zu ihr:

Ängste dich nicht, Maria!

Denn Gnade hast du gefunden bei Gott.

Und da! Du wirst im Schoß empfangen

und einen Sohn gebären,

und du sollst seinen Namen Jesus rufen.

Er wird ein Großer sein

und Sohn des Höchsten gerufen werden:

Und geben wird ihm der Herr Gott –

den Thron seines Vaters David.

Und König wird er sein über dem Haus Jakob

die Weltzeiten hin.

Und seines Königtums wird kein Ende sein.

Sprach Maria zum Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Und der Engel hob an und sprach zu ihr:

Heiliger Geist wird über dich kommen,

und Kraft des Höchsten dich überschatten.

Darum wird auch, was nun gezeugt wird,

,heilig‘ gerufen werden: Sohn Gottes.«

Eine Ergänzung dieser Erklärung erfährt Josef, als auch ihm die bevorstehende Geburt angekündigt wird (Matthäus 1, 20-21), und der Bericht ist erfreulich konkret:

»Da! Ein Engel des Herrn erschien ihm im Traum und sagte: Josef, Sohn Davids, ängstige dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen. Denn: Das in ihr gezeugte – aus Gott ist es, dem Heiligen. Einen Sohn wird sie gebären, und du sollst seinen Namen Jesus rufen, das heißt: ,Gott rettet.‘ Denn: Retten wird er sein Volk aus seinen Sünden.«

Wer damals diese Worte des Engels kennengelernt hat: »Geben wird ihm der Herr – Gott – den Thron seines Vaters David. König wird er sein über dem Haus Jakob die Weltzeiten hin. Seines Königtums wird kein Ende sein«, der konnte daraus die Erwartung bestätigt sehen, die das Volk an den Messias hatte. Doch durch das Lukas-Evangelium, schon auf der nächsten Seite, als vom Besuch der schwangeren Maria bei ihrer Cousine Elisabeth berichtet wird, öffnet sich die Sicht auf ein Programm für die Menschheit überhaupt, ohne aber etwas von der rettenden Zusage an Israel wegzunehmen. Damit wird, ethisch gesehen, sichergestellt, dass die Juden gar nie als »Freiwild« behandelt werden dürfen; und ganz im Hintergrund steht immer auch das Verfahren Gottes dem Brudermörder Kain gegenüber, den Gott (nach Aussage des Alten Testaments) mit dem Kainszeichen geschützt hatte.

Auf Elisabeths Gruß: »Selig ist, die geglaubt hat, dass zur Vollendung komme, das ihr vom Herrn Gesagte!«, antwortet Maria, was nun als »Magnifikat« zu einem Grundtext der Christenheit gestaltet wurde und in der Brisanz der Aussage den Psalmen nicht nachsteht und in dem Maria vielleicht einen alten Hymnus aufgreift (Lukas 1, 46-55):

»Groß rühmt mein Leben den Herrn,

und mein Geist jubelt ob Gott, meinem Retter,

weil er die Niedrigkeit seiner Magd angeblickt.

Denn da! Von nun an preisen alle Geschlechter mich selig,

weil Großes mir getan der Kraftvolle.

Und heilig ist sein Name.

Und sein Erbarmen: Geschlecht für Geschlecht

über denen, die ihn fürchten.

Gewaltiges tut er mit seinem Arm,

zersprengt die im Herzen hochmütig gesinnten.

Machthaber stürzt er von Thronen

und Niedrige erhöht er.

Hungernde füllt er mit Gutem

und Reiche sendet er leer weg.

Er nimmt sich Israels an, seines Knechtes,

des Erbarmens gedenkend,

so wie er unseren Vätern zugesprochen,

dem Abraham und seinem Gespross auf Weltzeiten hin.«

Maria, Trösterin der Erniedrigten

Das Magnifikat enthält einen wesentlichen Teil der trösteten Botschaft, die sich aus dem Alten Testament die Zeiten hindurch als ein wichtiger Faden durch das Gewebe der Theologie zieht und von Jesus betont wird. Dieser Teil der christlichen Lehre, mit dem die Lehre von Menschenwürde und Gerechtigkeit und die Möglichkeit einer humanen Ökologie stehen und fallen, ist heute wieder ein ganz akutes Anliegen der Sozialethik, das sich in diametralem Gegensatz zur kapitalistischen Ideologie befindet. Sehen wir darin nicht sogar schon den Kern von Jesu Bergpredigt auf leuchten?

Damit bildet Mariens Antwort auf die Verkündigung des Gottessohnes zugleich einen Abschluss für das alttestamentliche Buch der Preisungen, den »Psalter«, und den Übergang zum Neuen Bund – und das erste Wort bekommt eine Frau. Da ist es absurd, dass noch über 2000 Jahre danach die Männer ein Verkündigungsmonopol in der Kirche beanspruchen.

Wir nehmen also zur Kenntnis, dass Maria schon hier die Aufwertung der benachteiligten Menschen durch den Sohn angekündigt hat; aber auch ihre bleibende Verehrung in der Kirche, denn: »Von nun an preisen alle Geschlechter mich selig.« Und wer von der »Frömmigkeit« her keinen Zugang zu Maria hat, der bekommt ihn, wenn er sich dem Magnifikat anschließt.

Da ist also eine enorme Offenbarung in der Gestalt Mariens einer Frau anvertraut worden. Den Schriftgelehrten von damals hätte schon das, obwohl es ganz auf der Linie der alttestamentlichen Prophetie liegt, ihr Konzept verdorben; aber sie haben es ja nicht erfahren. Nun gut, ihresgleichen hatten sich auch schon mehrmals mit Prophetinnen herumgeschlagen und sie nur als von Gott bewirkte Ausnahme akzeptiert. Was dabei schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass hier eine Frau zur Offenbarung auch die theologische Deutung geliefert hat. Wie das? Eigentlich geht es beim Magnifikat um Mariens Anteil an zwei Dialogen: Erst ist es die Antwort an Elisabeth, dann aber kann das Magnifikat nur seinen Weg in die Bibel gefunden haben, indem es durch eine der beiden Frauen – und sehr wahrscheinlich durch Maria selbst – direkt oder indirekt bis zu Lukas gelangt ist. Dieser Evangelist berichtet also von der Verkündigung einer grundlegenden Jesus-Botschaft durch eine Frau, ja durch dessen Mutter Maria selbst, zu der er sich damit bekennt, als Ergebnis ihres Dialogs (wenn auch nicht unbedingt als unveränderten Text) mit »der Kirche«, und als Hinweis auf die Rolle der Frau und der Frauen in der jungen Kirche. Dass dieser Hymnus seine Geschichte hat, zeigt sich schon daran, dass er der etwa 20jährigen werdenden Mutter zugeschrieben wird, aber den Jüngern erst zu einer Zeit kundgetan wurde, als Maria schon an die 50 Jahre alt war. Und diese Geschichtlichkeit des Hymnus zeigt auch, dass sich Maria noch nach Jesu Auferstehung dazu bekennt. Wir dürfen also auch ihn in Jesu Lichtschein betrachten.

