Nazis in Tibet - Peter Meier-Hüsing - E-Book

Nazis in Tibet E-Book

Peter Meier-Hüsing

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Beschreibung

Eine Himalaya-Expedition unter dem Hakenkreuz 21. Dezember 1938: Fünf junge Männer aus Deutschland überschreiten den Hi-malaya-Pass Nathu-La zwischen Sikkim und Tibet. Als erste Deutsche haben sie die Genehmigung erhalten, die »verbotene Stadt« Lhasa zu besuchen. An ihrem Gepäck flatterten Hakenkreuzwimpel und SS-Runen. Offiziell wird der Leiter der Expedition Ernst Schäfer später beteuern, es wäre nur um naturkundliche Forschungen gegangen. Tatsächlich steht die Reise unter der besonderen Förderung von Heinrich Himmler, der in Tibet den Ursprung der arischen Rasse vermutet. Peter Meier-Hüsing geht den Mythen und Legenden, die sich bis heute um die Tibet-Expedition der fünf SS-Offiziere Ernst Schäfer, Bruno Beger, Karl Wienert, Ernst Krause und Edmund Geer ranken, auf den Grund. - Opportunist, Tibetforscher, überzeugter Nazi? Wer war Ernst Schäfer? - Die Welteislehre und der Ur-Arier: Himmlers Okkultismus - SS-Organisation Ahnenerbe: Ideologie statt Wissenschaft - Tausende Artefakte und ausgestopfte Tiere: Was von der Tibet-Reise blieb - Jetzt als Taschenbuch in der Reihe wbg PaperbackEsoterik, wissenschaftliche Forschung oder politischer Auftrag? Erforschung bisher unbekannter Tier- und Pflanzenwelt, Hinweise auf eine vermeintliche arische Ur-Religion, winterhartes Getreide, um in Kriegszeiten die Grundversorgung sicherzustellen: Während die Teilnehmer nach Kriegsende ihre rein naturwissenschaftliche Motivation betonten, geht der Autor ihren tatsächlichen Beweggründen auf den Grund. Spannend und kenntnisreich beleuchtet er dabei nicht nur die Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie und Himmlers esoterische Obsessionen. Er analysiert auch den Nachhall, den die skurrile Expedition bis heute in rechtsextremen Kreisen findet!

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Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg Paperback ist ein Imprint der wbg.

der 2., durchgesehenen Aufl age 2022 (1. Aufl . 2017) by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Lektorat: Nicole Janke, Neuhausen a. d. FildernGestaltung & Satz: Janß GmbH, PfungstadtEinbandgestaltung: Andreas Heilmann, HamburgEinbandabbildungen: im Vordergrund die Expeditionsgruppe, von links nach rechts: (stehend) Rabden Khazi, Kaiser Bahadur Thapa, Schäfer;(sitzend) Krause, Geer, Wienert, Beger. © Bundesarchiv; im Hintergrund der imposante Grenzgipfel zwischen Tibet und Bhutan, der Chomholhari (7326 m). © Bundesarchiv / Ernst SchäferPrinted in Europe

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-27425-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-74725-2eBook (epub): 978-3-534-74726-9

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Inhalt

Vorwort

1 Arier-Tümelei – Heinrich Himmlers esoterische Obsessionen

2 Jugendjahre – Das Leben als Jagd

3 Vorberge – Ein faustischer Pakt

4 Sikkim – An der Schwelle zum Sehnsuchtsland

5 Interregnum – Turbulenzen in Tibet

6 Tibet – Das Treffen von „westlichem und östlichem Hakenkreuz“

7 Kriegsjahre – Überlebensstrategien der „Wikinger der Wissenschaft“

8 Nachkriegskarrieren – Verdrängen und uminterpretieren

9 Spurensuche – Die „Schwarze Sonne“ taucht auf

Anmerkungen

Anmerkungen zu Literatur und Quellen

Dank

Bildnachweis

Vorwort

Das Onlinemagazin Science Daily musste selbst zugeben, dass die Geschichte, die man da im September 2012 veröffentlichte, sehr nach einem Plot aus einem Indiana-Jones-Film klang. Wissenschaftler des Instituts für Planetologie der Universität Stuttgart, so war zu lesen, hatten herausgefunden, dass eine antike Buddhastatue aus einem Stück Meteoritgestein gemeißelt worden war – das belegten Materialanalysen. Danach handelte es sich um eine äußerst seltene Eisen-Nickel-Legierung namens Ataxit, kurzum um ein Fragment des sog. „Chinga-Meteoriten“, der vor etwa 15.000 Jahren über der Grenzregion zwischen Sibirien und der Mongolei niedergegangen war. Die „Iron Man“ genannte Statue wog rund 10 Kilogramm, maß 24 Zentimeter Höhe und trug eine auffällige Swastika-Gravur auf der Brust. Das Stück wurde von den Stuttgarter Wissenschaftlern als eine buddhistische Gottheit identifiziert, möglicherweise aus der frühtibetischen Bön-Kultur stammend.

Über einen Privatsammler wäre man an das wertvolle Stück gelangt, das mit der Tibet-Expedition von Ernst Schäfer 1938/39 nach Deutschland gekommen sei. Da rauschte es umgehend im Blätterwald. „Nazis fanden in Tibet einzigartige Statue aus Meteorit“ titelte eine Nachrichtenagentur, die Süddeutsche meinte fast ehrfürchtig „Eine Gottheit aus dem All“, und auch die sonst so nüchterne Neue Zürcher Zeitung war ergriffen: „Ein Buddha, der vom Himmel fiel“. In dieser hübschen Geschichte zwischen Exotik und Geheimnis ging es natürlich erst einmal unter, dass sich Buddhismus- und Tibetexperten rund um den Erdball angesichts dieser Meldungen schon bald die Haare rauften und auf diverse Ungereimtheiten bei der spektakulären Entdeckung hinwiesen.

Nicht nur Ort und Zeitpunkt der Statuen-Herstellung erschienen äußerst zweifelhaft, ebenso die Ikonographie und ihre historische Zuordnung. Vor allem tauchen in keiner der penibel von der Schäfer-Expedition geführten Listen über die von ihr gesammelten ethnologischen Stücke eine solche oder auch nur entfernt vergleichbare Statuen auf. Die Masse der noch existierenden Stücke aus der Schäfer-Sammlung liegt heute im Magazin des Münchner Museum Fünf Kontinente (dem ehemaligen Völkerkundemuseum). Dort sagte man:

„Buddhafiguren und vor allem Thangkas konnte man in jenen Tagen gar nicht erwerben, da geweihte Gegenstände damals zumindest im zentralen Tibet gar nicht verkauft wurden. Daher befinden sich in der Sammlung Schäfer auch nur unfertige Statuen, die von Schmieden erworben wurden, um den Herstellungsprozess zu dokumentieren. Die hier befindlichen Statuen sind nicht mit geweihten Gegenständen gefüllt und mit einer Grundplatte verschlossen, d.h., sie wurden nicht zum Leben erweckt und sind damit magisch unwirksam und für den Kult nicht verwendbar.“

Die Meteorit-Statue ist aller Wahrscheinlichkeit nach im 20. Jahrhundert hergestellt worden, eher in Europa als in Asien, „für den allgemeinen Antiquitätenhandel oder den Markt der Nazi-Memorabilien“, so das Urteil des Buddhismusexperten Bruno Richtsfeld.

Wahr blieb an der ganzen Geschichte allein das Material, nämlich das seltene Meteoritgestein Ataxit. Und der Versuch der etwas bedröppelten Stuttgarter Wissenschaftler, zu erklären, dass sie ja auch keine Kulturhistoriker seien und eigentlich ja auch nur genau das, nämlich die Herkunft des „Iron Man“ aus dem himmlischen Material, hätten belegen wollen. „Beim Barte des Nazi-Buddha“ kommentierte süffisant Spiegel-online den wissenschaftlichen Patzer.

