Jeder hat. Niemand darf. - Katja Riemann - E-Book
SONDERANGEBOT

Jeder hat. Niemand darf. E-Book

Katja Riemann

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Katja Riemann ist seit 20 Jahren in der Welt unterwegs, ist vor Ort, schaut hin. Sie beschreibt die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen und erzählt von Menschen, die sie bewundert, weil sie etwas bewegen. Katja Riemanns Zuversicht macht Hoffnung, ihre Hingabe ist ansteckend, ihr Humor mitreißend. Sie zeigt, dass Veränderung möglich ist. Über Jahre hat sie die Arbeit von Molly Melching, der Gründerin von »Tostan« beobachtet, die in senegalesischen Dorfgemeinschaften das Ende der Beschneidung von Mädchen herbeiführt. An der Seite von Friedensnobelpreisträger Dr. Denis Mukwege und dem Arzt und Aktivisten Dr. Kasereka Lusi hat sie sich ein Bild machen können über den Einsatz der Vergewaltigung als Kriegsinstrument im Ostkongo. »Drogen kann man nur einmal verkaufen, Menschen mehrmals«, berichtet sie aus Nepal, wo die Töchter der Familien der unteren Kaste als Dienstmädchen von Menschenhändlern nach Katmandu geholt werden. Und schließlich findet Katja Riemann ihre eigene Geschichte im Libanon, wo ihr Vater lange gelebt und unterrichtet hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 595

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katja Riemann

Jeder hat. Niemand darf.

Projektreisen

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]AufblendeBurundi. 2013Rumänien. 2001Burkina Faso. 2018Nepal. 2012/13Khayelitsha. 2016Moldawien. 2004Senegal. 2002/2006/2010/2016Deutschland. 2016/2017/2018Libanon. 2017Kongo. 2006AbblendeNachwort von Harald WelzerDankLinks

Für Roger Willemsen

Aufblende

Als Kind spielten wir im Sportunterricht ein Spiel, das hieß »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann«. Auf einer Seite der Turnhalle stand ein Kind, auf der anderen Seite alle anderen. Das Kind rief den Satz, und die Antwort hieß: »Niemand.« – »Und wenn er kommt?«, wurde weiter gefragt. »Dann laufen wir!«

Dann rannten alle los, und das eine Kind versuchte möglichst viele der laufenden Kinder anzutippen, die dann sofort auch zu der dunklen Seite der Macht gehörten.

Man könnte denken, es sei rassistisch konnotiert, doch das ist es nicht. Es lässt sich bis auf das Mittelalter zurückführen, auf die Pest, die die Schwarze Pest genannt wurde. Oder wohl auch auf den Schatten der Angst, auf das Dunkle, das Unbekannte. Das ist schwarz. Davor hat man Angst, und konfrontierte sich in diesem Spiel damit, rannte schließlich die Angst weg.

Die Angst vor dem Unbekannten wird personalisiert. Wird zu einer Person, einem schwarzen Mann oder auch einer Gruppe schwarzer Männer.

 

Es ist praktisch, wenn man jemanden verantwortlich machen kann für die eigene Misere. Die verantwortliche Person oder Gruppe ist im besten Fall unbekannt. Etwas Unbekanntes, das eine Projektionsfläche bietet für alle dunklen Vorstellungen, die man darauf malen kann. Schwer lasten diese Vorstellungen, lasten die Vorurteile nun auf der Projektionsfläche. Was sich darunter befindet, interessiert nicht mehr. Wer geht und schaut sich das Unbekannte an, um es sich bekannt zu machen, frage ich mich.

 

Seit 20 Jahren stehe ich in Kontakt mit Menschenrechtsaktivisten überall in der Welt. Sie sind für mich die Helden der Zeit, vor allem jene, die im Feld arbeiten, deren Namen zumeist unbekannt bleiben. Seit einigen wenigen Jahren nun sind die Menschen, die sich für andere Menschen einsetzen, in Gefahr. Sie werden verbal angegriffen und körperlich attackiert, sie werden ermordet, ihre Arbeit wird zunichtegemacht, indem man ihnen beispielsweise die Mittel zerstört oder konfisziert, mit denen sie diese Arbeit leisten. Die Seenotrettung war vielleicht ein Auslöser für den Beginn der Attacken.

