Zeit der Zäune - Katja Riemann - E-Book

Zeit der Zäune E-Book

Katja Riemann

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Beschreibung

»Zeit der Zäune« erzählt von Orten der Flucht, zu denen Katja Riemann allein und ohne ein Team an ihrer Seite reiste. Wo sind diese Orte und wie leben Menschen im Interim? Sie geht der Frage nach, ob Menschen in offiziellen Camps, inoffiziellen Dschungeln, im Warten und der Ungewissheit erfinderisch sind und gestaltend. Und begegnete erstaunlichen Personen und Situationen. Sie begleitete vor Ort die Projekte von Filmschaffenden, Theaterleuten, Traumatologinnen, Ärzten, Köchen und vielen anderen und schreibt einfühlsam mit dem Blick für Details über deren Ideen und Herausforderungen. Die Menschen sind schon immer gewandert - und die Ankunft ist wohl das Schwerste.

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Seitenzahl: 587

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Katja Riemann

Zeit der Zäune

Orte der Flucht

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Zeit der Zäune« erzählt von Orten der Flucht, zu denen Katja Riemann reiste. Wo sind diese Orte und wie leben Menschen im Interim? Sie geht der Frage nach, ob Menschen in den Camps, im Warten, in der Ungewissheit erfinderisch sind und gestaltend. Und begegnete erstaunlichen Personen und Situationen.

 

Einfühlsam und mit dem Blick für Details erzählt sie von Geflüchtetenlagern auf Lesbos und in Jordanien, erzählt, was in Calais passierte, nachdem der Dschungel zerstört wurde, besucht die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, begleitet Ärzte durch die Nacht an der bosnisch-kroatischen Grenze und Traumatologen in die nordirakischen Camps der Jesiden.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Katja Riemann ist eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Sie ist seit 2000 UNICEF-Botschafterin, unterstützt unter anderem »Plan International« und »amnesty international« und setzt sich ein für eine offene Gesellschaft und Menschenrechte, besonders für die von Mädchen und Frauen. Für ihr Engagement erhielt sie 2010 das Bundesverdienstkreuz am Band und 2016 den Bad Iburger Courage-Preis. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt erschienen »Jeder hat. Niemand darf. Projektreisen« (2020).

Inhalt

[Widmung]

Vorweg

Dinner in der Nachbarschaft

1 Photo, 1 Story

Gespräch mit Teresa Koloma Beck

ReFOCUS Media Labs

AND HERE WE [...]

Pikpa

Lipa

Squads

Athena, Göttin des Kampfes

Ein Garten in Sharya

An den Zäunen

[An den Zäunen]

[An den Zäunen: Malaga]

[An den Zäunen: Ceuta]

[An den Zäunen: Nador]

Les fleurs

Les femmes africaines

[An den Zäunen: Melilla]

[An den Zäunen: Beni Ensar]

Gespräch mit Inigo Valdenebro

Dancing Bells

Der berühmteste Flüchtling der Welt

Mobilmachung

Bergsteiger und Esoteriker

McLeod Ganj

Rangzen, Freiheit

Pah-Lak

Tushita

Premiere

Post Scriptum

Schauspiel-Workshop

Mo

Al-’Urdunn

Gespräch mit Katharina Lumpp

Liebe Mama!

Fly with me

Die Hochzeit

Dankeschön

Für meine Tochter

Vorweg

Den Bildern, die von oben herab auf Geflüchtetenlager aufgenommen werden, über Reihen weißer UNHCR-Zelte hinwegfliegend, durch die eine Distanz hergestellt und kein Gefühl für die dort Lebenden entwickelt wird, möchte ich eine Alternative anbieten. Denn es ist wohl komplizierter, differenzierter und vulnerabler, als man es wünschte.

Ich verstehe, dass gefragt wird: Wer spricht, bzw. wer darf sprechen? Wer hat eine Stimme und wird sie gehört? Ich sehe mich als Botschafterin, als Schallverstärker und spreche mit Menschen statt über sie. Erzähle von Landschaften, Lagern und Lebenssituationen, von denen ich auf all meinen Reisen lernte, und jede Reise hatte ein anderes Thema, jedes Mal bin ich zu anderen Personen oder Organisationen gefahren.

Fast drei Jahre bin ich immer wieder losgefahren, währenddessen ist viel passiert, was ich partiell inkludierte, um Bezüge, auch geschichtliche, herzustellen.

Ein Merkmal, überall, waren die Zäune, vor denen sich Menschen wiederfanden. Zäune, die wie große Metallgebisse in der Landschaft stehen und Schönheit und Lebendigkeit verschlingen. Und manchmal die Menschen fressen. Ich habe sie beschrieben, in einer Zeit, die in Bilderflut ertrinkt. Worte sind langsamer als Bilder, sie lassen das eigene Bild entstehen, das sich in der jeweiligen Vorstellung verpersönlicht und so im besten Fall einen emotionalen Bezug herstellt.

Ich erzähle von Personen, die auch in den Zeiten der Not, oder vielleicht gerade dann besonders intensiv, gestalten. Die Zeit bleibt nicht stehen, auch hinter Zäunen nicht, auch in Zeiten der Flucht nicht.

Und richtig, hier geht es nicht um die vollständige Abbildung aller existierenden Geflüchtetenlager oder um ein Angebot politischer Rat- und Lösungsvorschläge für deutsche oder EU-Politik zum Thema der sogenannten Flüchtlingskrise, nein, es sind keine Texte über das Ankommen, sondern über das Interim.

Ich bin an Schmerzpunkte der Welt gefahren. Allein. Ohne ein Team an meiner Seite oder zu Hause in Berlin. Ohne eine Organisation, Institution oder Redaktion im Rücken, die mir die Wirbelsäule stärken würde.

Vor Ort war ich jedoch niemals allein. Dort waren Menschen, die sich Zeit nahmen, mich herzlich empfingen, mir ihre Arbeit erläuterten, von denen ich lernte und die ich für eine Weile nah begleiten durfte. Sie waren Teil internationaler Nichtregierungsorganisationen oder lokaler Vereine, waren einzelne Personen, Künstler.innen, Filmschaffende, Theaterleute, Schriftsteller, Lehrerinnen, Traumatolog*innen, Ärzte, Humanitäre, Aktivistinnen, Volontäre, Jesuiten, Buddhisten, Fliehende oder ehemalige Flüchtlinge.

Nur jene, die sowieso in der Öffentlichkeit stehen, nenne ich bei ihrem Klarnamen, allen anderen habe ich einen anderen Vornamen gegeben, aus Respekts- und Sicherheitsgründen. Doch sie sind nicht erfunden, es gibt sie, sie leben. Sie haben überlebt.

 

Katja Riemann, November 2023.

 

 

PS: Ich verwende im Folgenden sowohl das generische Femininum als auch das generische Maskulinum als auch den Genderstern oder -punkt. Und immer sind alle mitgemeint. Auch Sie. Und du.

Dinner in der Nachbarschaft

Es war mein erster Tag in Moria. Der erste Tag auf der Insel Lesbos, auf der ich am 15. August 2020 mit der Fähre aus Chios ankam. Drei Stunden auf einem schwimmenden Riesengefährt aus Eisen, das an allen Ecken und Enden krachte und wo am Eingang dicke bewegliche Eisenplatten mit Nieten übereinander lagen, um Autos und auch Fußgänger wie mich ins Innere zu leiten. Die Augustsonne brannte und potenzierte sich in der Hitze des Metalls. Ich hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen, trug Sonnenbrille, Ohrringe und Corona-Schutzmaske. Die Ohren waren kurz davor, unter den Requisiten, mit denen sie behängt waren, zu kollabieren.

Aufs Deck! Vorn über dem Bug sitzen wollte ich, dort, wo die Ägäis sich dunkelblau vor aller Passagiere Augen wie ein Wunder ausbreitete. Mein Kindheitstraum, als Mädchen aus dem Norden, war, blinde Passagierin auf einem Frachtschiff zu sein. Das Ziel: Afrika. Was wusste ich von Afrika, die Vorstellungen einer Fünfjährigen über den Kontinent waren verschwommen. Ich dachte, wenn sie mich erst auf hoher See erwischen, die Matrosen mit blauen Mützen auf dem Kopf und verwischenden Anker-Tätowierungen auf den Armen, dann würden sie es nicht übers Herz bringen, ein so kleines Kind ins Wasser zu werfen. Ich könnte mich nützlich machen, das Deck schrubben, das geht schon irgendwie mit den noch nicht fertig ausgewachsenen Händen. Niemals träumte ich von einer Yacht, einem Segelboot oder einem Passagierschiff. Es musste das nach Schweröl riechende Eisenschiff sein, das mit den übereinandergestapelten Containern, in denen geheimnisvolle unbekannte Fracht geladen war, Gewürze, Tee oder aufgeschüttete Haufen dunklen Kies. Der Traum hat sich nicht erfüllt, ich wusste nicht, wo so ein Schiff zu finden sei, aber Autofähren kamen immer nah an die Vorstellung heran, so wie diese, auch wenn die Destination Lesbos hieß und nicht Gambia.

Drei Stunden Wasser, Sonne, Bewegung, Weitsicht. Unterwegs ins Unbekannte. Statt Erwartungshaltungen trug ich offene Räume in mir, die gefüllt werden wollten, wie leere Festplatten. (Ein paar Tage später war die Festplatte bereits voll.) Auf dieser Insel wollte ich nun acht Tage bleiben, um über drei Geflüchtetenlager vor Ort zu lernen und anschließend nach Athen zu MSF und UNHCR zu fahren und von dort zurück nach Berlin. Ich blieb vier Wochen.

