Natürlich Brot und Wein - Joachim Heyna - E-Book

Natürlich Brot und Wein E-Book

Joachim Heyna

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Beschreibung

Heyna geht es in seinem Buch "Natürlich Brot und Wein" ums Grundsätzliche. Vordergründig ist das Ahrtal eine Idylle für Bewohner und Touristen. Die meisten der Winzer und Bäcker von Altenahr bis Ehlingen sehen in Brot und Wein etwas Besonderes. Demütig und sorgfältig produzieren sie naturnah und ehrlich. Wie Karl Weber, der Winzer aus Dernau. Für ihn ist Wein »ein biblisches Getränk« und (fast) jeder künstlichen Einflussnahme zu verweigern. Sein Bruder Franjo indes sieht das pragmatischer. Für ihn kann das gemeinsame Weingut nur überleben, wenn die Freiheiten des EU-Weinrechtes endlich ausgeschöpft werden. Genug Anlass also für Streitereien. Auch der Ahrweiler Bäcker Ludwig Nagel folgt den ehernen Prämissen eines 200 Jahre alten Familienbetriebes: In gutes Brot gehören nur Mehl, Wasser, Salz und – Geduld. Die Bäckereikette BACKZAUBER sieht das anders. Mit ihren hochgezüchteten Billigwaren mischt sie den Markt auf und wird zur echten Bedrohung für die traditionellen Betriebe. Ludwig fürchtet, den Trend zur Industrialisierung des Handwerks mitgehen zu müssen – oder seine Bäckerei wird geschlossen! Karls Bedrohung keimt im Verborgenen: Mittels einer geheimen Erfindung ist die Weinfabrik NOVOVINUM in der Lage, Spitzenweine synthetisch herzustellen. Deren Geschäftsführer Dieter Hopper ruft die »Revolution Ahrwein« aus, an deren Ende das Tal nicht wiederzuerkennen sein wird. Sein größter Coup ist die Abwerbung Franjos als Kellermeister. Mit der Trennung von seinem Bruder steht Karl vor dem Aus. Auf zwei Frauen und einem jungen Mann ruhen die Hoffnungen, die dramatischen Entwicklungen noch aufzuhalten und ihnen eine Wendung zu geben: Karls Freund Ronny Dorff gelingt es, bei der NOVOVINUM anzuheuern. Er hofft, so hinter das Geheimnis von Hoppers illegalen Geschäften zu kommen. Als die Kantorin Jana Moll von Karls und Ludwigs Sorgen erfährt, erinnert sie sich an ihre Diplomarbeit: Das Brot-und-Wein-Oratorium wäre der perfekte Rahmen für ein gleichnamiges Fest, ganz im Zeichen der Bedeutung und Unterstützung »natürlicher« Lebensmittel. Der Rückkehrerin Sonja schließlich gelingt es mit ihrer zupackenden und charmanten Art, Ludwig vor der allzu schnellen Aufgabe zu bewahren. Und als ausgebildete Sopranistin ist sie die Idealbesetzung für die Solorolle im Oratorium. Vieles scheint sich zum Guten zu wenden. Hätte Hoppers gerissener Anwalt Konrad von Hochstetten nicht immer noch eine Antwort parat. So gerät das Brot-und-Wein-Fest auf dem Ahrweiler Marktplatz im Schatten von Sankt Laurentius zu einem echten Showdown …

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© 2022 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-921-7Ausstattung: Stefanie ThurAquarell Titel: Dr. Holger Figge »Nebel um Burg Are«

Joachim Heyna

Natürlich Brot und Wein

Ein Ahrtaldrama

Rhein-Mosel-Verlag

Dieses Buch ist eine Hommage an das Ahrtal.

Meine Wahlheimat wurde in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 von einer Sintflut heimgesucht. Nicht wenige befürchten, das Ahrtal werde dieses Jahrhundertereignis nicht überleben.

Es wird überleben!

In den Beiträgen zur Landespflege Rheinland-Pfalz (Band 17 von 2003) werden dem Ahrtalbewohner »stark mediterrane Züge« nachgesagt. Der Ahrtalbewohner sei kein homo oeconomicus, sondern eher etwas leichtsinnig; er besitze jedoch eine rasche Auffassungsgabe.

Ich füge hinzu: Und eine unerschütterliche Liebe zu seiner Heimat.

Diese Liebe äußerte sich bereits am frühen Morgen nach der Flut in einer berührenden Weise. Was in den Tagen und Wochen danach an Energien, Solidarität und Kampfeslust von Dorsel bis Sinzig spürbar wurde, hat mich tief bewegt. Eine unfassbare Dimension an spontaner Hilfe von außen stieß auf die von Wut und Trotz geprägte Mentalität der Bewohner und fügte sich zu einem energetischen Gemisch des Wiederaufbaus. Die dabei gemachten Erlebnisse und Erfahrungen gaben meinem Entschluss, hier zu leben, den Ritterschlag.

Die Arbeit am Brot-und-Wein-Drama begann weit vor der Horrornacht im Juli 2021. Es thematisiert eine ganz andere und dennoch im Kern gleich gelagerte Gefahr für das Tal: Die Industrialisierung unserer Lebensmittel macht vor Brot und Wein nicht Halt. Sie entspringt, wie die Sorglosigkeit um die Gewalten der Ahr, dem Glauben, wir könnten die Natur ignorieren oder ihr gar unseren Willen aufzwingen.

Für Katrin, die nie auch nur eine Sekunde Klage über meine

körperlichen und geistigen Abwesenheiten führte;

mich stattdessen mit guten Worten und noch besseren Speisen

und Getränken aufgemuntert und angetrieben hat.

1 – Karl und Franz-Josef Weber

»So ein Schwachsinn!« – Ausgerechnet jetzt hört Karl Weber die Stimme seines Bruders Franz-Josef. Klar und deutlich, als stünde er direkt neben ihm: So ein Schwachsinn!

Ausgerechnet jetzt, wo er zitternd und schwitzend sich gegen den Stiel seiner Hacke biegt, mit ganzem Körpergewicht einen Hebel ansetzt wider diesen uneinsichtigen Findling da unter seinem Fuß, tief verwurzelt in der grusig-schiefrigen Erde. Der hustet ihm was. Bewegt sich keinen Millimeter.

Karl entfährt ein Ächzen, er löst langsam die Spannung aus dem Eschenstiel und sinkt erschöpft in die Knie. Sofort steht Poldi, der alte Jagdhund, in Habt-Acht. Regungslos hatte er das Gewühle seines Herrchens beäugt; nun sieht er die Chance, ein wenig Aufmerksamkeit abzugreifen.

»So ein Schwachsinn? Von wegen!«, wendet Karl sich an den einst talentiertesten Fährtensucher im Kreis. Knetet empörte Entschlossenheit in das kurze, raue Fell des Terriers: »Und wenn ich den kompletten Boden ringsherum ausschaufele, dieses störrisch-widerspenstige Geklumpe; und wenn ich den ganzen Tag wüte: Dieses Grauwacke-Monstrum hindert mich nicht daran, meinen Plan zu vollenden. Das wird der Paradestein in meiner Mauer!«

Poldi knurrt zufrieden. Der einzige Jagdhund im gesamten Kreis Ahrweiler mit einem Eintrag im AW-Wiki blinzelt in die schräg stehende Sonne. Dieser Tag lässt sich gut an.

Den neuen Weinberg hoch über der Schieferley noch in diesem Frühjahr zu vollenden, so lautet Karls Plan. Eingefasst und gehalten von einem Dutzend kleiner Trockenmauern. Nach alten Vorbildern hat er sie gebaut. Denselben Prinzipien, nach denen schon die Mönche und Nonnen im Mittelalter den steilen, unwirtlichen Hängen im Ahrtal Morgen für Morgen abgerungen und fruchtbaren Boden daraus geackert haben; kunstvoll angeordnete Terrassen weben, wie mit den Felsen verwachsen, ein steinernes Netz in den Hang und unterwerfen ihn dem Willen des Winzers. Kleinste Parzellen, die wie Schwalbennester aneinandergeduckt sich an den Berg drängen und neuen Rebkulturen Heimstatt und Nahrung sind.

Trockenmauern sind für Karl mehr als elastische Gebilde zur Befestigung von Erdreich. Sie sind Ausdruck einer Jahrtausende alten Kultur, die Funktionalität mit Ästhetik verbindet. Bewunderer nennen sie ehrfürchtig »Chöre«.

Terrassenweinberge erzeugen ein bodennahes Mikroklima, das mit dem eines gemeinen Rebhangs nicht zu vergleichen ist. Sie sind Burgunderstandorte par excellence: Erhöhte Wärmespeicherung, langwellige Wärmeabgabe bis in die Nacht und verbesserter Windschutz durch hangparallele Zeilung führen zu einer längeren Vegetationsperiode und auch späte Trauben zur Vollreife. Nicht zuletzt bieten die ohne Mörtel sorgsam aufeinander geschichteten Mauern einer vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt Lebensraum, wie er sonst nur im Mediterranen zu finden ist: sonnenbetankte Steinflächen mit schattigen Fluchtritzen und Hohlräumen.

Aus kaltem, abweisendem Gestein formt Karl einen edlen Weinberg. Und bestellt ihn wie Dutzende seiner Vorfahren: naturnah und gottesfürchtig. In die fertigen Chöre hat Karl Erde und Dünger eingebracht, junge Reben gepflanzt, sie gehegt und gepflegt, gehütet und versorgt. Wille des Schöpfers. Für Karl ist das Schleppen und Schichten, das Ausschachten und Verfüllen keine Arbeit, die er als Pflicht oder zum Broterwerb ansieht. Es ist Ausdruck seiner menschlichen Existenz. Nicht umsonst, glaubt er, wurde Weinbau lange von den Mönchen betrieben. Ora et labora. Arbeit im Weinberg ist kein Müssen, sondern ein Wollen und Dürfen, Vollendung eines schöpferischen Plans.

Manche Historiker meinen, die Römer hätten den Weinbau an die Ahr gebracht, verweisen dabei auf die lateinische Herkunft vieler Ortsnamen und Flurbezeichnungen. Andere datieren den Beginn mit den Franken, die vom Niederrhein nach Süden stießen. Urkundlich bestätigt ist der erste »Weinberg ad Aram« im Jahre 770, und das Güterverzeichnis der Reichsabtei Prüm verzeichnet ab 893 Abgaben von Winzerhöfen im Ahrtal. Im Mittelalter, der ersten Hochzeit der Rebkultur im Ahrtal, wurde diese von Domstiften und Klöstern betrieben. Sie stauten die Ahr zu kleinen Seen auf, um die klimatischen Bedingungen den natürlichen an Rhein und Mosel anzupassen. Sicher regulierten sie damit auch die zerstörerische Kraft der immer wieder auftretenden Hochwasser.