Lukas adressiert seinen Bericht an den römischen Beamten Theophilus und beginnt mit der Information, dass es schon mehrere solcher Projekte gibt. »Und auch mir – der ich allem von vorn an nachgegangen bin – ward der Entschluss: Es für dich … der Reihe nach niederzuschreiben, damit du die Sicherheit der Worte erkennst, über die du unterrichtest wurdest« (Lukas 1, 3-4). Er, der nicht aus dem Judentum kommt, gibt klare Auskunft über Ziel und Art seiner Botschaft und weitgehend über die beteiligten Personen.

Die Inkarnation des Göttlichen und die Geburt Jesu

Wenn ich die Mitteilung der Evangelien über Jesu Leben von der Ankündigung durch den Engel Gabriel bis zu seinem Tod und Auferstehung überblicke, so hat es sich jedenfalls um eine Inkarnation des Göttlichen gehandelt. Am Anfang hat sich Gott-Vater des Erzengels Gabriel bedient, um Maria nach Menschenart zu kontaktieren; und die Erscheinung von Engeln war zweifellos bei den Semiten bekannt, wie Jahrhunderte später auch die Verkündung des einen Gottes an den arabischen Propheten Mohammed zeigt.

Die Zeugung des Knaben durch göttliche Kraft – die eigentliche Inkarnation des Göttlichen als einer selbstständigen Person – bleibt für uns eines der undurchschaubaren Wunder der Überwindung der Grenze zwischen dem Welt-Transzendenten und dem Welt-Immanenten. Wir verstehen davon nur etwas Biologisches: Die lange Evolution bis zum Menschen und da bis zu einer Frau, die das geeignete Erbgut hat, ist wohl eine notwendige Vorbedingung. Das weitere Geschehen ist unbekannt und soll es auch bleiben.

Aber wir wissen inzwischen, dass ein Mensch mit seiner Geburt noch nicht komplett ist. Körperlich wird er sowieso nicht fertig geboren, aber auch sein ganzes Denken und Verhalten kommt nur zustande im Zusammenspiel vom Realisieren der Erbanlagen und der Erziehung. Erziehung aber heißt hier: Lernen all der Verhaltensweisen des Lebensprozesses, Übernahme von Kulturgütern wie Sprache und Religion, Berufsausbildung (jeder Zimmermann war umfassend ausgebildet). Da haben Maria und Josef jedenfalls viel investiert, und wir wissen auch, dass die Israeliten ein leistungsfähiges Unterrichtssystem hatten, mit dem zu rechnen ist. Nicht zugänglich ist uns der direkte Kontakt mit Gott dem Vater, zu dem mindestens die Entwicklung eines intensiven Gebetslebens gehört haben muss.

Als die Geburt ihres Kindes herankam, war Josef mit Maria von Nazareth in Galiläa nach Bethlehem in Judäa gereist, um einer Volkszählung nachzukommen. Dort war die Heimat König Davids gewesen, von dem Josef abstammte. Sie fanden aber keine Bleibe dort und konnten nicht einmal ein geeignetes Wochenbett vorbereiten und schon gar keine Wochenstube »zu Hause« haben. Gebären, wo und wie es eben möglich war. Stall und Krippe, Ochs und Esel als Symbole von Bedürftigkeit mitten zwischen umsorgten Leuten. Welcher Gegensatz zwischen Hirten und Heu einerseits und Magiern mit Gold und Weihrauch andererseits, von Engeln arrangiert. Letztlich doch elende Wirklichkeit zum Empfang, ohne Vorratshaltung, Pampers und Feinstaubverordnung. Und noch Jahrzehnte später lässt Johannes der Täufer – sein Prophet – Jesus fragen: »… oder sollen wir auf einen anderen warten?« Dass dieses Kind der Messias sein wird, mit dieser Nachricht schickten Engel eine Schar armer Hirten zum Stall. »Und alle, die es hörten, staunten über das, was von den Hirten zu ihnen gesagt wurde. Maria aber hielt all diese Worte verwahrt und fügte sie in ihrem Herzen zusammen« (Lukas 2, 18-19). Von der Ankündigung des Engels an bis zum Schluss hat die Mutter Jesu genau dies getan, und es scheint, dass Lukas von ihr selbst wichtige Details erfahren hat, die sein Evangelium, zusätzlich zu seiner unbestechlichen Achtsamkeit, zu einer besonders wichtigen Quelle machen.

Die Eltern taten dem Gesetz Genüge und stellten Jesus als Mariens erstgeborenen Knaben mit Dank und Opfer im Tempel dar, womit die Beschneidung des Knaben verbunden war – beides, weil es sich um ein männliches Kind handelte. Simeon, ein heiliger Greis, betete dort zu Gott:

»Nun entlässt du deinen Knecht, Gebieter,

nach deinem Wort in Frieden.

Denn meine Augen haben dein rettendes Tun gesehen,

das du bereitet hast vor aller Völkerstämme Angesicht.

Enthüllendes Licht: den Völkern!

Und Herrlichkeit: deinem Volk Israel!

Sein Vater und die Mutter waren erstaunt über das, was über ihn gesagt ward. Und Simeon pries sie und sprach zu seiner Mutter Maria: Da! Dieser ist bestimmt zu Fall und Auferstehen Vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird. Und dein eigenes Leben wird ein Schwert durchdringen – so sollen sich die Gedanken vieler Herzen enthüllen« (Lukas 2, 29-35).

Anfang der Heilsbotschaft nach Markus

Ab jetzt muss ich auch Stellen aus dem Bericht des Markus einfügen, der als die ursprünglichste Sammlung gilt. Auch das wäre ein sinnvoller Anfang, denn es waren Propheten wie Johannes der Täufer, die Jesu Wirken vorbereitet hatten.

»Anfang der Heilsbotschaft von Jesus, dem Messias, Gottes Sohn. Wie geschrieben ist bei dem Propheten Jesaja:

Da! Ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her,

damit er deinen Weg wird rüsten.

Eines Rufenden Stimme in der Ödnis:

Bereitet den Weg des Herrn;

gerade macht seine Straßen

– so geschah es, dass Johannes der Täufer in der Ödnis Künder wurde einer Taufe auf Umkehr hin – zum Nachlass der Sünden. … Nach mir kommt, der stärker ist als ich« (Markus 1, 1-4+7).