Wie und warum auch immer der „Nazi-Buddha“ hergestellt wurde, bleibt ungewiss*. Doch die breite Aufregung, die die vermeintlich spektakuläre Fundgeschichte auslöste, belegt nur, was die NZZ konstatierte: „Bis heute ist die Schäfer-Expedition geheimnisumwittert.“ Diese Nazi-Buddha-Episode zeigt eindrücklich die noch immer ungebrochene Faszination der Schäfer-Unternehmung nach Tibet unter dem Banner der SS, fast 80 Jahre nach ihrem Start. Nazis und Tibet – nicht nur eine Reizwortkombination für Hollywood-Streifen, sondern auch für abstruse Spekulationen oder auch kleine wissenschaftliche Fehltritte.

Manche meinen, es wäre um eine okkulte Mission gegangen, andere sagen, es war eine rein wissenschaftliche Unternehmung, und schließlich könnte es sich auch noch um einen geheimen politischen Auftrag der SS gehandelt haben. Nichts davon ist wahr, aber auch nichts falsch, denn die Tibet-Expedition von Ernst Schäfer in den Jahren 1938/39 war eine besondere Gemengelage, in der sich Spuren und Belege für alle diese Behauptungen wiederfinden lassen. Das soll auf den folgenden Seiten berichtet werden, bis hin zu der nicht minder eigenartigen Wirkungsgeschichte dieser ominösen Expedition in der Nachkriegszeit.

Gleichzeitig ist dieser Bericht auch eine biographische Skizze über die Abgründe großen Ehrgeizes und Opportunismus als Überlebensprinzip in den Zeiten einer radikalen Diktatur. Die Tibet-Expedition mag einst den Wünschen und Träumen des jungen Zoologen Ernst Schäfer entsprungen sein, doch von Beginn an bereitete die SS dafür die Bühne, und Heinrich Himmler führte die ideologische Regie. Ernst Schäfer war in diesem Spiel eher Getriebener als Akteur. Bevor wir seinen Wegen folgen, begeben wir uns deshalb auf eine kurze ideengeschichtliche Spurensuche, wie es eigentlich zu der Tibetfaszination eines Reichsführers SS Heinrich Himmler kommen konnte.

Heinrich Himmler bei einer Kranzniederlegung in der Krypta des Quedlinburger Doms zu Ehren des dort einst bestatteten Königs Heinrich I., den Himmler als germanisch-antichristliche Führerpersönlichkeit verehrte (1. Juli 1938).

1Arier-Tümelei

Heinrich Himmlers esoterische Obsessionen

Was trieb Heinrich Himmler und andere nationalsozialistische Ideologen, im Zuge ihrer arisch-germanischen Manie, den Blick nach Tibet zu richten? Die Suche nach winterhartem Getreide und widerstandsfähigen Pferderassen für die Kriegsökonomie? Der Versuch, diplomatische Beziehungen zur Lhasa-Theokratie im Hinterland des britischen Feindes zu etablieren? Oder die Hoffnung, rassische Relikte einer vermuteten arischen Urgeschichte im Hochland Tibets aufzuspüren?

Indizien und Belege gibt es für alle diese Bezüge. Aber insbesondere der letzte Zusammenhang verdient eine genauere Betrachtung, denn hier konzentriert sich wie in einem Brennglas der bizarre Versuch des Reichsführers SS, der verhassten „jüdisch-freimaurerischen“ Wissenschaft und Geistesgeschichte eine „arisch-germanische Wissenschaft“ entgegenzustellen.

Es ist schon viel Kluges über die Quellen von Rassismus, Arier-Mythos und ähnlichen ideologischen Konstrukten geschrieben worden. Dieses Kapitel kann und soll das nicht ersetzen, aber wir möchten in dieser Einleitung einen besonderen Zusammenhang der abendländischen Geistesgeschichte skizzieren, der erklären hilft, warum ein Rassist und Antisemit wie Heinrich Himmler ein so bemerkenswertes Interesse an Tibet entwickelte. Es geht dabei um das Konstrukt „Tibet“ in der abendländischen Geistesgeschichte und Esoterik, die schließlich in die Ideologien des politischen Rassismus mündete.

Jahrhunderte beherrschte im Abendland der biblische Schöpfungsmythos die allgemeine Vorstellung von der Erschaffung der Erde und der Lebewesen, einschließlich des Menschen. Ein historisches Werden, ein evolutionärer Wandel, womöglich ein Prozess der biologischen Höher-/Weiterentwicklung lag außerhalb des Möglichen, ja des Vorstellbaren, roch zumindest nach Häresie. So, wie es ist, war es seit Menschengedenken, eine singuläre Schöpfung, die keine Veränderung kannte. Kirchliches Dogma.

Doch dann, im Zeitalter der Entdeckungen und des beginnenden europäischen Kolonialismus, nahmen Berichte über fremde, bislang unbekannte Völker, Stämme und Reiche zu und ließen die Frage nach der Einheit bzw. Einmaligkeit des göttlichen Schöpfungsaktes laut Altem Testament immer drängender werden. „Weiße“, „Schwarze“, „Gelbe“ und andere Menschenkinder, waren das alle Kinder Gottes? Adams legitime Nachfahren? Oder gab es Unterschiede? Womöglich Abweichungen, Verirrungen, Hierarchien? Bald war der Gedanke verschiedener Menschenrassen geboren.

Die Erfindung des Ariers als Kulturbringer

Der Drang zur Klassifizierung der Gattung Homo sapiens wuchs während der europäischen Aufklärung, da man es offensichtlich auch im Reich der Tiere mit höheren und niederen Kreaturen zu tun hatte. Carl von Linné veröffentlichte 1735 sein Grundlagenwerk zur biologischen Klassifikation. Der Mensch war dort eingefügt, aber noch nicht in unterschiedliche Rassen geteilt. Die Fortsetzung einer solchen zoologischen Systematik unter den Menschen erschien bald nur zu logisch und zwingend. Der Göttinger Anthropologe Johann-Friedrich Blumenbach sprach 1775 in Anlehnung an Linné als Erster von den „fünf großen Rassen“ und prägte auf lange Zeit die entsprechende Terminologie. Er tappte dabei aber auch gleich in die Falle der Bewertung, hier etwa durch Ästhetisierung der weißen Rasse:

„Dieser Variante habe ich den Namen des Kaukasus-Gebirges gegeben, weil in dessen Nachbarschaft die schönste Menschenrasse lebt … und wenn es möglich ist, die Wiege der Menschheit zu bestimmen, dann sprechen alle physiologischen Gründe für die Annahme, daß sie dort gestanden ist … die Haut der Georgier ist weiß … aber sie entartet leicht zu einer schwärzlichen Farbe.“1

Fast zeitgleich verfasste der mindestens so einflussreiche Immanuel Kant seine Anthropologie, bezog die Rasse auf die „Zusammensetzung des Blutes“ und formulierte dabei Gedanken, die bald in einen politischen Rassismus münden sollten: „So viel ist wohl mit Wahrscheinlichkeit zu urtheilen: daß die Vermischung der Stämme, welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschengeschlecht, alles vorgeblichen Philanthropismus ungeachtet nicht zuträglich sei.“2 Einer der wenigen Denker der Aufklärung, der sich diesen Konzepten entgegenstellte, war übrigens Alexander von Humboldt, der gegen die „unerfreuliche Annahme von höheren und niederen Menschenrassen“ argumentierte – aber in der Minderheit blieb. Ähnliche Gedanken wie bei Blumenbach und Kant wurden parallel auch in England und Frankreich formuliert.

Diese vorherrschende Rassentheorie sollte bald zu einer bewertenden Klassifizierung der Menschengruppen anhand ihrer äußeren Merkmale führen. Äußere Merkmale waren dabei nicht nur körperliche wie etwa die Hautfarbe, sondern auch das geographische Verbreitungsgebiet oder die Herkunft/Abstammung. Entscheidend bleibt, dass alle Klassifizierungssysteme immer hierarchisierende, wertende Urteile fällten über eben höherstehende und minderwertige Rassen.

