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Die Musikerin Johaenne – Sängerin und Bassistin einer Band – steht auf ihrem Fenstersims im fünften Stock, und der Friedhof ist praktischerweise nebenan. Der Mann, den sie geliebt hat wie niemanden sonst, ist aus ihrem Leben verschwunden, doch die Liebe zu ihm ist geblieben. Es ist Nacht, nur der Mond kann sie sehen, und der Mond hat Humor. Allmählich begreift Johaenne, dass sie keine Selbstmörderin ist, und setzt tastend ihre Schritte in ein neues Leben. Aber die Welt ist aus den Fugen: Ein Nebel bedeckt die halbe Welt, Feuersbrünste und Heuschreckenschwärme wüten. Aus Berlin flieht Johaenne in ein Haus auf dem Land, den Bungalow ihres verstorbenen Vaters. Hinzu stoßen ihre neuen Freundinnen Jamal und Shenmi, die Pianistin Ayo und ein Hündchen. Bald sind die Frauen abgeschnitten von allen Informationen über die Außenwelt. Auch das Nachbarhaus wirkt bedrohlich, und kann der Nebel wirklich Dinge und Lebewesen für immer verschlucken? Während der Nebel das Haus umhüllt, klären die vier Frauen für sich die Verhältnisse. Gegen eine Welt, in der alles verschwindet, setzen sie Solidarität und Liebe, gegen die Ohnmacht den Willen, sich zu behaupten und sichtbar zu sein. Und Johaenne erkennt, dass sie sich erlauben muss, glücklich zu sein. Und zu leben. »Nebel und Feuer« ist Katja Riemanns erster Roman. Er ist die eindringliche Beschreibung einer apokalyptischen Welt – es ist unsere! – und ein mitreißendes Plädoyer gegen das Verschwinden: von Menschen, Natur, Freiheit und Vertrauen.
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2025
Katja Riemann
Roman
Die Musikerin Johaenne – Sängerin und Bassistin einer Band – steht auf ihrem Fenstersims im fünften Stock, und der Friedhof ist praktischerweise nebenan. Der Mann, den sie geliebt hat wie niemanden sonst, ist aus ihrem Leben verschwunden, doch die Liebe zu ihm ist geblieben. Es ist Nacht, nur der Mond kann sie sehen, und der Mond hat Humor.
Allmählich begreift Johaenne, dass sie keine Selbstmörderin ist, und setzt tastend ihre Schritte in ein neues Leben. Aber die Welt ist aus den Fugen: Ein Nebel bedeckt die halbe Welt, Feuersbrünste und Heuschreckenschwärme wüten. Aus Berlin flieht Johaenne in ein Haus auf dem Land, den Bungalow ihres verstorbenen Vaters. Hinzu stoßen ihre neuen Freundinnen Jamal und Shenmi, die Pianistin Ayo und ein Hündchen. Bald sind die Frauen abgeschnitten von allen Informationen über die Außenwelt. Auch das Nachbarhaus wirkt bedrohlich, und kann der Nebel wirklich Dinge und Lebewesen für immer verschlucken? Während der Nebel das Haus umhüllt, klären die vier Frauen für sich die Verhältnisse. Gegen eine Welt, in der alles verschwindet, setzen sie Solidarität und Liebe, gegen die Ohnmacht den Willen, sich zu behaupten und sichtbar zu sein. Und Johaenne erkennt, dass sie sich erlauben muss, glücklich zu sein. Und zu leben.
»Nebel und Feuer« ist Katja Riemanns erster Roman. Er ist die eindringliche Beschreibung einer apokalyptischen Welt – es ist unsere! – und ein mitreißendes Plädoyer gegen das Verschwinden: von Menschen, Natur, Freiheit und Vertrauen.
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Katja Riemann ist eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen, die sich sowohl mit feinem Gespür zwischen kommerziellem Kino und arthouse bewegt, als auch im Theater und der Musikwelt zu Hause ist. Sie ist UNICEF-Botschafterin und erhielt für ihr Engagement 2010 das Bundesverdienstkreuz am Band. Zuletzt erschienen ihre Sachbücher »Jeder hat. Niemand darf. Projektreisen« über humanitäre Arbeit und »Zeit der Zäune« über Orte der Flucht. Mit »Nebel und Feuer« gibt sie ihr Debüt als Romanautorin.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Für diese Ausgabe:
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Stephan Storp
ISBN 978-3-10-491927-0
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I
1
2
3
4
5
II
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun und Zehn
The End.
[Jott träumt …]
Merci
Sie steht mit dem Rücken zum Abgrund. Nackt. Im Fenster des fünften Stocks. Altbau. Die verputzte, ungestrichene Wand fällt steil und bedrohlich herab wie ein lautloser Wasserfall. Unter ihr, keine fünfzig Meter entfernt, liegt ein Friedhof. Kann man sich nicht aussuchen. Die beiden Fensterflügel sind nach innen geöffnet, der untere Teil des Fensters ist fest verbaut, und sie steht außen, auf einem gemauerten Absatz, der für Schuhgröße 36 taugt, mit dem Rücken gen Friedhof, und hält sich am Fensterrahmen fest. Der vordere Teil ihres Fußes, die Ballen und Zehen, stehen auf dem Sims, die Ferse ragt in die Luft und könnte runterfallen, wäre sie nicht am vorderen Fußteil festgewachsen. Füße sind zumeist aus einem Guss. Wenn man Füße hat. Wenn man nicht ohne Füße geboren wurde. Das kann passieren. Wie man auch ohne Unterleib geboren werden kann; eine seltene Krankheit, ›Kaudales Regressionssyndrom‹ genannt, die einem unter Hunderttausend passiert. Ein afroamerikanischer Junge wurde damit geboren und wurde ein berühmter Wrestler. Die Geschichte der schrecklichen Kindheit, ausgestoßen, versehrt und gemobbt – und dann wird man ein Star, leistet Übermenschliches, macht Kunst, Wissenschaft oder wrestelt. Geschichten, die man gern selbst erlebte, nur ohne den Scheißanfang, ohne die Quälerei, die fucking Pubertät, die harte Arbeit und das Besser-sein-Müssen, ohne Demütigungen, Verletzungen und Beleidigungen, lieber direkt beim guten Teil beginnen, der am Ende kommt und Ruhm und Reichtum bringt. Dann ist der Film aus.
Oder das Leben.
Sie hat Füße. Sie hat nur keine Kraft mehr. Auf dem Weg zu diesem jetzigen heutigen Moment gab es Verluste innerhalb ihres Systems. Amputation von Gefühl oder was.
Ich sollte gewisse Gedanken nicht mehr denken, denkt sie. Ich habe auch keine Zeit für die Werbung vor einem Youtube-Video. Ich bin zu alt dafür, das geht doch alles von der Gesamtzeit ab.