Als 1948 die »Universal Declaration of Human Rights«, die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte«, veröffentlicht wurde, die in zweijähriger Arbeit von einer achtköpfigen Gruppe kluger Menschen formuliert worden war, wurde das schmale Heft mit den 30 Artikeln eine Art Anleitung, wie Gesellschaften friedlich leben könnten. Ich habe es immer als einen Waschzettel für das Leben betrachtet. Es gibt kein Land auf der Erde, in dem alle Menschenrechte eingehalten werden. Dennoch waren wir schon mal sehr viel weiter. Aktivisten konnten ihre Arbeit machen. Jetzt lösen sie Hass aus.

 

Ich durfte auf den Projektreisen, die ich seit 2001 unregelmäßig unternommen habe, viele von ihnen kennenlernen und blieb mit den meisten bis heute in Kontakt. Ich empfinde das als eine große Ehre und würde es nicht wagen, mich als eine von ihnen zu sehen, sondern bin vielmehr Botschafterin und Geschichtenerzähler dessen, was ich sah und erlebte und von ihnen lernte. Die Beschäftigung damit hat mich zu einem Menschen gemacht, der sich für das Unbekannte interessiert bzw. es sich bekannt machen möchte.

Der Zustand des Unterwegsseins löst in mir etwas Unmittelbares aus, in dem ich immer nur im Moment anwesend bin. Unterwegs in Gegenden, die unbekannt sind, in die sich oft kein Tourist mehr hin verliert. Es mag sein, dass es etwas sehr Menschliches ist, zu wandern, zu reisen, unterwegs und on the road zu sein. Sich dorthin zu begeben oder zu flüchten, wo man selbst zu dem Unbekannten wird, vor dem man sich doch so fürchtet.

 

Im Sommer 2015 begegnete ich auf dem Frankfurter Flughafen überraschend Roger Willemsen, der auf mich zustürmte in seiner unvergleichlich heiteren Art, der lange Mensch, der meinen Arm küsste und sagte: »Kommst du nächstes Jahr nach Mannheim zu meinem Literaturfest? Wollen wir zusammen einen Abend machen über deine Menschenrechtsarbeit, davon wissen doch viel zu wenige. Du liest ein paar Texte, die wir zusammenstellen, und ansonsten unterhalten wir uns über unsere verrückten Reisen zu den Enden der Welt?«

»Au ja«, antwortete ich begeistert, »das wäre wunderbar.«

Zehn Tage vor dem Abend verließ uns Roger …

So war ich mit zwei Musikern allein auf der Bühne vor einem ausverkauften Saal, in dem 400 Menschen um ihn trauerten, und stand es nur durch, weil es sein Abend war und ich es so machen wollte, dass es ihm gefallen hätte.

Für die Vorbereitung fragte ich meinen Freund, den Buchhändler Christian Dunker, ob er mir helfen könnte, entsprechende Texte zusammenzustellen. Dafür brauchte er von mir Informationen über Orte und Themen der Projektreisen, wie er sagte, und so schrieb ich in einer langen Nacht eine ausführliche E-Mail an ihn, auf die er am nächsten Morgen mit einem Anruf reagierte und schachmatt klang, als er sagte: »Mensch, Katja, das wusste ich ja gar nicht.« Ich lachte.

Er half mir, und nach dem Abend bat er mich, einen Artikel für seine Zeitschrift »Geistesblüten« zu schreiben, 10000 Zeichen wären gut. Es wurden 22000, und ich schickte den Text an Rogers engste Vertraute Insa Wilke, die ich während des Mannheimer Literaturfestivals kennengelernt hatte und die ich bat, zu prüfen, ob ich das so schreiben könnte.