Die Säkularisierung verweltlichte auch die Antriebskräfte in der Landwirtschaft. Darin sieht Karl ein Fanal. Der Weinbau verliert seine transzendente Kraft, geschieht er allein aus ökonomisch-rationalen Motiven. Darf man es »Arbeit« schimpfen, in der Frühe des anbrechenden Tages der nackten, kalten Erde zum Leben zu verhelfen, die ihr innewohnenden Kräfte zu wecken und ihre Fähigkeit zur Entfaltung höchster Genüsse zu ordnen, und sei es noch so anstrengend?

Vielleicht. Wäre Karl Angestellter einer Genossenschaft, nach Stunden und Minuten bezahlt, auch er betrachtete wohl die Plagen und Strapazen seines Berufs als ein endliches, materiell fair zu entlohnendes Opfer. Und er läge womöglich ein paar Stunden länger in den warmen Federn, beschwichtigt in dem Glauben, Sinn und Lebensfreude seien danach zu bemessen, wie oft und für wie lange wir dem lieben Gott den Tag stehlen.

Stattdessen beschenkt der Winzer sich seit dem letzten Jahr mit einem ganz besonderen Frühburgunder, den er Rotley nennt. Schon bald wird er sein Werk vollenden und das letzte störrische Stück Erde des Steilhangs in Weinbergsboden verwandeln. Die fertige Parzelle kalkuliert Karl mit insgesamt 300 Stöcken. Genug Most für zwei kleine Fässchen und einen neuen unverwechselbaren Tropfen Dernauer Provenienz.

Frühburgunder Rotley. Mit diesem Namen sollen Weinenthusiasten jene spezielle, unverwechselbare Verbindung aus Rebe und Gewann im Schieferley assoziieren, dessen Terroir sich durch eine rötliche Färbung von der Umgebung unterscheidet.

Der Blaue Spätburgunder gilt als Leittraube der Ahr. Betrachtet man den Anteil der Rebstöcke, die hier in seinem Namen wachsen und gedeihen, ist nichts dagegen einzuwenden: Der »Pinot noir« bedeckt zwei Drittel der Weinbergsböden links und rechts des Flüsschens. Für Karl ist der Frühburgunder der eigentliche König des Tals. Mehr noch als sein großer Bruder verkörpert diese Traube den Charakter des Anbaugebietes. Nach den Ergebnissen der jüngsten Forschung mutierte der erste Frühburgunder auf dem Bachemer Karlskopf, nicht einmal zehn Kilometer von Karls Elternhaus entfernt. Ursache war die »kleine Eiszeit«. In dieser über hundert Jahre andauernden Periode relativ kühlen Klimas in Europa fielen die Durchschnitts­temperaturen merklich. Für die nördlichen Weinbauregionen wie die Ahr war dies fatal. Die Spätburgundertrauben blieben im Wachstum zurück. Umso dankbarer entdeckten Bachemer Winzer an einigen wenigen Stöcken vollreife Trauben und vermehrten sie. Und sie hielten dem »Früh«-Burgunder die Treue, als es wieder wärmer war. Bis heute. Obwohl der »Pinot précoce« sehr viel Pflege braucht und vergleichsweise geringe Erträge liefert. Aber er belohnt die Ausdauer und Ergebenheit der Weinbauern mit samtigen, vollmundigen Rotweinen von betörender Frucht.

Karls Plan hat »wissenschaftliche Segnung«. Die bewaldete Kuppe direkt über der Rotley sei von eisenhaltigen Adern durchzogen und schwemme langsam und kontinuierlich Spuren des Minerals ein. Das hat ihm ein Geologiestudent aus Bonn berichtet, der seit kurzem im Ahrtal herumstreift und merkwürdige Fragen stellt. Und ebenso denkwürdige Antworten gibt. Er vermute dort Klerfer Schichten, wie Geologen den fossilfreien Teil des Unter-Ems bezeichnen; die malerischen Rostmuster seien jedenfalls typisch.

Ronny Dorff, so hatte er sich vorgestellt, sei ein Zugezogener – und wieder nicht. Denn »eigentlich« war, nein, ist er ein Ahrweiler Junge, und genauer: ne Ovehödde Jong. »Eigentlich« wollte Ronny sich nach dem Abi frischen Wind um die Nase wehen lassen, raus aus der Enge des Tales und hinein in die Gerüche und Geschmäcker einer Großstadt. Mit Feuer hatte er sich eingeschrieben am Geologischen Institut in Köln und mit Flamme in das Nachtleben der Domstadt gestürzt. »Eigentlich …«

Dann war seine geliebte Oma gestorben und hatte ihm das Fachwerkhäuschen in der Oberhut hinterlassen. Die vier Huten, fiskalische und Wehrgemeinschaften des mittelalterlichen Städtchens, wurden zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit karitativem Anspruch wiederbelebt. Noch heute besteht zwischen ihnen, vor allem unter den Junggesellen, eine herzliche Rivalität. »Eigentlich« war »Omas Butze« ein Fall für ImmoScout24 oder für die Abrissbirne. Ihre abenteuerlich schiefen Streben, Riegel und Stürze sind beredtes Zeugnis jener Zeiten, in denen Ahrweiler Bürger ihr kostenloses Holz aus dem Stadtwald in Jahresfrist verbauen mussten, um nicht das Recht darauf zu verlieren.

Aber keine Millisekunde hielt sich der Anflug eines Gedanken, das historische Gebäude, seit zig Generationen im Familienbesitz, eines der wenigen Unversehrten beim großen Stadtbrand anno 1689, zu verkaufen. Und bevor Ronny sich’s versah, lebt er wieder in dem 800 Jahre alten Mauerring der Kreisstadt, in viel zu niedrigen und viel zu engen Räumen, die ohne jede Veränderung sind, seit er sie mit tapsigen Kinderschritten erkundet hatte, und die ohne jedes Zutun zu einem perfekten Museum taugten.

»Ronny Eigentlich« – so hatte Karl ihn lachend tituliert, bevor er den Studenten vor ein paar Wochen mit in den Keller nahm. Denn »eigentlich« ist der Student ein Meister des Understatements. Käme nie auf die Idee, sich auf sein enormes Wissen etwas einzubilden. Und so beginnt er gerne einen Satz mit demütigem »eigentlich«, selbst wenn er zu hundertundeins Prozent von der Sache überzeugt ist. »Kann ich helfen?«, waren seine ersten Worte zu Karl, als er den Winzer an einem nasskalten Januartag beim Schneiden des Rebholzes traf. »Eigentlich« wisse er, wie das geht, und dass es besser sei, eine Frostrute stehen zu lassen. Karl sah die ersten Handgriffe des merkwürdigen Kauzes und ließ ihn gewähren.

Im Gewölbe der Webers erzählte der Student später so lebendig von seinem Blog über Wein und Geologie, dass Karl eine nie erlebte Ahnung davon bekam, was Seelenverwandtschaft bedeutet. Nach der dritten Probe, einem Grauburgunder aus dem Burggarten, gewachsen auf Sand, Lösslehm und Ahrkies, öffnete Karl dem Jungen sein Herz.

Mit Benedikt Dutsch, dem verschrobenen Dernauer Winzer, der seinen Ruhestand hoch oben über der Steinbergsmühle in einer alten Wingerthütte verbringt, haben die beiden sogar einen gemeinsamen Bekannten. Das erfuhr Karl bei der fünften Probe, einem Spätburgunder Hardtberg vom neuen Jahrgang, Grauwacke mit fetten Lehmanteilen, direkt aus dem Stückfass – herrlicher Vermittler zwischen kühler Eleganz und üppigem Bukett.

Direkt vor der siebten Probe, dem großen Finale, 2003er Pfarrwingert Goldkapsel aus der gut behüteten und dreimal verschlossenen Schatzkammer des Winzerhofs Weber, stand plötzlich Franz-Josef im Keller. Geschlagene zweieinhalb Stunden hatte Karls älterer Bruder auf dessen Rückkehr gewartet. Und nun fragte er sich mit ungläubigem Blick, ob dieser Träumer die ganze Zeit mit einem Wildfremden weinselig beieinander gesessen und gefachsimpelt hatte. Und während Karl und Ronny die Feinheiten des körnigen Trümmersediments aus Grauwacke und Schiefer auf ihren Zungen zu entschlüsseln suchten, schüttelte Franjo nur den Kopf und flehte die Augen zum Himmel. Aber der liebe Gott weigerte sich zu antworten …

Den lieben Gott wähnt Karl eher auf seiner Seite. Denn Wein ist für ihn ein biblisches Getränk. Die Aufgabe des Winzers besteht darin, die natürlichen Gegebenheiten mit Fleiß und Demut zur Vollendung zu bringen. Großen Jahrgängen zur Geburt zu verhelfen, den besonderen Duft und Geschmack einer Lage und – im Idealfall – eines einzelnen Gewanns erklingen zu lassen; penibel herauszuarbeiten, womit der Herrgott Jahr für Jahr jedes Fleckchen Weinbergserde gesegnet hat. Und immer bereit sein zu akzeptieren, dass es bei aller Sorgfalt und Pflege Missernten und Reinfälle geben kann.

Karl betrachtet diese Demut nicht als Schwäche. Für ihn ist das bedingungslose Eintreten für Unverwechselbarkeit und Unverfälschtheit der einzige Weg, um den Ahrweinbau vor dem Schicksal zu bewahren, im Meer industrieller Massenweine unterzugehen. Schärfung der vielfältigen Lagenprofile und Verzicht auf Egalisierung und Verallgemeinerung – das ist aufwändig und teuer. Und keine Selbstverständlichkeit mehr. Weder im Ahrtal noch im Winzerhof Weber. Ginge es nach seinem Bruder, hätte Karl diesen »elitären Schwachsinn« mit der Rotley gar nicht erst angefangen …

Zwei Mal schlägt die Turmuhr von Sankt Johannes Aposteln. Halb Acht. Karl nimmt einen Schluck Tee aus seiner Thermoskanne und schaut hinunter auf den Ort. Das schläfrige Dernau räkelt sich langsam aus einem Kokon von Frühnebelschwaden. Auf der gegenüberliegenden Talseite, über dem Krausberg, hinterleuchtet die Sonne die Szenerie, zart hingehaucht wie von einer Aquarellistin. Majestätisch zeichnet sich der Aussichtsturm des Eifelvereins davor ab. Reglos ruhen die Weinberge. In den Steillagen, die den Ort umschließen, warten die himmlischen Kräfte der Natur auf das Zeichen. Noch starren die abertausenden grauschwarzen Rebstöcke in einer leblosen Grafik.