Jesus – Sohn Gottes …

Dass Jesus selbst sich schon früh als Sohn Gottes weiß, wird klar, wenn er als Zwölfjähriger in Jerusalem im Tempel bleibt und von den Eltern gesucht wird. »Was brauchtet ihr mich zu suchen? Wusstet ihr nicht, dass ich bei der Sache meines Vaters sein muss?«, antwortet er seiner Mutter (Lukas 2, 49). Im Zusammenhang mit der Taufe durch Johannes den Täufer erreicht ihn Gottes Stimme mit den Worten:

»Du bist mein Sohn, der Geliebte. An dir habe ich Gefallen«

(Markus 1, 11).

Als Johannes der Täufer zu Jesus schickte und fragen ließ, ob er der Kommende sei, war Jesu Antwort: Berichtet, was ihr gesehen und gehört habt.

»Blinde blicken auf, Krüppel gehen.

Aussätzige werden rein und Taube hören.

Tote werden erweckt,

Armen wird die Heilsbotschaft gebracht.

Und selig ist, wer an mir kein Ärgernis nimmt« (Lukas 7, 22-23).

Wie unsinnig die Bewertung durch die Leute ist, das stellt Jesus so fest: »Ja, gekommen ist Johannes der Täufer. Er aß nicht Brot und trank nicht Wein, und nun sagt ihr: Er hat einen Abergeist. Gekommen ist der Menschensohn. Er isst und trinkt, und nun sagt ihr: Da! Ein Schlemmer und Weintrinker. Ein Freund von Zöllnern und Sündern. Doch gerechtfertigt wurde die Weisheit von all ihren Kindern« (a.a.O. 33-35).

Was es heißt, Menschensohn und zugleich Gottessohn zu werden, das ist von unserer Seite der Transzendenzschwelle aus kaum erschließbar. Deutlich wird immer mehr, dass dieses Sein (wie jedes) schließlich weit mehr ist, als sein Werden erklären könnte, womit ich mich im Wissen um meine und unsere begrenzte Erkenntnisfähigkeit begnügen muss.

Obwohl Jesus schon früh Ablehnung und Tod vor Augen hatte, sah er sein Leben keineswegs als ein »Sein zum Tode« an, wie es Heidegger (Sein und Zeit § 49 ff.) und andere vor und nach diesem kennen, sondern sein bevorstehendes »Ende« ist durch die Ablehnung diktiert und wird durch die Auferstehung aufgehoben. Es verwandelt sich, so berichtet das Neue Testament, in der Himmelfahrt zum eigentlichen Gottes-Sohn-Sein. Viele wird er nachziehen. Manche werden ihm nachgeopfert, andere durch Nacheifern hinübergerettet werden. Wie und wann auch immer das geschieht: Es setzt Heideggers Interpretation außer Kraft.

… und Menschensohn

Jesus war aber auch Mensch wie wir, und das zeigt sich an den Berichten über seine Befindlichkeit. Sein Suchen nach Jüngern und seine Sehnsucht nach den Menschen ist zwar eine Konsequenz aus seiner Sendung. Die Berichte zeigen aber auch ein Rufen aus der Unheimlichkeit des Alleinseins heraus und ein Verlangen nach Freundschaft und Brüderlichkeit und danach, verstanden zu werden, wie es dem Menschen als sozialem Wesen entspricht. Dieses Sehnen wurde allerdings immer wieder frustriert. »Wie lange soll ich es noch bei euch aushalten?« (Matthäus 17, 17) ist seine Klage über Verständnismangel und Unachtsamkeit seiner Jünger sowie über Rechthaberei, Heuchelei und Selbstsucht bei anderen Zuhörern und besonders bei jenen, denen die Heiligen Schriften anvertraut waren.

Die Abkunft von Gott selbst glauben wir auf Grund der Zeugnisse nicht nur Mariens. Dass es sich hier um mehr handelt als um Gottes Urheberschaft für alles Leben, das drücken wir aus in den Sätzen »gezeugt – nicht geschaffen« und »eines Wesens mit dem Vater«. Aber was ist Wesen, was ist Zeugung? Es ist zwar verständlich, dass man dies gern mit Begriffen des neuzeitlichen Weltbildes sagen möchte und dass sich besonders seine Feinde bemühen, die Annahme der »Jungfrauengeburt« zu unterstellen, um dann ihre Möglichkeit zu widerlegen, was der Biologe mit einem Kopfschütteln abtun kann, ohne über die Sache selbst zu urteilen; vielmehr bleiben uns nämlich Aussagen in unseren Begriffen verwehrt, wenn es um Transzendentes geht.

Kurze Bemerkung für neugierige Leser: Eine »Jungfrauengeburt« ist eigentlich biologisch kein Problem, wohl aber, dass allein aus einer Eizelle oder überhaupt aus einer Frau ein Knabe entsteht: Woher käme dann das Y-Chromosom? Zwar hätte die weibliche Variante (zwei X-Chromosomen im Zellkern) einen Vorteil, da sie die aggressiven Y-Eigenschaften vermeidet, aber die Darstellung – und die damit verbundene Beschneidung Jesu – im Tempel zu Jerusalem verbietet die Spekulation, Jesus sei kein Mann gewesen. Wenn wir überhaupt begründete Vermutungen suchen wollen, dann wohl so: Gott ist Geist und nicht Leib. – Die Zeugung ist Gottes Wille und ihr Ort eine Eizelle. – Es ist nicht ausgeschlossen, aber auch nirgendwo geschrieben, dass sogar der biologische Bestand der männlichen Frucht komplettiert wurde; denn der Engel sprach zu Josef: »Ängstige dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen. Denn: Das in ihr Gezeugte – aus Geist ist es, dem Heiligen« (Matthäus 1, 20). Die biologische Vaterschaft Josefs ist damit nicht ausgesagt, aber ein Ansatz zu anderen Mutmaßungen findet auch keine Grundlage.

In der Wüste klärt sich Jesu Aufgabe

Der Anfang der Geschichte Jesu liegt demnach bei Gott. Über sein Hineinwachsen in seine Sippe, seine Umgebung, seine Kultur erfahren wir mancherlei: Die Fürsorge der Eltern nimmt durch Bedrohung von König Herodes her und Flucht nach Ägypten dramatische Züge an. Die berufliche Ausbildung als Zimmermann erfolgt in den Spuren Josefs. Zusätzlich zu seiner Mutter befragt er schon als Zwölfjähriger in Jerusalem Theologen des Tempels. Aus den weiteren Berichten des Neuen Testaments über Jesus lässt sich dann jener Faden herauslösen und herauslesen, der uns durch das Programm Jesu führen kann.