Wir schwammen in den Hafen von Mytilini ein und Nik, meine Kontaktperson von »Mission Lifeline«, holte mich freundlicherweise ab. Es wäre nicht nötig gewesen, meine Unterkunft war gleich ums Eck, doch abgeholt zu werden an einem Ort, der unbekannt ist, das ist top. Wie erkennt man jemanden, den man nicht kennt? Es war eindeutig: Da stand einer und wartete auf mich, fertig. Umarmung.

Nachdem wir eine halbe Stunde zur Besprechung in einem Café gesessen hatten, unter einer Decke aus wuchernden knallgrünen Schlingpflanzen, in denen eine Grille metallene Geräusche machte, die den Lautstärkepegel der 2000-Tonnen-Eisenfähre bei weitem übertrumpfte, sagte er: »Wollen wir los?«

»Wohin?«

»Nach Moria?!«

Nik ist aus Kiel, war zum ersten Mal im humanitären Einsatz und kannte Moria inzwischen wie seine Westentasche.

Wir fuhren los zum bekanntesten Geflüchtetencamp Europas. Auf der staubigen Straße, vor dem Eingang des Camps, empfing uns Niks Kumpel Yaser. Ein afghanischer sechzehnjähriger Junge in knielangen, modisch zerrissenen Jeans und einem dunklen T-Shirt. Offensichtlich ein Überflieger in akademischen Angelegenheiten.

Sein Englisch war flüssig und eloquent.

»Woher sprichst du so gut Englisch?«

»I watch movies. Every night. I want to become a film director.« (Ich schaue jede Nacht Filme. Ich möchte Filmregisseur werden.)

Nik, Yaser und ich gehen durch den Eingang des Camps einen steil ansteigenden, gerölligen Weg hinauf. Hinein in den Dschungel, der keinerlei Überschneidungsmenge mit der grünen fruchtbaren Vorstellung zu diesem Wort hat, bei dem manche an Lianen und Tarzan denken mögen. Nik grüßt jeden dritten Menschen, alle grüßen zurück, lächeln, sehen mich freundlich an, nehmen mir das Unwohlsein, hierhergekommen zu sein.

»Mit wem fährst du denn nach Griechenland?«, war ich vor meiner Abreise gefragt worden.

»Ich fahr’ allein.«

»Was?!«

»Vor Ort sind Menschen, mit denen ich unbekannterweise verabredet bin, die mir Projekte zeigen und von denen ich lernen kann.«

»Oha, pass bloß gut auf dich auf.«

»Mach’ ich«, antwortete ich, ohne eine genaue Vorstellung zu haben, was das heißen soll und wie man das eigentlich macht. Wie nur passen die Menschen auf sich auf, die ihr Zuhause und ihre Heimat verlassen mussten?

Moria liegt am Hang. Das Gelände ist fast baumlos. Im Winter regnet es viel, dann rutscht alles runter.

Das offizielle Camp, »Registration and Identification Service Center«, kurz RIC genannt, wird vom inoffiziellen Dschungel umschlossen. Er wuchert in alle Richtungen in die Berge hinein. Die Konstruktionen, in denen die Menschen leben, sind selbst gebaut, das Baumaterial dafür muss man kaufen, je nach Auftragslage erhöhen sich die Preise. Aus Paletten wird ein Hüttenboden errichtet, als Fundament, darauf werden diverse Planen und schließlich graue Decken von UNHCR genagelt. Zwischen Nagel und Decke wird ein rundes, zumeist blaues Plastikdings von circa drei Zentimetern Durchmesser geklemmt, platt geschlagene Verschlüsse von Wasserflaschen. So rutschen die Nägel nicht irgendwann durch die Decken durch. Darauf muss man erst mal kommen. In Hochzeiten kostete eine Palette fünf Euro, derzeit sind sie günstiger, weil kaum mehr Menschen kommen und viele auf das Festland transferierten. Die Zahl der Bewohner Morias ist von über 20000 auf 13000 gesunken.

Wir gehen am Bottleriver vorbei, ein Fluss ohne Wasser, dafür mit staubigen, leeren Plastikflaschen gefüllt – ohne Schraubverschlüsse!

Es gab eine Aktion im Camp, bei der man für zehn leere Plastikflaschen eine volle gekühlte Wasserflasche erhielt. Vornehmlich die Kinder des Camps wetzten also herum, um Plastikflaschen aufzusammeln und in Säcken, die dafür verteilt wurden, zum point of sale zu bringen. Eine Win-win-Situation, da auf diese Weise das Camp von herumliegendem Plastikmüll befreit wurde, die Kinder Wasser erhielten und die Flaschen abtransportiert und recycelt wurden. Bingo.

Auf der anderen Seite des geschändeten Flussbettes liegt das RIC, umschlossen von Zäunen. Viele Zäune gibt es hier, manche bereits verrostet, verfallen, mehrfach hintereinandergestellt, obendrauf in Schlaufen gewickelter glänzender Natodraht mit Klingen oder dunkel verfärbter Stacheldraht oder beides. Eher beides. Das Gebiet war ein Militärgelände, das mit Maschendraht umzäunt war, an manchen Stellen ist er noch zu sehen und heruntergetreten oder Löcher sind hineingewühlt. Für Bewegungsfreiheit und Abkürzungen.

Auch die Bewohner haben um ihre selbst gebauten Dschungelkonstruktionen Zäune gebaut, aus Draht, aus Ästen. Offensichtlich gab es hier einst mehr Bäume, sie wurden als Bau-, Brenn- oder Zaunmaterial verwendet, und so reduzierte sich ihre Zahl drastisch. Manche shacks werden gewerblich verwendet und haben eine Ausladeklappe, darauf liegen zum Beispiel Eier oder Zigaretten zum Verkauf. (Auch einzeln.) Die Lade kann man in die Öffnung hinein hochklappen, dann ist das Häuschen verrammelt. Manche Kioske sind geschlossen, vielleicht ist der Ladenbesitzer jetzt in Athen. Oder in Detention. Oder auf dem Weg, die geschlossene Balkanroute zu Fuß bis nach Frankreich zu laufen, nach Calais, in einen anderen Dschungel hinein. Wobei man auf diesem Weg in Lipa, Bosnien, hängen bleibt, anderes Kapitel.

Wir biegen ein in die Bakerystreet. Hier haben Bäcker ihre Öfen installiert, einer neben dem anderen, so dass der Name der S traße Gebot war. Die Löcher für die Öfen wurden in das harte Geröll hineingeschlagen. Dafür wurden Schaufeln verwendet, und ich wundere mich, wie eine Schaufel diesen unerbittlichen Boden öffnen soll. Mit einem Spaten vielleicht, aber besser wohl einer Hacke, nein? Gibt es aber nicht. Also die Schaufel. Die Öfen sind ungefähr 80 cm tief und im besten Fall mit Ziegeln ausgekleidet, darin brennt ein Feuer. Daneben hocken die Bäcker, die den Teig auf eine runde Form legen, die wie ein kurzes rundes Ärmelbügelbrett aussieht, mit dem der Teig im Feuer an die Innenwand geklebt wird. Kurz danach bereits holen sie das fertig gebackene Brot wieder heraus.

Wodurch sich die verschiedenen Bäcker unterscheiden, habe ich nicht herausbekommen, vielleicht Gewürz oder unterschiedlich viel Salz? Jedenfalls gibt es hier frisch gebackenes Brot, das war mir neu. Aber ich bin sowieso neu, ich weiß nichts. Hier wird versucht, zu überleben und irgendwie Würde zu behalten. Oder Vertrautes beizubehalten. Ein frisches Brot, wie man es von zu Hause kennt, kann dazu beitragen.

Kleine Rinnen sind überall im Boden zu sehen, die über die staubigen, karstigen Pfade laufen, einer kratzt sie mit einem Stock aus, macht uns Platz, so dass wir vorbeigehen können, grüßt. Rinnen für was? Für Wasser? Für Urin? Beides? Für beides. Es ist gefährlich, in der Nacht auf die Toilette zu gehen, nicht nur aus hygienischen Gründen. Der Weg kann noch so kurz sein, für Frauen und Mädchen kann er dramatisch enden. Daher ist eine Rinne zweckdienlich, so dass man im Zelt sitzend in sie hineinpinkeln kann und die Flüssigkeit so abtransportiert wird. Schön ist das nicht.

Wir gehen an einer Reihe Plastikklos vorbei, dem griechischen Äquivalent zu Dixi-Klos. Die Türen stehen offen. Kein Kommentar. Davor durcheinanderwirbelnde leere Plastikflaschen, denn nicht jede Nation ist so auf Klopapier fokussiert wie die, in die ich zufällig hineingeboren wurde.

An der Straße, gleich am Eingang des Camps, stehen Toilettenwagen, die in Isoboxen untergebracht sind, die vergleichbar sind mit Containern, die man von Baustellen kennt. Scheiße und Pisse und schmutziges Wasser rinnen nur so heraus, verfärben sich grün, gelb, braun. Das ganze Ding ist zu Sondermüll geworden, löst sich auf durch zu viel Exkrement, das der Verursacher des Geruchs ist, der einen als Erstes begrüßt, wenn man sich über die Zufahrtsstraße dem Camp nähert. »Fragrance by Moria«, sagt Nik dazu, eine Parfümwerbung zitierend.

Yaser führt uns in seinen hood, seine Nachbarschaft. Hier haben sich vier Familien zusammengetan, deren Konstruktionen sich unter einem Baum, ah, hier steht noch einer, befinden, an den eine kleine Bretterbank genagelt ist. Die vier Konstruktionen sind zu einem gemeinsamen Innenhof hin ausgerichtet, den man durch ein kleines schütteres Türchen neben dem Baum betritt und durch den ein gepflasterter Weg führt. Die Steine dafür haben sie oben vom Hügel geholt und im Boden verankert. Ein Stieg, der in einem schwungvollen Bogen durch den Patio verläuft, von dem aus man in die entsprechenden Unterkünfte gelangt. Es sieht hübsch und professionell aus.