Karl lässt das Gemälde eine Weile auf sich wirken. Als er heute Morgen in aller Frühe von Zuhause aufbrach, rechnete er insgeheim damit, mit solchen Bildern belohnt zu werden. Das ist der Vertrag: Seine knochenharte Arbeit, sein nimmermüder Einsatz als Weinbauer bringt – kalkulierte man es ohne jede Schönfärberei – um die fünf Euro pro Stunde. Aber sie schenkt ihm unzählige dieser Momente. Wie wertvoll sind Karl die Stunden in der Natur, hoch über seinem Geburtsort, hoch über seiner Heimat, die sich ganz und gar, wie eine Geliebte, unter ihm hinschmiegt, und die ganz und gar ihm vertraut und gefahrlos entgegen flüstert: Das ist das, was du willst. Das ist dein Leben.

Karls umherschweifender Blick fällt auf die Bruchsteinhütte im Alten Wingert auf der gegenüberliegenden Ahrseite. Schemenhaft erkennt er zwei gestikulierende Gestalten. Das müssen Clara und Benedikt sein. Ein Jammer ist das mit den beiden: Die Eheleute leben auf ihre alten Tage »getrennt unter einem Dach«. Blöde Geschichte. Und ein Jammer ist es auch mit dem Alten Wingert, diesem wundervollen Stück Rebland. Karl schüttelt leise den Kopf. Hier ringt er der Natur mit äußerster Anstrengung ein paar Quadratmeter neuen Weinbergsboden ab, und ein paar hundert Meter weiter richtet die ordnende Hand des Menschen nur noch das Nötigste. In der einstigen Premiumparzelle zieht Benedikt nurmehr Allerweltsweine.

Lange ruht Karls Blick auf dem Winzerhof Weber. Dort betreibt er mit seinem Bruder Franjo das elterliche Weingut. Seit zwei Generationen bauen die Webers ihre Tropfen wieder selbst aus. Mit der Flurbereinigung und der Konzentration der Genossenschaften ergriff der Vater die einmalige Gelegenheit: Er trat aus dem Weinbauverein aus und kaufte Parzellen in den besten Lagen hinzu – Hardtberg, Pfarrwingert, Schieferley. Mit dreieinhalb Hektar Rebfläche begann für den Winzerhof Weber eine selbstbestimmte Zukunft.

Karl sieht den Geländewagen vom Hof fahren, und Sekundenbruchteile später dringen die Motorgeräusche zu ihm herauf. Das ist Franz-Josef, der die Kinder zur Schule nach Ahrweiler bringt. Frederike und Bruno haben den Zug verpasst, vermutet Karl. Sind mal wieder nicht aus dem Bett gekommen. Also darf Papa den Chauffeur spielen.

Und danach fährt Franjo Akquise, bettelt Restaurants und Kneipen an, die Weine des Winzerhofs auf die Karte zu nehmen. Die Rheinlust in Remagen etwa, das neue Weinbistro mit Blick auf die Erpeler Ley und die legendären Brückenköpfe, direkt neben PANEM CALIDI gelegen, dem futuristischen Forschungsinstitut für Backwaren. Mit stylischem Ambiente und verrückten Ideen avanciert die Rheinlust zum Treffpunkt für junge Genießer. Hierin gibt Karl Franjo Recht: Mit denen ins Geschäft zu kommen, wäre ein Volltreffer. Wenn er auch bezweifelt, ausgerechnet die gradlinig puristischen Tropfen des Winzerhofs begeisterten deren Publikum.

Vielleicht wandelt Franjo auch wieder »auf den Spuren moderner Weinbereitung«. Lässt sich von einflussreichen Freunden und hochdekorierten Ratgebern Flausen in den Kopf setzen, mit denen er Karl zur Weißglut treibt. Seit sein Bruder Vorsitzender der Freunde des Ahrweins ist, turnt er von Veranstaltung zu Veranstaltung, lernt lauter fragwürdige Modernisierer des deutschen Weins kennen und hortet Hochglanzprospekte zur schönen neuen Weinwelt. Und nicht genug, behelligt er Karl immer häufiger mit Ideen, die so gar nicht mit dessen Vorstellungen von seinem Berufsstand übereinstimmen. Am liebsten verpasste Franjo dem Winzerhof eine Radikalkur, eine komplett neue Philosophie. Kein Stein dürfe mehr auf dem anderen stehen …

Karl schraubt den Aluminiumbecher auf das Gewinde seiner Thermoskanne und seufzt. Dann gibt er sich einen Ruck. Mit grimmiger Entschiedenheit schlägt er die Hacke in die skelettreiche Erde.

*

Die Vorstellungen von Franz-Josef Weber sind tatsächlich immer weniger mit denen von Karl zu vereinbaren. Für Franjo ist sein »kleiner Bruder« ein Phantast. Ein Romantiker, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Während der Vorsitzende der Freunde des Ahrweins seine Kinder zum Gymnasium auf den Calvarienberg fährt, denkt auch er über die gemeinsame Zukunft nach. Selbst im Ahrtal wird Weinbau immer mehr zum knallharten Geschäft. Nicht rückwärtsgewandtes Romantisieren ist angesagt, sondern pragmatisches Kalkül. Es ist höchste Zeit, »gefällige« Weine anzubieten, um vor allem jungen Menschen den Zugang zu erleichtern. Die neue Kundengeneration will »abgeholt« werden.

Schwachsinn? Es ist mehr. So eine neue Trockenmauer ist für Franjo der Inbegriff von Ignoranz und Träumerei. Betriebswirtschaftlicher Rohrkrepierer. Ach, wenn es das alleine wäre. Soll Karl in seiner Freizeit machen, was er will. Solange er seine Pflichten im Familienbetrieb nicht vernachlässigt. Nein, das kann Franjo Karl nicht vorwerfen. Sein Bruder arbeitet härter und preiswerter als der fleißigste osteuropäische Lesehelfer. Was ihn beunruhigt, ist die Verbohrtheit und Konsequenz, mit der Karl jede Innovation ablehnt, mit der er jeden technologischen Fortschritt als Teufelszeug verurteilt.

Kunststück, denkt Franjo und setzt den Blinker Richtung Walporzheim. Karl muss keine Familie ernähren, trägt Verantwortung nur für sich selbst. Dass dem Winzerhof langsam die Stammkunden wegsterben, dass seit Jahren die Umsätze stagnieren, die Kosten jedoch aus dem Ruder laufen, das alles weiß Karl, weil Franjo keine Gelegenheit auslässt, es ihm unter die Nase zu reiben. Stur wie ein Dernauer Esel bleibt er dennoch bei seinem Credo: Wein ist ein biblisches Getränk und keinerlei Manipulation zugänglich.

Das vornehme Weinhaus Sankt Peter mit seiner blütenweißen Fassade und den rot-weiß gemusterten Fensterläden streicht vorbei. Manipulation! Wenn Franjo das schon hört. Wo fängt das an und wo hört es auf? Alles, was er an Neuerungen vorschlägt, ist legal. Im europäischen Recht geregelt und zugelassen. Punkt. Wenn diese neuen Freiheiten uns helfen, und wenn der Kundengeschmack es nicht anders will – dann wird auch ein Winzerhof Weber sich nicht dagegen sperren können. Das ist die Realität!

Der Land Rover passiert die alte Weinbauschule im Himmelchen. Das etwas heruntergekommene Gebäude strahlt historistisch-selbstgefällige Eleganz aus. Auffällig leuchtet das tadellos restaurierte Wappen der Rheinprovinz im Zentrum der bröckelnden Fassade. Anfang des letzten Jahrhunderts sollte die Provinzial-Wein- und Obstbauschule den Winzern den Weg in die neue Zeit aufzeigen – weg von überkommenen Vorstellungen hin zu modernen Methoden. Mit der Landwirtschaftsreform um die Jahrtausendwende verlor das stolze Anwesen angeblich seine Berechtigung und wurde geschlossen. So geriet es in die Hände von Dieter Hopper, einem Geschäftsmann, dessen Ideen im Ahrtal, vorsichtig ausgedrückt, auf Unverständnis stoßen. Immerhin bemüht er sich, dieses wertvolle Zeugnis der Neorenaissance zu erhalten. Warum allerdings das Wappen zuerst restauriert wurde, ist Hoppers Geheimnis. Und ein weiterer Anlass für Gerede.

Franjo lässt den Wagen vor dem Eingang des Gymnasiums auf dem Calvarienberg ausrollen. Für ihn steht fest: Die Brüder müssen bald eine Grundsatzentscheidung treffen, sonst sieht es düster aus.

»Papi, du bist der Beste!«, ruft Frederike, während sie hinaushüpft.

Franjo hört weder die Schmeichelei seiner Tochter, noch sieht er das mürrische Gesicht seines heftig pubertierenden Sohnes.

Als er den Wagen die Blandine-Merten-Straße hinunterbremst, vibriert das Handy in seiner Hosentasche. Das wird Elfriede sein, die wieder irgendeinen Auftrag für mich hat, denkt er missmutig. Ignorieren, springt es ihn an. Die Vorstellung, dafür später von seinem Eheweib bitter beklagt zu werden, lässt ihn rechts an den Bordstein fahren und den Motor abstellen.

Im Schatten der imposanten Klosteranlage scrollt Franjo durch die Nachricht, die sein Leben verändern wird. Sie klingt eher harmlos, wenn auch kryptisch. Die SMS ist nicht von Elfi, sondern von einem bis eben nie benutzten Kontakt: Hallo Herr Weber, ich habe ein interessantes Angebot für Sie. Bitte rufen Sie bald zurück und bewahren Stillschweigen. Grüße Dieter Hopper

Dieter Hopper. Drei Dinge schießen Franjo durch den Kopf. Erstens: Niemand polarisiert das Ahrtal mehr als der Geschäftsführer der Novovinum Weinmanufaktur und Handelsgesellschaft in Walporzheim. Zweitens: Hoppers anfänglich eher aufdringliches Engagement bei den Freunden des Ahrweins ist merklich zurückgegangen. Und drittens: Dieser Kerl hat es trotz heftiger Widerstände und Pleiten immer wieder auf die Beine geschafft.

Ein interessantes Angebot? Das könnte so eine Nachricht ganz im Sinne von Elfriede sein. Ginge es nach ihr, hätte Franjo längst die Konsequenzen gezogen. Elfi weiß »sicher wie das Amen in der Kirche«, dass Karl zu keinerlei Kompromiss zu bewegen ist. Umso mehr drängt sie Franjo, Fakten zu schaffen und die Zusammenarbeit mit seinem Bruder zu beenden. Als Vorsitzender der Freunde des Ahrweins und als überregional geachteter Sommelier hätte er alle Möglichkeiten.