Zu diesem sich entwickelnden anthropologischen Rassismus gesellte sich dann bald das Konzept der „Arier“, welches allerdings aus einer anderen geistesgeschichtlichen Quelle sprudelte. Seitdem der indische Subkontinent zum britischen Empire gehörte, beschäftigten sich abendländische Intellektuelle verstärkt mit indischer Geistesgeschichte. Es dauerte nicht mehr lange, bis Philologen auf frappierende Ähnlichkeiten des altindischen Sanskrit mit Idiomen in Europa stießen. Die naheliegenden Schlussfolgerungen muteten revolutionär an: Wenn neue und alte europäische Sprachen sich aus den gleichen Quellen herzuleiten schienen wie das Sanskrit, musste man auch von einer Verwandtschaft der sie sprechenden Völker ausgehen. Germanen, Kelten, Italiker, Angelsachsen – keine Nachfahren der alttestamentarischen Sippen, sondern Verwandte der Völker, die an den Südhängen des Himalaya die Grundlagen der indischen Hochkultur und der Religionen des Hinduismus und Buddhismus legten?

Dieses Szenario erschütterte alte Gewissheiten des Abendlandes. Und keiner formulierte diese neuen Gedanken so zwingend wie der deutsche Philosoph und Philologe Friedrich Schlegel: „Alles, absolut alles kommt aus Indien … So finden wir den Gedanken nicht zu ungeheuer, daß die größten Nationen von einem Stamme ausgegangen; daß sie Kolonien eines Volkes, wo nicht unmittelbar, so doch mittelbar indische Kolonien seien.“3 Und wer war nun dieses mysteriöse Volk aus dem fernen Indien? Da sprach ein englischer Gelehrter bald von „Indoeuropäern“, ein deutscher von „Indogermanen“, aber Schlegel selbst brachte dann den Begriff „Arier“ auf. Er setzte sich durch und begann seine sehr eigene Karriere.

Auch andere Denker und Autoren ergriff der Gedanke, nicht zwischen Ägypten und Jerusalem lägen die Ursprünge von Religion und Wissenschaft, sondern vielmehr in der Frühzeit Indiens. Voltaire schrieb: „Ich bin überzeugt, daß alles von den Ufern des Ganges herkommt: Astronomie, Astrologie, Seelenwanderung usw.“ Und Johann Gottfried Herder postulierte: „Der feste Mittelpunkt des größten Weltteils, das Urgebirge Asiens, hat dem Menschengeschlecht den ersten Wohnplatz bereitet.“ Funde von versteinertem Meeresgetier in großen Höhen ließen Spekulationen über die große Sintflut aufleben und fragen: Sollte man dann nicht die Ursprünge der Menschheit auf den höchsten Gebirgen suchen? Immanuel Kant wagte sich dabei so weit vor zu behaupten, dass in Tibet als höchstgelegenem Land der Erde die Ursprünge der Menschheit zu suchen wären, „der Urplatz der Künste und Wissenschaften“. „Es ist dieses das höchste Land, wurde wahrscheinlich auch früher als irgendein anderes bewohnt und mag sogar der Stammsitz aller Kultur und Wissenschaft sein.“ Meyers Conversations Lexikon von 1853 wusste ebenfalls: „Von Tibet und den benachbarten Ländern, als dem eigentlichen Hochasien, soll nach Annahme mehrerer Geschichtsforscher das Menschengeschlecht ausgegangen sein.“

In den Diskussionen der folgenden Jahrzehnte wanderte die angenommene Urheimat der besagten Arier je nach wissenschaftlichem Standpunkt oder politischen Opportunitäten zwischen Nordindien, den weiten Steppen Südrusslands bis hin nach Skandinavien und in die norddeutsche Tiefebene. Aber der verbreitete Konsens lautete: Die weißen Völker besitzen eine gemeinsame Urheimat und Ursprache, sind Angehörige einer Rasse, und die wiederum ist gleichzeitig Träger einer überlegenen Kultur, der „arischen“. Der Weg zum Herrenrasse-Anspruch war nicht mehr weit.

Esoterik inspririert die Rassisten

Doch noch eine dritte Quelle ist für die endgültige geistige Gemengelage bis 1933 relevant. Die esoterische Dimension, und zwar vor allem die der Theosophie, einer Art esoterischem Rassismus, der sich Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete. Dort verbindet sich der Arier-Mythos dauerhaft mit Tibet. Die Theosophie ist sicherlich die einflussreichste abendländische esoterische Lehre der vergangenen 150 Jahre, die diverse weitere Schulen/Traditionen beeinflusst hat. Ihre maßgebliche Gestalt und Gründerin ist die Deutsch-Russin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891, geborene Hahn-von Rottenstein). Blavatsky, Tochter eines zaristischen Offiziers, erlebte verschiedene Formen psychischer Ausnahmezustände, die sie selbst zu der Auffassung führten, medial veranlagt zu sein sowie Astralreisen und Levitationen zu beherrschen. Nach der offiziellen Biographie soll Blavatsky Mitte des 19. Jahrhunderts einige Jahre in Südtibet in der Nähe des Klosters Tashi Lunpo gelebt haben, wo sie von mehreren „Meistern“ in die wichtigsten „Geheimlehren“ eingeführt wurde, um sie im Westen zu verbreiten und zu lehren.

Nachweislich hat Blavatsky, oder HPB, wie sie oft genannt wird, in Nordindien gelebt, vielleicht auch zeitweise in Ladakh, hat aber wohl nie einen Schritt nach Tibet hineingesetzt. So diffus ihre Beschreibungen des Landes, so nebulös und nichttibetisch sind die Figuren ihrer „Meister“ Koot-Homi (auch Kut Humi) und Morya, denen sie ihr Wissen verdankt. Ihr vierbändiges Hauptwerk „Die Geheimlehre“ erschien 1888. Es war ein Kommentar zum geheimen Buch „Dzyan“, das Blavatsky in einem Kloster im Himalaya gesehen haben will, verfasst in der sonst unbekannten Sprache „Senzar“. Aber niemand außer HPB hat wohl je dieses Buch gesehen oder von der in ihm verfassten Sprache gehört, und mit dem realen Tibet oder tibetischem Buddhismus hat das alles herzlich wenig zu tun.

Trotz alledem, Blavatsky beherrschte virtuos die Verquickung diverser Schriften aus Religion und Philosophie, um daraus ihre ganz eigene esoterische Weltsicht wortreich zu kompilieren, denn die Geheimlehre sollte nichts weniger als den Ursprung und Aufbau der Welt und der Rassen erklären. Diese von HPB „Kosmogenesis“ und „Anthropogenesis“ genannten Entwürfe sollten Generationen von Esoterikern stark beeinflussen. Für die Theosophen war dies eine Lehre jenseits von Religion und Naturwissenschaft.

Die „Anthropogenesis“ beschreibt die Entwicklung der Menschheit über sieben Stufen, die sich über einen Zeitraum von vielen Millionen Jahren erstreckten. Dabei erleben die Menschen einen Abstieg aus rein astralem Sein ins Materielle, dem dann wieder eine neue Art Vergeistigung folgt.

Die sieben Entwicklungsstufen der Menschheit nennen die Theosophen „Wurzelrassen“, deren Epoche jeweils von sieben Unterrassen gebildet wird, wobei jede Wurzelrassen-Ära von der folgenden durch gewaltige Katastrophen getrennt wird. Und jeder Wurzelrassen-Zyklus ist in sich wiederum von Aufstieg und folgender Degeneration der betreffenden Rasse geprägt.

Auf die erste körperlose und unsterbliche Wurzelrasse folgte eine zweite auf dem lange untergegangenen Kontinent Hyperborea in der Region des heutigen Nordpols, dann folgten die Wesen der dritten Wurzelrasse auf dem ebenfalls längst versunkenen Kontinent Lemuria. Wegen der Entdeckung der sexuellen Fortpflanzung erlebten die Lemurier einen „Sündenfall“. Wenige Überlebende siedelten auf einer Insel Shambhala4 in der Region der heutigen Wüste Gobi und später dann auf dem Kontinent Atlantis. Die riesenhaften und medialen Atlanter seien dann aber auch über mehrere irdische (Natur-)Katastrophen degeneriert (davon berichten die Sintflut-Sage und Platons Atlantis-Bericht) und wurden von der fünften Wurzelrasse abgelöst.