Sie fühlt als Phantomschmerz das, was nicht mehr ist. In Menschen sind Gedärme. Gebärmütter. Blut, Schleim, Gestank. Auch das Herz, das vielbeschworene, das für Gefühl steht, ist letztlich ein Muskel, der Blut pumpt und neulich zum ersten Mal in einem 3-D-Printer aus Fleischmaterie ausgedruckt wurde. Sah wohl gut aus, aber Pumpen war nicht.
Sie wünscht, sie könnte so gut auf Händen wie auf Füßen stehen. Die Zehen sind inzwischen blutleer. Oder blutlos? Wortklauberei auf den letzten Metern.
Es ist Nacht. Of course. Sie hat sinnigerweise in der Wohnung das Licht ausgemacht, sonst stünde sie da wie eine Installation, weithin sichtbar, sogar aus Flugzeugfenstern zu sehen, auf dem Weg zur Landebahn oder weg von ihr. Aber der City-Flughafen ist stillgelegt, da fliegt außer Kitern nichts mehr, insofern muss sie sich keine Sorgen über voyeuristische Blicke aus dem Dunkel über ihr machen. Abgesehen vom Mond. Der scheint heute nur so mittel. Natürlich, wenn sie eine dramatische Tat vollbringen will, zieht kein klarer voller Mond oder gar ein Blutmond auf. Er ist sichelig und hinter Haze versteckt. Sie sieht ihn nur in der Reflexion der Fensterscheibe, der Mond hängt hinter ihr und kann ihr auf den Po schauen.
»Ich muss mal«, sagt sie in die Nacht hinein und erschrickt über die eigene Stimme, die plötzlich und unangekündigt zu sprechen beginnt. An was man alles denken muss. Bis zum Schluss. Und keiner kann das machen für dich, keiner kann das einfach mal übernehmen, dein Leben oder wie man das nennt. Du bleibst immer in dir drin, nichts zu wollen, kein Fluchtweg. Diese Unnötigkeit eines körperlichen Reflexes. Da ist nichts Hehres oder Klares in diesem Moment, vielleicht dem letzten, da gibt es keinen Erkenntnisgewinn. Was bis hierher nicht gewonnen wurde – rien ne va plus, schschschrrr, das Rollen der Kugel auf der sich drehenden Roulettescheibe, Mads Mikkelsen in Casino Royal, er trägt eine Augenklappe, raucht hier jemand? Nichts geht mehr.
Was bisher nicht gewonnen wurde, tja. Zukünftig wird es nach der Tat weder Gewinn noch Sieg geben. Aber eben auch keinen Verlust mehr, kein Verlieren. Die Kälte wird sie nicht mehr spüren. Hoffentlich. Sie stellt es sich kalt und dunkel vor, und nur die Abwesenheit von Gefühl macht, dass man die Kälte nicht spürt. Wie eine Vollnarkose, so wird es sein, die so angenehm ist, weil es ein Nachher gibt. Die retrospektive Betrachtung und Verwunderung macht das Nichts und den narkotisierten Zustand so angenehm. Sie denkt an ihre Vollnarkosen: Blinddarmdurchbruch, Knie-OP, die Zyste im Unterleib. Vollnarkose fand sie super.
Eindeutig zu wenig meditiert, eindeutig. Sonst könnte sie diese Denkerei ausschalten. Alles zu wenig. Unterm Strich zu wenig gelebt, bringt einem ja keiner bei, und den Abtritt eben auch nicht. Wenn man das üben könnte. Oder wenn einem wie in einem Videogame neue Leben zur Verfügung stünden: »Frage Freunde nach neuen Leben«, das wär’s, doch welcher Freund gäbe sein Leben, die haben ja auch nur eins. Und wie überlässt man physikalisch oder wissenschaftlich betrachtet sein Leben einer anderen Person. Das Leben ist kein Spiel, sag ich ja. Und auch kein Ponyhof, wie es auf der Außenwand eines Hipstercafés der Stadt steht, in der sie lebt, die eine Hauptstadt ist, aber keine Metropole.
Sie muss mal und lässt es unter sich gehen, pinkelt einfach los. Wie ein Tabubruch. Nackt auf dem Fenstersims die Wand runterpinkelnd. Wow, das ist ein Ende.
Der Mond ist runtergefallen, auf die Startbahn Tempelhof. Night-Kiter schmeißen sich in sein Licht hinein und cruisen auf den Wellen, die sich beim Aufprall gebildet haben. Eine Welle aus Mondlicht auf dem alten Naziflughafen. Das wär’s. Das hat sie nicht geschafft: im Mond baden. Und jetzt kann sie nicht einmal sehen, wie das Gepinkelte die Mauer runterläuft. Oder doch? Sie beugt den Kopf nach unten, oh, keine gute Idee, die Oberschenkel werden weich, runtersehen ist nicht gut, die Höhenangst. Schnell den Blick abwenden, nach vorn sehen, in die dunkle Wohnung hinein und atmen. Atmen ist leben. Atem ist meine neue Droge, sagte ihr unlängst ein Kumpel und kiffte trotzdem weiter.
Ihre Beinchen. Werden weich oder steif oder beides. Das hat sie nicht bedacht, dass der Körper hier zum Gegner des Willens wird. Sie hält sich am Fensterrahmen fest, der in der Mitte einen Holm hat, an dem sich beide Fensterhälften treffen. Dort splittert schwarze Lackfarbe ab. Ihre Knöchel zeigen ihr ihren emotionalen Zustand, sie sind weiß, sie krallt sich eher fest, als dass sie sich hält. Die heiße Flüssigkeit innen am Oberschenkel und die Tropfen auf den Füßen haben sich abgekühlt, ihr Geschlecht wird kalt von dem zügig erkalteten Urin. Sie spannt ihren Beckenbogen an, versucht männlich die letzten Tropfen von ihren Schamlippen abzuschütteln. Wenn sie ein Artist wäre, könnte sie sich die Schamlippen selber ablecken. Kann sie aber nicht. Blasenentzündung wird wahrscheinlich.
Würde ihr jetzt Sperma die Beine herunterlaufen statt Pisse, dann hätte das irgendwie noch eine Bedeutung, wenn man wollte. Das Leben, das aus ihr herausläuft, bevor sie es beendet, irgendwie so. Nicht wichtig. Sex war wichtig. Und die Liebe. Scheißliebe, die hat sie ja hierhergebracht.
Ich kann nicht mehr. Ich weiß nichts mehr. Was soll das hier. Soll ich einfach wieder reinklettern? Oder soll ich mich fallen lassen?