Mein Text sei zu lang, sagte Christian, doch ich konnte ihn nicht kürzen und verzichtete auf die Veröffentlichung. Was ich nicht wissen konnte, war, dass Insa den Text an zwei Lektoren des S. Fischer Verlages weitergeleitet hatte. So erhielt ich ein paar Wochen später den Anruf einer Frau namens Nina Sillem, die sich als Programmleiterin der Sachbuchabteilung vorstellte. Sie sagte: »Ich habe Ihren Artikel gelesen, ich glaube, da steckt ein Buch drin.«

 

Der Grund, warum ich das eingangs erzähle, ist, dass ich verdeutlichen möchte, dass die Idee zu diesem Buch nicht meine war. Sie kam von Insa Wilke und Oliver Vogel und Nina Sillem. Aber letztlich war Roger Willemsen der Auslöser. Darum widme ich ihm dieses Buch. Er fehlt.

 

Der Titel des Buches leitet sich von den Menschenrechtsartikeln ab, die fast alle mit den Worten beginnen »Jeder Mensch hat … das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person« (Artikel 3) oder »Niemand darf … in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.« (Artikel 4)

Burundi. 2013

Ein Plan, der die Endgültigkeit zum Ziel hat, gleicht einem Kunstwerk. Oder ist vielleicht nur das Leben selbst ein Kunstwerk, nicht aber das, was zu seiner Vernichtung führt.

Edgar Hilsenrath

Wenn man seinen Teller leer isst, dann gibt es am nächsten Tag gutes Wetter. Oder die Sonne scheint. So wurde auch ich motiviert aufzuessen und wahrscheinlich viele Generationen vor mir, seit 1870. Denn seit dem 1870er Jahr steht dieser Satz im Deutschen Sprichwörter-Lexikon. Aber anscheinend beruht diese Redensart auf einer falschen Übersetzung, habe ich irgendwann gelernt von jemandem aus dem Norden. Im niederdeutschen Platt hieß es so: »Wenn du dien Teller leer ittst, dann gifft dat morgen goodes wedder«, was übersetzt eigentlich heißt: »… dann gibt es morgen wieder was Gutes.« Denn wenn die Essenden aufessen, ist der Koch am nächsten Tag motiviert, weil man offensichtlich seine Kochkünste schätzt. Aus dem »wieder«, dem »wedder«, machte dann irgendeine Pappnase »Wetter«. Und nun isst man für die Sonne, für das gute Wetter statt für die Freude oder Anerkennung des Kochs.

Und dann gab es einen anderen Ansporn für lustlos essende deutsche oder vielleicht auch europäische Kinder, der eigentlich mehr eine Drohung war und die Keule des schlechten Gewissens erhob. »Iss auf, in Afrika hungern die Kinder.« Als ob es irgendeinen Unterschied für afrikanische mangelernährte Kinder machte, wenn ein Kind in Kirchweyhe oder sonst wo aufessen würde. Eigentlich ist es zynisch, bei Licht betrachtet.

Mangelernährung. Das war das Thema der Projektreise nach Burundi. Und ich hatte nicht die Spur einer Idee, was das wirklich bedeutet.

 

Der Lake Tanganyika, an dessen Ufern ich nach unserer Ankunft in einem Gästehaus übernachtete, bei Bujumbura, sieht aus wie ein Meer. Der See ist riesig, man sieht nur Wasser und Horizont und dahinter das Ende der Welt. Er liegt in Burundi, der Demokratischen Republik Kongo, Tansania und Sambia. Das Land Burundi liegt unter anderen neben dem Kongo, die Grenze verläuft zum größten Teil durch den See. Es ist mit diesen beiden Ländern hinsichtlich der Größe ein bisschen so wie mit David und Goliath. Burundi gehört mit knapp 28000 Quadratkilometern zu den drei kleinsten Ländern Afrikas, wenn man die Inseln nicht mitrechnet, und ist somit etwas kleiner als Brandenburg. Der Lake Tanganyika jedoch hat eine Fläche von circa 33000 Quadratkilometern. Gefüllt mit Süßwasser, wie ich mich versicherte, in dem ich meinen Finger hineindippte und dran nuckelte. Der zweitgrößte See Afrikas ist also ungefähr so groß wie Belgien. Womit sich der Kreis schließt, denn die Belgier übernahmen nach dem Ersten Weltkrieg die Kolonialmacht von den Deutschen und blieben bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1961.