»Wie habt ihr die Steine hierherbekommen?«, frage ich.

»In Plastiktüten«, sagt Yaser und verdreht die Augen, da sein Rücken anschließend im Arsch war, wie er versichert.

Seine Mutter kocht Tee, sein Vater schenkt Wasser aus und erinnert sich, dass Nik beim letzten Besuch ein Milchgetränk namens Mouk gern mochte, bietet es ihm an. Der Vater ist ein dünner sanfter Mann. Er ist Arzt, Doktor der Medizin, und arbeitete wissenschaftlich in einem Labor in Afghanistan, forschte zu Tuberkulose. Jetzt ist er Englischschüler, und ich habe den Eindruck, es läuft nur langsam, das Englisch-Gelerne.

Er geht, wie auch seine vierzehnjährige Tochter, in die Schule »Wave of Hope for the Future«. Außen an die Konstruktion der Schule wurde der Name als Schriftzug aufgemalt, dabei hat man das Wort »Hoffnung« mit blauer Farbe herausgestellt, der Rest ist schwarz. Leider nur blich die blaue Farbe, im Gegensatz zur schwarzen, aus. Nun steht da: »Wave of … for the Future«. Leerstellen kreieren sofort Fragen und Mythen. Was ist es, das man für die Zukunft braucht? Wofür wird man in dieser Schule ausgebildet?

Der Direktor und Initiator der Schule ist Abdal. Ein afghanischer Lehrer, der mit Lehrerkollegen, die er im Camp suchte, fand, zusammentrommelte, die Schule gründete. Drei Klassenräume gibt es, sechs Tage die Woche werden 2400 Schüler.innen von 7.30 Uhr bis 20.00 Uhr unterrichtet. In Englisch, Griechisch, Französisch, Mathe, Kunst. Im schmalen Kunstraum ist viel Buntes und Glitzer zu sehen, auf Bügeln hängen von den Schüler.innen künstlerisch gestaltete T-Shirts. Ich kaufe eins mit einem Wolfskopf darauf, unter dem »Moria« steht, und Emblem und Schrift wirken wie der Merch für eine Punkband. Ich bezahle eine höhere Summe als vorgeschlagen und frage den Kunstlehrer, ob er davon ein bisschen blaue Farbe kaufen könnte, um die Hoffnung zu erneuern. Im Schriftzug der Schule. Er nickt, stimmt zu, ich bin unsicher, ob mein Vorschlag übergriffig war. Vermutlich. Abdul flüstert dem Kunstlehrer etwas zu, und Yaser lacht in sich hinein. Später übersetzt er mir, was der Direktor gesagt hätte: »Sie ist doch nun wirklich nicht die Erste, die das sagt. Wir müssen endlich den Schriftzug erneuern.«

In der Schule der Hoffnung gibt es verschiedene Unterrichts-Levels. Es wird bei Aufnahme ein Test gemacht, um zu entscheiden, in welches Level die jeweilige Person eingestuft wird. Mädchen und Jungs werden gemeinsam unterrichtet, Erwachsene nach Geschlecht getrennt. Die Räume sind klein, stickig und fensterlos, ein zerdepperter Ventilator steht herum und verwirbelt die Wärme nur mehr wie ein Quirl; Kühlung oder Sauerstoff gibt er nicht her. Man sitzt während des Unterrichts am Boden und lernt, um die Hoffnung im Herzen akademisch zu stabilisieren.

Der Eingangsbereich der Zeltschule ist ausgelegt mit Parkett imitierendem PVC. Das Plastikholz wurde am Paletten-Untergrund festgenagelt, was das Zeug hält. Die Reihen eingeschlagener Nagelköpfe sehen aus wie Zähne, die in das PVC beißen. Hinter der Rezeption stehen Bücher in einem Regal, als wäre es eine Wundertüte. Die Bücher vermitteln etwas Kostbares, geistig Reinigendes zwischen all dem Staub, Geröll und der Hitze, unter der Moria wie ein altes Pferd abmagert und zusammenbricht. Doch die Menschen geben nicht auf, sie machen weiter, sie machen immer weiter.

Abdul erläutert uns, während er hinter der Rezeption aus einem Brett steht und wie eine Mischung aus Bibliothekar und Kneipier wirkt, dass er demnächst Computerkurse anbieten möchte, Problem: Wlan. Ich verstehe, dass man sich auf ein langes Interim einstellt, es wird gebaut, organisiert, gedacht, gelesen, gelernt, geplant, erfunden und gegründet. Hier ist eine Gesellschaft vorzufinden, die einen Schnitt durch diverse Berufs- und Bildungshintergründe vorweist. Eine Parallelwelt, eine Stadt, die nicht sein darf. Immer wieder wird von vorn begonnen, wird etwas gebaut, das andere zerstören, da die Zerstörung so herrlich einfach geht und jeder sie, auch ohne Eignungstest und ungeübt, ausführen kann.

Kurze Zeit später, nachdem ich die »Schule der Hoffnung für die Zukunft« besucht hatte, brannte sie bis auf die Grundmauern, die Paletten waren, nieder und mit ihr alle Bücher, noch bevor die Hoffnung mit blauer Farbe hätte erneuert werden können.

Geblieben ist mein Wolf-T-Shirt.

 

In Yasers Nachbarschaft haben Nik und ich mittlerweile vorsichtig, den Pappbecher mit Tee in der Hand, auf der Kante einer erhöhten Fläche, die mit Decken ausgelegt ist, Platz genommen. Es ist der Aufenthaltsort, auf dem der Alltag stattfindet, von dort geht es in den Raum, in dem geschlafen wird, wie in einer Büchse. Kein Fenster, kein Ventilator. Vier Kinder, zwei Eltern. Eine Topfpflanze, aus der eines Tages Tomaten wachsen könnten, steht ebenfalls in der Ecke der Außenfläche. Über uns baumelt eine Kiste, in der Joghurt trocknet, damit er seinen Aggregatzustand verwandelt, um dann gegessen werden zu können. Oder so ähnlich, denn was weiß ich von afghanischer Kulinarik. Das erste Mal, dass ich in einem afghanischen Restaurant gegessen hatte, war absurderweise in New York gewesen, kurz nachdem die US-Army in eben dieses Land einmarschiert war.

Yasers Mutter lädt uns überraschend zum Dinner ein.

»Nur wenn ihr wollt«, fügt Yaser vorsichtig hinzu. Wir sind etwas sprachlos und bieten an, Essen oder Lebensmittel oder wenigstens Obst mitzubringen. Das wird entschieden abgelehnt. Ich kenne die Regeln nicht, bringen die Eingeladenen trotzdem etwas mit? Was? Nik und ich schauen uns an. Zur Erinnerung: Wir sind in einem Geflüchtetenlager, und die monatliche Unterstützung hat sich gerade von 90 € auf 75 € reduziert.

Warum? Darum.

Bei iranischen Hochzeiten gibt es eine traditionelle Zeremonie zwischen den zukünftigen Eheleuten, in der der Mann die Frau fragt, ob sie ihn heiraten will. Dieses rollenspielgleiche Ritual findet vor der versammelten Hochzeitsgesellschaft statt, die dabei wie ein Publikum zuschaut, no pressure. Die Hochzeitslady erhält also vom Hochzeitsgentleman den Antrag, und sie lehnt, erwartbar, denn so geht das Spiel, ab und lächelt dabei zuckersüß, während sie in ihrem Prinzessinnenhochzeitskleid unter einem Zeltdach sitzt, das vier Mädchen oder Frauen an Stangen über sie halten. Der Mann sagt, sie sei süß wie Zucker, und bietet ihr auch gleich etwas Zucker an, er fragt wieder, sie lehnt erneut ab, errötet ein bisschen, senkt den Blick, und das muss man erst mal alles spielen, Freunde. Der Mann wird verrückt, fragt zum dritten und letzten Mal – und sie bejaht schließlich, nimmt den Antrag an, hebt den Blick. Musik. Nun tanzt die gesamte Hochzeitsgesellschaft um die Eheleute unter dem Zelt herum.

Totale. Die Livemusik geht in Filmmusik über, wir gleiten mit einer Drohne durch das Dach hindurch, fliegen immer weiter nach oben und blicken auf die strahlende, tanzende Hochzeitsgesellschaft, die überstreut ist mit glänzendem Zucker und Glück, und bewegen uns sanft hinein in die Dunkelheit des Nachthimmels, sehen nun in Wahrheit ein Geflüchtetenlager auf einer griechischen Insel, die sich ungefähr dort befindet, wo Orient und Okzident aufeinandertreffen und drum herum das Meer.

Ich war Gast bei einer persischen Hochzeit, daher weiß ich von dieser Zeremonie, und ich kann sagen, bis heute war sie das eindringlichste Hochzeitserlebnis meines Lebens.

Am Tag, als das Dinner stattfinden sollte, kam der Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, der griechischen Mitte-Rechts-Partei »Nia Demokratia« (ND) um 12.00 Uhr in das Camp. Mit seiner Entourage, versteht sich. Wir wussten davon und fuhren nach Moria, um dem Event beizuwohnen, als würden wir zu einem Fußballspiel fahren, wobei ich zugeben muss, dass ich keine Ahnung von Fußballspiele-Angucken habe. Moria gegen Kara Tepe, sage ich mal zusammenhangslos.