Am Beginn seines eigenen Wirkens lässt er sich von Johannes taufen, und dabei bestätigt ihm Gott seine Gottessohnschaft und Berufung. Nun ist Jesus fest im JA zu seiner Sendung verankert – und zieht sich erst einmal in die Wüste zurück. Dort setzt sich seine eigene Sendung ab gegen das, was die Juden vom Messias erhoffen. Der Kampf zwischen seinem Auftrag und dem, was die Menschen von ihm erwarten, gerät zur Versuchung. Er spielt sich als Gespräch zwischen ihm und dem Satan in der Wüste ab. Jesus selbst muss seinen Jüngern darüber berichtet haben – wie anders kann es in die Bibel gekommen sein? –, und der Bericht darüber bringt seinen Jüngern und schließlich auch uns Klarheit über unverzichtbare Hauptpunkte seiner Lehre. Das sollten wir genauer betrachten:

Markus beschreibt, dass Jesus nach der Taufe vom Geist in die Ödnis getrieben und dort vom Teufel versucht wird. Matthäus gibt einen ausführlicheren Text, und ich würde die ersten beiden Versuche des Teufels am liebsten übergehen, um schnell zur dritten zu kommen, in der sich für mein Empfinden auch die ganze Problematik unserer eigenen Lebensführung und sogar der Politik sammelt. Aber bei genauem Hinsehen wird doch klar, dass auch wir zunächst die Schwierigkeiten des Alltags bewältigen müssen, um überhaupt für Ansprüche (von »ansprechen«!) Gottes frei zu sein. Jedenfalls ist auch hier Achtsamkeit gefragt.

Matthäus (4, 1-4) schreibt also: »Dann wurde Jesus vom Geist hinaus in die Ödnis geführt, um vom Teufel versucht zu werden. Und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, war er hungrig hinterher. Und der Versucher trat heran und sprach zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, dass diese Steine Brote werden! Er aber hob an und sprach: Es ist geschrieben:

Nicht vom Brot allein lebt der Mensch,

sondern von allem Wort,

das aus dem Mund Gottes kommt.«

In dieser ersten Versuchung zeigt sich den Lesern die normale Situation nach langem Fasten. Jesus – und nur er selbst kann ja den primären Bericht gegeben haben – sieht den Sinn des Fastens also nicht im Fasten selbst, sondern darin, von irdischen Interessen frei und für Gott und seinen Auftrag offen zu werden, anstatt mit einem »Endlich geschafft« die geistigen Früchte dieser Zeit abzuschütteln und unvermittelt zu fröhlich-irdischem Treiben zurückzukehren. Jesus selbst stellt sich der Frage, was nun auf ihn zukommt – das Fasten war Vorbereitung auf die Sendung. Eine ähnliche Situation wird uns kurz vor der Leidenszeit Jesu wieder begegnen, als im Hause der Marta diese den Küchendienst für primär wichtig hält und ihre Schwester davon abhalten will, stattdessen Jesus zuzuhören. Wir werden an der entsprechenden Stelle erläutern, dass dieses Gespräch für Maria als künftige Zeugin und damit für den Herrn wichtiger ist.

Der Teufel bohrt weiter, Matthäus 4, 5-7 berichtet: »Darauf nimmt ihn der Teufel mit in die Heilige Stadt und stellt ihn auf die Zinne des Heiligtums. Und er sagt zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab. Denn es ist geschrieben:

Seinen Engeln gibt er Weisung deinethalben.

Und: Auf Händen tragen sie dich,

damit du mit deinem Fuß nicht stößt an einen Stein.

Sprach Jesus zu ihm: Abermals ist geschrieben:

Versuche nicht den Herrn, deinen Gott.«

Teufel, Diabolo, ist der, der den begonnenen Lauf durcheinanderwerfen will. Der Gedanke an eine solche Probe legt einen Rückfall in den Zweifel nahe. Ihm nachzugeben wäre aber Abkehr vom begonnenen Weg.

Es folgt der direkte Angriff auf das Ziel der Sendung: das Reich Gottes (Matthäus 4, 8-11): »Abermals nimmt ihn der Teufel mit auf einen sehr hohen Berg. Und er zeigt ihm alle Königtümer der Welt und ihre Herrlichkeiten. Und er sprach zu ihm: Das alles gebe ich dir, wenn du dich niederwirfst und dich tief vor mir verneigst.

Darauf sagte Jesus zu ihm: Weg da, Satanas! Denn es ist geschrieben:

Tief verneigen sollst du dich vor dem Herrn, deinem Gott,

und ihm allein den Dienst tun.

Darauf lässt ihn der Teufel. Und da! Engel traten heran und dienten ihm.«

Die Erwartung der Juden an den Messias und demnach an Jesus ist, dass er die Fremdherrschaft beendet, das sehr irdisch verstandene Reich Davids wieder aufrichtet und zum Sieg führt. Kraft seiner Sohnschaft und der bereits sichtbaren, auf ihn gerichteten Zustimmung der vielen ist es eine reale Versuchung, sich darauf einzulassen und sich die Mitwirkung Satans durch die offene Bewunderung dessen besonderer Macht zu erkaufen. Eine solche Versuchung war den Juden nicht fremd und auch Christen neigen, wie wohl alle nicht ganz abgestumpften Menschen, angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt dazu, solche Gelegenheiten aufzugreifen und es nicht beim Warten auf Gott zu belassen. Dieser Bitte widmet Rosenzweig im »Stern der Erlösung« übrigens eine lange Betrachtung. Aber es ist in allen solchen Fällen, und so auch bei Jesus, deutlich sichtbar, dass sie nicht zum Reich Gottes führen, sondern immer zur Herrschaft böser Mächte.

Der Bericht darüber bringt seinen Jüngern – und schließlich auch uns – Klarheit über unverzichtbare Hauptpunkte:

Keineswegs genügt den Leuten die Erfüllung der Jesaja-Prophezeiung:

»Er hat unsere Krankheiten weggenommen

und unsere Gebrechen hat er weggetragen« (vgl. Matthäus 8,17).