Am Ende wird sie wieder Recht behalten, denkt Franjo. Und seine Eingeweide melden im gleichen Moment, genau das gehe ihm gegen den Strich.

2 – Dieter Hopper

»Meine Herren, Sie haben 15 Minuten!«

Dieter Hopper, der Geschäftsführer der Novovinum Weinmanufaktur und Handelsgesellschaft in Walporzheim, betritt hektisch sein Büro undschaut ungläubig auf die Konstruktion mitten auf dem Besprechungstisch: Ein weißes Tuch umschmiegt ein längliches Rechteck, als wäre es ein Spielzeugmodell von Christo.

»Frau Jenzek!«, ruft Hopper genervt.

»Ja?«, antwortet es aus dem Vorzimmer.

»Erinnern Sie mich pünktlich!«

Hopper mustert seine beiden Mitarbeiter und schließt die Tür. Was hat das wieder zu bedeuten? Eine Verpackungsposse? Wohl ein weiteres Ablenkungsmanöver seiner selbsternannten Experten.

Experten. Das wären sie gerne. Da stehen sie vor ihm, Thomas Viethen und Sascha Kropp. Mit himmelhoch jauchzenden Versprechungen waren sie angetreten. Und mit jeder Präsentation ihrer »Produkte« wurde Hopper klarer, dass er sich hat blenden lassen. Das, was die beiden ihm seit Wochen als Weine der Zukunft einschenken, wird nicht annähernd seinen Erwartungen gerecht. Nein, diese Glücksritter haben jeden Kredit bei ihm verspielt. Schon bald wird Franz-Josef Weber an ihre Stelle treten und Hoppers Sturz von der Klippe im letzten Moment verhindern. Warum also noch diese Inszenierung? Hopper hat weiß Gott andere Sorgen.

13 Minuten – diesen letzten Brosamen an Aufmerksamkeit wird er den Quasi-Gekündigten gönnen, dann ist ihre Show zu Ende. In einer guten Viertelstunde steht die Videoschaltung nach Szechuan. Dort wartet der Investor Xing Ming. Mit unangenehmen Fragen. Drängenden Fragen. Zu der mehr als unbefriedigenden Entwicklung des Projekts Revolution Ahrwein.

Dieses Projekt sollte Hoppers großer Befreiungsschlag werden. Schon zweimal hatte er sich mit Verve in finanzielle Abenteuer gestürzt, und beide Male waren seine Geschäftsideen gescheitert. Die Revolution Ahrwein ist seine dritte und letzte Patrone. Xing Ming wird die Verluste wohl verkraften; Hopper selbst steht vor der Pleite.

Der Mann in dem auffallend eleganten Nadelstreifen-Zweireiher schaudert. Zieht seine viel zu teure Seidenkrawatte in Form, die er heute Morgen extra beim Herrenausstatter in Bad Neuenahr besorgt hat. In wenigen Minuten muss das Bild eines gepflegten und seriösen Weinfabrikanten auf dem fernöstlichen Bildschirm erscheinen. Wenn Hopper eines von seinem aufreizend undurchsichtigen Geschäftspartner weiß: Xing Ming legt größten Wert auf Äußerlichkeiten. ›Un-satis-fac-tory de-velop-ment‹ hallt die Erinnerung an die neueste Lieblingsklage des steinreichen Investors in seinem Kopf. Und er hört sie in Gedanken so intoniert, als sei der Asiate gezwungen, jede einzelne Silbe im vorderen Mundraum nicht nur zu bilden, sondern sie genüsslich zu zerhacken.

So enthusiastisch Xing Ming das Projekt zu finanzieren bereit war, so entgeistert scheint er es nun beerdigen zu wollen. Es werde immer mehr zu einem ›Barrel widdout ground‹. Hopper könnte schwören, dass er auch diese sprachliche Köstlichkeit heute wieder serviert bekommt.

Und nun das! Seinen Kopf voller gedrechselter Entschuldigungen und schwachbrüstiger Beschwichtigungen für den Chinesen soll er sich wieder einmal dafür interessieren, was seine beiden Kellermeister ihm »dringend und unaufschiebbar« zu präsentieren beabsichtigen. Derart kategorisch hatten Thomas Viethen und Sascha Kropp Frau Jenzek-Dambrowski überrumpelt und den Termin »dazwischen gequetscht«. Ja, es müsse unbedingt vor der Schalte nach China sein!

Noch 12 Minuten.

Wenn Hopper eines nicht mag, ist es Umstandskrämerei. Der 48-jährige hat eine bewegte Karriere hinter sich, mit mehr Tiefen als Höhen; und doch ist er immer wieder aufgestanden und hat größer gedacht als zuvor. Hopper führt dies auf seine Fähigkeit zurück, schnell und klar zur Sache zu kommen. Er wendet sich seinen Mitarbeitern zu: »Was soll dieser Kindergeburtstag?«, fragt er ungewöhnlich harsch. Andererseits: Was hat er mit denen noch zu tun?

Thomas Viethen und Sascha Kropp kennen ihren Chef. Die Kellermeister wissen um seine Ungeduld. Aber ebenso, wie sie nie an ihrem Erfolg gezweifelt haben, sind sie sicher, dass er ihnen diese Inszenierung verzeihen wird. Spätestens dann, wenn das Tuch über der verborgenen Sensation gelüftet und sie durch Hoppers Kehle geronnen ist.

11 Minuten.

Kellermeister? Das steht auf ihren Visitenkarten. Vorläufig.

Denn genau gesagt ist der gertenschlanke Thomas Viethen mit den schulterlangen angegrauten Haaren Maschinenbau-Ingenieur. Und noch genauer gesagt hat er von Weinbau weniger Ahnung als ein Hobbywinzer, der staunend die zerplatzenden Kohlendioxydbläschen in einem Gärballon betrachtet. Beim eher rundlich-gemütlichen Sascha Kropp, seinem jüngeren Spezi mit energischem Bürstenhaarschnitt, könnte man ein Auge zudrücken. Seine Kindheit verbrachte er in Pünderich. Und vor seiner Ausbildung zum Lebensmitteltechniker jobbte er in der Großkellerei Moselland e.G.

Vorläufig? Heute ist Hopper heilfroh, dass er die Verträge mit den beiden befristet hat. Mit einer kleinen Abfindung werden sie schon am Montag Geschichte sein und dankbar, dass der Geschäftsführer ihnen ein Zeugnis erster Klasse spendiert. Hopper grinst, gratuliert sich innerlich zu einem meisterhaften Schachzug: Mit Franz-Josef Weber verfügte die Novovinum über einen weithin renommierten und examinierten Kellermeister und Sommelier mit großartigem Leumund. Das wird Xing Ming beeindrucken. Ein großer Name. Und ein großes Versprechen. So leuchtet die – wieder einmal – phantastische Zukunft des Dieter Hopper.

Seine Gegenwart sind Viethen und Kropp, ein ebenso unzertrennliches wie unhaltbar gewordenes Duo. Und da die beiden so gut wie immer gemeinsam auftreten, nennt Hopper das Pärchen kurz, und anfangs durchaus liebevoll, »VieKro«. Denn vor nicht allzu langer Zeit hatte er geglaubt: Wenn die Revolution Ahrwein durchstartet, werden VieKro meine wichtigsten Mitarbeiter sein. Unkündbar, lebenslänglich.

Wie man sich täuschen kann. Hopper schaut ungeduldig auf die Uhr: 10 Minuten.

Sascha Kropp tritt an die mysteriöse Verhüllung auf dem schweren Besprechungstisch aus Massivholz heran. Das Einzelstück, gefertigt aus heimischen Bäumen, jahrhundertealte Eichen von der Kalenborner Höhe, stammt von der Schreinerei Mies in Rech. Für Hopper war die Beauftragung eines regionalen Produkts bei einem heimischen Handwerker keine Sentimentalität, sondern ein Statement. Wie sein ganzes Büro. So unfertig die Sanierung der alten Weinbauschule stecken geblieben ist, so edel und pompös präsentiert sich Hoppers Arbeitsplatz. Wer hier eintritt, soll beeindruckt sein. Dieses Büro ist eine Ansage, ein Versprechen auf alles Übrige: Sobald VieKro Vollzug meldeten, sobald Xing Ming überzeugt wäre, Investor eines Weingutes der Spitzenklasse zu sein, sobald erstrahlte die ehemalige Provinzial-Wein- und Obstbauschule nicht nur im alten Glanz der Jahrhundertwende, sondern sähe als neue Nobeladresse für Ahrwein einer glanzvollen Zukunft entgegen. So lautete Hoppers Agenda.

Und jetzt? Alles für die Katz!

»Sind Sie bereit?«, reißt Kropp seinen Chef aus den gereizten Gedanken. Und zieht mit Daumen und Zeigefinger an dem seidenen Tuch, das langsam wie ein Kirchturm sich immer spitzer über der »dringenden Sensation« erhebt.

Dringende Sensation!? Als Hopper das hörte, beschlich ihn eine kurze Ahnung, die er sogleich wieder abschüttelte. Nicht schon wieder eine unbegründete, vorschnelle Hoffnung. Wenn er VieKro eines zugutehalten will, sie haben ihm mit ihren Reinfällen eine nüchtern-kühle Skepsis implantiert: Nichts glauben, nichts hoffen, bevor es nicht Schwarz auf Weiß, in trockenen Tüchern, was auch immer …

9 Minuten.

Mit professionell geschultem Zweifel folgt Hopper der grotesk-feierlichen Enthüllung, und mit beinahe schmerzhaftem Unglauben nimmt er die zwei bauchigen Gläser mit Rotwein wahr, die zum Vorschein kommen.

Wie originell, denkt er sarkastisch und an die jüngste Präsentation seiner Kellermeister; gerade einmal zehn Tage sind seitdem vergangen: Weine, die schon beim ersten Schluck ihre fragliche Herkunft verrieten, laut und obszön. Das war der Tag, an dem Hopper endgültig verfluchte, was er seinerzeit mit der genialen Idee der beiden verbunden hatte: Es sei möglich, Weine jeder Qualität synthetisch herzustellen. Ahrweine jenseits ihrer naturgegebenen Grenzen – Spätburgunder auf dem Niveau eines Lafite-Rothschild oder Romanée-Conti. Und zwar zu Kosten, die nicht der Rede wert seien.