Doch für Fußballbegeisterte sei gesagt, dass es tatsächlich Fußballmeisterschaften in Moria gab. Die Mannschaften wurden, wie es so üblich ist, nach Nationalitäten formiert, und diese trugen auch dieselben Shirts als Ausdruck ihrer Mannschaftszugehörigkeit. Darauf stand zwar nicht der Club-Name (FC Herat oder so), sondern das Logo irgendeiner Bau- oder Computer- oder Versicherungsfirma. Wurst, Hauptsache corporate identity. Außerdem sind Profifußballer ja auch inzwischen zu Litfaßsäulen für Werbung geworden, insofern unterscheidet es sich nicht wirklich. Mich beeindruckte der Umstand der Initiative, Planung und Durchführung einer Fußballweltmeisterschaft in Camp Moria auf Lesbos. Ja, die Welt ist auf Lesbos zu Hause, mit 20 Nationen, die hier aufeinandertreffen. Die Aufteilung nach Nationalitäten stimmt allerdings nur so halb, man musste etwas improvisieren. So gab es eine Mannschaft, die sich »Afrika« nannte und in der sich viele Subsahara-Jungs und -Mädchen versammelten, aus dem Kongo, aus Burundi, Eritrea, Somalia. Ob auch Westafrikaner dabei waren, weiß ich nicht. Glaub’ nicht. Die sind in Melilla und Ceuta. In der »syrischen« Mannschaft wirkten auch ein paar Kollegen aus anderen Arabisch sprechenden Ländern mit.

Sportlicher Wettbewerb unter Fluchtbedingungen in dem Land, das, neben so vielem anderen, auch die Olympischen Spiele erfunden hat. Die Idee zu der Meisterschaft hatten zwei Frauen, eine Französin und eine Griechin. Sie planen bereits die nächste Sportveranstaltung, die nach dem Lockdown stattfinden wird. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen.

Es war Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und es an die Menschen weiterreichte. Seitdem symbolisiert Feuer Vernunft, Freiheit und Erfindungsreichtum, auch das olympische Feuer repräsentiert dies. Andererseits ist es auch Feuer, das Erfindungsreichtum verbrennt oder Unvernunft sichtbar macht, verwirrend, diese Symbole und ihre angebliche Bedeutung. Am Ende kippt der Mensch Benzin in bestehendes Feuer, wirft ein Streichholz in Benzinkanister und Bumm. Oder er lässt unachtsam seine Zigarette in einem ausgedörrten Wald fallen, was Ursache für 90 Prozent der Waldbrände weltweit ist (abgesehen von ein paar Blitzeinschlägen), und weg sind sie, die Bäume, die vielleicht nicht Erfindungsreichtum symbolisieren, aber erfindungsreich, klug und perfekt sind.

 

Mitarakis sollte also ins Camp kommen. Seltener Besuch. Es ging um die offizielle Übergabe einer Corona-Klinik in Isoboxen, die seitens der holländischen Regierung an die griechische Inselverwaltung gespendet worden war. Sie hätte von MSF (Ärzte ohne Grenzen) verwaltet und geleitet werden sollen, doch die Ärzte bedankten sich freundlich und lehnten ab. So eine Station, zumal hochwertig ausgestattet, ist zwar sehr schön, aber sinnlos, wenn kein Personal vorhanden ist, um sie am Laufen zu halten. Daher: Thank you, but no thank you.

So musste sich die Munizipalität etwas ausdenken, denn auch sie hatte kein Personal, um die Station zu aktivieren. Doch zuerst einmal, nämlich heute, wollte Minister Mitarakis das holländische Präsent gern und offiziell entgegennehmen, samt Entourage und Fotografen. Und wir, Humanitäre und Geflüchtete, wollten dabei zugucken.

Bereits bei der Einfahrt in die Zufahrtsstraße bemerkten Nik und ich den Unterschied: erhöhtes Aufgebot an Polizei. Auf halbem Weg standen dunkelblaue Polizeibusse und Gruppen dunkelblau gekleideter, maskierter und bewaffneter Polizisten in der Sonne davor und schwitzten. Nik fuhr heran, zeigte seinen Presse-Ausweis, plauderte kurz mit den Offiziellen, das kann er super, und wir durften passieren.

Neben dem Eingang zum RIC gab es eine hohe Betonwand, auf der großflächig ein schlichtes Graffiti zu sehen war: »I am so sorry, refugees, this is not Europe!« Davor parkten normalerweise Autos. Doch heute?! Wo waren die PKWs hin?! Das Graffiti war mehr schlecht als recht mit weißer Farbe übertüncht worden. Warum da keine betongraue Farbe genommen wurde, versteht man nicht. Wir drehten das kleine, bereits halb geschrottete Auto, das unter Niks James-Bond-Stunts gelitten hatte, um, denn hier durfte man nicht mehr parken. Die sonst so lebendige und leider auch zugeparkte Straße war gähnend leer und sah aus, als würde sie die vielzitierte Stille vor dem Sturm geradewegs in Teer materialisiert haben. Also parkten wir weit entfernt und latschten erneut an den Polizistenmännern vorbei, war mir peinlich, bis ins Rainbow-Café hinein, das sich gegenüber des Camp-Haupteingangs befindet und wo noch menschliches Leben, trotz Staatsbesuches, zu finden war.

Im Rainbow sitzt man draußen auf kaputtem Mobiliar und quetscht sich unter die zu wenigen Sonnenschirme, denn die 38 Grad hier werden ja im Schatten gemessen. Also bleiben die unbeschatteten Kaffeehausplätze leer, weil: ü50 Grad. An der Theke bekommt man Wasser und Limonade, Hot Dog, Sandwich, Kaffee. Moria-Bewohner hängen dort ab, gibt mal Internet, mal kein Internet, Telefon chargen kann man. MSF-Mitarbeiterinnen, deren Krankenstation gleich nebenan ist, kaufen sich hier ihren Lunch, Journalisten oder Humanitäre sitzen dort und arbeiten was, Hunde liegen herum und warten schlafend darauf, dass es Abend und kühler wird.

Wir setzten uns, um auf Yaser und einen Aktivisten zu warten, die ebenfalls sehen wollten, wie die Übergabe des Isobox-Krankenhauses vonstattengehen würde. Ah, sie kommen schon.

Da rast ein schwarzer SUV einmal über die leere Straße am Café vorbei. Alle, außer mir, springen auf und kommen kurz danach zurück. Fehlalarm. Ich muss lachen, die Jungs suchen das Abenteuer, wo man es nur findet, selbst wenn der Umstand, in einem Camp zu leben, doch eigentlich genug Abenteuer sein sollte. Vielleicht ist es auch nur die Abwechslung vom Alltag, an dem nichts passiert, den man nicht wirklich selbständig gestalten kann. Für die Humanitären und journalistisch Arbeitenden ist die Suche nach Abenteuer auch die Suche nach Evidenz. Da kommen die drei Jungs zurück, und ich habe sie alle sehr lieb, obwohl ich sie doch erst vor kurzem kennengelernt habe.

Als der Konvoi tatsächlich ankam, düsten wir gemeinsam bis ganz auf den obersten Hügel Morias, dort, wo ein Spielplatz ist und die Konstruktionen zu Ende sind, um von dort Sicht auf das Ereignis zu haben.

Ich konnte mit meinen kurzsichtigen Augen nicht sehen, was dort geschah, wo alle hinzeigten, es war zu weit entfernt. Und Nik, mit dem Gimbal in der Hand, auf den sein Telefon gesteckt war, lief immer weiter auf der anderen Seite des Hügels wieder hinab, um näher an das Geschehen, das er filmen wollte, heranzukommen. Weiter und weiter ging er den Hügel hinab, bis er aus meinem Blickfeld rutschte. Auch Yaser sah ich nicht mehr, um mich herum standen ein paar Dutzend Moriabewohner, alle männlich, kein vertrautes Gesicht. Tja, dachte ich, hier bist du nun, die einzige weiße Frau, und ich fragte mich, ob das vielleicht der Moment sein sollte, an dem ich mich beginnen müsste zu fürchten. Nur: wovor? Vor wem? Den Moriabewohnern? Vor dem Unbekannten? Vor Mitarakis’ Entourage?

In meine Überlegung hinein und während ich weiterhin angestrengt den Hügel hinabsah, über den sich inzwischen viele Moriabewohnende verteilt hatten gen Mitarakis’ Isobox, hörte ich ein Geräusch wie den Einschlag einer Bombe, so tief in der Frequenz, dass sie durch den Boden als Resonanzraum in mich fühlendes Wesen eindrang. Die um mich herumstehenden und mit ihren Smartphones filmenden Menschen schienen keine Notiz von dem akustischen Ereignis zu nehmen. Entweder hatten sie es nicht gehört, was ausgeschlossen war, oder es war ihnen vertraut und schüchterte sie nicht ein.

Sie riefen »Moria no good«, was ja ein Fakt ist und nicht mal Protest. Was war das für ein Geräusch gewesen, herrje!? Noch mal. Und noch mal. Fünfmal insgesamt wiederholte sich dieser furchteinflößende Sound. Und dann: Schreie. Ein Ruck ging durch die Truppe, in der ich aus Versehen stand.

»The Fascists!«, wurde gerufen, und ich machte mir ein bisschen in die Hose, kein Witz, und rannte mit den Rennenden. Weg. Wohin? Richtung Camp irgendwie. Lauf! »Was ist passiert?« Ob ich diese Frage dachte oder rief, weiß man nicht.