Ihnen ist an den je eigenen Interessen gelegen, und sie unterstützen nur den, der ihre kurzsichtigen Wünsche aufgreift – die meist nicht die Wünsche Gottes sind. Aber regelmäßig gibt es die politische Macht nicht ohne die Verbeugung vor dem, der jeden guten Ansatz ins Böse kehrt – den Teufel. Alle Geschichte, und die der letzten Jahre besonders deutlich, ist voll von Beispielen. Die Antwort Jesu auf diese Versuchung ist vielleicht die wichtigste Grundentscheidung am Beginn seines Wirkens – und auch die der Kirche. Mohammed hat Jahrhunderte später bewusst den anderen Weg gewählt, und auf atheistischer Grundlage taten das zum Beispiel auch die Marxisten und die anderen Diktatoren des 20. Jahrhunderts, wie viele vorher und danach. Wir erfahren aus diesem Dialog, dass die Grundentscheidung im Leben fallen muss, wenn der Punkt erreicht ist, an dem sich die Machtfrage an die tiefe Verbeugung vor Gottes Gegnern bindet, und das bedeutet die Einsicht: ohne das Böse ist die Macht nicht zu haben.

Mit diesem Programm beginnt Jesus zu lehren

Als Johannes der Täufer an Herodes ausgeliefert war, »kam Jesus nach Galiläa, um zu künden die Heilsbotschaft Gottes. Er sagte: Erfüllt ist die Zeit, und genaht das Königtum Gottes. Kehrt um! Glaubt der Heilsbotschaft!« (Markus 1, 14-15). Mit seinen ersten Jüngern zieht er in Kafarnaum ein. »Und gleich am Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. Da waren sie bestürzt ob seiner Lehre. Denn: Er lehrte sie als einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten« (Markus 1, 21-22).

Nach dem Lukas-Evangelium (4, 18-19) bekommt Jesus gleich zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in der Synagoge von Nazareth das Buch mit Reden des Propheten Jesaja gereicht, er schlägt es auf und liest vor:

»Geist des Herrn ist auf mir,

weil er mich gesalbt:

Armen Heilsbotschaft zu bringen,

hat er mich gesandt.

Gefangenen Freilassung zu künden,

Blinde auf blicken zu lassen,

Unterjochte in Freilassung zu senden,

anzukünden das Jahr, das willkommen ist dem Herrn.«

Aber kein Prophet ist willkommen in seiner Heimatstadt, und so ist es den Leuten ein Ärgernis, dass Jesus sich mit dem gleichsetzt, von dem Jesaja da spricht. Jedenfalls stellt er sich auch hier als der vor, der keine Gewalt anwendet und für die Unterdrückten, Armen und Kranken da ist. Auch hier gehört der Verzicht auf Zwang zu den Grundlagen seines Programms. Der Steinigung entgeht er ganz knapp.

Jesus lehrte und heilte dann in Kafarnaum und blieb im Haus des Simon, dessen Schwiegermutter er geheilt hatte. Am Morgen zog er weiter, und als ihn die Leute zum Bleiben aufforderten, sagte er ihnen: »Auch den anderen Städten muss ich die Heilsbotschaft vom Königtum Gottes bringen; denn dazu wurde ich gesandt. Und weiterhin verkündete er in den Synagogen Galiläas« (Lukas 4, 43-44).

Eine erste Begründung dafür, dass wir von Jesu Lehre Rettung erwarten

Ein Grundproblem der so offensichtlichen Resistenz des Menschen gegen das Gut-Sein kommt aus seinem biologischen Erbe (Stephan 2016), und so weit ist der Zusammenschau durch van Schaik und Michel (2016) zuzustimmen. Noch immer fällt es uns schwer, frei genug zu werden von den »postfaktischen« Anschauungen unserer sozialen Umgebung: vom »man« als des Teufels treuem Helfer sowie von den ererbten und nun »wissenschaftlich« uminterpretierten Belohnungssystemen (siehe unten); sondern dass wir uns stattdessen mit Hilfe des dialogischen Verhaltens einerseits vom überholten Erbe lösen und uns andererseits den Notwendigkeiten so weit anpassen, wie es das gemeinsame Überleben der Menschheit und der Ökumene erfordert.

Laufen unsere Entscheidungsprobleme nicht regelmäßig auf den Gegensatz von Macht und Liebe hinaus? Das hat auch Jesus erlebt; er bezeichnet die Gegenposition als Satan, berücksichtigt damit, dass sie weitgehend von Personen getragen wird, und er betont so die Machtfülle und den meist irgendwie personalen Charakter dieses bösen Prinzips, dem er seine Lehre entgegensetzt. Biologisches Erbe und soziale Verführung werden meist dem uns Menschen neu gegebenen dialogischen Verhalten vorgezogen. Das bringt schon das Alte Testament auf den Begriff der Sünde, und seit Jesus Sirach (nach C. van Schaik & K. Michel, 2016: um 135 v. Chr.) sogar als Erbsünde. Doch ob die Lösung dieses Problems ein von unserer Art erwarteter Fortschritt der Evolution sein wird? Das ist unwahrscheinlich, es geht nicht gleichsam von selbst, ohne die Gute Botschaft.

Die göttliche Offenbarung, ohne die eine menschenwürdige Ethik wohl nicht auskommt, ist innerhalb des Judentums nur punktuell zum Ziel gekommen. Der Grund ist rätselhaft, aber sicher spielt die Übermacht der außerjüdischen Umgebung dabei eine Rolle, da sich die göttliche Offenbarung so stark auf die Nachkommen Jakobs konzentriert hat. Auf der Grundlage von Propheten wurde dieses Problem zunächst nicht gelöst. Erst Jesus bringt, und das bestätigt ihn als Sohn Gottes, die Erkenntnis und die Macht mit, die christliche Religion aus der Bindung an die jüdische Kultur so weit zu lösen, dass sie auch in sämtlichen anderen Kulturen (mit Schwierigkeiten bei den Mohammedanern) und Ethnien praktiziert werden kann. Seine Lehre steht damit über den Einzelkulturen.

Mit Jesu Lehre wird deutlich, dass es nicht Gottes Ziel ist, nur »sein« Volk zu retten und all die anderen Zweige der Menschheit vom Lebensbaum abzuschneiden, so dass man folgern kann: Gott ist durchaus an der Vielfalt und Differenzierung der Menschheit gelegen.

Jesus geht es nicht allein um eine rein menschliche Sozialethik, dahinter gibt es nicht nur die Notwendigkeiten der Natur und stehen nicht allein Menschenziele, sondern der Dialog mit dem persönlichen Gott. Eine Sozialethik in Jesu Sinn setzt den Glauben an einen transzendenten Vater (»im Himmel«!) voraus, der sehr wohl weiß, was uns fehlt, und der zu uns steht wie Vater und Mutter zu den Kindern.

Warum ist wohl für uns Jesus der zuverlässige Lehrer und der einzige glaubhafte Heiland? Er hat selbst das gelebt, was er als Gottes Wille kennt und was er auch uns als göttlichen Willen einsichtig machen will. Von ihm ist nichts bekannt, was man ihm als Untreue zu diesem Auftrag zur Last legen könnte. Und Jesu Liebe zu seinen Schülern – also auch zu uns – ist so groß, dass ihr und unser Glaube damit belohnt wird, selbst Kinder Gottes zu sein und Gott als Vater anreden zu dürfen.