Und dann servierten sie ihm diese Chemiekeulen! Wenn das dabei herauskomme, hatte er seine Zauberlehrlinge weggeschickt, dann sei das Projekt Revolution Ahrwein mausetot! Jedenfalls für sie.

Entsprechend degoutant gerät die Synchronzuckung seiner Mundwinkel. »Sieht tatsächlich nach einer echten Sensation aus«, ätzt Hopper.

»Voila!«, zeigt Viethen sich unbeeindruckt. »Goûtez! Das linke bitte zuerst.«

8 Minuten.

Die Mimik des Chefs bleibt gefroren. Hopper denkt an den Moment, in dem er diesen Gesichtern ihre vorzeitige Freistellung mitteilt, und gewährt eine letzte Gnade: »Bringen wir es hinter uns!«, sagt er und zieht das erste Glas schwungvoll in die Höhe. Hält es gegen die Scheibe des mächtigen Sprossenfensters, hinter dem sich das majestätische Panorama vornehmster Steillagen des Ahrtals erstreckt: Alte Lay, Kräuterberg und Gärkammer.

Sein Blick springt auf die antike Uhr über der schweren Vitrine aus kaukasischem Nussbaum, Familienerbstück aus der Kaiserzeit: 14.52 Uhr.

So ungeduldig Hopper sein mag, so entschieden befolgt er das uralte Ritual der Verkostung. Egal, was immer ihn erwartet. So schnell und klar Hopper im Geschäftsleben zur Sache kommt, so gelassen und konzentriert gibt er sich den Genüssen hin, vor allem, wenn es um Rotwein geht. Auch wenn es garantiert keiner ist. Keiner, über den es zu reden lohnt.

Noch 7 Minuten.

»Rubinrot, violette Anklänge, typisches Burgunderfunkeln«, beschreibt der Kenner immer noch süffisant seinen ersten Eindruck. Dann schwenkt er den Tropfen großzügig im Glas, dass er fast über die Ränder schwappt, stoppt die Bewegung abrupt und führt die Öffnung direkt unter seine weit geöffneten Nasenflügel.

Atmet ein: »Mmm« und aus: »Fff!«

Hopper schaut seine Mitarbeiter an. Schafft es, erwartungsfroh dabei auszusehen. »Faire valser le vin«, schwärmt er akzentfrei. Weil ihm eingefallen ist, dass ihm mit dieser Inszenierung nichts Besseres passieren konnte. Viel Trara und wieder nichts dahinter. Danach wird es ihm ein Leichtes sein, VieKros Mimikry zu beenden und Franz-Josef Webers Einstellung zu rechtfertigen. Umso mehr bemüht er ein letztes Mal Fairness und Vertrautheit. »Wussten Sie, dass die Franzosen ihren Wein Walzer tanzen lassen, um die Aromen zu lösen?«, fragt Hopper.

6 Minuten.

Die Herren Viethen und Kropp lächeln verschämt. Sie wissen das. Sie wissen es, seit sie Hopper kennen. Weil sie nicht eine Verkostung erinnern, wo er diese Weisheit nicht zum Besten gab.

Noch einmal schwenkt der Geschäftsführer den wohltemperierten Wein und unterzieht ihn erneuter olfaktorischer Prüfung. »Johannisbeere …, Kirsche, ja, schwarze Kirsche …, ein wenig Pflaume«, referiert er. Um gleich noch einmal nachzuriechen. »Ah, Zimt, Vanille, nicht zu viel. Ausgewogen. Wunderbare Balance. Sehr schön.«

Glaubt er das? Doch ja. Hopper kann hier – objektiv – nichts anderes und vor allem: nichts weniger!, feststellen.

5 Minuten.

Hopper senkt das Glas und hält inne. Ohne seinen Blick zu heben, mahnt er: »Nie zu früh freuen, meine Herren, ich habe schon Weine erlebt, die einem in der Nase das Blaue vom Himmel versprochen haben …« Und trinkt.

Um es präziser zu sagen: Er schlürft, schmatzt und rollt. Eine ebenso vulgäre wie vollkommene Technik, um den Wein zu öffnen. Ihn in der Mundhöhle verteilt und verwirbelt, kein einziges Molekül außer Acht lässt, jeder noch so versteckten Papille Umspülung mit den köstlichen Ingredienzien schenkt. Um ihn, nach ausreichender Besinnung und Würdigung, genüsslich hinunterzuschlucken.

Der Spucknapf? Bleibt unbeachtet und leer. Viethen und Kropp grinsen. Das nennt man einen Wirkungstreffer.

4 Minuten.

Fühlt Hopper sich ertappt?

»Menschen nur trinken den Wein, den anderen Geschöpfen ziemt Wasser. Drum achte die Scheidung, oh Mann, und halte vom Wasser dich fern«, gibt er eine weitere seiner Weisheiten zum Besten, die längst im Sprachgebrauch seiner Kellermeister angekommen ist. Und trinkt den nächsten Schluck, um das, was da eher als Ärgernis denn als Ahnung in ihm heranwächst, erneut zu erleben. Und vor allem: zu hinterfragen! Mit kritischer Wachsamkeit nicht zu früh zu loben und zu preisen. Weintrinken und Eile gehen nicht zusammen; vorschnelle Urteile bei der Verkostung sind Hopper zuwider.

3 Minuten.

In atemstiller Anspannung verfolgen Viethen und Kropp die Zeremonie. Großer Moment. Der dauert. Andauert. Weiter dauert. Weil er Hopper sprachlos macht für eine bemerkenswerte Weile. Immer wieder tänzelt sein argwöhnischer Geist um dieses Ereignis herum, schmeckt er die nun erdig-rauchig-holzigen Aromen nach, die dieser Tropfen ihm gerade beschert. In einer Dichte, die ihn schwindlig macht.

2 Minuten.

Hopper wankt. Spürt deutlich sich auf der Schwelle zwischen skeptischer Kontrolliertheit und jungenhaftem Überschwang. Versucht zu verstehen, was ihm da widerfährt. Lässt den Nachgeschmack noch einmal zurück durch seine weit geöffneten Nüstern strömen – und kapituliert. Wo die meisten Weine nach langer und intensiver Entfaltung sich doch verflüchtigen und nur mehr als Erinnerung ein spätes Wohlsein erzeugen, da feuern nun die Aromen, die Phenole und Säuren dieses Burgunders, als würden sie aus einer unerschöpflichen Quelle immer wieder neu gespeist. Aber das Glas ist doch leer, der letzte Schluck geschluckt …!?

Endlich lässt der Geschäftsführer jeden Zweifel fahren. Das, was er gerade erlebt, ist mehr als eine Sensation, das toppt alles, was er bisher getrunken hat. Es ist ebenso phantastisch wie unglaublich.

UN-GLAUBLICH. Hoppers Ratio weiß bei allem Überschwang, dass er darauf zurückkommen wird. Muss! Noch vor ein paar Tagen wäre dies jenseits aller Phantasie gewesen. Was also haben seine Hexenmeister angestellt?

Leise klingt das leere Glas gegen den Spucknapf. Hopper schiebt das Gefäß achtlos beiseite. Und dann grinst er. Hopper, diesem notorisch beherrschten Zweifler, diesem niemals Euphorischen, entfährt das Grinsen eines Menschen, dem gerade etwas Ungeheuerliches geschieht; etwas, woran er vor lauter Kontrolliertheit nie zu glauben sich berechtigt fühlte.

1 Minute.

Schwungvoll reißt er die Tür zum Vorzimmer auf und ruft: »Frau Jenzek, sagen Sie in China Bescheid, es wird später … Was? … Ach, erfinden Sie irgendetwas … Gut, halbe Stunde …« Mit einer ernsten Sanftheit drückt der Geschäftsführer die Tür zurück ins Schloss. Noch weiß er nicht, was vorgeht. Aber bei aller Skepsis wäre es dumm, der Sache nicht auf den Grund zu gehen. Nicht, dass Hopper plötzlich wieder ernste Hoffnung hegte, Viethen und Kropp seien am Ziel. Es ist vielmehr die Furcht davor, den vorzeitigen Abbruch des Experiments mit einer lebenslangen Ungewissheit zu bezahlen: Was wäre gewesen, wenn doch …?

Was Hopper sagt, trägt beiden Szenarien Rechnung: »Respekt, meine Herren. Ein wahrlich bemerkenswerter Wein. Mit extra langem, und vor allem spannenden, Abgang.« Noch immer schwingen die intensiven Aromen auf seiner Zunge, gerade ist es dunkle Schokolade, und noch immer spürt er genüsslich den nächsten Nuancen nach, ein Hauch Nelken hier, eine feine Prise Mandeln dort …

Hopper schwelgt. Ebenso, wie er seine Regungen preußisch-militärisch bezähmen kann, erlaubt er sich ein Bad im Überschwang, wenn es denn angebracht und von unbestreitbarer Qualität getragen ist.

Und die beiden »Kellermeister«? Nehmen das Lob ihres Chefs unbeteiligt hin. Pokerface, hatten sie geschworen, wie zwei Pfadfinder auf Blutsbrüderschaft. In diesem Moment, bei dieser Reaktion, zeigen wir ein Pokerface. Und sie halten sich daran. Denn die eigentliche Sensation steht ja noch aus …

»Habe ich was Falsches gesagt«, fragt Hopper ungläubig. Und stutzt. Schaut Viethen und Kropp prüfend an. »Ich verstehe«, sagt er und stellt das Glas zurück. »Hätte ich mir gleich denken können. Der ist nicht von uns. Von wem …? Lassen Sie mich raten …?«

Viethen bleibt ungerührt. »Später!«, sagt er. »Probieren Sie bitte zuerst den anderen!«

Es ist nicht Hoppers Art, am frühen Nachmittag zu trinken. Und dazu vor der wohl wichtigsten Videoschaltung seines Lebens. Aber so sicher er ist, dass dieser Wein nicht aus dem Labor seiner beiden Hexenmeister stammt: Er muss diese Tragikomödie zu Ende spielen. Der Prolog lässt ihm keine Wahl.

Wieder tanzt ein Spätburgunder Walzer. Wieder kaut und schlürft und schmatzt Hopper durch ein Geschmackserlebnis, wie es ihm bisher selten widerfahren ist. Und wieder stutzt er, zieht fragend die Stirn zusammen, wiederholt das Procedere, schüttelt leise den Kopf, will nicht glauben, dass … Diesmal hat er anderen Grund für seinen Ärger: »Soll das ein Witz sein …?«, beginnt er. »Das ist exakt der gleiche, derselbe Wein!«

Die »Kellermeister« schauen sich vielsagend an.