Plötzlich traf mich etwas hart am Rücken, ich stolperte. »Stopp«, rief ein älterer Mann neben mir, machte aufgeregte Gesten, zeigte auf mich, ich blieb stehen, er näherte sich und zupfte einen Meter verrosteten Stacheldrahts von meinem Rücken. »Thank you«, sagte ich. Er lächelte im Chaos. Steine flogen in unsere Richtung. Was hatte diesen Tumult ausgelöst? Und da, wie aus dem Nichts, stand Yaser neben mir und sagte: »Come, Katja, let’s go to my family. Run.«

Und wir rannten los, durch die staubigen steinigen steilen Gassen, in das Labyrinth Moria hinein. »Yaser«, rief ich, »lass uns ins Rainbow-Café gehen, um auf Nik zu warten.«

»Okay«, rief er zu mir hinüber, und in einem Affenzahn bewegten wir uns unbeirrt durch das Lager, ich hielt meinen Blick starr auf den Rücken des Jungen vor mir geheftet, der jede Abkürzung, jeden Weg des labyrinthischen Dschungels kannte, und lockerte die Spannung erst, als wir im Rainbow-Café ankamen. Kein Nik.

»Wo ist Nik?«, fragte ich.

»Er war ganz vorn und hat gefilmt, als die Faschisten begannen, Steine auf uns zu werfen«, antwortete er, »ich bin dann zu dir zurückgelaufen.«

Yaser ist 16 Jahre alt, und zusammenfassend kann man sagen: Er hat bereits zu viel erlebt. Er ist in seinem Leben fast täglich mit dieser Art Herausforderungen und Situationen konfrontiert. Er hat eine Flucht hinter sich und vor sich: von Afghanistan nach Iran, von Iran in die Türkei, von dort versuchten seine Familie und er elfmal, über das Meer nach Lesbos zu gelangen. Und davor? Damals in Afghanistan? Was war da? Was ist geschehen, dass sie sich entschlossen, aufzubrechen und ihrem Land zu entfliehen? Yaser hat mir eines Tages die Geschichte erzählt, ich veröffentliche sie nicht. Und ja, sie hat mit Taliban und Folter zu tun.

»Faschisten«, sagen Moriabewohner und Aktivistinnen zu den Wutbürgern und Rechtspopulisten, obwohl es ein falscher Begriff ist, was ich wiederholt und ergebnislos versuchte zu erläutern.

Dann kam Nik. Sein Arm war blutüberströmt, frisches hellrotes Blut rann den Arm hinab und tropfte, über seine Hand laufend, in den Staub. Sah wie Gladiator aus. Er beachtete es nicht, sondern war mit seinem Smartphone beschäftigt, einhändig. Yaser und ich schauten uns an, er verdrehte die Augen, er kannte Nik länger als ich.

»Was ist passiert?!«, fragte ich besorgt.

»Ach, nicht schlimm«, meinte er, »ein Stein hat mich unglücklich getroffen.«

Und dann schrie er übergangslos: »Scheiße! Scheiße scheiße scheiße.«

Seine gesamten Aufnahmen, die er gerade gemacht hatte, waren weg.

Er hatte gefilmt, wie Wutbürger auf Polizisten Steine geworfen hatten, die daraufhin mit Handbomben antworteten. Das war der tiefe Ton gewesen. Handbomben zerstören oder verletzen nicht, sondern ihre Absicht und Existenz dient anscheinend dem Schreck, sie sollen Leute erschrecken, was nur bei mir Wirkung gezeigt hatte, bei sonst niemandem. Dann hatten die Steinewerfer ihren Kurs gewechselt und begonnen, den Hügel hochzulaufen. Weiterhin warfen sie Steine, nun nicht mehr auf Polizisten, sondern auf Moriabewohnende. Es wurde zurückgeworfen. Nik war mittendrin und filmte das Chaos, dabei hatte ihn ein Stein am Ellbogen getroffen und die wütenden Menschen hügelaufwärts kamen ihm gefährlich nahe. So zog er sich zurück, es musste schnell gehen, und das Gelände ist uneben und unübersichtlich, dazu das Getöse der Handbomben, die Schreie »Moria no good«, die fliegenden Steine in beide Richtungen, und er ließ seine Kamera, die nur ein simples Telefon war, einfach laufen. Bei der Rennerei jedoch war er offensichtlich gegen den Bildschirm seines Mobiltelefons gestoßen, so dass sich seine Aufnahmen gelöscht hatten. Keine Ahnung, wie das gehen kann. Geht. Weg sind’se. Waren auch nicht im Papierkorb. Vielleicht dachte er nur, er hätte auf »play« gedrückt, doch stattdessen hatte er die Kamera ausgeschaltet.

Nun schrie er. Man verstand das, aber unser Mitgefühl galt eher seiner Wunde am Arm, aus der immer noch Blut heraussprudelte, als den verlorenen Aufnahmen.

Die Wunde jedoch, das stellte sich schnell heraus, war nicht tief, und eine Ärztin, die im RIC arbeitete, schaute drauf und sagte, dass es nicht genäht werden müsste, sondern von allein zusammenwachsen würde. Pflaster.

Wir waren ordentlich durcheinandergeschüttelt, oder, sagen wir mal, mir ging es so. Für die anderen war dies nur ein weiteres Ereignis neben unzähligen anderen. Alltag fast. Harmlos im Vergleich zu dem, was im März 2020 passiert war, als das OHF Community Center abbrannte und gewaltbereite Menschen aus diversen Ländern mit der Absicht nach Lesbos gereist waren, um der Gewaltbereitschaft auch Taten folgen zu lassen. Harmlos im Vergleich zu den Umständen, die der anschließende Lockdown verursacht hatte, harmlos im Vergleich zu dem, was ein paar Wochen später folgen sollte, als das Feuer Moria auffraß und die Bewohner.innen sich auf der Straße wiederfanden.

Am späteren Nachmittag saß ich in Mytilini am Hafen, als ich eine schwarze, sich zügig vergrößernde Rauchwolke aus der Richtung der Hügel, in denen Moria lag, sah und mich schon wieder erschrak. Was war nun wieder? Was ist passiert? Geht’s allen gut? Ich textete diversen Leuten und erfuhr, dass ein Feuer im Olivenhain neben dem Dschungel ausgebrochen war. Ein paar Stunden später war das Feuer gelöscht, alle waren unversehrt, und ich verstand, dass der Alltag hier nicht zu bewältigen ist, wenn man sich ständig erschrickt.

 

An diesem Abend nun sollte das Dinner in der Nachbarschaft stattfinden, zu dem wir nichts mitbringen sollten, was ich nicht gut fand. So erstand ich einen farbenprächtigen Schal und hoffte, ihn Yasers Mutter geben zu dürfen. Mir ist nichts Besseres eingefallen.

Es war bereits dunkel, als wir uns auf den Weg machten, zurück an den Ort des Tumults, der Handbomben, der Steine und der Wut, der Uniformierten, des Feuers, der Stacheldrahtzäune und des »Fragrance by Moria«, zurück ins labyrinthische Moria. Auch das Labyrinth geht zurück auf die Griechen.

Eine Ängstlichkeit vor der fremden Dunkelheit beschlich mich, keine Laternen anwesend. Wie dunkel erst muss die Nacht auf dem Meer sein. Wie viele Schattierungen von Dunkel gibt es, bis es schließlich zu der Schwärze wird, die einen einfach verschluckt.

»Ich bitte Yaser, uns abzuholen«, sagte Nik, der irgendwie fühlen konnte, was in mir vorging.

Yaser hat keine Angst vor der Dunkelheit. »Die Nacht ist mein Element«, sagte er mir bei einem unserer Gespräche. »Weißt du, die Nacht und der Film sind miteinander verwandt.«

Und da stand er auch schon, um uns am Eingang abzuholen, in seinen kurzen Hosen, und die wenigen dumpfen Lichter des Camps machten keinen Unterschied. Menschen huschten über die Wege, zweidimensionale Schattenrisse mit Masken im Gesicht. Masken, die in nichtpandemischen Zeiten das Zeichen dafür waren, etwas zu verstecken, das Gesicht oder eine Absicht, nun aber zum Alltag gehörten und korrektes Verhalten symbolisierten, wo sie doch sonst zu Cowboys, Bankräubern oder Dschihadisten gehört hatten. Wir gingen durch eine dunkle Stadt, die aus selbst gezimmerten Konstruktionen bestand, eine an einem Hang gelegene absurde Architektur, Stadtplanung aus Not entstanden. Es war warm und auffallend ruhig, eine Ruhe, geboren aus dem täglichen Tumult.

Erneut betraten wir am Baum vorbei den Patio, zu dem ein paar Stufen hinabführten, die sich aus einem Gewirr aus Wurzeln, Steinen und karstiger Erde gebildet hatten und nur als Stufen erkennbar waren, wenn man sie als solche auch wahrnehmen wollte.

Die erhöhte Plattform war angerichtet für das Dinner. Schüsseln standen auf einem rosafarbenen bedruckten Tuch, das wie eine Tischdecke anmutete und es ja letztlich auch war. Es war festlich, anders könnte ich es nicht beschreiben.

Wir begrüßten die Anwesenden, ich sortierte die Gesichter: Mutter, Vater, zwei jüngere Brüder Yasers, seine jüngere Schwester, die ein gestreiftes Shirt anhatte und ein in die andere Richtung gestreiftes Tuch um den Kopf trug, was sicherlich eine modische Entscheidung war und kein Zufall. Dann ging es Schlag auf Schlag, denn die Gäste (Nik und ich) waren eingetroffen.

Ich sah, wie aus einem auf der Erde stehenden Kochtopf ein Haufen Reis auf ein Tablett bugsiert wurde. Zwei Aluschüsseln mit vegetarischem Gericht wurden aufgetragen, zwei kleinere Schüsseln mit Fleisch bzw. Chicken und duftender Soße und Schüsselchen mit weißem Mousse, keine Ahnung, was das ist. Eine 1,5 Liter gefrorene Colaflasche und Papierbecher wurden hervorgeholt.