Die Relevanz biologischer Phänomene (Vaterschaft) kann an der Grenze zwischen Natur und Transzendenz nicht eigentlich beurteilt werden, da hier unsere (weltimmanenten) Begriffe versagen. Wir dürfen uns aber an folgende Indizien halten: an die Zeugnisse für Jesu eigenen Glauben, an seine Bestätigung durch die Zeugnisse seiner Auferstehung und an die Glaubwürdigkeit seiner Zeugen.

Auch der vorliegende Text ist weitgehend beschränkt auf das, was »mit Bordmitteln«, nämlich mit dem für uns Wahrnehmbaren und Sagbaren dargestellt werden kann. Die Möglichkeit dazu gibt uns schon der Anfang der Bibel mit der Aussage, der Mensch sei nach dem Bildnis Gottes geschaffen. Wohl ist uns allen klar: Darauf können wir uns nicht berufen und gar ausruhen, sondern es ist Ziel und Auftrag, ja es ist damit die dichteste Zusammenfassung aller Ethik. Jesus von Nazareth aber ist die erlebbare, gelungene Verwirklichung dieses Vorhabens. Mit seiner Lehre und seinen Reden vom Reich Gottes gibt er uns das Nahziel an: »Ihr seid das Salz der Erde.« Und wenn wir dieses Entwicklungsziel und die gesamte Kulturgeschichte in den Blick nehmen, können wir trotz aller Defizite sagen: »Gestützt auf die Lehre Jesu können wir inzwischen mündig sein und Verantwortung übernehmen.«

Jesus beruft Jünger

Jesu Verkündung des nahenden Gottesreiches und seine sichtbaren Siege über Not und Tod führte unmittelbar dazu, dass sich Menschen um ihn sammeln. Wenige schließen sich auf Dauer an, andere begleiten ihn eine Zeit lang, manche wenden sich bald ab, aber ab jetzt hat er es schwer, etwas Ruhe zu bekommen und zum Vater zu beten. Seine ersten Jünger sind Fischer, die er selbst auswählt und von ihrer profanen Arbeit wegholt, um sie zu Menschenfischern zu machen, wie er selbst sagt. Über sie wusste er schon im Voraus Bescheid, diese haben ihn begleitet und wurden danach auch zur Keimzelle der Kirche. Aber das heißt nicht, dass Berufene nicht ausweichen konnten; offenbar hatten sie diese Freiheit, und das wird später deutlich bei der misslungenen Berufung eines Jünglings, der es nicht fertigbrachte, sich von seinem Reichtum zu trennen und diesem ungesicherten Wanderprediger zu folgen. Es ist bis in unsere Tage so geblieben, dass die Nachfolge zwei Bedingungen hat: den Ruf, der ganz unterschiedlich ergehen kann, und die jedenfalls von Jesu Seite aus freigestellte eigene Zustimmung. Dass es in der Kirche zeitweise Zwänge gegeben hat, ändert daran nichts: Jünger Jesu zu werden, das war und ist ein dialogisches Geschehen.

Die universale Ethik Jesu

Meine Begründungen sind vielleicht schon lästig, denn nur von der Botschaft selbst können weder der Glaube an ihre Wahrheit noch die Hoffnung auf ihre Wirksamkeit kommen. Und so widmen wir unsere gemeinsame Aufmerksamkeit nun einem bekannten Gleichnis: dem vom »verlorenen Sohn«, wie es meist benannt wird.

Ein Fest für den verlorenen Sohn?

Jesus erweist sich uns Menschen vor allem als der Heiland, und so richtet sich unser Bitten an ihn und unser Hoffen auf seine Hilfe oft zu weitgehend darauf, uns als je Einzelne durch das Erdenleben hindurch zu retten. Entsprechend kann man die Kirche leicht für eine ganz primär auf die Erfüllung privater sozialethischer Anliegen gerichtete Veranstaltung halten. Bevor auch diese Zeilen, die ja mit der Sozialethik verknüpft sind, diese so verbreitete wie verengte Sicht auf das Christentum propagieren, will ich den Lesern gestehen, dass sie der Botschaft Jesu nicht gerecht werden. Jesus selbst hat unsere Augen für eine viel weitere Perspektive geöffnet, was sich beim vollständigen Lesen des allen Christen wohl bekannten Gleichnisses vom verlorenen Sohn zeigt.

Es geht zuerst um den Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn

Früher sollte ich einmal gerade zu diesem Gleichnis ein begleitendes Bild liefern, und das erforderte eine Meditation des Textes. Denn jeder Text erzählt eine Geschichte und hat eine zeitliche Dimension, das Bild ist dagegen eine Momentaufnahme und muss erst mit Hinweisen zum Ablauf ausgestattet werden. Das Nachdenken darüber kann zu erstaunlichen Ergebnissen führen.

Dabei hatte mich dieses Gleichnis sehr überrascht (Lukas 15, 11 ff.): Jesus hatte es weder am Wunsch des Bruders nach Gerechtigkeit ausgerichtet noch an der knirschenden Reue des Rückkehrers, denn beides nahm der Vater offenbar nicht besonders wichtig. Vielmehr war auf einmal das Ziel des Vaters erreicht: eine gemeinsame und nachhaltige Zukunft mit den Söhnen war wieder möglich, und das wollte er mit ihnen zusammen feiern. Diese Feier im Gleichnis ist ein Bild für das »Himmelreich«, das allerdings auch die Versöhnung der Brüder erfordert. Es fällt auf, dass der »verlorene« Sohn nun nach einem Leben im Hause des Vaters verlangt, während der Vater im Denken des zu Hause gebliebenen Sohnes zunächst kaum eine Rolle spielt, der lieber mal mit seinen Freunden zusammen gefeiert hätte.

Wenn aber das Fest eigentlich das Himmelreich meint, dann zeigt sich, wieso das Verlangen nach der rückwirkenden Gerechtigkeit viel zu kurz greift. Da bildet das Leben auf dem Gehöft das Leben in der Welt ab: unvollkommen und schließlich mit tödlichem Ausgang. Und dagegen steht das Fest – das Himmelreich: vollkommen, im Angesicht des guten Gottes und ohne Tod – und ewig, was immer das bedeutet, wenn doch die uns bekannte Zeit eine Eigenschaft der vergänglichen Natur ist.