Mehr nicht. Pokerface. Und bevor Hopper unleidlich wird, fordert Viethen ihn auf, sein Urteil zu überprüfen, den ersten Wein noch einmal zu probieren: »Vertrauen Sie uns!«

Der Geschäftsführer fügt sich. Was bleibt ihm anderes übrig? Ein Molekül leisester Ahnung mag ihm helfen, er erlebe hier und heute etwas Außergewöhnliches.

Doch er kann keinen Unterschied herausschmecken. Er bleibt dabei: »Das ist ein- und derselbe Wein!«

Während die drei Männer in schweigendem Lärm verharren, brechen Hoffnungen, Träume – und Horrorvisionen über Hopper herein. Er will nicht mehr, er kann nicht mehr! Dieses ewige Hin und Her, Versprechungen, Enttäuschungen – es reicht! »Sagen Sie mir bitte nur eins«, stößt er hervor, »und zwar sofort: Es ist unser Wein!«

Ob der gelungenen »Sensation« sind VieKro nun vollkommen sicher.

»Welchen meinen Sie?«, fragt Viethen diebisch.

Hopper schaut auf die Uhr. »Meine Herren, ich bitte Sie!« Und denkt: Nicht einen annähernd edlen Tropfen hatte ich den beiden zugetraut, nach dem Desaster von vor ein paar Tagen. Und schon schwirren wieder Zweifel über ihm wie lästige Insekten. »Genug der Komödie«, entscheidet er. »Was hat das zu bedeuten?«

Das Duo weiß: Ihr vexatorisches Spiel gehört nun aufgelöst, soll die Hochstimmung ihres Chefs nicht verdorben werden.

»Herr Hopper, vielen Dank!«, sagt Viethen ruhig. »Sie konnten uns kein größeres Kompliment machen!«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen …«, beginnt Viethen feierlich. Und klärt seinen Chef endlich auf: »Der erste Wein war die hochdekorierte Kräuterberg Goldkapsel aus 2003.«

»Hatte ich mir doch gedacht«, seufzt Hopper entgeistert. Und spürt die Euphorie in sich zusammenfallen, sich auflösen in blankes Entsetzen: »Nicht von uns! Diese Hammerweine sind von der Konkurrenz. Solche Qualitäten wird die Novovinum niemals auf den Markt bringen. Am besten, ich sage die Videoschaltung ganz ab!«

Aber die Hoffnung …?, durchpulst es ihn, der andere Wein …? Die Hoffnung! Sie lebt, sie muss leben! Warum sonst diese Inszenierung?

Hoppers fragender Blick wird erwartet. Die beiden Kellermeister grinsen ebenso unverblümt wie wissend.

»Und der zweite«, mutmaßt Kropp vieldeutig, »wäre dann auch …?«

»Ja, nein. Keine Ahnung«, hebt Hopper die Hände. »Doch, klar. Wenn Sie mich fragen, es ist derselbe Wein.«

»Sie haben Recht!«, löst Viethen das Rätsel scheinbar auf. »Und auch nicht!«

Selbst Hoppers nächste Reaktion hatten die beiden fast wörtlich vorhergesagt: »Bin ich jetzt völlig …? Sie wollen nicht im Ernst behaupten, dass …«

»Doch«, bestätigt Viethen. »Der zweite Wein ist aus unserer (er wackelt mit den Zeigefingern ein paar Tüddelchen in die Luft) Produktion! Wenn Sie so wollen: Eins: Original, zwei: Kopie. Nur ein bisschen preiswerter.«

»Ein bisschen viel preiswerter …«, setzt Kropp hinzu, so beiläufig wie möglich.

Erhebender Moment. Der zuallererst ein Bild in Hoppers Phantasie flasht: Er steht lächelnd vor der Jury des Sommelier World Award und nimmt deren Huldigung entgegen: Weltbester Rotwein des Jahres!

Dem Geschäftsführer schwindelt. Wieviel Risiko und Nerven hat Hopper investiert, um diesen Augenblick erleben zu dürfen. Der Augenblick, mit dem er nicht mehr gerechnet hatte.

Erhebender Moment. Der ihm nun im Zeitraffer die Meilensteine seines Leidenswegs wieder vor Augen führt: Als er vor einem knappen Jahr seinen »geheimen Spezialauftrag« formulierte, betrat Hopper einen halsbrecherischen, ach, sagen wir es frei heraus: kriminellen Weg. Seine Weine waren laut und unrund, sein Ruf lädiert. Xing Ming begann bald zu ahnen, an welchen Aufschneider er sein Kapital vergeudete. Dann hörte Hopper von den Herren Viethen und Kropp, die »Interessantes« aus Kalifornien zu berichten hätten. Seine bereits begrabene Überzeugung blühte auf, die Idee, seine Idee!, von einer schönen neuen Weinwelt sei kein theoretisches Hirngespinst, sondern tatsächlich erreichbar. Wenn auch nicht ganz legal.

Hopper hatte die Wahl: Aufgeben und untergehen oder alles auf eine Karte setzen! Diese Karte hieß Viethen und Kropp – VieKro.

Drei Tage später begab er sich, ohne Versicherung und ohne Rückfahrtticket, ganz in die Hände dieser dubiosen Tüftler. Mit Hilfe diverser »kleiner Maschinchen« zu »nicht ganz so kleinen Preisen« und (wie auch immer geraubritterten) Rezepten eines kalifornischen Startups sollten VieKro das Unmögliche zaubern: Ahrweine einer anderen Dimension. Ahrweine, die Xing Ming zum Eigentümer eines Weingutes machen, das auf dem gleichen Parkett tanzt wie die Rothschilds, die Müllers und die Antinoris. Mit einer Brandrede überzeugte Hopper den reichen Chinesen, der daraufhin eine weitere stattliche Summe freigab, von der vagen Hoffnung getragen, es werde sich irgendwann nicht nur auszahlen, sondern die Novovinum Weinmanufaktur und Handelsgesellschaft in Walporzheim in neue Sphären katapultieren.

»Geheimauftrag erfüllt!«, hört Hopper Viethens Stimme.

»Im Grunde war es ganz simpel«, ergänzt Kropp. »Dass wir darauf nicht früher gekommen sind. Der synthetische Geschmack, dieses Chemische, Sie hatten Recht, vor zwei Wochen …, das war einzig dem Umstand geschuldet, weil wir versucht haben, alles zu kopieren, restlos alles.«

»Dann haben wir ordinären Grundwein verwendet«, übernimmt Viethen, und streicht seine Mähne nach hinten, wo er sie kunstvoll mit einem Haargummi neu bändigt. »Dieses typische Weinaroma ist mehr als Ethanol und Methanol. Das zu imitieren, ist verdammt aufwändig. Viel zu kompliziert. Der Rest war überschaubar.«

»Überschaubar …«, versteht Hopper nicht ganz.

»Ja«, klärt der Ingenieur ihn auf: »Wenn man bedenkt, das gesamte Rezept umfasst im Wesentlichen 69 Zutaten. Ich denke, das Ergebnis kann sich sehen lassen.«

»Heißt das …?«, versteht Hopper immer noch nicht ganz, oder sagen wir: verbietet Hopper sich ein letztes Mal, es zu verstehen. Eine kleine Verzögerung, die er sich gönnt, im Angesicht des grandiosen Durchbruchs, den Augenblick der Erlösung genüsslich auszukosten.

»Ja«, sagt Viethen ruhig. »Die Vinifica ist fertig!«

»Vinifica!?«, wiederholt Hopper amüsiert.

»So haben wir unser göttlich-teuflisches Maschinchen getauft«, feixt Kropp.

»Mit der Vinifica sind wir ab sofort in der Lage, jeden x-beliebigen Wein täuschend echt zu kopieren«, behauptet Viethen betont sachlich.

»Und zu verbessern«, setzt Kropp hinzu. »Ganz nach Ihrem Belieben und ganz nach dem, was der Markt verlangt. Oder Herr Ming. Oder wer auch immer.« Er schaut seinen Kumpel an. »Darf ich doch sagen, oder?«

Hoppers Mimik verrät einen inneren Kampf. Wie gerne glaubte er das, gerade das. Denn so passabel all die Gärkammern und Sonnenbergs daherkommen, nach seiner Auffassung muss der Ahrburgunder komplett neu erfunden werden, will er mit den ganz Großen der Weinwelt konkurrieren. »Wobei die Frage im Raum steht«, versucht er seine Gefühle im Zaum zu halten: »Wie teuer wird das in der Herstellung?«

»Vier, höchstens fünf Euro pro Flasche«, schießt Kropp die Antwort aus der Hüfte. »Wir haben das mal grob durchgerechnet. Kommt vor allem auf die Menge an, klar, und auf den Grundwein. So wie es aussieht, reicht saubere Basisqualität!«

Dieter Hopper lässt sich, ent-geistert und be-geistert zugleich, in einen Stuhl fallen. »Vinifica?«, fragt er und fordert die beiden auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Nun ist es egal, wann die Videoschaltung zustande kommt. Im Gegenteil. Je länger er ihn zappeln lässt, umso größer wird sein Triumph vor Xing Ming ausfallen.

Vinifica. Natürlich weiß Hopper um die semantische Bedeutung. Ausgezeichneter Wein. Was diese »Höllenmaschine«, wie Kropp sie eben weniger poetisch umschrieben hat, in den geheimen Kellern der Novovinum zu leisten vermag, welche ungeahnten Möglichkeiten damit verbunden sind, das findet noch keinen geeigneten Platz in seiner mächtig verwirbelten Vorstellungskraft.

Weil er sich vieles denken konnte, vieles gehofft hatte, als er den beiden jenen Absolut-Top-Secret-Auftrag erteilte, an dem das ungleiche Paar nun seit neun Monaten arbeitet. In jenem geheimen Kellerraum, der auf den Bauplänen des Geländes als langweilige, wenn auch überdimensionierte Zisterne verzeichnet ist und den niemand von der Novovinum, außer Hopper und die beiden hier, geschweige denn ein Externer, jemals zu Gesicht bekommen hat – und bekommen darf! Fast alles phantasierte Hopper. Aber eine Maschine, die in der Lage ist, einen großen, komplexen Wein wie den Kräuterberg nicht nur zu kopieren, sondern ihn vielleicht sogar neu zu erfinden, größer und bedeutender zu komponieren …

Wie sich eins zum anderen fügt, jubiliert er. Wenn auch nur innerlich. Und nur denkbar kurz. Denn unvermittelt schlägt er die Tür zur trunkenen Glückseligkeit energisch zu. Jetzt stehen Entscheidungen und Taten an, die seine ganze Besonnenheit verlangen: Was macht er mit Franz-Josef? Absagen? Mitnichten! Im Bade eines Hochgefühls kommen Hopper die besten Ideen. Eine davon heißt: VieKro bleiben die Meister im Keller, und Franz-Josef Weber wird der Kellermeister. Untadeliges Etikett für eine chronisch misstrauische Fachwelt.