»Bitte setzt euch«, wurde wiederholt von Yasers Eltern und Yaser in Englisch und Farsi gesagt, und Arme zeigten in Richtung Plattform. Wir standen herum. Über uns der nachtschwarze Himmel. Die Beleuchtung hier kam aus einer Glühbirne und ein paar Solarlampen. Manchmal gibt es im Dschungel Strom und oftmals nicht.

Wir zogen unsere Schuhe aus und krabbelten auf die Plattform, setzten uns vor die Wand, dort, wo in einem Wohnzimmer die Bank gestanden hätte. Kissen lagen neben dem Tomatenblumentopf.

Nun wurde auch noch ein Teller mit Pfirsich und anderem Obst hingestellt, und allmählich fror mir fast das Blut ein angesichts des reichlich gedeckten Tisches in einer Konstruktion eines Refugee Camps.

»Sie müssen sich finanziell vollständig verausgabt haben«, flüsterte ich Nik zu. Er konnte nicht antworten, sah mich nur an und ich in seine Gedanken hinein. Da stand plötzlich eine Flasche Wasser vor mir, und Yasers Vater entschuldigte sich, dass sie nicht gekühlt sei.

»Ich mag ungekühltes Wasser viel lieber«, sagte ich, was sogar die Wahrheit war und keine unangebrachte Platitude. Yaser übersetzte, der Vater lächelte nicht überzeugt. Ein Mann mit grünen Augen, den ich niemals würde fragen können, was ihm in seiner Biographie widerfahren war, eine Person mit einem Medizinstudium und nun fahrigen Gesten, an denen man ablesen konnte, dass er uns lieber in das großzügige Wohnzimmer seines Hauses mit Garten hätte einladen wollen, in einem Dorf des Landes, das er hatte verlassen müssen, zusammen mit seiner Frau und den vier Kindern. Dort wären wir uns niemals begegnet.

Was er mitgenommen hatte, war, abgesehen von seinen Erinnerungen, eine selbstverständliche Gastfreundschaft, die sich völlig anders darstellt als in europäischen Breitengeraden und die alles zu verkehren schien, weswegen wir dachten, hierher auf die Insel gekommen zu sein.

Nik atmete hörbar neben mir aus und ein und murmelte: »O Mann …«. Ich füsterte, »Jetzt essen wir, Nik, alles andere später.«

Ashak sind mit Porree gefüllte Teigtaschen, dazu Bohnen und Minzsauce, köstlich und ein wenig glitschig. Man wusste, dass ich Vegetarierin bin, und hatte sich im Vorfeld erkundigt, ob es despektierlich wäre, wenn es neben dem Vegetarischen auch etwas Fleisch gäbe, was mich peinlich berührte, dass es überhaupt gefragt wurde.

Der Abend nahm seinen Lauf, und wir entspannten uns, reichten uns gegenseitig Teller, lächelten uns an, wo Sprache nicht möglich war, äußerten expressiv unsere Begeisterung ob dieser exquisiten Kulinarik und erfuhren, dass die kleinen Schüsseln mit der weißen Masse der Nachtisch waren, eine Art Mousse, zuckersüß und würzig.

Ich fragte Yaser aus unerfindlichem Grund, wann er ins Bett gehen würde. Wahrscheinlich versuchte ich, mir vorzustellen, wie es wäre, zu sechst in der Koje zu liegen, wie der Einstieg organisiert wird, wer wann und in welcher Reihenfolge hineinklettert, und ob man sich eine kleine Solarlampe um den Kopf binden kann, um zu lesen, ohne die jüngeren Geschwister zu stören.

"Um neun", sagte er zu meiner Überraschung. Ich fand das früh, wir waren ja erst um 21.00 hier angekommen. Also eigentlich schliefen alle längst.

»Aber ich schlafe meistens erst gegen 3.00 Uhr ein.«

»Oh, warum? Kannst du nicht schlafen?«, fragte ich.

»Ich schaue die ganze Nacht Filme, manchmal auch bis 7.00 Uhr morgens.«

»Krass. Auf deinem Handy?«

»Ja«, sagte er, »ich lade sie runter, weil das Netz hier nicht gut ist.«

Er hatte sich auf seinem Mobiltelefon einmal durch die ganze Weltliteratur an Spielfilmen durchgeschaut. Tagsüber studierte er an der Filmschule Morias, dem »ReFOCUS Media Lab«, von dem noch zu hören sein wird. Er, der zukünftige Filmregisseur, die afghanische Antwort auf Quentin Tarantino.

Ich wusste, dass er ein Tarantino-Fan war, da er sich gewundert hatte, dass ich »Inglourious Basterds« nur einmal gesehen hatte.

»Diesen Film muss man mindestens dreimal sehen, Katja!«, sagte er fast vorwurfsvoll.

»Hast du ›Parasite‹ gesehen?«, fragte ich übergangslos.

Er schaute mich für einige Sekunden unbewegt an und sagte dann: »It’s a masterpiece.«

Dann erläuterte er warum. Sprach von den verschiedenen Genres, die der Film bediente, der guten Schauspielerei, konnte sich begeistern über die Location und meinte abschließend, dass man durch Filmkunst eben Einblick erhielte in diverse Kulturen. Und dass er auch die anderen Filme von Bong Joon-ho sehr mochte und empfahl mir gleich noch ein paar andere koreanische Filme und Regisseure, die er kannte, ich hingegen nicht.

»Parasite« hatte im Jahr 2020 geradewegs einen Siegeszug durch die bedeutendsten Filmpreisverleihungen der Welt gemacht und unter anderem vier Oscars erhalten, für Originaldrehbuch und Regie, und gewann sowohl in der Kategorie bester Film als auch »Best International Film«. Diese Kategorie war 76 Jahre lang als »Best Foreign Language Film« (bester fremdsprachiger Film) betitelt worden. Im Jahr 2020 hatte die Academy sich entschieden, das zu ändern, und Bong Joon-ho sagte in seiner Dankesrede, dass er sich freue, als Erster den umbenannten Preis zu erhalten. Bei den Golden Globes, die ein paar Wochen vor den Oscars verliehen werden, hatte er ebenfalls in dieser Kategorie gewonnen. Dort hieß es noch fremdsprachiger Film. Er sagte in Koreanisch: »Sobald Sie die Hürde der Untertitelung überwunden haben, werden Sie mit vielen weiteren phantastischen Filmen bekannt gemacht.«

Ich erzählte das Yaser, und er meinte nur: »True.«

 

Nach dem Essen wurde abgeräumt und abgewaschen, dazu kamen die Nachbarinnen mit Plastikschüsseln herüber. Wir wollten helfen. Ich aus Interesse an der Abwaschtechnik, Nik, weil er so gern aufräumt. Doch es wurde uns von allen Beteiligten vehement verweigert, daher konnte ich nur zuschauen, wie drei Frauen in afghanischer Sitzposition Wasser aus einer abgeschnittenen Ölbox in die Plastikschüsseln schöpften, lässig mit Lappen abwuschen und das Gewaschene in Plastikobstkisten warfen, während sie sich leise unterhielten. Ab und zu begegnete ich ihrem Blick, und wir lächelten. Die Geschlechterrollen des Heimatlandes waren mit nach Moria gebracht worden, überrascht hat es mich nicht wirklich.

Yaser zeigte mir das Fitness-Studio des Nachbarn: eine selbst gebaute Bank, zum rücklings drauf Liegen, um Gewichte an Stangen zu stemmen. Die Stange, die hier verwendet wurde, war eine Art Vierkantholz, an deren Enden jeweils drei mit Sand gefüllte 1,5 Liter Wasserplastikflaschen gebunden waren.

Ob wir Tee wollten, wurde gerufen.

»O ja«, rief ich und kletterte wieder auf meinen Platz. Zum Tee gab es eine selbst gemachte Süßigkeit, die aus Zucker, Öl, Nüssen und Kardamom bestand. Bitte merken.

Einen Kühlschrank gab es nicht, was mit dem übrig gebliebenen Essen geschehen würde, blieb unklar, lange würde es in diesen Temperaturen nicht überleben.

Alle Nachbarinnen und deren Kinder waren inzwischen zu uns gekommen, sie hatten es nicht weit: Die nächste Hütte war 80 cm entfernt. Wir lagerten alle zusammen auf dem Podest und um das Podest herum, und die Gespräche wurden angeregter, fanden gleichzeitig statt, mit allen Worten, Gesichtsausdrücken und Armen, die zur Verfügung standen.

»Why are you so fat«, wurde ich schließlich von einer Nachbarin gefragt.

»Wie bitte?! Warum ich so fett bin?«, Yaser übersetzte hin und her.

»Neiin«, Yaser und Nik schmissen sich weg vor Lachen. »The women were asking, why are you so fit!«

»Ach so.«

Ich schaute die Frau, die gefragt hatte, an, sie zeigte etwas betrübt auf ihre Knie und Oberarme und fand sich zu stramm. Am Ende reden wir Frauen dann doch übers Abnehmen, über Kleider, Männer, Kinder. Ich wünschte, ich könnte in der Frauengruppe sitzen und mit ihnen quatschen, mir von ihrem Kummer und Alltag erzählen lassen und wie es zu Hause war, in Afghanistan, und wonach sie sich zurücksehnen.

Stattdessen machten wir Fotos: Alle Frauen um die auf dem einzigen Plastikstuhl sitzende Mutter geschart, alle Männer um den auf dem Plastikstuhl sitzenden Vater. Dann alle zusammen, kreuz und quer, neben- und aufeinander. Niemand musste uns auffordern, zu lächeln oder »Ameisenscheiße« zu sagen.