Der Mond ist der Einzige, der sie sieht, er hat heute nur ein Auge, er sieht unscharf und ist auch unscharf für seine Betrachter. Er interessiert sich nicht für die Menschen und leuchtet nachts, so wurde er geboren, was soll er machen, er kann sich nicht aus dem Fenster stürzen. Sie kann es ja offensichtlich auch nicht. Soll er in ihre Gedanken kriechen? Das kann er, aber warum? Sie ist irgendeine. Irgendeine mittelalte Weiße, weiblich, europäisch, Städterin, mit hübschen Beinen und langen Haaren, die farblich unbestimmt über den Rücken hängen und anscheinend nicht besonders gekämmt oder gewaschen sind.
»Ich brauche eine Brille«, denkt der Mond einen pragmatischen Gedanken.
Sie zieht sich kurz am Holm hoch, reibt ihre Zehen abwechselnd gegen ihre Waden zur Durchblutung. Steht dann wieder auf ihren Ballettzehen. Atmet bis vier ein, hält bis acht an, atmet bis vier aus. Gut. Das ist gut. Noch mal. Und noch mal. Sie spürt ihren Körper ein wenig, als wäre das Leben eine gute Sache. Meint, sich näherzukommen, was auch immer das bedeutet, denn es ist zu diesem Zeitpunkt vollständig überflüssig. Es ist nicht mehr nötig, mit sich selbst etwas zu tun haben zu wollen. Aber sie möchte es bis zum Schluss richtig machen, sie möchte ordnen, will mit Würde und Übersicht gehen statt im Chaos.
Sie hat ein Testament gemacht. Hat gedauert, weil sie sich dabei so geschämt hat. Sie fand sich dramatisch und will nicht dramatisch sein, auch nicht kompliziert oder kapriziös. Dämlich statt herrlich.
Das Testament.
Gibt wenig zum Vererben. Die Instrumente halt. Bass, Gitarren. Das Hexenhaus auf dem Land. Kein Mann, kein Kind, keine Eltern. Obwohl – den Eltern hinterlässt man ja testamentarisch naturgemäß nichts, weil die Ordnung verlangt, dass die Eltern vor den Kindern sterben und somit die Eltern für die Kinder ein Testament machen statt andersrum. Aber gesetzt den Fall, ich hätte Eltern, ich hätte noch Eltern, dann hätte ich sie in meinem Testament berücksichtigt. Hätte ich? Nein, ich stünde nicht hier, wenn Mama noch lebte. Diese Gedanken sind sehr hinderlich, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Ich muss nach Zahlen atmen, das macht die Gedanken weg. Eins, zwei, drei, vier einatmen, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht anhalten, eins, zwei, drei, vier ausatmen. Das ist gut, tut gut, das sollte ich öfter machen. Es wird kälter, scheint ihr. Ihre Geschwister Younis und Iana hat sie im Testament berücksichtigt, natürlich. Ihre Freundin Françine, ihr Patenkind Claire. Gedanken sind stärker als Zahlen, sie kehren immer wieder zurück, sie fragen nicht danach, ob sie das dürfen. Ihr Mann … nein, bitte, nicht an den Mann denken jetzt, ihn hat sie nicht im Testament berücksichtigt, sie hat ihn ausgezogen, wie den BH, als sie durch den Fensterrahmen nach draußen zum Abgrund stieg. Es ist ihr selbstredend nicht gelungen, sie macht sich mit der Behauptung, ihn wie Unterwäsche, ausgerechnet, ausgezogen zu haben, etwas vor, sie hat ihn mitgenommen, hier auf den 36er Sims, dennoch: bitte nicht an ihn denken, überhaupt nicht an Menschen denken, lieber an Pferde. Oder Zahlen.
Atmen. Ihr Bauch ist ganz hart, sie zieht ihn ein, die Luft geht nicht bis in ihren Unterleib und schon gar nicht bis in die Füße. Die Luft bleibt dort stecken, wo Schneiderinnen ihr Zentimetermaß um eine Person herumschlingen und befestigen, um von der sanduhrartigen Körpermitte weiter zu vermessen. Bei der Vermessung hatte sie stets den Bauch eingezogen, für eine nie zu erreichende Brigitte-Bardot-Taille, und später war dann das Kleid zu eng.
Wieder atmen. Eindeutig zu wenig meditiert. Kann ein Mensch eigentlich so lange den Atem anhalten, bis er erstickt? Yogis vielleicht. Sie üben auch das Sterben in den Höhlen des Himalayas. Fokus. Sie zittert.
Eine kleine Spinne läuft über den Holm, sie folgt ihr mit den Augen, die Spinne läuft schnell und im Zickzack über die absplitternde Farbe bis zu ihrer weißen Knöchelhand und weiter den Arm hinauf – und sie beginnt zu weinen. Die Tränen laufen einfach so runter, wie vorher der Urin. Die Spinne hat sie berührt. Die Spinne wird leben, und sie weiß einfach nicht mehr, wie sie das machen soll, dieses Aufstehen jeden Tag, diese Verlorenheit zwischen den Menschen, sie findet das Wort nicht und auch das Lied nicht mehr, das sich mit ihrem Gefühl deckt. Alles gesagt, alles gesungen. Das Aufstehen, das Allein-ins-Bett-Gehen. Sie weint. Soll sie jetzt loslassen? Jetzt wäre vielleicht ein guter Moment. Warte kurz.
Warte.
Die Wand ist 17 Meter hoch und 12 Meter breit. Die Wand. Sie hat keine Fenster, bis auf dieses eine ganz oben, in dem sie steht und wie gerahmt wirkt. »Nackte Frau im Rahmen« würde das expressionistische Bild von Otto Dix dazu heißen. Wenn sie in der Nacht wach war und einen Song schrieb, leuchtete das Fenster hinaus in die sehnsüchtige Ferne wie ein Kristall, während alle Bewohner der Straße wie die Toten auf dem Friedhof schliefen. Das Fenster erbsgroß, im Verhältnis zu der weiten Fläche der Wand darunter, die wie durch ein riesiges Marzipanbrot geschnitten wirkt. Das Mehrfamilienhaus steht am Ende der Straße, Randstück sozusagen, und hat keinen Nachbarn, es sei denn, man zählt die beerdigten Toten als solche. Versteht man nicht, diese Fläche aus graugrünem Putz, eine Farbe wie Depression. Man sollte diese 200-Quadratmeter-Leinwand Künstler.innen schenken. Ganz oben hinter dem Kristallfenster hat sie in einer gemütlichen, schönen, hellen Wohnung gelebt. Zu zweit und schließlich allein. Bis heute. Heute ist sie ausgestiegen.