Dass Gott beim Auf bau seiner Schöpfung nach vorn arbeitet, wundert den nicht, der die Naturgeschichte ernst nimmt. Unser Verlangen danach, gerecht behandelt zu werden, kann sich im Rahmen der Natur und der menschlichen Gesellschaft keineswegs erfüllen; Einspruch bleibt meist erfolglos, und man kann folgern, dass die Optimierung der Schöpfung Opfer erfordert, die deshalb für Tier und Mensch oft schmerzlich sind, weil gerade der Schmerz die biologische wie die kulturelle Evolution antreibt. Unser eigenes Nachsinnen endet bei der vagen Hoffnung auf eine grandiose, aber unwahrscheinliche Optimierung ohne Weltuntergang. Zu der hat die Evolution schon angesetzt. Sie kann aber nicht aus der Natur heraus und nicht einmal durch die Einsicht der Menschen zu so etwas wie einem Himmel auf Erden führen. Viel wahrscheinlicher ist ein, vielleicht unrühmliches, Ende unserer Welt.

Aus dieser Lage gibt es ein Entrinnen nur dadurch, dass Gott uns alle in sein Reich hinüberretten will, sofern wir dazu bereit sind. Das Himmelreich aber hat eine andere Struktur als die Welt. So wird dort nicht geheiratet (wie Jesus den Sadduzäern entgegenhält), und das bedeutet wohl: Das Gottesvolk wird komplett sein. Ernte eben, auch wenn zu der nicht jeder Mensch bereit ist.

Jesus betet für alle, die das Wort annehmen – aber nicht für die Welt

Weitere Kunde von der Endzeit brachte das Johannes-Evangelium mit den Worten Jesu, in denen die Lage der Menschen durchaus bedacht ist. Für die Jünger, welche die Worte angenommen haben, die der Vater ihm gegeben hat, bittet Jesus den Vater im Gebet: »Denn die Worte, die du mir gegeben, habe ich ihnen gegeben. Und sie nahmen sie und erkannten wahrhaft, dass ich von dir ausging. Und sie wurden glaubend: dass du mich gesandt hast.

Ich bitte für sie – und nicht für die Welt bitte ich, sondern für sie, die du mir gegeben – weil sie dein sind« (Joh. 17, 8-9).

Wir erfahren auch, wie die Jünger – und damit auch alle späteren Boten – verfahren sollen, wenn sie und ihre Botschaft nicht angenommen werden. Das hat Jesus schon angeordnet, als er die ersten Jünger ausgesendet hat: »In dem Haus, in das ihr kommt, da bleibt. Und von da aus zieht weiter. Und alle, die euch nicht aufnehmen: Zieht fort aus jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen – zum Zeugnis gegen sie« (Lukas 9, 3). Von Sanktionen ist da allerdings nicht die Rede.

Aus alledem ist wohl zu schließen, dass sich der von Jesus gelehrte Weg auf das Himmelreich richten soll, nicht aber auf eine Umwandlung der Welt selbst, von der wir ja wissen, dass sie sich nicht als Ganzes ändert. Was aber ist dann mit den Bemühungen der Christen um Ökologie für unseren Planeten und um eine Sozialethik für die Menschheit? Wird das nur gefordert, um der Welt ihre Schuld vorzuhalten? Es ist aber nicht zu übersehen, dass unsere Welt nicht schon gut würde, wenn einfach alle menschliche Schuld wegfällt. Nach Jesu Predigt besteht das Ziel der Schöpfung stattdessen darin, dass das Himmelreich durch eine reinigende Katastrophe hindurch erreicht wird und nicht aus einer kontinuierlichen Weltgeschichte heraus. Einerseits ist also das ethische Verhalten die Grundlage einer sinnvollen Gestaltung der uns geschenkten Lebenszeit und die angemessene Antwort auf die Einladung zum Himmelreich, andererseits aber ist von Ewigkeit und gelingender Nachhaltigkeit für die Welt als solcher nicht die Rede!

Demnach könnte der gelingende Weg etwa so sein:

Grundlage sind auf Jesu Seite seine Botschaft und Nächstenliebe und auf unserer Seite die Bereitschaft.

Wenn das zusammenkommt, kann Gemeinde entstehen.

Das ist eine Gemeinschaft mit Liebe und Gebet.

Jede Gemeinde ist auf Ökologie angewiesen. Sie trifft auf die Probleme der Welt.

Nicht konsensfähig ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Wachstum, Gewinn und Macht fixiert ist. Daher ist es auch falsch, den Konzernen die Vordenkerrolle zu überlassen, wie es die Vizepräsidentin des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung, Cornelia Richter, behauptet. Markt braucht Aufsicht.

Die Gesellschaft, nun als Wirtschaft und Politik, kann das nur leisten, wenn sie dafür Leiter heranbildet, die nicht herrschen, sondern dienen, wie Jesus selbst es getan hat. Seine Belehrung geht bis in die Sozialethik und Politik, und da geradewegs zum Königsweg der Gerechtigkeit (siehe Matthäus 20, 25-28).

Selbstverständlich müssen die Betriebe und Organisationen auf erprobte und ideologiefreie Grundlagen achten.

Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass andere Personen oder Gruppen ihre Privilegien einfach aufgeben. Was mindestens angestrebt werden muss, sind parallel zu den kapitalistischen zunehmend andere Strukturen, die auf der genannten Grundlage arbeiten.

Natürlich bedeutet dies harte Auseinandersetzungen, aber sie sind nicht zu vermeiden, denn sonst beenden Katastrophen und Verteilungskriege die Wachstumskonzepte.

Ob wir Jesu Botschaft vom Himmelreich glauben oder nicht, für unsere Ethik können wir darin auf jeden Fall wichtige Forderungen finden zu einer menschenwürdigen Gestaltung unserer Lebenszeit – als Individuum, als Volk, als Kultur und Menschheit. Falls wir uns nicht überhaupt ganz dem von Jesus gezeigten Weg anschließen. Vor allem in Gleichnissen wollte Jesus uns zeigen, dass sich der Tausch des irdischen Wohlbefindens gegen das himmlische allemal lohnt, auch wenn dabei schließlich die irdische Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben kann, wenn sich doch die Menschheit nicht im Ganzen zum Guten bekehrt und ihre Entwicklung zwar zum Besseren weist, sich dabei aber auch als eine Summe verpasster Gelegenheiten darstellt.