Niks und meine Scham, von einer geflüchteten Familie auf liebevolle, großzügige Weise eingeladen worden zu sein, die uns ihr Haus geöffnet hatte und vielleicht auch ihr Herz, diese Scham hatte uns den gesamten Abend über nicht verlassen. Wir hatten sie nur zur Seite geschoben, um das unvergessliche Dinner nicht zu beschädigen. Der Umstand jedoch war klar und unverrückbar: Wir können nichts an der Situation ändern, in der die Familie, in der alle Familien und Bewohnenden in Moria leben. Wir wurden beschenkt von Menschen, die alles verloren hatten. Scham und Ohnmacht reichten sich die Hand.

Was geben wir? Was tun wir? Gelingt uns hier irgendetwas? Die Zuneigung und Freundschaft, die wir geben, wurden mannigfaltig übertroffen von der selbstverständlichen Gastfreundschaft, die kulturell manifestiert und verinnerlicht ist, als Teil der Persönlichkeiten oder des Menschseins in der afghanischen Gesellschaft. Auf welcher unglaublichen und beschwerlichen Investition und Leistung lag sie?! Wo und wie wurde hier gekocht? Wie lange? Wo wurde eingekauft und womit?

Wir waren eingeladen worden, weil wir Kumpel von Yaser sind. Weil wir nett zu ihm sind. Vor allem jedoch ist er zu uns freundlich und respektvoll und humorvoll, ist immer an unserer Seite, übersetzt und erklärt uns unentwegt diese Welt.

Was wir tun können, ist zu ertragen, dass wir nichts zurückgeben können.

Nachdem ich Yasers Mutter mein unerhebliches Gastgeschenk gegeben hatte, kam sie am Ende des Abends mit einem Joghurtbecher mit Henkel zu mir, den sie mit der selbst gemachten Süßigkeit gefüllt hatte.

Als wir schließlich im Auto auf dem Weg nach Mytilini zurück saßen, trieb der Fahrtwind uns die Tränen in die Augen … Nik und ich fuhren schweigend die ganze Strecke und als ich ausstieg, sagten wir: »Bis morgen.« Mehr gab es nicht zu sagen. Bis morgen. Morgen ist wieder ein Tag. Und auch morgen wird es Moria geben und 80 Millionen vertriebene Menschen.

 

Zwei Wochen später gab es die Nachbarschaft nicht mehr. Kein Podest, keine Bank am Baum, kein Tomatentopf, keine Schlafbüchse. Nichts. Alles verbrannt. Es brannte gut, es war aus trockenem Holz und verwittertem Plastik. Die Interim-Heimat, auch sie war verloren.

1 Photo, 1 Story

August 2020

Nik hat eine Idee, bei der ihn Yaser als Übersetzer und ich als Frauenbeauftragte (wie sich später herausstellen wird) begleiten: Er bittet Moriabewohnende, ein Foto herauszusuchen von ihrem Leben, bevor sie sich auf den Weg machten, und die Geschichte zu dem Foto zu erzählen. Er wird filmen und einen kurzen Zusammenschnitt davon bei »Mission Life Line«, für die Nik hier tätig ist, veröffentlichen. Mit der Erlaubnis der Teilnehmenden selbstredend.

Zum Beispiel gibt es das Foto einer Familie: Mann, Frau, zwei Kinder, das in einem Vergnügungspark im Iran aufgenommen wurde. Der Mann und Vater, mit dem Nik das Gespräch führt und der das Foto herausgesucht hatte, sagt, es wäre ein besonderer Tag nicht nur für die Kinder gewesen, da sie schon lange gehen wollten, aber das liebe Geld … Ein Familienportrait von vier Menschen mit einem Rummel im Hintergrund, ein Bild, das es sicherlich tausendfach gibt auf den Rummelplätzen dieser Welt. Ein Zeitpfeiler für diese vier Personen, eingefangen am Tag der gemeinsamen Freude, als alles super war, obwohl es wohl bewiesen ist, dass es kaum einen Ort gibt, an dem Kinder mehr weinen oder schreien als auf einer derartig überstimulierenden Veranstaltung wie: Karussells-und-Süßigkeitenauf-engem-Raum. Vielleicht ist es im Iran anders, wer weiß, wir haben nicht danach gefragt.

Auf dem Foto schauen die vier fröhlich oder eher freundlich in die Kamera. Die Eltern sind aus Afghanistan, die Kinder im Iran geboren; nicht nur die Eltern, auch die Kinder werden als Flüchtlinge angesehen und weiterhin als solche definiert werden, das wissen die Eltern, darum sind sie aus dem Iran weggegangen. Für die Kinder. Für die Zukunft. Zwei Jahre später beginnt die Revolution im Iran, und der Slogan »Frau. Leben. Freiheit.« (»Jin, Jiyan, Azadî«) geht einmal um die Welt.

Wir befinden uns für Niks Projekt im oberen Teil des Dschungels, dort wo die holländische Nichtregierungsorganisation »Movement on the Ground«, die ausschließlich in griechischen Camps arbeitet, für die Essensverteilung verantwortlich ist und die von der Schweiz gesponserten Zelte stehen, die irgendwie gut aussehen, in Form (ungewöhnlich) und Farbe (noch frisches Weiß) und außerdem von einem der letzten Bäume Morias überragt und überschattet werden. Pro Zelt sind jeweils vier Familien untergebracht, voneinander durch Tücher getrennt. Das ist eng, sehr sogar, weswegen sich tagsüber, wie überall, das Leben draußen abspielt. Nicht nur das Spielen der Kinder, sondern auch die eigene Essenszubereitung, falls möglich, ebenso das Lernen und Abhängen und Warten, Herumgehen im Camp, Einkaufen im Camp, Lernen im Camp.

Jede Möglichkeit, sich vom Zelt zu entfernen, mit einem Ziel im Kopf, wird bewillkommnet. Beispielsweise zum Englisch- oder Kunstunterricht bei Abdallah in die Schule zu gehen oder bei Re-FOCUS zu studieren oder sich auf den Weg zu »Sports and Yoga for Refugees« zu machen, um Klassen in Kickboxen oder Yoga zu nehmen oder an den Geräten zu trainieren. Oder die Zeit bei »One Happy Family« zu verbringen, wo es Internet gibt und den "Maker’s space", die Fahrradwerkstatt, Sprachunterricht, den Gemüsegarten, Spielplatz oder die Frauenklasse, wo diese unter sich ein paar Dinge besprechen können oder etwas nähen bzw. nähen lernen. Und in die Moschee wird, na klar, gegangen, wenn Gottesdienst ist und man an Allah glaubt, aber vielleicht auch wenn man nicht glaubt, denn so eine Zeremonie ist immer beruhigend, wie gemeinschaftliche Meditation. Es wurden mehrere Moscheen im Dschungel gebaut. Große Zelte, Gemeinschaftsarbeit Geflüchteter.

Diese Möglichkeiten, Aufgaben, Beschäftigungen sind mehr als eine Ablenkung, sondern sie können zum Mittelpunkt des Lebens werden, in der Interimszeit, in der auf das Interview gewartet werden muss oder auf das Resultat desselben oder auf die Bewilligung des Asyls oder auf einen Stempel oder auf den Transfer oder auf die Abschiebung oder oder oder. Es wird viel gewartet in einem Camp. Die Zeit, man kann sie nutzen, wenn man die innere Stärke und die äußeren Angebote hat.

Aber nicht jeder oder jede hat den Mut oder die innere Stärke dafür.

Auf Lesbos gibt es Angebote, das kann ich sagen, ich war oft genug dort. In Lipa, ein Camp in Bosnien an der kroatischen Grenze, sieht es anders aus. Warum liegt der öffentliche Fokus so auf Moria, habe ich mich gefragt und dazu die Kolumnistin, Autorin und Schauspielerin Samira El Ouassil gefragt:

 

»Im Falle des griechischen Flüchtlingslagers Moria kommen verschiedene Gründe zusammen, weshalb sich die Öffentlichkeit mehr dafür interessiert als für andere Camps. Zum einen sind da journalistische Dynamiken, wie der sogenannte Nachrichtenwert und das Vorhandensein der Bilder, insbesondere von dem Brand im März 2020, als ein sechsjähriges Mädchen ums Leben kam. Zum anderen gibt es gesellschaftliche Dynamiken wie das Vermögen, mehrere Schrecken gleichzeitig verarbeiten zu können, ohne in eine sogenannte ›Mitgefühlsmüdigkeit‹ zu verfallen, wie es in der Psychologie beschrieben wird.

Ein klassischer Faktor, der zu einer Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte humanitäre Katastrophe führen kann, ist der Effekt, dass der Nachrichtenwert ›Neuigkeit‹ im Verlauf einer Berichterstattung schwindet – und gegebenenfalls ganz verschwinden kann.

Und wenn wir eine echte Information als einen Unterschied definieren, der einen Unterschied macht, dann erfüllt eine ausbleibende Veränderung der anhaltend schlechten Situation im Flüchtlingslager in Lipa an der EU-Außengrenze in Bosnien und Herzegowina diese formale, berichterstatterische Notwendigkeit nicht mehr.

Susan Sontag schrieb dazu: ›Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein Wir als selbstverständlich voraussetzen.‹«

 

Im Innenraum der Schweizer Familien-Zelte sind, wie immer und in allen Camps, die ich kennenlernte, hauptsächlich die Matten aufbewahrt, die tagsüber gestapelt sind und am Abend nebeneinanderlegt werden für die Nachtruhe, um zu schlafen. Vielleicht sind da auch Decken aufbewahrt. Je nach Jahreszeit und Klima – zu heiß: besser keine Decke, zu kalt: Decke ist nicht ausreichend. Wie unter diesen Umständen ständig Babys gezeugt werden, ist mir ein Rätsel, es liegen doch alle nebeneinander, dicht an dicht: Kinder, Eltern, Söhne, Töchter, Kleinkinder, Mutter, Vater, vielleicht noch eine Tante, Schwester, Bruder, wer weiß das schon, die Familien sind groß und werden größer, weil hier in dem Schweizer Zelt, und nicht nur dort, die Menschen sich quetschen in der Nacht und hin und wieder und immer wieder mal und warum überhaupt, da sind doch schon drei Kinder oder fünf Kinder und kein Zuhause, weitere Babys zeugen. Zehn Neugeborene gibt es pro Woche in Camp Moria!