Der Erste, der sich über den Kolonialismus lustig gemacht hat, war Trevor Noah, Comedian aus Johannesburg, seit einigen Jahren der Moderator der US-amerikanischen Daily Show und mittlerweile weltberühmt. In seiner Stand-up-Comedy-Show »Afraid of the Dark« stellt er sich die Szene eines gerade angelandeten britischen Militärs und eines Inders vor und spielt auch gleich beide Rollen:

 

»Hear ye hear ye, by order of her majesty the queen, we have arrived. (Fanfare) You over there, what is the name of this land?«

»This land over here? This is called India, my good man.«

»Well I am here to tell you that now India is under the British Empire.«

»And I am glad that I can tell you that India is exactly where it was yesterday.«

»Do you know who I am.«

»No, you haven’t introduced yourself.«

»I am here to represent Great Britain.«

»Who gave you that name?«

»Well, we did.«

»You call yourselfs great? Isn’t that a little presumptuous? Shouldn’t you just do great things, great things, great things and then the others say, oh look Britain how great you are.«

»We are Great Britain!«

»Okay, so in that case, welcome to Great India.«

»I am letting you know that we’re here to colonize you, by order of the queen. She, who was ordained by God.«

»Which God?«

»Well, God.«

»You want to colonize us, but you don’t know the name of your God?«

 

Auf einem Schild wird vor Krokodilen gewarnt, die manchmal am Ufer entlangpirschen. Was machst du, wenn dir plötzlich eines dieser schönen und angsteinflößenden Reptilien gegenübersteht, frage ich mich. Auf’n Baum? Krokodile können, soweit ich weiß, nicht klettern. Ich schaue mir für die Eventualität die Bäume an, sie sind sehr fragil, und die Zweige beginnen erst weit oben. Na bravo.

Wir treffen uns mit den burundischen UNICEF-Kollegen am Abend in einem Pavillon am Ufer des Sees, und es ist so schön, dass es mir im Herzen zieht. Die Luft ist warm und voll beglückender Gerüche, das Licht sanft. Gleich beim Ausstieg aus dem Flugzeug fühlte ich mich bereits angekommen. Mama Afrika!

Wir sitzen in großer Runde. Einige kenne ich, Johannes Wedenig zum Beispiel, den ich im Kongo kennenlernte und der jetzt Head of UNICEF Burundi ist, nachdem er vom Kongo erst ins südamerikanische Guyana beordert worden war und nun wieder auf den Kontinent zurückkehrte. Er heiratete eine burundische Anwältin, mit der er inzwischen zwei Kinder hat. Zuletzt saßen er und ich, einige Wochen bevor ich dies schrieb, zwischen Berliner Bahnhof, Auswärtigem Amt und Spree in einer Lokalität in einem Keller, dort, wo Menschen Bier aus großen Gläsern mit Wappen drauf trinken. Wir setzten uns dorthin, wo niemand saß und wo es ein bisschen aussah wie in einem eleganten und holzgetäfelten Bahnhof-Warteraum des 19. Jahrhunderts, nur ohne Zigarrenqualm, dafür mit kafkaeskem Endzeit-Ambiente. Johannes erzählte mir von seiner neuen Aufgabe, die er im Sommer 2019 in Kenia antreten würde und die in Kooperation zwischen einer Schweizer Stiftung und UNICEF entstehen würde, um Berufschancen für Jugendliche in sechs afrikanischen Ländern auf den Weg zu bringen, indem sie in digitaler Technologie geschult würden. Ein Schritt auf dem Weg, das Narrativ vom afrikanischen globalen Süden zu beenden.

Von Nairobi aus würde er, Johannes, agieren und würde damit seine langjährige Arbeit als Head of UNICEF in den verschiedensten kriegs- und krisengebeutelten Ländern beenden, um sich dieser neuen Herausforderung zu stellen. Weiterhin würde er zwar für UNICEF arbeiten, aber eben in einer neuen Konstellation und in der aufbauenden Arbeit des Projektes.