Gottesliebe zusammen mit Nächstenliebe …

Die Jünger hatten Jesus gefragt, warum er seine Lehre nur in Gleichnissen an die Leute weitergibt. Tatsächlich verlangt die voll verständliche Lehre schon ein so großes Maß an Zustimmung, wie sie selbst die Jünger erst nach dem Erlebnis der Auferstehung Jesu aufgebracht hatten. Dem direkten Verständnis steht außerdem die Sehnsucht der Leute nach vergangenen »guten Zeiten« im Wege. Aber auch für die Jünger sind Gleichnisse der notwendige Zugang, weil sie die Übersetzung in unsere Sprachen sind und keine Wörter oder Bilder aus dem Jenseits. So ist im hier behandelten Gleichnis die Differenz von Arbeitswelt (begrenzt) und Fest (ewig) angesprochen, aber schon da kann die Liebe zum Nächsten und zu Gott auf leuchten.

Mit dieser Ausweitung verstehe ich nun, was Romanus Lawetzki OFM gemeint hatte, als er uns eine bestimmte Aktion in Sachen »Dritte Welt« mit einem Fragezeichen versah. Die Leute sind letztlich doch nur durch ihre Hinwendung zu Gott wirklich zu retten. Also hilft die Nächstenliebe den Nächsten erst richtig durch ihre Verknüpfung mit der Bekehrung zur Gottesliebe, und so kann erst diese Verknüpfung das Ziel der Ethik sein – so dass die Gottesliebe an erster Stelle steht. Darin waren sich nach Matthäus 22, 34-40, Jesus und sein Gesprächspartner, ein Gesetzeslehrer, einig.

... aber stets bedroht durch Eigeninteressen

Zwar hat die helfende Zuwendung des Menschen zum »Nächsten« in der herrschenden Wirtschaftstheorie einen Nutzen, obwohl es da nur auf die Nutzung von Arbeitskraft und -willigkeit ankommt. Eine freundliche Gesinnung ist hilfreich, denn wer gut schmiert, der fährt gut. Aber Wachstum, Konkurrenz, Gewinnmaximierung, Herrschaft, das sind die eigentlichen Wirtschaftsziele im Kapitalismus. Dieses System hat allerdings kuriose Unstimmigkeiten erzeugt; denn es gestattet nur dann ein Zusammenleben, das uns nicht allesamt in Kriegen vernichtet, wenn sich die Kulturen zum Ausgleich, und unter Einsatz großer Steuerbeträge aus eben jener Wirtschaft, beachtliche Sozialsysteme leisten, zu deren wichtigsten Motoren – und das ist eigentlich ganz systemfremd – der selbstlose, ja selbstvergessene persönliche und finanzielle Einsatz vieler Personen und Gruppen gehört, die religiös, humanistisch, durch Einsicht oder einfach durch erbarmende Liebe motiviert sind. Schließlich ist dieser Kapitalismus eine Denkstruktur, die als Maßstab ihrer Bewertungen aus den zahlreichen wichtigen Dingen nur eines herausstellt, nämlich das Geld, mit dem sich alles irgendwie messen lässt. Diesen Denkfehler des Reduktionismus auf die multifaktoriellen Systeme anzuwenden, mit denen sich die Welt präsentiert, ist nicht nur unwürdig, es gestattet auf unserem begrenzten Planeten insbesondere auch keine funktionierende Regierung und schon gar keine nachhaltige Versorgung.

Weil das so ist, ist die Hoffnung leider ganz unbegründet, dass eine kapitalistische Welt ohne humane und auch ohne ökologische Katastrophen funktionieren kann. Das ist oft gezeigt worden, so auch von Papst Franziskus in seinem Rundschreiben »Laudato si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus« (Rom, 24. Mai 2015; siehe auch unten in diesem Text). Unsere Einsicht in die Zusammenhänge erfordert es übrigens, daran zu erinnern, dass die Solidarität nicht auf die Subsidiarität verzichten kann – zusammen mit der Personalität eine der drei Grundlagen der christlichen Ethik.

Darüber hinaus ist den Biologen bekannt, dass der Darwinismus weder die einzige Triebkraft noch der hinreichende Gestaltungsmodus der Evolution ist (Stephan 2016). Es gibt, wie Portmann (zum Beispiel 1956) herausgearbeitet hat, im Bereich der Formen und Verhaltensweisen der Organismen vieles, das man nicht durch den Zwang des Lebenskampfes erklären kann. Da zeigt sich eine sehr große Gestaltungsfreiheit, ein unerschöpflicher Mehrwert aus der Evolution.

Mehr über Jesu Gleichnisse

Große Hindernisse beim Unterbauen der Ethik mit realem Wissen kommen aus der Spezialisierung – eine Folge unseres begrenzten Wissens von der so komplexen Welt. Hinzu kommen Ideologien, meist durch Macht und Kontrolle zur Herrschaft von Schulen und Parteien genutzt. Auch daher baut Jesus seine Lehren auf den Erfahrungsgrund der Gleichnisse. Die Gleichnisse sind auch ein Ort, an dem die profane Welt ihr Wesen in die Lehre einbringt. Dieses Wissen kommt aus der Schöpfung und ihrer Entwicklung, enthält so auch die Beiträge von Natur und Kultur – und ist schier unentwirrbar überprägt durch die Dialoge zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Gott, deren Beiträge nicht trennbar sind. (Bemerkung: »profan« ist kein Schimpfwort, sondern sagt, dass der betreffende Gegenstand vor dem Heiligen, dem Zelt der Erscheinung angesiedelt ist – und nicht darin.)

Das verlangt aber, immer erst nach den eigenen Mängeln zu blicken und erst diese zu beseitigen, bevor unsere Aufmerksamkeit den Fehlern des Nächsten gilt. Jesu wählt da als Beispiel etwa den Balken im eigenen Auge und den Splitter in dem des Nächsten. Es ist sehr nützlich, das zu beherzigen. So will Jesus von uns, dass wir im Guten wachsen, und dass er nicht immer frustriert sagen muss: »Was ruft ihr mich: Herr, Herr, und tut nicht, was ich sage?« (Lukas 6, 46) Diese Belehrungsresistenz ist so gefährlich, dass Lukas gleich anschließend noch deutlicher wird und berichtet, was der Baumeister Jesus dazu sagt:

»Jeder der zu mir kommt,

meine Worte hört und sie tut –

ich will euch zeigen, wem er gleicht:

Er gleicht einem Menschen, der ein Haus baute:

Und er hatte geschachtet und ausgetieft

und den Grundstein auf den Fels gelegt.

Als aber Hochwasser kam,

brach sich die Strömung an jenem Haus

und war nicht stark genug, es zu erschüttern,

denn gut war es gebaut.

Wer aber gehört und nicht getan –

er gleicht einem Menschen, der ein Haus ohne Grundstein

auf die Erde gebaut:

Daran brach sich die Strömung

und gleich fiel es zusammen.

Und der Niederbruch jenes Hauses war groß.«