Der Boden hier oben ist mit weißen Steinen bedeckt, die Sonne reflektiert das Weiß, und alles wird daher lichter, wirkt sauberer und aufgeräumter als weiter unten im Dschungel, wo die Wege zwischen den Konstruktionen eng sind und steil und ständig Abbiegungen nehmen und alles staubig ist. Hier ist der Weg breiter, daher wirkt das Viertel geräumiger, die weißen Steine tun ein Übriges und verändern die gesamte Stimmung. Ich nehme einen der Kiesel zur Hand und stelle als ehemalige Bildhauerfrau fest, dass es Marmor ist! Vielleicht hat ein griechischer Steinbruchbesitzer hier dem Team von »Movement on the Ground« ausgeholfen mit einer Sachspende, ich konnte es nicht recherchieren.

Während Yaser und Nik den Mann mit dem Rummelfoto vor seinem Zelt interviewen und dessen Frau Tee kredenzt, setze ich mich ein paar Meter abseits auf einen großen Stein (kein Marmor) und schaue auf das Treiben um mich herum.

Ein kleines Kind geht mit der älteren Schwester, ich vermute, es ist die ältere Schwester, den ganzen langen Weg und hält dabei unerschütterlich ein Stück Fladenbrot in der Hand fest, bleibt zwischendurch immer wieder mal stehen, um daran zu lutschen oder zu kauen (die Zähnchen sind partiell vorhanden und noch nicht ganz funktionsfähig) oder weil es abgelenkt wird von einer Plastiktüte, die ihm entgegenweht, oder einem alten Flip-Flop, der am Boden liegt und den es aufheben will, die Schwester das aber zügig zu verhindern weiß. Dass Kleinkinder immer irgendetwas in der Hand halten müssen, stundenlang irgendein Brötchen umklammern, das sich durch die Babyspucke schließlich selbst auflöst, finde ich wahnsinnig lustig. Wahrscheinlich finden wir alle so ein Foto von uns, auf dem wir etwas zu essen in der Hand halten, was niemand außer uns Kleinkindern noch essen möchte, und wir könnten eine Geschichte dazu erzählen, die wir wahrscheinlich erfinden müssten, weil man sich an das Dasein als zweijährige Person nur schwer erinnert. Macht nichts, wir haben ja das Foto, es gab uns schon, bevor wir uns an uns erinnern konnten. So wie es ein Leben vor Moria gab, an das sich allerdings erinnert werden kann.

Und während ich dem Kind noch hinterhersehe, stehen plötzlich zwei junge Frauen, eine mit Puschen an den Füßen, wie aus dem Boden gewachsen vor mir und sprechen mich an: »What you do?«, fragt die eine, wahrscheinlich ruppiger gesagt als gemeint.

Ich erschrecke mich, denke, dass ich eventuell verbotenerweise auf ihrem Stein oder zu nah am Zelt sitze oder mich hier oben überhaupt nicht aufhalten sollte.

Doch dann bemerke ich das Lächeln im Gesicht und die Neugierde in ihren Augen. Ich schaue zu ihr hoch und sage: »Meine Freunde da drüben machen ein Interview, ich habe sie begleitet. Darf ich hier sitzen?«

»Yes«, sagen die Frauen, mit Hosen unter dem Kleid, Schal und Hausschuhen bzw. Plastiklatschen im Dresscode des Wanderlebens angezogen, und starren mich an.

Ich stehe von dem Stein auf, starre lächelnd zurück und realisiere, dass Nik bislang keine einzige Frau für sein Projekt befragt hat. Kein Foto einer Frau oder eines Mädchens, keine Geschichte aus der weiblichen Perspektive, das darf doch nicht wahr sein. Ich erzähle den beiden Frauen von Niks Projekt. Eine übersetzt für die andere.

»Könntet ihr euch vorstellen mitzumachen? Und habt ihr vielleicht ein Foto auf eurem Smartphone von irgendeinem Ereignis, das besonders war und über das ihr Lust habt, etwas zu erzählen?«

»Sie hat kein Smartphone.« Sagt die eine.

»Aber sie hat eins.« Ergänzt die andere.

Beide grinsen.

Die eine holt also das Telefon und bringt gleich den Vater mit, der wohl aufpassen muss, mit wem seine Tochter da spricht. Auch andere Familienmitglieder und Nachbarn haben sich dazugesellt. Die Runde wird größer. Man ist interessiert.

»Wärest du bereit, das Gespräch mit Kamera zu führen?«, frage ich.

»Ja, aber ich kann nicht so gut Englisch.«

»Das macht nichts«, sage ich, »wir haben einen Übersetzer.«

Sie nickt. »Ok.«

So wurde ich zur Frauenbeauftragten, weil Frauen eben Frauen ansprechen, das trauen sie sich, das trauen wir uns. Vermutlich hätten die beiden Nik nicht angesprochen, hätte er auf dem Stein gesessen. So ist es hier, so ist es oft, vor mir haben sie keine Angst, begründeterweise haben junge Frauen vor Männern nun mal eher Angst. Vielleicht umso mehr, wenn man aus Ländern kommt, in denen Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit noch einen langen Weg vor sich haben und in denen Frauen und Männer gesellschaftlich getrennt voneinander leben. Aber auch ich habe als junge Frau jede Baustelle mit Männern auf Gerüsten vermieden und bin lieber einen Umweg gegangen.

 

Aus der Ukraine flohen nach dem Angriffskrieg durch Russland innerhalb weniger Monate eine Million Menschen nach Deutschland (laut statista.com). Fast 90 % der geflüchteten Ankommenden waren Frauen, Kinder und Haustiere!

Sie bildeten energetisch betrachtet eine Gruppe Mensch, die man nicht fürchtete. Vermutlich weil sie weiß waren und aus Europa und jene unter ihnen, die an Gott glaubten, zumeist Christinnen waren. Sie waren aber vor allem übernächtigte, erschöpfte, oft weinende Frauen, die ihre Kinder und Koffer und Katzen und Hunde schleppten und mit ihren zurückgelassenen Männern telefonierten.

Was, wenn die Ankommenden aus Afghanistan und Syrien und Irak zu 90 % allein reisende Frauen und Kinder gewesen wären? Ob mit oder ohne Kopftuch, mit oder ohne Lesekenntnisse. Diffizile Vorstellung, oder?

In den Geschichten über Gewalt, Krieg, Konflikt spielen zumeist Männer die Hauptrollen. Und wenn sie später verfilmt werden, spielen meine Kollegen nochmals die Hauptrollen. In dem wirklich brillanten Dokumentarfilm »Of Fathers and Sons« des syrisch-deutschen Regisseurs Talal Derki über das Kalifat der IS sieht man keine einzige Frau, obwohl ein großer Teil des Films in den Häusern der Kalifatmitglieder spielt. Würden wir sozusagen den weiblichen Yin-Teil des Films drehen, blieben wir in der Küche und im Hinterhof des Hauses, bei den Kindern und den teekochenden Frauen; vielleicht wäre das ein langweiliger Film, aber die portraitierten Menschen wären vermutlich nicht bedrohlich, obwohl sie eventuell dieselben Parolen äußern würden, die man von ihren Ehepartnern kennt, wie: »Tötet die Ungläubigen« oder Vergleichbares. Dennoch sind Frauen weniger bedrohlich, man muss keinen Umweg machen, wenn man an ihnen vorbeigeht.

Wären 90 % der Ankommenden in Deutschland weiblich und Kinder gewesen, hätte es die Silvesternacht 2015/16 in Köln, in der männliche Flüchtlinge deutsche Frauen am Bahnhof sexuell angegriffen haben, so nicht gegeben.

Dass Gewalt eher männlich als weiblich konnotiert ist, wurde in diesem Zusammenhang nicht benannt. Auch sieben Jahre später nicht, als erneut an Silvester, diesmal in Berlin-Neukölln, Gewalt gegen Einsatzkräfte, sogar gegen Sanitäter, in ungeahntem Ausmaß sich Bahn brach. Man benannte die Zahl der teilnehmenden Geflüchteten, der Migranten, der Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft.

Dass (laut Berliner Polizei vom 1.1.2023) von 103 festgenommenen Personen (»Brandstiftungsdelikte, Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz, Landfriedensbruch, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte«) 98 Männer und 5 Frauen waren und (laut Berliner Polizei vom 16.1.2023) von 39 Tatverdächtigen nur eine Person weiblich war, war anscheinend niemandem eine ernst zu nehmende Schlagzeile wert.

In der folgenden Debatte ging es um »Biodeutsche« und »Ausländer« statt um Männer und Frauen. Wir reden über Nationalitäten und Herkünfte statt über Gender, weil das anscheinend allen zum Hals raushängt.

98 Prozent aller Mass-Shootings werden von Männern verübt (laut »The violence project«, laut Jackson Katz). Ob jung, alt, mittelalt, amerikanisch, asiatisch, australisch, deutsch, marokkanisch, französisch, christlich, muslimisch, ich sag’s noch mal: 98 Prozent der Attentate wurden von Männern ausgeführt.

Ich frage die Soziologin Prof. Dr. Teresa Koloma Beck, die zum Thema Gewalt forscht, was Gewalt überhaupt ist. Das Gespräch dazu war so interessant und aufschlussreich, dass ich es in vollständiger Länge im Anschluss an diesen Text anhänge.