Diese, die Arier, bildeten sich in Shambhala und dann in Nordasien. Aktuell herrscht die fünfte Unterrasse, das sind die indischen bzw. die europäischen Arier (Blavatsky zählt interessanterweise die Juden auch zu dieser fünften Unterrasse). Abgelöst werden sie bald von der nächsten rassischen Entwicklungsstufe, die sich nach Blavatsky in Nordamerika anbahnt. Alle anderen Rassen, Asiaten, Afrikaner, Eskimos usw. sind Überbleibsel der Epochen von Lemuria und Atlantis und deshalb zum Aussterben verurteilt.

Zwei weitere Wurzelrassen stehen noch bevor, wobei die Wiederkehr eines Messias bzw. Buddhas Maitreya zu erwarten sei. Dieses esoterische Evolutionsmodell ist für die Theosophie-Gläubigen ein notwendiges karmisches Geschehen, ein Ausdruck göttlichen Willens, und darf nicht etwa mit menschlich-politischen Bestrebungen vermengt werden. Trotzdem ist unzweifelhaft, dass dieses Modell eines esoterischen Rassismus ideologische Munition für antisemitische, völkisch-okkulte und arisch-rassistische Kreise bot – und sie wurde begierig genutzt.

So schillernd die Figur der Helena Petrovna Blavatsky ist, so bemerkenswert ist auch die Geschichte ihrer Epigonen und der Theosophical Society inklusive diverser Fraktionierungen. In dem uns hier interessierenden Kontext sollte es mit diesem Schlaglicht auf die theosophische Evolutionsidee reichen, um den roten Faden hin zum völkischen und esoterischen Rassismus im Deutschland der 1930er-Jahre wiederaufzunehmen.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es in Europa nun verbreitete Ansicht, dass man es mit höher- oder minderwertigen menschlichen Rassen zu tun habe, aber die Krone der Schöpfung eben die weiße, die kaukasische Rasse sei. Es erschienen diverse Publikationen und Pamphlete zu diesem anthropologischen Rassismus, von Naturwissenschaftlern oder Philosophen, und das gleichermaßen in Frankreich wie in England oder Deutschland. Der nächste logische Schritt war nun, aus der biologisch gegebenen Ungleichheit der Menschen auch politische Konzepte abzuleiten, sei es das Verbot der „Vermischung des Blutes“, um rassische Degeneration zu verhindern, bis hin zur radikalsten Form des Rassismus im NS-Staat: der physischen Vernichtung „minderwertiger Rassenelemente“.

Einer der wichtigen ideologischen Stichwortgeber war der französische Adlige Arthur de Gobineau (1816–1882), der seinen „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ veröffentlichte, als Frau Blavatsky sich angeblich noch von geheimen Meistern in Tibet unterweisen ließ. Seine Warnungen vor der Vermischung der Rassen bzw. des Blutes beeinflussten direkt die Rassenlehre der Nationalsozialisten.

Allerdings war Gobineau noch ein expliziter Antisemitismus völlig fremd. Das ergänzte dann der gebürtige Engländer, aber in Deutsch schreibende Houston Stewart Chamberlain, den Gobineau sehr inspiriert hatte. Dessen Werk „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ (1899) wurde zum Klassiker des radikalen antisemitischen Rassismus, vor allem in Deutschland. Der spätere Schwiegersohn Richard Wagners wurde zum direkten ideologischen Wegbereiter des nationalsozialistischen völkischen Rassismus und lernte den von ihm bewunderten NSDAP-Chef Adolf Hitler noch persönlich kennen, bevor er 1927 starb.

So radikal das Denken von Gobineau und Chamberlain und ihrer Epigonen auch gewesen sein mag, von Esoterik, geschweige denn Asien- oder Tibetbezügen war hier nichts zu finden. Das besorgten dann seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Wiener Ariosophen und ihre Anhänger. Zwischen Wien und Berlin sprossen mittlerweile diverse völkische, germanophile, antisemitische Gruppen und Zirkel aus dem rassistischen Humus, vieles changierte zwischen obskur bis bizarr, oft waren es kleine, kurzlebige Gruppen. Die ideologischen Übergänge hin zu den Naturalisten, Vegetariern oder Lebensreformern waren fließend, aber in allen Facetten Ausdruck einer gesteigerten Sinnsuche in Zeiten radikalen politischen und sozialen Umbruchs. Sehr einflussreich und prägend waren in dieser Strömung die beiden ariosophischen Propagandisten Lanz von Liebenfels und Guido von List. Deren rassistische Gedankengebäude waren ausdrücklich von Blavatsky und der Theosophie inspiriert, und ihr System wurde auch als eine „germanisierte Theosophie“ bezeichnet (Goodrick-Clarke).5

Beide Männer waren von früh an schwärmerisch-spirituell veranlagt, von List war erst Freimaurer, von Liebenfels Zisterzienser, und beide hatten sich den Adelszusatz eigenhändig zugeschrieben. Der 25 Jahre ältere von List entdeckte für sich immer stärker das Germanentum, imaginiert als vergessene und unterdrückte glorreiche Frühzeit der arischen Rasse, und glaubte, mit der Wiederentdeckung einer heidnisch-germanischen Religion („Wotansreligion“), der Runen-Magie und Mythologie den Niedergang der Germanen aufhalten zu können. Von List gründete dafür den Hohen Armanenorden, ein kleiner Zirkel eingeweihter ArioGermanen. Von List war nicht nur befreundet mit dem jüngeren von Liebenfels, sondern hat ihn natürlich auch beeinflusst.

Auch der gründete einen esoterischen Orden als arische Elite, den Ordo Novo Templi (ONT), oder Neutempler-Orden, der natürlich nur Männern offenstand. Auch wenn manche NS-Ideologen später über die völkischen Schwärmer eher lächelten, so lieferten diese Ariosophen doch für viele ein geistiges Koordinatensystem und waren Wegbereiter für eine okkulte Grundierung der NS-Ideologie und des quasi-religiösen Männer-Ordens der SS. Bemerkenswert ist, das diese doch bizarr wirkenden Glaubenswelten in der besseren Wiener Gesellschaft auf viele offene Ohren stießen und sich einige Honoratioren unter den Anhängern der Ariosophen wiederfinden – etwa der Wiener Bürgermeister Karl Lueger –, ein Beleg, wo der vorherrschende Zeitgeist wehte.

Beide Ariosophen strebten vor allem nach einer Wiederbelebung, einer Renaissance der als golden imaginierten germanischen Frühzeit, edel, erdverbunden, feudal und kämpferisch. Also musste die Ariosophie natürlich antikirchlich, antifeministisch, antidemokratisch und vor allem antisemitisch sein. Aber dieses schwärmerischspirituelle Gebräu verband sich schnell mit Forderungen nach einer radikalen rassistischen Politik und Eugenik: Zuchtprogramme, Kastrationen, Sterilisationen, Deportationen bis hin zur physischen Vernichtung waren alles Maßnahmen, die bei den Ariosophen als probate Mittel der Rassenreinhaltung propagiert wurden.

Hitler und Himmler hatten Schriften der Ariosophen gelesen, Hitler in seiner Wiener Zeit etwa die Ostara-Hefte, die von Liebenfels herausgab. Folgerichtig apostrophierte sich dieser eine Zeit lang selbst als „der Mann, der Hitler die Ideen gab“. Und es finden sich hier nicht nur die Ideen, die dann bald in Rassegesetzen und Eugenik ihren realen Niederschlag fanden, sondern auch Vorlagen für einen arischen Elite-Orden, der dann in der SS Gestalt annahm.

Die Ideen der Ariosophen fallen überall im Deutschen Reich auf fruchtbaren Boden. In München etwa formt Rudolf von Sebottendorff (noch ein selbst verliehener Adelstitel, geboren war er 1875 als Rudolf Glauer) aus der örtlichen Sektion des „Germanenordens“ die „Thule-Gesellschaft“.6 Von Sebottendorff/Glauer soll durch Reisen in die Türkei mit islamischer Mystik, aber auch Theosophie und Freimaurerei bekannt geworden sein. Der regelmäßig im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten tagende völkische Klub ergeht sich in ariosophischen Schwärmereien und antisemitischen Hetztiraden.