Bevor ich später ins Bett ging, textete ich ihm: »Ich komm dich in Kenia besuchen, wenn ich darf, ich hab dieses Projekt nicht ganz begriffen.« Und er schrieb prompt zurück: »Ich auch noch nicht.«

 

Nun aber saßen wir noch in Burundi, und er war der UNICEF-Kopf, hatte ein paar seiner Teamkollegen mitgebracht, wie zum Beispiel den Spanier Sandro, den ich im Verlauf der Reise kennen und schätzen lernte, und wir, Claudia Berger, die PR-Referentin von UNICEF Deutschland, eine amerikanische Unterstützerin, die uns begleitete, Christian Schneider, der damals neue Vorsitzende des deutschen Natcoms, und unser vertrauter Fotograf Wolfgang Langenstrasse sprachen über den heutigen Überfall auf das Westgate-Einkaufscenter im kenianischen Nairobi durch die somalische al-Shabaab-Miliz. Sie hatten die Shopping-Mall besetzt, Geiseln genommen und lieferten sich Gefechte mit dem Militär. 67 Menschen starben, 300 wurden verletzt.

Die Weltpresse war in Alarmbereitschaft und vor Ort, und das in Kenia ansässige ZDF-Team, das uns auf unserer Projektreise eigentlich begleiten wollte und heute ebenfalls hätte in Bujumbura eintreffen sollen, hatte seine Ankunft verständlicherweise um einen Tag verschoben, um über diesen erschreckenden Vorfall zu berichten. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass ein UNICEF-Kollege in dem Center war und erschossen wurde. Der Kinderarzt Juan Jesus Ortiz-Iruri, der in den Natcoms von Malawi und Kenia gearbeitet hatte.

 

Bislang ist die Gegend krokodilfrei geblieben, und so sitzen wir neben dem süßen Lake Tanganyiaka und konzentrieren uns nun auf das Thema unserer Reise: Unterernährung oder, netter gesagt, Mangelernährung, auf Englisch malnutrition. Johannes und Sandro geben uns einen Überblick über die Projekte, die wir besuchen werden, und erläutern uns vor allem die unterschiedlichen Arten von Mangelernährung.

Akute Unterernährung ist aufgeteilt in moderat und schwer. Zu einer akuten schweren Unterernährung können weitere Komplikationen hinzukommen wie Malaria, Durchfall oder Atemwegserkrankungen.

Chronische Unterernährung ist das Worst-Case-Szenario. Babys kommen bereits chronisch unterernährt zur Welt, wenn ihre Mütter chronisch unterernährt sind und deshalb das Baby sich im Bauch nicht bis zu seinem vollen körperlichen und vor allem geistigen Potenzial entwickeln kann. Problematisch wird es, wenn die chronisch mangelernährt geborenen Kinder in den ersten zwei Lebensjahren unterernährt bleiben, denn dann wird das Chronische zellulär. Das nennt man transgenerational, und das ist nicht mehr reparabel. Es entsteht dabei ein emotionales, geistiges und physisches Defizit.

Chronische Unterernährung bei Kindern über zwei Jahre ist mit einer Umweltkatastrophe vergleichbar, sie hat langwierige Auswirkungen und kann ganze Regionen nachhaltig zerstören.

Wenn sich das Gehirn nicht vollständig ausbildet, wie soll man dann lernen, falls man die Chance auf Lernen erhält?! Wer soll in gesellschaftlicher Hinsicht einen Unterschied machen und das Land, die Politik voranbringen, wenn nicht die Menschen des Landes selbst.

Ayaan Hirsi Ali, Somalierin, die in Holland Asyl fand und später dort Abgeordnete im Parlament wurde, hat das Drehbuch verfasst zu Theo van Goghs Kurzfilm »Submission I« (Unterwerfung). Sie sagte ihm, er solle seinen Namen heraushalten, es wäre gefährlich, einen Film zu machen über die Koransuren, in denen die Rolle der Frau im Islam beschrieben werden. »Ach, ich bin doch sowieso ein bunter Hund«, war seine heitere Antwort. Van Gogh wurde nach der Veröffentlichung des Films ermordet. Ayaan Hirsi Ali erhielt eine Morddrohung, dass sie die Nächste wäre, und bekam daraufhin Personenschutz und wurde schließlich staatenlos, bis sie eine neue Heimat in den USA fand. 2006 hat sie ein Buch geschrieben, das »Mein Leben, meine Freiheit« heißt, in dem sie sagt: »Wir brauchen unseren eigenen Voltaire. Unsere eigene Aufklärung.« Die Impulse zu Veränderungen kommen aus dem eigenen Land. Wenn im eigenen Land jedoch ein hoher Prozentsatz an chronisch mangelernährten Heranwachsenden existiert, dann verkompliziert es die Chance auf genau diese eigene Aufklärung, von der Ayaan spricht.