Es ist dunkel, nur ihr Körper leuchtet. Die Nachbarn haben sich in ihre Einzelteile aufgelöst, die Eislaufbahn vor der Ex-Startbahn ist geschlossen, die bunten Lichterketten ausgeschaltet, die Fritteuse auch. Kein Mensch im unmittelbaren Radius. Höchstens die genderfluide Frau mit dem Frettchen, das diese nachts Gassi führt, aber die Frau hat nur das Frettchen und ihre Zigarette im Blick, spricht zu dem Nager aus fast zahnlosem Mund. In ihrem Zuhause, das weiß sie von zufälligen Begegnungen auf der Straße, leben Ratten, Katzen, Vögel, Schlangen und ein Seniorenhund. Sie hat sich eingerichtet mit ihrem Leben, das läuft. Die Tiere sind ja da. Und wenn keiner mit ihr redet, spricht sie mit den Tieren, sich oder Gott. Gerät man in ihren Bannkreis, spricht sie zu einem hin. Sie ist nett und besitzergreifend. Sie ist genauso verloren wie die nackte Frau im Rahmen. Sie merkt es nur nicht. Oder es macht ihr nichts aus.
Sie, die Rahmenfrau, verträgt Drogen schon lange nicht mehr. Die Idee, sich wegzumachen oder einen Sexpartner zu finden, hat keine Schnittmenge mehr mit ihrer Vorstellung von Leben, wobei das vielleicht eine Alternative zu dem heutigen Drama hätte gewesen sein können. Tanzen, das ist gut. Tanzen ist gut. Aber die Menschen, die Enge auf der Tanzfläche, die Lautstärke, die Musikauswahl … Irgendwas ist immer. Vor Jahren hatte ihr Gesangslehrer ihr ein Tagebuch mit rotem Samteinschlag geschenkt, in dem goldgeprägt stand: ›Irgendwas ist immer.‹ Sie schrieb nie etwas hinein. War wohl nie was.
Diese Mauer jedenfalls, die ist da, wie ein Monument, auf deren oberem Absatz sie steht, vielmehr klebt, wie Spiderman, der mit dem Klebstoff an den Fingern. Die Mauer ist wie eine Kletterwand, die ein Freeclimber ersteigen will. Einer, der aus Muskelmasse ausgedruckt wurde. Er strebt sportlich nach oben, sie lebensmüde nach unten. Sie will fallen, aber traut sich nicht, der freie Wille kneift angesichts der auszuführenden Tat, der Höhe und damit einhergehender Höhenangst, die sich nicht abstellt, nur weil man … na, weißt schon. Wie frei ist so ein Wille eigentlich? Er scheint selbstbestimmt, macht, was er will, ohne ihr zur Seite zu stehen und zu tun, was sie will. Der Wille ist nur frei für sich selbst, und jeder stirbt für sich allein.
Das Testament hat sie neben den Toaster gelegt. In die Küche. Zuerst lag es auf dem großen Holztisch im Wohnzimmer, an dem sie aßen, wenn Freunde kamen, an dem sie schrieb und übte und den sie heute mit Möbelpolitur eingerieben hatte, die scharf roch, so, dass sie husten musste. Die Stühle, die um den Tisch standen, hat sie auf die Straße gestellt, wahrscheinlich sind sie bereits mitgenommen worden und würden zukünftig woanders leben und besessen werden. Sie kann ihre hinausgestellten Stühle von hier nicht sehen. Sie stehen auf der anderen Seite des Hauses, die zur Straße zeigt. Das ist gut, sie hätten womöglich Erinnerungen geweckt. So kann sie auch nicht auf ihre eigenen Stühle fallen. Und wenn es so wäre, würde sie das noch spüren? Würde sie womöglich auf ihnen tot zu sitzen kommen? Mit Blut, das aus dem Mund ränne und aus ihrem Geschlecht. Zwei Münder.
Wo ist mein Telefon? Es liegt ausgeschaltet in der Tischschublade. Ich könnte es hinunterwerfen und die Sekunden bis zum Aufprall zählen, zuhören, wie es zerschellt. Sachen aus dem Fenster schmeißen, Sachen kaputtmachen, das muss befriedigend sein, baut Aggressionen ab. Aggressive Handlungen bauen Aggressionen ab. Ist das nicht widersprüchlich? Er konnte gut Sachen werfen: Fernseher, Staubsauger, Schlüsselbund, Telefon. Einmal war er wie Rumpelstilzchen herumgesprungen, bis sich unter seinen 45er Schuhen der Boden von der Wand ablöste. Es war beeindruckend und furchteinflößend. War das Verzweiflung? Jetzt, in diesem Moment, wäre sie auch dazu in der Lage, würde sich trauen zu werfen, zu zerschlagen, einzutreten, zuzuknallen, würde nicht an das anschließende Aufräumen denken oder die Reparatur, dass das Telefon gesperrt werden muss oder es unangenehm ist, einen Staubsauger in eine Million Einzelteile zu zerschlagen, da ein Staubsauger, wie der Name schon sagt, Staub in sich trägt, der sich im Universum verteilt, wenn das Gerät zerbombt wird. Im Hier und Jetzt würde sie sich trauen, ohne Gedanken an die Folgen, etwas hinunterzuwerfen und riskieren, dass es final kaputtginge weil diese Situation die finale sein soll, so dachte sie zumindest, so dass sowieso kein neues Telefon erworben werden müsste. Allerdings realisiert sie nun, dass sie sich final nicht traut, sich selbst zu werfen, da es sicher ist, dass der Körper davon kaputtgeht Zerschellt. Offensichtlich ist sie keine Selbstmörderin.
Zehen frieren, spürt sie nicht mehr.
Sie wäre gern noch mal geboren worden in diesem Moment. Mit, sagen wir mal, 32 Jahren käme sie auf die Welt. Das Leben begänne mit einer Geburtstagsparty, wie das eben so ist, am Geburts-Tag, und sie würde, kaum geschlüpft, feiern, tanzen, trinken, küssen, jemanden aus einer anderen Generation kennenlernen, super. Und dann?
Sie macht sich selbst einen Vorwurf, da sie sich dieser gewagten, unsinnstiftenden Vorstellung hingibt, und schüttelt reuevoll vor ihrer eigenen Anklage den Kopf, die Haare kitzeln dabei den nackten Rücken. »Verzeihung, das habe ich ja nur mal so gedacht.« »Achso, nur mal so. Ist es das, was du am Ende des Lebens tust, womit du die letzten Sekunden füllst? Nur mal denken, dass du noch mal geboren wirst? Bisschen mehr hätte ich da schon erwartet, Intelligenz oder Präzision jedenfalls.« »Entschuldigung«, entschuldigt sie sich bei sich selbst. Es war so, dass sie sich andauernd entschuldigte und wünschte, sie würde vorher wissen, wofür sie sich nachher entschuldigen müsste.