Und bei aller Euphorie weiß Hopper: Bevor er mit Xing Ming skypt, bevor er diesen Franz-Josef Weber empfängt und bevor er die komplett neue Weinlinie in Auftrag gibt, müssen vier Dinge sicher sein.

Erstens: Diese Vinifica ist keine Fata Morgana.

Zweitens: Sie hält, was Viethen und Kropp versichern.

Und drittens: Sie ist in der Lage, bisher nie gekannte Qualitäten und Mengen an edelstem Rotwein zu produzieren.

Denn das dürfte das dringendste Problem werden: Wenn VieKro für ihre Produktion echten Wein brauchen, dann sind die paar Hektoliter in den Fässern der Novovinum eine Farce! Um Xing Mings »targets« zu erfüllen und dennoch keinen Verdacht zu erregen, muss Hopper in den Besitz von mindestens einem Viertel der Rebflächen im Ahrtal kommen. Und zwar bald. Umgehend!

Und schließlich, viertens: Wie gelingt es, die Wein-Wandlung in den Kellern der Novovinum bei derartigen Mengen für immer und ewig geheim zu halten?

Unvermittelt springt Hopper auf. »Ich danke Ihnen, meine Herren«, sagt er schneidig. »Sie werden mir Ihre Höllenmaschine vorführen. Live. Nichts für ungut. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ich bringe ein paar schöne Flaschen Wein aus meiner Schatzkammer. Die werden Sie kopieren. Weltspitzenniveau. Da kann Ihre Vinifica zeigen, was sie drauf hat. Und parallel entwickeln Sie schon mal erste Ideen, wie wir die Produktion im großen Stil gestalten. Und den kompletten Prozess tarnen. Selbstredend.«

»Großer Stil?«, fragt Viethen.

»Was sonst? Die Zeiten des Provinziellen sind vorbei. Planen Sie, wie wir möglichst bald auf, sagen wir: eine Million Flaschen hochfahren. Und wie wir umgehend an das nötige Volumen kommen: Fassweine, Wingerte, Trauben, Pflanzrechte – keine Denkverbote. Meine Herren, Ihrer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt!«

»Sie wollen …«, überschlägt Kropp, »… hundert Hektar Rebfläche an sich reißen?«

Hoppers Miene gerät ebenso indigniert wie ungläubig. »Lieber Herr Kropp, wer spricht denn von reißen? Wie ordinär.« Und beinahe beschwörerisch akzentuiert er: »Bei der Novovinum geht – alles – immer – mit rechten Dingen zu. Und vor allem gesittet. Auch und gerade nach außen hin. Schreiben Sie sich das bitte hinter die Ohren! Wir sprechen ab heute von einem Weinchâteau deluxe. Dazu gehört ein gewisser Habitus. Und eins noch: Kalkulieren Sie doppelte Ankaufspreise. Wollen wir doch mal sehen, wie heilig den Ahrtalern ihre Weinberge tatsächlich sind. Und wer spricht von hundert Hektar? Für den Qualitätsanspruch, den wir verkörpern, brauchen wir das Zweieinhalbfache! 30 Hektoliter pro Hektar. Rechnen können Sie selbst. Oder wollen Sie mit Kleinigkeiten in Verdacht geraten?«

Mit diesen Worten geleitet der Geschäftsführer seine Hexenmeister zur Tür. Die Audienz ist beendet.

VieKro begreifen. Das ungleiche Pärchen hätte genug Ansatzpunkte, zu protestieren, Hoppers kühne Ambitionen in Frage zu stellen, ihn herunterzuhandeln auf ein realistisches Maß. Allein, sie kennen ihren Chef gut genug: Jetzt und hier, in diesem Moment, geht nichts mehr.

»Die Schaltung nach Szechuan«, wirft Hopper seiner Sekretärin hin, »kommt zu früh. Sagen Sie: unerwartete, dafür umso erfreulichere Entwicklungen. Wir melden uns. In ein paar Tagen.«

Jovial pufft er Kropp auf den Rücken und zieht mit den Zeigefingern seine Lider breit: »Der Chinese wird Augen machen.« Und lacht wie ein Pubertierender über diesen billigen Witz.

3 – Ludwig Nagel

»So ein Teig ist ein lebendiges Wesen«, sagt Ludwig Nagel zu Volker. Laut und betont feierlich. Er schaut dabei herausfordernd zu seinem alten Gesellen hinüber.

Hans Kroltau wird einen Teufel tun, auf diese Provokation einzugehen. Lebendiges Wesen – das sind seine Worte, und dahinter verbirgt sich seine Philosophie des Bäckerhandwerks. So, wie er es vor bald fünfzig Jahren hier gelernt, mit Haut und Haaren gelebt und an Dutzende Auszubildende weitergegeben hat. Bei seinem jungen Chef ist er nicht mehr sicher. Nach allem, was der in den letzten Wochen so hin und her überlegt, wird das »moderne Backwerk« am Ende auch bei den Nagels Einzug halten. Spätestens an dem Tag, an dem der alte Kroltau die Tür der Back- und KonditoreistubeNagel am Marktplatz zu Ahrweiler, ortsansässig seit 1806, hinter sich schließt. Also genau am 31. Dezember.

Hans Kroltau, letzter Mohikaner einer jahrtausendealten Tradition. Wie einst als Wehrpflichtiger, zählt Hans die Tage bis zu diesem Datum herunter; allein, seine damit verbundenen Gedanken und Gefühle sind nicht von Befreiung und Jubel, sondern von Wehmut und Trauer geprägt. Stünde es in seiner Macht, er verlängerte jeden verbleibenden Tag ins Unendliche.

Volker wiederum versteht weder das Grundsätzliche noch die Zwischentöne seines Chefs in ihrer vollen Bedeutung. Für den Auszubildenden ist dieses Gemisch aus Mehl, Salz, Wasser und Sauerteig auf der Buchenholzplatte nichts weiter als ein widerspenstiger Klumpen; klebrig und voller Rätsel. Ein halbes Jahr ist es her, dass er seinen Lehrvertrag unterschrieb. Nach wie vor beobachtet er Ludwigs geübte Handgriffe mit respektvollem Abstand. Diese immer gleichen flinken Bewegungen nach einem scheinbar simplen Muster, die den Teig von außen nach innen dehnen, übereinander falten und ineinander verkneten – er kann sie noch so oft anschauen und sich zu merken versuchen. Sobald sein Meister ihn auffordert, es nachzutun, ist er wie gelähmt. Dann ist es wie mit allem, was so einfach daherkommt und umso hartnäckiger sich sträubt, legt man selber Hand daran. So jagt auch heute Volkers Blick zwar beflissen hinter Ludwigs Händen her, seine Aufmerksamkeit jedoch haftet angstvoll an dem Moment, wo der Chef ihn angrinst und sagt: »Du bist dran!«

Hans’ Konzentration ist voll und ganz auf die Muzenmandeln gerichtet. Traditionell zur Karnevalssaison bereiten die Nagels das Feingebäck nach dem jahrhundertealten (und selbstredend streng geheimen!) Familienrezept. Der Geselle rollt die goldgelbe Teigmasse vorsichtig aus. Betörende Aromen von Mandel und echter Vanille drängen in seine Nase, begleitet von Kardamom und anderen exotischen Gewürzen.

»Und jetzt du«, hört Hans Ludwig sagen – aha, es ist soweit – und sieht aus den Augenwinkeln, wie Volker an den Tisch herantritt und seine Hände mit Mehl so zögerlich bestäubt, als sei alles hier hochexplosiv. Hans kann Volkers Respekt vor dem Sauerteig gut verstehen. Auch er brauchte eine ganze Weile, damals, als Vierzehnjähriger aus Cuxhaven gekommen und unter all diesen wildfremden und merkwürdigen Rheinländern die Lehrstelle angetreten, um Freundschaft mit den Eigenarten des geheimnisvollen »lebendigen Wesens« zu schließen – dem Sauerteig.

Fast fünfzig Jahre ist das her. Stand heute bleiben 333 Tage, dann heißt es Abschied nehmen. Von der Backstube, von Ahrweiler und von all den liebgewonnenen, wenngleich immer noch merkwürdigen Rheinländern. Mit seiner Rückkehr an die Küste warten alte und neue Sehnsüchte auf ihn. Eines hat Hans geschworen: Den »Robert« wird er mitnehmen. Weil er hier nicht mehr gebraucht wird. Denn darauf deutet alles hin: Das »moderne Backwerk« arbeitet mit Turbohefen und hochgezüchteten Industriekulturen. Da ist für Sentimentalitäten wie »Robert« kein Platz.

Robert. Selbstverständlich hat der Roggensauer bei den Nagels einen Namen. Immerhin ist er das älteste Mitglied der Familie, einziger Überlebender aus der Gründerzeit und seit einem knappen Jahrhundert in der Backstube so etwas wie die unsterbliche Seele der Nagelschen Brote. Drei Generationen, solange ist es belegt: Das »Anstellgut«, wie die Bäcker es technisch ausdrücken, soll von Ludwigs Urgroßvater Robert Wilhelm angesetzt worden sein. In dem knappen Dutzend bewegter Jahrzehnte hat der Sauerteig Robert, von den Nagels behütet wie die Kronjuwelen und gefüttert wie eine vom Aussterben bedrohte Spezies, allen Widrigkeiten des Weltgeschehens getrotzt: Weltkriege, Kubakrise und Nato-Doppelbeschluss.

Hans stellt sich den Moment der Geburt dieser Nagelschen Ur-Kultur vor den barocken Kulissen der Kreisstadt in romantischen Bildern und Farben vor. Vielleicht, weil der Akt an Banalität nicht zu überbieten ist: Man gebe zu gleichen Teilen Mehl und Wasser zusammen.

Und warte.

Warte.

Warte.

Dieses wenig aufregende Verb umschreibt umso treffender den Hauptbestandteil eines guten Sauerteigs und eines guten Backwerks. Und die damit verbundene Tugend: Geduld.