 

Wir fahren früh los. Zwei Stunden auf roten Straßen. Nach Murayi zu einer Gesundheitsstation, die von burundischen katholischen Nonnen betrieben und von UNICEF unterstützt wird. Dorthin kommen wöchentlich 20 Mütter mit ihren mangelernährten Babys und kleinen Kindern, um sie wiegen und messen zu lassen. 30 Kinder werden pro Tag versorgt und behandelt. Die Einrichtung ist in einem Backsteinbau untergebracht, und das Rot des Hauses, das Rot der Erde und das Grün der Pflanzen beeindrucken in ihrer kontrastreichen Farbigkeit und Fülle. Auf dem Hof stehen Mülleimer, in denen man den Müll trennt – das würde Berlinern gefallen.

Die Babys werden von der bezaubernden Oberschwester Emilienne oder einer ihrer Mitarbeiterinnen in ein kleines Säckchen gehoben, das an einem Strick hängt, der mit der Waage verbunden ist, so dass man weiß, wie viel sie wiegen. Das Hineintun in das Säckchen gefällt keinem der Kinder, trotzdem sieht es wahnsinnig niedlich aus. Dann werden ihre Oberärmchen gemessen mit einem Zentimetermaß, das Rot, Gelb oder Grün anzeigt, wenn man es einmal um den Arm wickelt. Grün ist das erstrebenswerte Ziel, Rot ein Desaster.

Danach wird ermittelt, wie viel Gramm Superfood sie in den nächsten Wochen bis zur nächsten Untersuchung essen müssen. Das Superfood ist neu, es heißt »plumpy nut« und kommt in einem kleinen Quetschdings, bei dem man eine Ecke abreißt und dann die süßliche, erdnussartige Paste, die extrem kalorien- und proteinreich ist und angereichert ist mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen, herausnuckelt. Ein Säckchen mit Paste hat 2500 Kalorien. Plumpy nut gibt es seit zwei Jahren und hat die therapeutische Milch ersetzt, da diese als Pulver mit Wasser angerührt werden musste und es oft nicht sicher ist, ob das dafür verwendete Wasser auch sauber ist. Und der Brei, der früher gegeben wurde, war nicht reichhaltig genug und zeigte nicht so schnelle Wirkungen wie nun die neue Paste, durch die die Kinder relativ zügig wieder zu Kräften kommen und an Gewicht zunehmen. Die leeren Quetschdinger müssen die Mütter zur nächsten Untersuchung wieder mitbringen, als Garantie, dass es auch gegessen wurde. Wobei eine leere Verpackung natürlich keine Garantie darstellt, dass der Inhalt auch wirklich an das Kind verfüttert wurde, aber es geht hier vor allem darum, dass die Paste nicht verkauft oder weggegeben wird.

Die Ergebnisse der Messungen werden in ein Formular eingetragen, um den Verlauf der Zunahme beobachten zu können. Aber darüber hinaus wird den Müttern hier auch Anleitung gegeben über einfachste Hygiene, wie das Waschen mit Seife oder die Verwendung von Moskitonetzen. Manchmal jedoch ist selbst das zu viel verlangt, da kein Geld im Haushalt vorhanden ist für den Kauf von Seife.

Die Begleiterscheinungen der akuten Unterernährung, von denen wir erfahren, sind der Verlust der Haarfarbe oder die Gefahr, ins Koma zu fallen. Ein Mädchen erwachte aus dem Koma und war blind. Mangelernährung ist also mehr als Dünnsein.

Woher kommt die Mangelernährung, wie entsteht sie hier in Burundi, frage ich.