»Du bist nicht Wasser, du bist Benzin auf mein Feuer«, hatte er, Schütze, zu ihr, Fisch, gesagt. Er könnte sie aufspießen mit der astrologischen Armbrust, doch sie hatte keine Ahnung von Sternzeichen und kam auch mit deren Piktogrammen durcheinander, dennoch mochte er recht haben, denn er war schnell entflammbar auf eine unaufgeregte Weise. Sein Feuer loderte nicht, es blieb konstant, wie das wohltemperierte Klavier. War sie es gewesen, die die Explosion, die ihre Liebe verbrannte, verursacht hatte? War sie verantwortlich und schuld? Vergib uns unsere Schuld. Warte, woher kam der Funke?
Es war nicht die Liebe, die verschwunden war, er war verschwunden, ihre Liebe zu ihm gab es noch, nur er war herausgetreten aus dem Duo, mit einem visuellen Effekt, hatte sich rausgepixelt, war aus dem Foto verschwunden, eben noch zu zweit zu sehen, nun allein, das Arrangement des Fotos blieb dabei unverändert, jetzt mit Leerstelle. Nicht verbrannt, verschwunden. Es war anstrengend, emotional ermüdend, sie wollte, dass es nicht sei, wie es ist, sondern dass er in ihrem Leben wäre, sie als Paar seien, ein Paar seien und ever happy lebten, wie macht man das nur, und sie wusste nicht mehr weiter, es war alles schiefgelaufen, und das hier auf dem 36er Absatz ist auch falsch. Ich weiß nicht mehr weiter, ich bin so müde, ich möchte schlafen.
Wenn sie sich fallen ließe, schliefe sie für immer. Nur ohne Träume. Ohne die schwarz-weißen apokalyptischen Träume, die wie Graphic Novels ihre Nächte vollmachten. Wie dystopische Drehbücher für Serien. Leere Städte mit abgebrannten Häuserfluchten und großen Bombenkratern in verkohlter Erde, aus denen Kriegskinder krochen mit Tornistern auf dem Rücken. Die Träume, die sie auf leeren Bahnsteigen stehen und darauf warten ließen, dass ein Zug einfuhr mit einem Vater darin. Oder irgendjemandem, den man lieben könnte oder der einen liebte. Ein Fell um die Schultern geschlungen, wie ein Nomade, wartend. Auf die Zuneigung des Vaters, der immer irgendwo war und dem sie nicht vergeben konnte, weil es schwierig ist, jemandem zu vergeben, den man nicht kennt. Und weil man zumeist viel besser verzeihen kann, wenn jemand um Verzeihung bittet.
Die Schuld ist das Thema ihres Lebens, sie hatte sie nicht in den Griff gekriegt. Und darum nun hier diese dramatische Tat als Experiment, um herauszufinden, ob sie eine Selbstmörderin ist. Ist sie nicht.
Doch wie nur kommt sie wieder in die Wohnung zurück?! Angst kriecht ihr ins Gebein. Der Körper wird schwächer und steifer, unbeweglicher. Wahrscheinlich stürze ich während des In-meine-Wohnung-Zurückkletterns ab, und dann ist es kein Selbstmord, sondern ein Unfall. Das weiß dann aber keiner, und sprechen kann ich nicht mehr, kann nichts erklären und aufklären, mich erklären, um Verständnis zu erhalten. Werde als verunfallt betrachtet, sitze oder liege nackt in einer unvorteilhaften Position, in der meine Brüste nicht gut sitzen oder eine Fettrolle sichtbar wird, blute vor mich hin, und alle denken: Ogott, sie hat sich umgebracht, sie war wohl randvoll mit Drogen oder depressiv.
Die Wahrheit ist, dass sie zwar lebensmüde ist, aber zu mutlos, um es zu beenden, weil man dafür so viel Kraft benötigt oder so dermaßen am Ende seiner attestierten Depression sein muss, dass man auch kraftlos und unvorbereitet aus dem Leben gehen kann. Unvorbereitet? Man kann nicht unvorbereitet dieses eine einzige Leben beenden. Es verlangt Organisation und Ideenreichtum und tatsächliche Vorbereitung. Eine Entscheidung über das Wie. Erhängen, erschießen, aufschneiden, runterspringen, Tabletten, Überdosis, Sterbehilfe.
Das hier ist alles Unsinn, ich muss hier weg, ich bin noch nicht so weit, ich habe Angst. Solange ich Angst habe, ist da ja noch ein Gefühl. Vielleicht sollte ich schwanger werden, kann ich noch schwanger werden? Von wem. Hätte Eier einfrieren sollen. Vergessen. Adoption. Ein Kind als Rettung? Fatal. Ich verkaufe alles und verlasse dieses trostlose Klima, das ihr im Winter immer wie ein kriminelles Delikt vorkam, derart graues Wetter sollte nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sein.
Ich muss den Versuch sofort abbrechen.
Ich muss den Versuch sofort abbrechen, denn vielleicht gibt es die Chance auf eine neue Liebe oder auf das Ende der Schuld. Schulden hatte sie nicht. Nicht mehr. Die Sprache des Kapitalismus: Schuld und Schulden. Schulden waren moralisch betrachtet, laut deutscher Sprache, unehrenhaft, im Englischen hieß es guilt und debt, und es gab keine sprachliche Verwandtschaft. Kann man da Rückschlüsse auf eine nationale oder kulturelle Mentalität ziehen?
Unten fahren Sirenen vorbei. Ogott, wollen die etwa zu mir? Hat mich jemand gesehen? Die Frettchenfrau? Feuerwehrsirenen. Keine schöne Frequenz, kein schöner Ton, was sind das überhaupt für Töne. A–D? Sechs Halbtöne. Könnte auch die Polizei sein, sie benutzen denselben Jingle. Polizei kommt oft vor in ihrem Viertel. Vielleicht hat die Frettchenfrau die Schlangen freigelassen, und die Polizei kommt sie einfangen und nimmt die Frau gleich mit. Oder die Feuerwehrmänner löschen einen Späti, der durch einen Feuerwerkskörper in Brand gesetzt wurde. Oder ein Krankenwagen holt eine Schwangere, deren Hausgeburt schiefgegangen ist, ab. Oder will mich etwa jemand retten. Ich kann mich nicht bewegen. Die Beine. Ich gehe rein, beende die Session. Ich habe etwas begriffen. Was?
Die Sirenen verlieren sich, und sie beginnt zu weinen, denn es gibt offensichtlich niemanden, der sie retten will. Sie tut sich selbst leid, sie fühlt sich so schrecklich einsam und verlassen. Sie hebt ihr Bein und will es zurück in den offenen Fensterrahmen stellen, aber das Bein macht nicht mit.
In dem Moment schaltet sich der Mond ein.
»Was hat man dir amputiert?«, fragt er.
»Wiebitte?«
»Du meintest, dass dir etwas amputiert wurde, etwas in dir. Was war es, das amputiert wurde?«
Jetzt bin ich verrückt geworden. Scheiße, ich muss zurück. Ich muss eine rauchen und in die Wanne. Das sind sehr schöne Dinge, Zigarette und Badewanne.