Aber als die Münchner Räterepublik im November 1918 unter dem jüdischen Sozialisten Kurt Eisner proklamiert wird, planen bewaffnete Thule-Mitglieder als „Kampfbund Thule“ den aktiven Staatsstreich mit. Der Mörder Eisners, Graf von Arco auf Valley, war zeitweise Mitglied der Thule-Gruppe. Auch später prominente Nazis wie Rudolf Hess, Alfred Rosenberg oder Hans Frank gehören zu den Thule-Mitgliedern, Adolf Hitler spricht dort als Gastredner. Und der 18-jährige Himmler war Mitglied im von Sebottendorff gegründeten Freikorps Oberland.

Die Thule-Gesellschaft spielt für unsere Spurensuche aber hier insofern eine wichtige Rolle, als sie vor allem von einigen Autoren der Nachkriegszeit, die über mögliche okkulte Wurzeln des Nationalsozialismus schrieben und spekulierten, völlig zu Unrecht zu einer quasi geheimen, magischen Machtzentrale der frühen NS-Bewegung hochstilisiert wurde. Eine besondere Rolle wird dabei dem Münchner Geopolitiker Karl Haushofer angedichtet, der nicht nur enge Beziehungen zu Tibet gepflegt, sondern auch tibetische Kolonien im NS-Deutschland betreut haben soll. Und weiterhin soll der Professor sogar die theosophischen Mysterien rund um das Buch Dzyan in die Thule-Gesellschaft eingeführt haben. Haushofer, dessen Assistent übrigens Thule-Mitglied Rudolf Hess war, pflegte zwar gute Beziehungen nach Japan, hegte große Sympathien für das NS-System und war auch als geopolitischer Berater für die Nationalsozialisten tätig, aber allen esoterischen/theosophischen Spekulationen gegenüber abgeneigt.

Die Thule-Eingeweihten hätten demnach auch an die theosophische Überlieferung geglaubt, dass einst „Ur-Arier“ durch eine Katastrophe aus dem Land der heutigen Wüste Gobi vertrieben wurden und dann in Richtung Tibet respektive Nordeuropa ausgewandert seien. Haushofer hätte immer wieder darauf hingewiesen, Zentralasien und Tibet als „Herzregion der Welt“ wieder zu erobern und eben diese dann zu beherrschen. Diese theosophisch-tibetischen Bezüge der Thule-Gruppe hätten dann mehr oder weniger direkt zu der Schäfer-Expedition von 1938 geführt.

Diese Verbindungen sind reine Hirngespinste. Aber so phantastisch und irreal diese Verquickungen auch sind, ihr Problem ist, dass sie zählebig für real gehalten werden. Doch dazu mehr im letzten Kapitel. Historisch gesichert ist, dass die Thule-Leute sich germanisch-okkulten Schwärmereien ebenso verschrieben hatten wie radikaler rassistischer Politik. „Thule“ war eher eine großbürgerliche Kampforganisation für Rassismus und Antisemitismus als ein esoterischer Orden. Ideologisch wie personell war die Gruppe um Sebottendorff sicher eine direkte Keimzelle der NSDAP. So ist es etwa kein Mythos, dass der völkische Dichter Dietrich Eckart Thule-Mitglied war, ein Mentor Adolf Hitlers, der ihm dann auch „Mein Kampf“ widmete.

Die nächste (okkulte) Zutat zur Nazi-Tibet-Connection stammt aus der Feder eines polnischen Schriftstellers und Reisenden, Ferdinand Ossendowski (Jg. 1876). Der gelernte Naturwissenschaftler, der viele Jahre in asiatischen Ländern gelebt und gearbeitet hatte, veröffentlichte 1921 auf Englisch einen Erlebnisbericht, der schnell zum Bestseller avancierte und 1924 als „Tiere, Menschen und Götter“ in Deutschland erschien und sich hier ebenfalls bestens verkaufte. Ossendowski, bislang nicht durch theosophische Spekulationen aufgefallen, erweiterte den Mythos um die Ur-Arier der fünften Wurzelrasse und ihrer Heimat Shambhala in Asien um den nicht minder mythologischen Ort eines unterirdischen Königreiches namens Agarthi (auch mal Agarttha oder Asgharta)7. Dieses immense Reich, verborgen unter den Bergketten des Himalaya, bewahrt die größten geistigen Geheimnisse und das gesamte Wissen der Menschheit. Dank dieser Kräfte, und regiert von einem weisen „König der Welt“, beeinflusst Agarthi unbemerkt die Geschicke der „oberen Welt“. So schreibt Ossendowski in „Tiere, Menschen und Götter“:

„Auf meiner Reise durch Mittelasien hörte ich zum ersten Mal von dem ‚Mysterium der Mysterien‘. Ich kann ihm keinen anderen Namen geben … Dieses Königreich ist Agarthi. Es erstreckt sich über alle unterirdischen Gänge der Welt. Ich hörte, wie ein gelehriger Lama aus China dem Bogdo Khan erzählte, daß die unterirdischen Höhlen von Amerika von der ehemaligen Bevölkerung dieses Kontinents bewohnt seien. Alle unterirdischen Völker und unter der Erde befindlichen Räume werden von Herrschern regiert, die dem König der Welt untertan sind. Darin liegt nichts allzu Wunderbares. Sie wissen ja, daß es früher in den beiden größten Ozeanen des Ostens und Westens zwei Kontinente gegeben hat, die unter der Wasseroberfläche verschwanden [Blavatskys ‚Kosmogenesis‘ s.o.!]. Deren Bevölkerung gehört jetzt zu dem unterirdischen Königreich … Die Hauptstadt von Agarthi ist von Städten umgeben, die von Hohenpriestern und Männern der Wissenschaft bewohnt sind. Sie erinnern einen an Lhasa, wo der Palast des Dalai Lama, der Potala, die Spitze eines Berges darstellt, der mit Klöstern und Tempeln bedeckt ist. Der Thron des Königs der Welt ist von Millionen inkarnierter Götter umringt …“8

Viele (Okkult-)Autoren plagiierten in der Folge Ossendowski oder führten seine Erzählungen im festen Glauben an ihren Wahrheitsgehalt fort. Und auch in Heinrich Himmlers berühmter Leseliste taucht Ossendowskis Bestseller auf, mit der Bemerkung versehen, das Buch berichte „von den ganz großen Mysterien und Geheimnissen der Mongolei.“ Doch es sollte okkulten Nachkriegsautoren vorbehalten bleiben, aus Agarthi/Shambhala die Zentren geheimer Weltbünde zu konstruieren, die in unversöhnlichem Krieg miteinander liegen.

Himmlers okkultes Weltbild

Zwei weitere esoterische Einflüsse auf das Himmler’sche Tibet/Asien-Konstrukt müssen abschließend noch erwähnt werden, da sie sowohl die konkrete Politik Himmlers beeinflussten wie auch erklären helfen, warum er sich so nachhaltig zum Mentor des jungen Zoologen Ernst Schäfer und dessen Plänen für eine Tibet-Expedition machte.

Dabei handelt es sich zum einen um die sogenannte „Welteislehre“ (auch kurz WEL oder „Glacial-Kosmogonie“), eine im Vergleich zu Blavatskys Theosophie nicht minder phantastische und völlig unwissenschaftliche Kosmologie, die heute zwar fast völlig vergessen ist, aber in der NS-Zeit in der deutschen Bevölkerung wie unter den Eliten des Staates eine große Anhängerschaft besaß.9 Heinrich Himmler war bekannt als ausgewiesener Anhänger der Welteislehre.