Das ist die erste und wichtigste Regel, die Hans seinen angehenden Bäckerkollegen mit auf den Weg gibt. Und an jedem einzelnen Tag ihrer dreijährigen Lehrzeit feierlich wiederholen lässt: Geduld! Wenngleich: Betrachtet er die Lehrbücher von Volker, so kommt er sich vor wie ein Dinosaurier, der den Meteoriteneinschlag verpasst hat: Ein Sauerteig in Weizenteigen ist technologisch nicht notwendig. Schon diese schwarz auf weiß gedruckte Respektlosigkeit beschreibt für den Gesellen alter Schule das ganze Übel. Technologie und Brot. Seitdem diese Begriffe ungestraft in einem Satz genannt werden dürfen, ist das Abendland in Gefahr. Es geht nicht mehr darum, mit Fleiß und Demut ein hochwertiges Produkt zu schaffen …

Hans’ trübe Gedanken werden von herbkräftigen Gerüchen überlagert; Ludwig hat die ofenbreite Tür aus Gusseisen aufgeklappt und zieht mit dem Schieber den ersten dampfenden Laib vom Schamotte. Eine halbe Drehung um die eigene Achse, und schon landet das frische Roggenmischbrot auf einer Bohle, die auf den langarmigen Auslegern eines fahrbaren Metallgestells ruht. Die dunkel aufgebrochene Kruste schrappt dabei appetitlich über das abgewetzte Holz.

Hans entfährt ein wohliger Laut. Mit seiner Handfläche verstreicht er liebevoll einen hauchzarten Film aus Mehl über den Mürbeteig, bedeckt ihn mit einem großen Leinentuch und wendet sich dem Lehrling zu: »Du bist nahe dran!«, ermuntert er Volker und beginnt eine Trockenübung der besonderen Art: »Stell dir das Ganze als eine endlose, ununterbrochene Abfolge vor«, kommentiert er seine Demonstration in Zeitlupe. »Wie beim Fussball, du weißt schon, tausendfach einstudierte Lauf- und Passwege. Schau her: Zwei auf der Kante stehende Ovale, von außen nach innen, sie treffen sich in der Teigmitte, verschwinden darin, die Finger nehmen den Klumpen eine Vierteldrehung mit – und zurück.« Und noch einmal wiederholt Hans diesen magischen Spielzug des Bäckerhandwerks: »Auseinandergeklappt sieht es aus wie eine Acht oder besser: wie das Unendlich-Zeichen.«

»Unendlich«, grient Volker. »So kommt es mir vor.« Und wie zum Beweis hält er seine teigverklebten Hände in die Höhe. »Das wird nie was. Gestern ging alles viel schneller!?«

»Gestern, heute, morgen – gut beobachtet, das ist jedesmal anders«, bestätigt Hans. »Ich sage nicht umsonst: Backen ist kein Fließbandgeschäft, der Teig hält sich nicht an feste Regeln. Schon ein Grad Temperaturunterschied, und er reagiert anders. Dabei spricht er mit dir. In simplen Worten: Sobald ich mich von deinen Händen löse, bin ich richtig! So lange will ein Sauerteig massiert werden.«

»Der lebendige, der heilige Robert«, spottet Volker und schaut schnell zu seinem Chef.

Der scheint mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Hans sieht Ludwig in seiner letzten Bewegung fixiert, den Blick starr auf die nun prall gefüllten Bohlen gerichtet; auf seiner Miene lastet düster eine Frage. Irgendetwas ist wieder im Busch, weiß Hans. Er kennt die Gefühlsregungen seines Chefs aus dem Effeff. Besser nicht ansprechen jetzt!

»Du hast doch einen Schatz«, versucht er, sich und Volker bei Laune zu halten.

»Eine Freundin«, erwidert Volker.

»Ist das etwas anderes? Lisamaria, oder?« Volker nickt argwöhnisch.

»Dann verstehst du, was ich sage. Beide sind unberechenbar, die Frauen und der Sauerteig.«

Der Junge lebt auf. »Lisamaria ein Sauerteig«, grient er.

»Beide fordern unsere ganze Aufmerksamkeit und pflegliche Behandlung«, meint Hans.

»Und beide sind manchmal ganz schön anstrengend«, erwidert Volker.

»Mag sein. Aber es lohnt sich!«

»Bei Lisamaria vielleicht«, gibt der Lehrling zu. »Dagegen, soviel Getue um eine olle Sauerteigkultur, ich weiß nicht. Hefen tun es genauso!«

»Wer sagt das?«, fährt Hans auf. Und gibt seinem Blick eine bedrohliche Färbung.

»Ich meine ja nur«, verteidigt Volker sich. »In der Berufsschule war so ein Typ, der kam von dieser neuen Anstalt in Remagen … PANEM CALIDI, der hat Proben mitgebracht.«

»PANEM was …? Der Typ hat keine Ahnung!«, entscheidet Hans. Und hebt wieder seine Stimme, damit auch Ludwig, mit einer voll beladenen Bohle auf dem Weg in den Verkaufsraum, sich das Folgende hinter die Ohren schreibt: »Bevor man dir irgendwelche Flausen in den Kopf setzt, merke dir eins: Brotbacken mit Hefe ist wie ein One-Night-Stand, Backen mit Sauerteig dagegen ist eine langjährige Beziehung, mit allen Höhen und Tiefen.« Hans grinst zufrieden. Dieses Zitat hat er bei Lutz Geißler gelesen, und endlich kann er es Volker unter die Nase reiben.

Der muss schmunzeln. Weiß er doch, wie sehr Hans am Ur-Robert hängt, alles für ihn gäbe, vielleicht sogar für ihn stürbe, und wie sehr ihm all dieser neumodische Kram zuwider ist. Bestimmt ist was dran an seinen Theorien, von wegen: Geduld ist die wichtigste Zutat beim Backen, die dabei ablaufenden Prozesse sind geheimnisvoll und bis heute nicht vollständig aufgeklärt von der Wissenschaft. Und dennoch hat der Alte irgendwie den Anschluss verpasst.

»Hans«, sagt er versöhnlich, »es gibt doch selektierten Reinzuchtsauerteig! Der garantiert immer gleiche Ergebnisse. Knettechnik, Luftfeuchtigkeit, Gärtemperatur, Getreideklon … Diese unzähligen Probleme. Kannst du alle vergessen! Reinzuchtsauerteig verzeiht alles. Hat Dr. Flink gesagt.«

»Dr. Flink? Ist das nicht der von den BACKZAUBER-Filialen?«

»Ja«, bestätigt Volker. »Hat er auch gesagt. Coole Socke.«

»Aha«, erwidert Hans, nun erst recht herausgefordert. »Immer gleich? Aber auch immer gleich langweilig! Hast du deinem flinken Herrn Doktor …, oder ist dir das noch nicht aufgefallen: Diese Industriebrote sind lange nicht so komplex im Geschmack wie unsere. Flink und Konsorten leben einzig und alleine davon, dass wir verlernt haben, das tägliche Brot als ein wertvolles Geschenk zu würdigen. Nimm unser Roggenmischbrot. Du kannst achtlos hineinbeißen und nebenbei tausend Dinge tun. Am Ende erlebst du nicht mehr, als jedes Nullachtfünfzehn-Produkt von BACKZAUBER dir vermittelt: Du bist satt, für wenig Geld! Du kannst das Ganze aber auch zu einem Fest machen. Dich hinsetzen, einen Strich gute Butter darauf und ganz bewusst hineinbeißen. Mit den Zähnen die knusprig-würzige Kruste durchbrechen und auf die wattig-saftige Krume stoßen, sie gegen Gaumen und Zunge quetschen und hineinschmecken in die Aromen; edelsaure Symphonie, die sich beim Kauen aufbaut; vielstimmiger Chor, der sich gegenseitig antwortet, befeuert, sich verströmt und ausklingt, lange nachhallt, nachdem du geschluckt hast. Du spürst jede Minute des Gärprozesses sich widerspiegeln in einem gewaltigen Genuss; aus Mehl, Wasser und Salz hat der große Komponist Natur ein einzigartiges, komplexes Wunder gebaut …«

Volkers Lust, den Gesellen weiter zu triezen, ist einem ungläubigen Staunen darüber gewichen, wie ernst und entrückt Hans vor ihm steht. Aber gerade spürt er jenen magischen Moment, in dem die klebrige Teigmasse sich von den Händen löst und zu einem homogenen Körper verbindet. Auf dieser unerwarteten Welle des Erfolgs wagt er es: »Selbst dafür gibt es Lösungen. Sagt Dr. Flink. Bald schon.«

Hans stöhnt. Das musste kommen. Für alles hat die Industrie eine Lösung: Turbomehle, Enzyme, Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe, Emulgatoren, Säuren. Für jede Frage wird die passende Antwort in den Teig geknetet. Hauptsache schnell und effizient. Da kommt alles in einen großen Bottich, Umrühren, Backen, fertig!

»Hat Dr. Flink auch gesagt, dass seine Kunden neben dem ganzen Chemiekram kostenlos die schönsten Allergien geliefert bekommen?«, fragt Hans empört. »Für billiges Geld, in seinen BACKZAUBER-Filialen? Unser tägliches Brot – diese Formel hatte mal einen Heiligenschein. Und heute? Eine Schande ist das! Flinks Retortenbrote sehen aus wie geleckt, eins schöner als das andere. Und zwei Tage später schmecken sie wie ein Häufchen Elend und du kannst sie in die Tonne kloppen!«

Ein Häufchen Elend. So wirkt Ludwig, als er mit dem vollen Brett aus dem Verkaufsraum kommt und es krachend zurück in die Stellage schiebt. »Erst zehn Brote verkauft«, klagt er. »Und das um halb 10 an einem Freitag. Und nun fällt auch noch Mutter aus! Legt sich hin. Ich habe den Laden erstmal geschlossen …«

Und da weder Hans noch Volker etwas erwidern, sondern ihn nur betroffen anschauen, brechen in diese unerwartete Stille plötzlich alle Dämme in Ludwig Nagel, verschaffen die einsamen, immer brav unter der Decke gehaltenen halb- und viertelgaren Gedanken des Bäckermeisters sich endlich einmal Luft, werben um Verständnis; und wenn nicht das, so beschwören sie wenigstens Widerstand herauf, provozieren Gegenrede, die ihm, den Hin- und Hergerissenen, das bescheren, was er sich sehnlichst wünscht: Eine Entscheidung! Darüber, wie es mit der Back- und KonditoreistubeNagel am Marktplatz zu Ahrweiler, ortsansässig seit 1806, weitergeht. Denn so kann es nicht bleiben; seit neuestem schreiben sie rote Zahlen, oder anders ausgedrückt: arbeiten Ludwig und seine Mutter für nichts und wieder nichts; und er kann kaum Hans’ Gehalt bezahlen, diesem treuen Gefährten, dem er versprochen hat …

Ach, dieses Versprechen macht es nur schlimmer; in einem kurzen, sentimentalen Moment voller Pathos dem Gesellen in die Hand gegeben, ohne den es damals, als Vater starb, nicht weiter gegangen wäre.