»Ich bin’s«, sagt der Mond mit den schlechten Augen.
»Jaja«, sagt sie. »Ich auch.«
»Nein, im Ernst, bevor du gehst, interessiert mich deine Amputation.«
»Die Freude«, sagt sie.
»Wiebitte?«
»Ist amputiert.«
»Ach.«
»Ja.«
»Diese Sache, die macht, dass man das gut findet, das Leben. Ich mache das, ich kann das auch ganz gut, so dass alle denken, what a happy girl, aber ich fühle mich wie in 3D ausgedruckt.«
»Wollen wir tauschen?«
»Wiebitte?«
»Wollen wir tauschen?«
»Was denn?«
»Die Jobs.«
»Ich weiß doch nicht mal, mit wem ich es hier zu tun habe. Ich sehe niemanden, ich höre nichts, jemand hat sich in meine Gedanken gehackt oder ich bin verrückt geworden, und die Vorstellung, diese 17 Meter runterzufallen, macht mir Angst, denn während des Falls bin ich ja ganz offensichtlich bei Bewusstsein und werde mein Leben noch leben. Bis ich aufschlage. Das war eine Scheißidee.«
»Du bist wütend.«
»Keine Ahnung, ich weiß gerade nicht mal, ob ich noch bin. Vielleicht bin ich ja schon runtergefallen.«
»Bist du nicht.«
»Woher weißt du das.«
»Ich kann sehen. Schlecht, aber immerhin.«
»Kannst du mir reinhelfen?«
»Nein.«
»Was kannst du denn? Wer bist du überhaupt?«
»Mond.«
»Ach.«
»Ich kann leuchten. Und denken.«
»Das ist eine Menge. Ich kann das beides nicht. Wobei, warte, du leuchtest doch gar nicht, du wirst angeleuchtet.«
»Dafür, dass du meinst, nicht denken zu können, denkst du aber eine Menge«, übergeht der Mond ihren naturwissenschaftlichen Einwand geflissentlich.
»Kannst du meine Gedanken hören?«
»Ich habe keine Ohren.«
»Ich verstehe kein Wort, ich muss meine Position verändern, sonst war’s das.«
»Wolltest du denn nicht, dass es das war?«
»Genau das wollte ich ja herausfinden, aber augenscheinlich, habe ich herausgefunden, dass ich zu ängstlich bin. Man hängt am Leben, wenn es zu Ende geht, es sei denn, man ist am Ende, was ich wohl noch nicht bin. Mir fallen Dinge ein, die gut sind.«
»Welche?«
»Badewanne. Tee. Atmen. Sex.«
Ich will nicht so werden. Eine verrückte Alte, die mit sich selbst spricht und irgendwann auf dem Kudamm ein Holzkreuz über den Bürgersteig trägt und über die Nazis schimpft und von Gott erzählt oder wem auch immer.
Ich will meine Würde, ich will Liebe, ich möchte so gern lieben und geliebt werden und keine Angst mehr haben, und das glaubt mir ja auch wieder niemand: »Du?«, lachten Menschen sie besserwisserisch aus und schlugen ihr dabei auf die Schulter, »Ach Quatsch, komm, du hast doch keine Angst!« »Doch«, antwortete sie erst schüchtern und schließlich pampig, »ich habe Angst. Ständig.« Sie machte nur Sachen, vor denen sie Angst hatte. Das machte sie, das war nicht schön, auch wenn es schön ist, seine Angst zu überwinden, weil der Triumph darin liegt, mutig zu sein. Man ist mutig, wenn man etwas tut, vor dem man Angst hat, sie war mutig, stand auf und ging raus, ging auf die Straße, in die Stadt, zu Menschen und Verabredungen, sprach und kommunizierte, tauschte sich aus und hatte eine Meinung und lernte und machte ihren Job, und immer machte sie all das, obwohl sie Angst davor hatte. Irgendwann setzt der Autopilot ein. Man übergeht ja immer sein Gefühl, das wird dann ganz stumpf, oder wie wird das Gefühl?
Andere fahren in einem Gummiboot über das Meer – und sie? Sie steht morgens auf. Sofort fühlt sie sich schuldig, sitzt mit der Schuld, ihrer, im Käfig. Da wird die Angst nicht unbedingt weniger, in so einer Käfigsituation.
Die Schuld. Ist zu einem Tier aus der Welt des Hieronymus Bosch geworden, das frei wählend inner- oder außerhalb des Käfigs spazieren kann, und sie anschaut, dort, wo sie hinter Gittern sitzt, wie ein Papagei.
Blei auf den Bronchien, wie der Sarkophagdeckel in Gizeh. Da war sie gewesen, in der Cheopspyramide, am Sarkophag und hatte in der Ecke der Königskammer gesessen, allein mit dem ägyptischen Angestellten, dem sie Bakschisch gegeben hatte, damit er sie in der Mittagspause, in der die Pyramide von Touristen befreit wurde, um sich von dem feuchten Atem der internationalen Menschheit zu erholen, hochführen möge. Er saß am Eingang der Königskammer, und sie lehnte an der Stelle des goldenen Schnitts an einer Mauer, und aus ihr heraus kamen viertausend Jahre alte Töne einer sehr tiefen Stimme, die nicht ihre sein konnte und es dennoch war. Ein Moment, in dem die Zeit, die ja anscheinend von Menschen erfunden wurde, sich aufhob. Es ist die Liebe und das Wunder, wonach ich mich sehne, ohne die ich nicht leben möchte. Nenn es Liebe oder Wunder, die Außergewöhnlichkeit jedenfalls, damit das Leben gespürt wird. Auch wenn hinlänglich gesagt wird, man brauche den Rhythmus, die Regelmäßigkeit, das Mediokre, nur damit könne man irgendeinen Blumentopf gewinnen. Das Erlebnis in der Pyramide mit einem Menschen, der ihr völlig fremd war, hatte sie als ein wunderliches Ereignis jenseits des Gewohnten erlebt, das er, der Angestellte, seinem Verhalten nach, jedoch als nicht außergewöhnlich empfand, weil er vielleicht an Wunder gewöhnt war. Sie hatten sich wie Brüder verabschiedet.