Begründer der WEL war der Wiener Ingenieur Hanns Hörbiger (1860–1931). Der auf Kälte- und Wärmetechnik spezialisierte Hörbiger formulierte 1913 erstmals in Buchform seine umfangreiche „Glacial-Kosmogonie“. Im Kern geht es dabei um die Weltentstehung aus dem ewigen Kampf zwischen Eis und Feuer. In diesem dualistischen Weltbild spiegeln sich noch die naturphilosophischen Debatten des Abendlandes über Feuer oder Wasser als Ursprung aller Dinge wider. Die WEL war laut Hörbiger das Ergebnis einer Eingebung, einer Intuition. Versuch einer Kurzfassung: Das All besteht aus Eis- oder Heißgestirnen. Vor mehreren Millionen Jahren existierte im Sternbild Taube eine Riesensonne mit der dreißigmillionenfachen Masse unseres Zentralgestirns. Ein kleinerer, aber ebenfalls noch riesiger Eiskörper kollidiert mit der Megasonne und wird verschlungen. Nach einigen Tausend Jahren kommt es zu einer gewaltigen Explosion, bei der enorme Mengen an Eis, Glut und umgeformter Schlackenmaterie weit in den Weltraum geschleudert werden. Aus „Eislingen“ und „Glutlingen“ und umgebender Wasserdampfhülle formen sich alsbald unser Sonnensystem und die umkreisenden Planeten. Kleinere Körper stürzen in die Sonne oder werden von den größeren Planeten angezogen und verschmelzen mit ihnen. Auch die Erde hat in der Vergangenheit bereits drei kleine Planeten als Monde eingefangen, die letztlich dann auf die Erde stürzten. So wird es irgendwann auch mit dem Mars geschehen. Die Milchstraße wird in der WEL als eine Ansammlung von Eiskörpern betrachtet, die im Sonnenlicht reflektieren, und daneben existiert auch eine „Glutmilchstraße“, die durch den Eisring rötlich hindurchschimmert. Beide Objekte sind Bestandteile des Sonnensystems.

Diese Kosmogonie negierte komplett jeden gesicherten Wissensstand von Astronomie und Physik. Die WEL war keine Frage von Beobachtung oder Überprüfung, sie war vor allem eine Glaubensfrage. Und obwohl es sogar eine Reihe NS-freundlicher Naturwissenschaftler gab, die gegen diese „Volksverdummung“ opponierte, setzte sich Hörbigers bizarre Welteislehre bis zu einem gewissen Grad in NS-Deutschland durch.

Es gab eine schnell wachsende Schar begeisterter WEL-Anhänger in Deutschland, Vereine zur Förderung der WEL wurden gegründet, populärwissenschaftliche Bücher rund um Hörbigers Kosmogonie wurden publiziert und blendend verkauft, und es entstand eine enorme publizistische Tätigkeit pro Welteislehre. Im Kern ging es darum, im vorherrschenden Zeitgeist der Germanenverehrung und des Antisemitismus eine „deutsche Physik“ der als „jüdischen Physik“ empfundenen universitären Naturwissenschaft entgegenzusetzen. Der pathetische Appell eines Hörbiger-Jüngers macht das sehr deutlich:

„… denn diese Lehre [gemeint ist die ‚jüdische Physik‘ eines Albert Einstein, d. V.] ist nichts anderes als der in die Form von Berechnungen eingekleidete, unüberbietbare Höhepunkt der geistigen Verirrung und wahnwitzigen Verneinung alles über dem Stoffe Stehenden, Geistigen und letzten Endes Göttlichen in der Welt.“10

Und was hat das mit unserem Thema Tibet zu tun? In Himmlers Weltverständnis eine Menge. Dreimal war bereits nach Hörbigers System ein Mond von der Erde eingefangen worden und auf sie niedergestürzt. Mit diesen Phasen der Annäherung und Zerstörung erklärte Hörbiger elegant auch das menschliche Mythenrepertoire von weltweit verbreiteten Geschichten über Sintfluten oder Riesen. Diese „Mondeinbrüche“ verursachten größte Naturkatastrophen, Erdbeben, Fluten, Vulkanausbrüche usw. Und natürlich konnten – wenn überhaupt – nur Lebewesen diese Apokalypsen überstehen, die in den höchstgelegenen Erdregionen lebten, etwa den Anden oder Tibet. Hierhin hatten sich die letzten Atlantis-Bewohner gerettet, hier müsste man ihre Spuren finden – wenn man denn danach suchte. Dieses Szenario verträgt sich wiederum ausgezeichnet mit Blavatskys Wurzelrassen-Evolution.

Deshalb gründete Himmlers Wissenschafts-Organisation „Ahnenerbe“ eine eigene Abteilung zur Erforschung der Glacial-Kosmogonie, deshalb plante das „Ahnenerbe“ Expeditionen zum rund 4000 Meter hoch gelegenen Titicacasee und den dortigen Ruinen von Tiahuanaco und deswegen wollte Himmler Ernst Schäfer einen Welteislehre-Experten wie Edmund Kiss mit auf den Weg nach Tibet geben, der bereits in den Anden geforscht hatte.

Und zu guter Letzt hatte Universalgenie Hörbiger durch seine Glacial-Kosmogonie auch noch den Ursprung des Menschen erklärt. Denn der stamme natürlich nicht, wie Darwin meinte, vom Affen ab wie andere niedere Rassen, sondern sei eine Himmelsgeburt, als Protoplasma in Eisstücken auf die Erde hinabgestürzt, „göttliches Sperma, welches Allvater Kosmos in den Schoß unserer Allmutter gesenkt hat, um jene Erstgeburt des irdischen Lebens zu zeugen, aus welchem später zielstrebig der Mensch entwickelt wurde“. Die Forschung zur Welteislehre im „Ahnenerbe“ wurde unter dem Etikett der Wetterkunde versteckt. In einem Papier dieser Abteilung von 1936 heißt es

„… daß Hanns Hörbigers Welteislehre in ihrer grundsätzlichen Gestaltung das geistige Geschenk eines Genies ist, das von hohem Wert für die ganze Menschheit in praktischer und weltanschaulicher Hinsicht ist, für uns Deutsche als ein echt arisches Gedankengut aber von ganz besonderer Bedeutung ist.“11

Alles den Deutschen Fremdartige, fälschlich Übergestülpte wollte Himmler eliminieren, vom fremdrassigen Blut bis hin zur falschen, weil jüdisch-materialistischen (Natur)Wissenschaft, und ersetzen durch „arteigenes“, (indo)germanisches. Das ist der rote Faden in Himmlers ideologischem Bestreben und Kern seines magischen Weltbildes.

Und so erfuhr ebenfalls 1936 der ehrgeizige Forscher Ernst Schäfer bei seinem ersten Privatissimum mit dem SS-Chef von dessen tiefem Glauben an eine mythische Wahrheit über den Ursprung der Welt, der himmlischen Abkunft der Arier und ihrer Auserwähltheit und der Minderwertigkeit aller anderen Lebewesen – und war nachhaltig verstört angesichts dieser bizarr-magischen Glaubenswelt.

Aber der mit Sicherheit einflussreichste Berater Himmlers in Sachen arischer Esoterik war ohne Zweifel Karl Maria Wiligut (1866–1946). Der ehemalige Oberst der österreichisch-ungarischen Armee war aber gleichzeitig in der Runde völkischer Esoteriker der größte Scharlatan, „dessen Tätigkeit ans Betrügerische grenzte“ (Michael Kater).12 Nach seiner Pensionierung bewegte sich der gebürtige Wiener in den 1920er-Jahren in antisemitischen und ariosophischen Kreisen Österreichs, so im Ordo Novi Templi des Lanz von Liebenfels. Wiligut behauptete, er besäße hellseherische Fähigkeiten, eine sogenannte „Erberinnerung“, die ihn in die Lage versetze, in die früheste Ära der Ur-Germanen zu blicken. Weiterhin behauptete er, letzter Abkömmling eines uralten Königsgeschlechts zu sein, der Uiligotis der Asa-Uana-Sippe.

Der nach eigenem Bekenntnis in der Runenmagie und Heraldik kundige Ex-Oberst datierte die Ursprünge seiner Erberinnerung auf eine Zeit um 280.000 v. Chr. zurück, eine Zeit, in der die Erde von Riesen, Zwergen und anderen mythischen Wesen bevölkert wurde. Seine Mission war die Wiederbelebung der alten „irministischen Religion“. Himmler, der Wiligut 1933 auf einer Tagung der Nordischen Gesellschaft kennengelernt hatte, glaubt an Wiligut und seine seherischen Fähigkeiten und will ihn in Zukunft als Quelle für das Wissen über die Vergangenheit der Arier nutzen.