Meine Füße! Ich kann nicht mehr auf den Zehen stehen, ich muss mich umdrehen. Sie dreht sich um – und fällt. Fällt hinab, 17 Meter, mit dem Arsch zuerst, wie bei einer Steißgeburt, der Wind ist kalt, laut rauscht es in den Ohren, der Körper füllt sich mit chemischen Stoffen, Adrenalin. Sie fällt und fällt, immer weiter, durch die Erddecke hindurch, die ist ganz weich, immer weiter, bis es leiser wird und die Kälte aufhört und der Körper zu einem Ball wird. »Oh, ist das schön, das ist so schön …«
»Ja«, sagt der Mond, das stimmt. »Aber auch das wird Gewohnheit, wenn man es nur oft genug macht. Am Ende werden wir alle zu Bällen. Ich bin auch einer. Es sei denn, man glaubt an die Sache mit der Scheibe.«
»Warte mal, bin ich nicht gerade runtergefallen?«
»Theoretisch schon.«
»Aber ich habe es doch gefühlt.«
»Achja, der Mensch und seine Gefühle.«
»Achso.«
»Na also.«
»Was soll das heißen ›na also‹, was bist du denn für ein Angeber?!«
So, was ist jetzt, Fokus. Die Zehen sind wie abgestorben. Sie stellt die Füße auswärts, wie eine Ballerina, ist angenehm.
Atmen: Vier ein. Acht halten. Vier aus.
Rechnen: 4+8=12+4=16. 1+6=7.
Sieben. Die grüne Zahl. Magisch wohl auch. Vielleicht ist die Sieben so alt wie die Pyramiden, vielleicht gab es die Sieben schon, bevor die Zwei, Drei, Vier, Fünf und Sechs erfunden wurden. Sieben: ein sanftes deutsches Wort. Sieben ist auch ein Verb: Ich siebe Gold. Sie hatte noch niemals Gold gesiebt, nur Sand in der Sandkiste. Sandmehl mit kleinen Steinchen, die von ihr konzentriert und freudig herausgesiebt wurden. Der warme Sand der Kindheitssommer. Sie mochte es, beide Hände in den gesiebten Sand hineinzuschieben oder ihn über ihre nackten Oberschenkel rieseln zu lassen, bis sich Hügellandschaften auf ihrer Haut ergaben, wie Dünen in der Wüste im Zwergenformat, mit klaren Kanten, die nach unten wegrutschten, wenn sie ihre Beine bewegte. Wenn sie weitergrub, kam kalter, nasser Sand. Der war unfreundlich, nicht sanft und verspielt, der nasse Sand war rau und lauerte unter der warmen weichen Decke, wurde, je tiefer sie grub, dunkler und bedrohlicher. Er kannte keine Sieben Die kannte nur den Märchensand, der golden war, wie die Haare von Rapunzel, die sich kämmte und langes Haar hatte, aber ganz allein im Turm lebte und nur ein Fenster hatte, aber keine Leiter. So wie sie. Sie war zu Rapunzel geworden, nur mit kürzeren Haaren und ohne Kamm. Sie hatte versucht, dem Turm zu entfliehen, aus dem Fenster zu steigen, aber da war kein Fahrstuhl, kein Treppenhaus, keine angelehnte Leiter über 17 Meter und fünf Stockwerke hinweg, da war auch kein Prinz mit Pferd oder goldener Sand, den man anhäufen könnte, bis zum Dachfirst, wie man es angeblich für den Bau der Pyramiden gemacht hatte, so dass sie über den Sand hätte herabrollen können, bis vor die Füße ihrer hinausgestellten Stühle auf der anderen Hausseite oder Richtung Friedhof zu den Toten.
Mond: »Ich könnte dir etwas vorsingen, wenn ich könnte.«
Sie: »Nee, bitte keine Musik jetzt.«
Platz! Ich brauche Platz, im Hirn, auf diesem Absatz, in meinem Leben, weil man das eben so sagt: Ich brauche Platz in meinem Leben. Der Satz ist eine Schablone, man weiß nicht, was er bedeuten soll. Sinnlose Worte, die, wie zu lang laufendes Wasser, unnötig verbraucht werden.
Es gab genug Platz für sie beide, und nicht nur in diesem Moment hätte sie ihn gern hinter sich stehen gehabt, der ihr in den Schritt griffe. So wie er es manchmal nach einem Konzert in der Garderobe getan hatte, während sie ihre durchgeschwitzten Klamotten auszog, Gefahr laufend, dass jemand aus der Band hereinplatzt oder der Veranstalter, denn abschließen geht nicht im Rock ’n’ Roll. Sie liebte es, wenn er in ihr war, sie konnten zusammengesteckt laufen wie ein Tier mit vier Beinen.
Sie denkt, dass sie gleich kotzen muss, weil der Kummer ihren Magen umdreht. Wo soll ich denn hinkotzen, um Himmels willen, hier oben?! Jetzt bloß keine Panikattacke bekommen, kein guter Moment.
»Was ist ein guter Moment für eine Panikattacke?«
»Ach, du schon wieder. Wie alt bist du?«
»Kinderfrage.«
»Na und?«
»Ich weiß es nicht, es ist egal, wenn es kein Ende gibt.«
Kein Ende. Von wegen. Dies hier ist der Moment vor dem Ende. Wenn man das Ende doch nur üben könnte, um zu entscheiden, ob man das wirklich will.
Fragt einen ja auch keiner, ob man leben will und wo. Oder wann. Man fängt einfach an, und bis man rausgekriegt hat, wie das geht, diese Leberei, verschwendet man eine ganze Menge Zeit. Lebenszeit. Und dann: Rien ne va plus.
So, was ist jetzt. Vielleicht besser morgen? Ich mag hier nicht mehr sein, es ist schon zu lang, der Impuls ist weg, ich geh wieder rein, in meine gemütliche Wohnung, die gemütlich ist, wenn ich nur will und nicht daran denke, wie es war, als sie zu zweit gemütlich war. Allein geht auch, dann eben mit Wärmflasche. Auch eine gute Sache, wie die Wanne. Ich geh rein und mach mir eine Pulle und einen Tee.
Ich geh rein, es hat keinen Sinn. Sie zieht sich mit den Händen am Holm, der die Fenster in zwei Hälften teilt, hoch, dreht sich entschieden auf dem Sims um, was gelingt, schaut nun in Richtung des parkähnlichen Friedhofs.
Die Arme steckt sie rechts und links durch den Fensterrahmen, Jesuspose, und hakt die Finger fest, wodurch ihre Oberarme fast aus den Schultergelenken herausgedreht werden. Wenn es ein Morgen gibt, wird sie Muskelkater haben. Kann man zum Orthopäden gehen, der macht das schon.
Diese Position nun ist eine komplett andere Situation und Körperhaltung; anderes, neues Konzept und Gefühl, in diese Richtung zu stehen und zu sehen, frei, ungeschützt und offen mit Bauch, Brust, Gesicht und Augen in den Weltraum zu blicken. Ah, da ist der Mond. Die 180-Grad-Drehung war somit ein kleiner Erfolg, könnte man sagen, bloß nicht runtergucken, hinten an den Oberschenkeln zieht es sich schon zusammen. Die Füße durchbluten und kribbeln, sie leben sozusagen. Wenn etwas weh tut, ist es wohl ein Zeichen dafür, dass man lebt. Ihr tut alles weh, sie ist somit sehr lebendig. Vor allem fühlen tut weh, das kann man aber orthopädisch nicht behandeln.
»HILFEEEE!«, schreit sie übergangslos.
Das Wort hallt in der Nacht über den Friedhof. Keiner antwortet, kein Echo. Nix. Nur das Ende der Welt. Vielleicht sind alle Menschen evakuiert worden oder tot. Die Toten des Friedhofs sind es, die mir im letzten Stündlein Gesellschaft leisten. Immerhin. Könnte ich fliegen, könnte ich direkt in mein Grab fliegen, falls hier noch Platz ist für ein weiteres, aber wer weiß, vielleicht ist der Friedhof völlig ausgebucht. Und fliegen kann ich auch nicht. Nur fallen.
Flugträume waren die schönsten. Fliegen ist besser als fallen, fliegen ist eine Absicht, fallen ein Irrtum. Ein Unfall. Der Selbstmord als Unfall. Dumm gelaufen. Dass man immer will, dass alle genau begreifen, verstehen, nachvollziehen sollen, was man meint. Die Abhängigkeit von der Gunst der anderen, das macht einen fertig.
Ihre Angst vor Konzerten, vor der Blamage, vor dem Versagen, vor der Nicht-Anerkennung, dem Buh oder Eiern. Der schlimmste Traum dazu ging so:
Sie spielte mit der Band in einer Kapelle. Der Altarraum war die Bühne. Der Saal war gekachelt und voll besetzt. Sie stand an der Bühnenrampe vor einem Standmikrophon mit Kabel. Während der Show wurde das Kabel immer kürzer, bis es sie schließlich von der Bühne herabzog. Das Publikum rief Beleidigungen, warf Dinge, pöbelte und verließ nach und nach den Saal, derweil sie gedemütigt mit dem Mikro kämpfte. Die gekachelte Kapelle verwandelte sich in eine Bahnhofstoilette, und sie stand mit einem Penis statt des Mikros, der ihr aus dem Bauchnabel herausgewachsen war, vor einem Urinal, in das sie schließlich hineingesogen wurde, bis in die Kanalisation hinein – und sie erwachte, weil sie nach Luft schnappte.
So wie sie jetzt nach Luft schnappt. Das Herz klopft arhythmisch, und etwas sitzt auf ihrer Lunge, formt sich zu einem Ball aus Fetzen, eine Verstopfung der ungesagten Worte, die sie ersticken, das Schweigen, dass sie erstickte. Schweigen ist wie nackt sein vielleicht.
Die Hoffnung war, dass sich alles zurechtschweigen würde. Tat es aber nicht. Die ungesagten Worte nahmen immer mehr Platz in ihrer Beziehung ein, es wurde eng in ihr. Sie hätte die Beklommenheit in Form des Balls gern ausgespuckt, aber er war in ihr festgewachsen, wie ein Krebsgeschwür.
Ich stecke zwischen zwei Zeiten. Dem Vorhin und dem Nachher. Und ich weiß nicht, auf welcher Seite ich sein möchte, wenn das nur jemand für mich lösen würde. Wenn der Schmerz nur aufhörte, die Ohnmacht, das Gefühl des Abgeschnitten-worden-Seins, der Verlust, der Kummer, die Verlorenheit, die Trauer um die jetzt ehemalige Liebe und nur vermeintliche Verbundenheit. Und nichts, nichts konnte sie mehr ändern, verbessern, rückgängig machen, so war es jetzt, und sie meinte, daran zu Grunde zu gehen und wollte zu Grunde gehen und wagte es nicht.
Der Mensch, nach dem sie sich so sehr sehnte, nach seiner Liebe, seiner Berührung, nach seinem Körper, seiner Lust, nach schönen Zeiten, dem gemeinsamen Aufstehen und durch den Tag gehen, die Sehnsucht nach einem Lächeln, das ihr gilt, den Küssen, Gesprächen oder ihrer Hand in seiner, dieser Mensch, der Mann, er wollte das nicht mehr, weil. Sie sagte zu viel, wollte zu viel, war zu viel. War nicht mehr richtig, sondern falsch. Ein Irrtum. Er hatte sie für sich ausgeknipst, und sie leuchtete weiter, aber nicht mehr für ihn. Er hatte sie ausgemacht. Sie leuchtete, aber in ihr war dunkel. Sie war immer weniger geworden, und nun war sie zu wenig, um sich fallen zu lassen, zu wenig Mut zum Fallen, zu wenig Muskeln zum Zurück-in-die-Wohnung. Eine Scheiße.
Wie lange kann man stehen, bis die Beine versagen, wann sieht mich jemand, wann geht die Sonne auf?
»Das kann ich dir sagen, meine Schicht endet um 5.34.«
»Im Ernst? So amtlich seid ihr Himmelskörper?«
»Nun ja, das ist Naturwissenschaft.«
Einatmen.
»Ich fühl mich nicht gut.«
»Das nehme ich an, sonst stündest du da nicht.«
»Ich fühl mich schon lange nicht mehr gut.«
»Warum bist du nackt?«
»Du bist auch nackt.«
Wenn die Angst nicht wäre. Oder der Umstand, dass sie sich, also ihr psychisches oder spirituelles und vor allem emotionales Selbst nicht ausziehen, nicht von sich befreien und trennen konnte. Wenn man einfach so tun könnte als ob. Gut, das tat sie ja schon ständig, aber das Gefühl zog da nicht mit. Innerlich war sie wie zementiert. Nicht, weil sie nichts fühlte, sondern weil sie nichts mehr fühlen wollte.
Für die Seelen der Pharaonen wurden kleine Öffnungen in den Pyramiden eingeplant, so dass sie hinausfliegen konnten, wenn sie so weit waren, und erst dann wurde der Bau von außen fachgerecht und luftdicht verschlossen. Der mumifizierte Körper blieb drin, die Seele war frei, durfte oder musste fliegen. Zum Mond oder anderem Gestirn. So eine Öffnung bräuchte sie auch. Nicht für die Seele, sondern für den sie lähmenden und alles verschlingenden Schmerz. Der flöge dann aus ihr raus, sie machte von außen den Deckel drauf, so dass er nicht wieder zurückkäme, und fertig ist die Laube.
»Seelen kommen nicht zu mir.«
»Weil du zu unzuverlässig bist in deiner Form?«
»Es ist sehr schade, dass ich als körperloser Kopf nicht mit demselben wackeln kann, das muss ich dir sagen, sonst würde ich es jetzt tun.«
»Entschuldigung. Das war dumm. Das liegt an den vielen Märchen und Kinderbüchern. Seelen, Raben, Mondsichel undsoweiter. Der Mond ist immer da, wenn es dramatisch wird. Jetzt ja auch, wenn wir mal ehrlich sind.«
»Seelen lösen sich auf. Sie werden durch O2 gespalten.«
»Sauerstoff.«