Der SS-Chef beförderte Wiligut sofort zum SS-Hauptsturmführer, gab ihm den Ordensnamen Weisthor (also „weiser Thor“) und machte ihn zum Leiter des Archivs im Rasse- und Siedlungshauptamt – später war er dort für „Sonderaufgaben“ zuständig. Wiligut/Weisthor stieg noch bis zum SS-Brigadeführer auf (quasi unterster Generalsrang) und bekam ein Büro beim Persönlichen Stab Reichsführer SS in unmittelbarer Nähe Himmlers. Privat residierte er in einer Dahlemer Villa und wurde von einem Chauffeur täglich in die SS-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße gefahren – alles klare Indizien, welche besondere Vertrauensstellung Wiligut/Weisthor bei Heinrich Himmler genoss. Wiligut/Weisthor hinterließ einige sichtbare Spuren in der SS-Historie. Einmal entwickelt er für Himmler SS-eigene Rituale, etwa Heiratszeremonien oder heidnische Jahresfeste. Er gestaltet auch den berühmten Totenkopfring der SS, das symbolisch-sichtbare Zeichen der Ordenszugehörigkeit und unverbrüchlicher Treue zur SS.

Und schließlich inspirierte Weisthor Himmler bei seiner Suche nach einer passenden Ordensburg für die SS und deren Ausgestaltung. In Himmlers geliebtem Landstrich Ost-Westfalen, der Region von Arminius und Widukind und nicht weit vom angenommenen Standort der Irminsul an den Externsteinen, wurde man fündig: die Wewelsburg. Die aus dem 12. Jahrhundert stammende Dreiecksburg über dem Tal der Alme wollte Himmler zu einer SS-Ordensburg ausbauen, in der die Spitzen seines Adels-/Krieger-Ordens sich geistig rüsten und schulen sollten. Es ist hier nicht der Ort, die komplexe Geschichte der Wewelsburg als SS-Standort nachzuzeichnen, nur wichtig ist, dass Wiligut/Weisthor an der Gestaltung und Planung der Burg als SS-Kultstätte beteiligt war – zur Mystifizierung der Wewelsburg im Rahmen der Nazi-Tibet-Connection in der Nachkriegszeit s. Kapitel 9.

Wiligut/Weisthor produzierte in den sechs Jahren seiner SS-Zugehörigkeit einige Papiere für den Reichsführer SS über religiöse Fragen, den „Irminismus“ oder Erkenntnisse aus seiner „Erberinnerung“. Vieles davon klingt wirr – ein Text über den „Herrn der Welt“ beginnt mit dem verballhornten tibetischen Mantra „O mani batme hum“! – und ist es wohl auch, anderes ist dafür erhellend: So listet Weisthor programmatisch Schritte zur „Herstellung des Urglaubens“ auf, die „seitens des Staates nötig sind“, als da u.a. wären: „Auflösung aller männlichen und weiblichen Klöster … Beschlagnahme aller Kirchenvermögen ohne Unterschied … Unschädlichmachung von Geistlichen aller Grade mit der dem Staat zur Verfügung stehenden Mittel …“ Also nicht weniger als ein Kreuzzug gegen die etablierten christlichen Kirchen.

Und Himmler vermerkt handschriftlich am 17. Juni 1936 „gelesen“ auf einem Weisthor-Exzerpt über die Menschheitsentwicklung. Da heißt es eingangs: „Die irdische Menschheit … zerfällt in sieben Epochen, von welchen vier als vollendet, die fünfte die gegenwärtige Menschheit und die sechste und siebente die noch kommenden Menschenalter bilden.“ Das ist die theosophische Anthropogenesis der fünf Wurzelrassen in Reinform! Und weiter: „Jeder dieser bisher abgelaufenen vier Entwicklungsepochen wurde nach der mündlichen Geheimlehre durch eine ungeheure Erdkatastrophe herbeigeführt, durch die die Vereinigung unserer Erde mit einem von dieser angezogenen Gestirne beendet wurde.“ Und das wiederum ist original Hörbigers Glacial-Kosmogonie. Weisthor verquickt Theosophie, WEL mit seinem „Erberinnern“ über die germanische Urzeit: „… und die Erde pendelte aus und die Asa-Uana-Kinder wanderten aus auf Atta-lant (!) und schrieben ihre Geschichte und gaben selbe den Wissenden in Wahrung, auf dass es nicht vergessen werde …“13 Und Tibet bzw. Lhasa adelte der „Rasputin Himmlers“, wie manche Zeitgenossen ihn nannten, mit einer geomantischen Berechnung, die den Nordpol, Wien und die tibetische Hauptstadt in eine besondere spirituelle Beziehung zueinander setzte. Außerdem hatte der Oberst früher schon mehrmals davon fabuliert, einst in einem Lama-Kloster eine Initiation erlebt zu haben und sozusagen mit dem Dach der Welt geistig in Verbindung zu stehen.

Himmler war beglückt. Im gleichen Sommer 1936 bestand er darauf, dass sein Schützling Ernst Schäfer bei Wiligut/Weisthor vorsprechen sollte, für die geistige Vorbereitung auf seine Expedition nach Tibet. Wiligut fiel dann 1939 bei Himmler in Ungnade, da er ihm einen Aufenthalt in einer Salzburger Nervenheilanstalt von 1924 bis 1927 verschwiegen hatte, wegen „paraphrener Psychose“. Es ging um Größenwahnsinn, Gewalttätigkeiten und exzentrisches Verhalten, wobei seine Ex-Ehefrau wohl stark an der Einweisung und seiner Entmündigung beteiligt war. Außerdem wuchs die Kritik anderer SS-Führer an Wiliguts Wissen und seinem zunehmenden Alkoholismus. Wiligut trat im August 1939 aus der SS aus, Himmler soll Weisthors SS-Insignien Ring, Dolch und Schwert noch in seinem Safe verwahrt haben.

In all diesen Erklärungsmodellen über Ursprung von Erde und Mensch, von Blavatskys „Wurzelrassen“ bis zu Wiliguts „Erberinnern“ spielt Tibet eine durchgehende Rolle als fiktiver Hort und Heimat von Atlantis-Überlebenden und Ur-Ariern. Allerdings ein Tibet als pure Fiktion abendländischer Krypto-Geschichte und Esoterik. All diese Ingredienzen werden wir in der Wirkungsgeschichte der NS-Ära und der Schäfer-Expedition nach 1945 wiederfinden.

Himmlers (okkultes) Weltbild speiste sich hauptsächlich aus drei Quellen: dem Arier-Mythos der deutschen Romantik, der theosophischen Rassenlehre und der Welteislehre, das Ganze angereichert mit dem zeittypischen Antisemitismus und ausgeprägter Christenfeindlichkeit.

Der Holocaust-Architekt, der penible Buchhalter des Grauens, es ist die gleiche Person, die die Welteislehre propagierte, die sich als Reinkarnation Heinrich I. betrachtete, der Gralssucher und Ordensgründer, der Kräutergärten in KZs und biologisch-dynamische Landwirtschaft förderte, astrologischen Konstellationen Glauben schenkte und okkulten Theorien anhing. Irrationalität, Banalität und Grausamkeit mischen sich in dieser Figur auf eine bis heute verstörende Weise. Oder wie es Himmler-Biograph Peter Longerich zusammenfasste:

„Zentral für Himmlers Weltbild war die Wiederherstellung einer entchristlichten, germanischen Lebenswelt, die mit Hilfe des Atlantis- und des Tibet-Mythos mit längst versunkenen Hochkulturen und via Welteislehre/Astrologie mit der Geschichte des Kosmos verbunden werden sollte. So wie Himmler vermeinte, mit Hilfe seines Beraters Weisthor unmittelbar in die Welt der germanischen Vorfahren eindringen zu können, so glaubte er, sich im eigenen Blutstrom ‚wiederverkörpern‘ zu können – sein Weltbild hatte also durchaus eine Ewigkeitsperspektive.“14

Ernst Schäfer auf seiner ersten Expedition mit Brooke Dolan in Westchina

2Jugendjahre

Das Leben als Jagd

Nach eigenem Bekunden legte Ernst Schäfer bereits in jüngsten Jahren sein Spielzeuggewehr auf flüchtende Ratten im elterlichen Kartoffelkeller an, stapelte bald in seinem Zimmer Terrarien und Aquarien und begann mit Vererbungsexperimenten an Hausmäusen, denen er die Schwänze kupierte, um zu schauen, ob diese Manipulation sich in den folgenden Generationen wieder zeigen würde. Schäfers Natur- und Tierliebe war von Beginn an mehr als ein betrachtendes Forschen, es war vor allem ein Jagen.

Ernst Schäfer, geboren am 14. März 1910, wuchs im thüringischen Waltershausen auf. Sein Vater Albert besaß dort eine leitende Stellung bei den „Gummiwerken Titan B. Pollack“, und der gelernte Kaufmann erhoffte sich auch von seinem zweitgeborenen Sohn (von vieren mit Margarethe, geb. Imdahl) ein Studium der Handelswissenschaften. Doch Ernst Schäfer träumte allenfalls von einer Laufbahn als Nordpolfahrer und durchstreifte lieber mit Freunden den nahe gelegenen Thüringer Wald.

Die vernachlässigte Schullaufbahn versuchten die Eltern nun mit einer Versetzung in das Pädagogium Heidelberg zu korrigieren. Allerdings wurde Ernst Schäfers größte Leidenschaft dort im Internat eher befördert als unterdrückt: Der Schuldirektor wählte sich den 15-Jährigen als Gehilfen zur Bocksjagd im Odenwald aus und prüfte ihn mit Nacht-Wachen, bis er schließlich selbst die Büchse führen durfte. Und Schäfer war ein wissbegieriger Adept des Waidhandwerks. Die Jagdleidenschaft, ja Besessenheit, blieb eine bestimmende Konstante in seinem Leben. Noch bei seinem einzigen Fernsehauftritt im Nachkriegsdeutschland, in einer frühen Terra-X-Sendung des ZDF von 1988, sitzt der „Tibet-Experte“ im waidmannsgrünen Outfit vor einer trophäengeschmückten Wohnzimmerwand. Da war der langjährige Autor für Fachblätter wie Wild und Hund oder Die Pirsch 79 Jahre alt.

Es muss ungefähr zur Zeit seines Eintritts in die Heidelberger Privatschule Mitte der 1920er-Jahre gewesen sein, als es am heimischen Esstisch zu einer prägenden Begegnung für Ernst Schäfer kam. Ein Geschäftsfreund seines Vaters, ein Direktor des I.G. Farbenwerkes nahe Merseburg, kam zu Besuch – die I.G. Farben forschte zu jener Zeit intensiv an Ersatzstoffen für Naturkautschuk, bald als „Buna“ bekannt. Man plauderte dabei auch über die neueste Tibet-Expedition des im Deutschen Reich seit seiner Antarktisfahrt 1911/12 äußerst populären Geophysikers und Forschungsreisenden Wilhelm Filchner, dessen Unternehmungen die I.G. Farben finanziell unterstützte. Der 48-jährige Filchner befand sich mitten in den Vorbereitungen zu seiner zweiten Expedition nach Tibet. Der junge Schäfer lauschte gebannt, denn auch für ihn stand „Tibet“ für Geheimnis und Abenteuer. Filchner plante, über weite Strecken bislang unbekanntes Terrain im tibetischen Hochland zu kartographieren und mit erdmagnetischen Messungen zu erfassen. Er wollte „das europäisch-westasiatische Netz erdmagnetischer Stationen an das chinesische und dies wiederum an das indische anschließen“.15 Dies bedeutete, riesige, fast unbewohnte Areale zu bereisen und mehrere Tausend Kilometer auf Yaks, Kamelen und Pferderücken zurückzulegen, in politisch teilweise äußerst unsicheren Regionen. Das Unternehmen gelang, allerdings unter großen Mühen, dauerte über drei Jahre, und zwischenzeitlich wurde Filchner bereits totgesagt.

Die Geschichten von Forschungsfahrten in entlegene Weltregionen samt bestandenen Abenteuern, erlittenen Entbehrungen, geheimnisvoller Exotik und schlussendlich errungenem Forscherruhm – dieses Gemisch reizte schon viele pubertäre Phantasien zu großen Geistesflügen. Ernst Schäfer war da keine Ausnahme. Doch sollte er schon wenige Jahre später seine Träume verwirklichen können – wenn auch zu einem hohen Preis.

Eine unverhoffte Gelegenheit

Nach bestandenem Abitur schrieb sich Schäfer 1929 an der Universität Göttingen ein und studierte vornehmlich Zoologie und Botanik, daneben auch Geographie und Geologie. Einer seiner Professoren war der Ornithologe Hugo Weigold, ein Pionier des Naturschutzes, Gründer der Vogelwarte Helgoland und seit 1924 Direktor der Naturkundeabteilung des Provinzialmuseums Hannover. Dort jobbte Ernst Schäfer während der Semesterferien. Und – das war das Entscheidende – erfuhr von Weigold, dass der bereits als junger Mann das tibetisch-chinesische Grenzgebiet bereist hatte, als Mitglied der Expedition von Walther Stötzner. Dieser war eigentlich Architekt, hatte sich aber als Autodidakt der Geographie und Völkerkunde verschrieben und wurde mit mehreren Forschungsreisen nach Asien bekannt.

1911 begleitete Hugo Weigold Stötzner in Bergregionen der westchinesischen Provinz Sichuan. Neben Weigold als Vogelkundler nahmen an der Fahrt noch ein Geodät, ein Entomologe, ein Botaniker, ein Geograf und ein Ethnologe teil. In diesem interdisziplinären Unternehmen von 1911 liegt der Kern des später von Schäfer immer wieder vorgetragenen Anspruchs eines neuen, ganzheitlichen bzw. „holistischen“ Forschungsansatzes für Expeditionen – eine angeblich bislang vernachlässigte und erstmals von ihm 1938/39 verwirklichte Methode der Feldforschung.

Ornithologe Weigold entdeckt und klassifiziert während dieser Exkursion dutzende neuer Vogelarten, doch den angehenden Zoologen Schäfer fasziniert eine andere Geschichte ganz besonders, denn die Stötzner-Mannschaft ist unterwegs im unwegsamen Gebiet des sagenumwobenen Bambusbären. Eines Tages bringt ein lokaler Jäger drei Felle ins Lager der Expedition, um sie zu verkaufen.

„Unsere Freude kannte keine Grenzen, denn es gibt kein zweites Säugetier von gleicher Seltenheit. Noch nie hat ihn eines Europäers Auge lebend gesehen. Es gibt keine weitere Gegend auf der großen Erde, wo das sagenumwobene Tier noch zu finden wäre. Nur in diesen weltenfernen, ungangbaren, einsamen Hochalpen lebt er noch als Überbleibsel aus vorgeschichtlicher Zeit. Einige wenige Gebirgsstöcke und an diesen der doppelt mannshohe undurchdringliche Bambuswald an den steilen Hängen, in welchem der alles mordende Mensch ihn nicht verfolgen kann, ist seit Jahrtausenden sein allerletztes Asyl geworden.“16

So schreibt Weigold begeistert. Wenige Tage später ist es seiner Gruppe noch vergönnt, als erste Weiße zwei lebende Bambusbären zu erblicken, Alluropoda melanoleuca, den heute als Großen Panda bekannten schwarz/weiß gezeichneten Bären, der zum weltweiten Symbol des Arten- und Naturschutzes mutierte. Als Hugo Weigold seinem Studenten Schäfer von dem „Fabeltier“ in Chinas Hochgebirgswäldern erzählt, hatte der Wettlauf der weißen Großwildjäger auf das exotische Objekt ihrer Begierde längst eingesetzt. Und 1928, Ernst Schäfer büffelt noch für sein Abitur, erlegen zwei Amerikaner den ersten Panda in freier Wildbahn.

Die erfolgreichen Jäger waren Theodore und Kermit Roosevelt, älteste Söhne des US-Präsidenten Theodor „Teddy“ Roosevelt. Die beiden waren unterwegs im Auftrag des berühmten Field Museum of Natural History in Chicago. Der Erfolg der Brüder weckte Begehrlichkeiten. Zum Beispiel bei der ebenfalls renommierten Academy of Natural Sciences in Philadelphia. Als zeitweiliger Kurator arbeitete dort der aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie stammende Brooke Dolan II. Das Zoologie-Studium in Princeton und Harvard empfand der zur Exzentrik neigende Dolan als wenig befriedigend. Ähnlich wie Schäfer sehnte er sich jenseits von Labor und Hörsaal nach Jagdabenteuern und Forschungsreisen.