Der Unterschied zwischen der Mangelernährung auf dem Land und in der Stadt beträgt 70 zu 30 Prozent. Es gibt eine Überbevölkerung und zu wenig Platz zum landwirtschaftlichen Anbau, 95 Prozent der Bevölkerung sind Bauern, wenn man jemanden Bauer nennen will, der irgendetwas anpflanzt, um etwas zu essen zu haben. Der Boden wird ausgelaugt, indem man zehn Jahre dasselbe anpflanzt, dann ist der Boden versalzen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Hoffnung auf Arbeit verkümmert. Eine Wirtschaft existiert eigentlich nicht, da die Infrastruktur defizitär und Korruption verbreitet ist.

Familienplanung. Durchschnittlich werden sechs Kinder in eine Familie geboren. Kommen zwei Kinder schnell hintereinander, reduziert das zweite Kind die Nahrung des ersten, das dadurch schnell in die Falle der Unterernährung gerät, falls es nicht sowieso schon mangelernährt geboren wird. Auch wissen viele nicht, dass die Muttermilch ausreicht und nicht mit Wasser verlängert werden muss, was zu Diarrhö, Malaria und Lungenentzündung führen kann und somit zum Kindstod.

65 Prozent der Bevölkerung ist katholisch, 20 Prozent protestantisch. Dennoch empfehlen in der katholischen Gesundheitsstation, die wir besuchten, die Schwestern Kondome, solange diese außerhalb der Station angeboten und gekauft werden. Sie klären in diesem Zusammenhang auch über Aids auf.

Ich stoße auf allen Reisen immer wieder auf dieselben Zustände, auf dieselben Grundbedingungen, die ein Teufelskreis sind und mit mangelnder Aufklärung zu tun haben und vor allem mit schlechter Wirtschaft und korrupter Politik.

5000 Gemeindehelfer arbeiten in den Dörfern für das Gesundheitszentrum, das es seit 2006 gibt. Sie sind es, die geschult sind darin, Mangelernährung zu erkennen oder Malaria oder Tetanusvergiftungen oder oder oder. Sie werden von UNICEF und Partnerorganisationen geschult, ein Training, das alle drei Jahre aufgefrischt und erweitert wird. Sie sind es, die die Mütter und ihre unterernährten Babys in die nächste Health Station schicken. Sie leisten eine wertvolle wesentliche Arbeit, und ohne sie würde nichts laufen.

 

Wenn es Kinder gibt, die hier nicht behandelt werden können, werden sie mit einem Ambulanzwagen in ein Krankenhaus geschickt. In der Pädiatrie, also der Kinderstation des großen Gitega Hôpitals (Gitega ist die Hauptstadt Burundis), das wir ebenfalls im Laufe der Reise besuchten, arbeiten unter anderem Ärzte von »Ärzte ohne Grenzen«. Kinder mit schwerer akuter Mangelernährung und zusätzlich Malaria, Lungenentzündung, Fieber, Diarrhö oder Tetanus werden hier behandelt. Ein Kind ist hier, das deswegen nicht mehr laufen konnte. Die Anzahl der Kinder in den Krankenhäusern steigt in der Pflanzzeit, weil es dann nichts zu essen gibt. Neugeborene werden hier gegen Polio und Tuberkulose geimpft, kleine Kinder erhalten antibiotische Wurmkuren; durch nicht abgedecktes Essen, mangelnde Hygiene und Spielen im Schmutz bekommen sie Würmer, die sie zusätzlich schwächen.

 

Doch die Kinder, die regelmäßig in die Health Station mit den getrennten Mülleimern kommen, werden es schaffen, ihre Mangelernährung zu beenden, um chronische Mangelernährung zu vermeiden, sie werden untersucht und gepampert, und es wird auf sie achtgegeben, damit sie stabil werden und sich sowohl körperlich als auch geistig zu ihrem vollen Potenzial entwickeln können. Damit sie irgendwann zu einer Schule gehen und zur Aufklärung ihres Landes beitragen können. Damit das ein Ende nimmt mit der Korruption von Wirtschaft und Politik, von Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, und damit Bildung und Gesundheit für alle zum Leben dazugehören.

 

Es schüttet. Es regnet so stark, dass man fast nichts sehen kann, ich filme durch das geschlossene Fenster und frage mich, wie es sein kann, dass in einem so fruchtbaren Land nicht genug zu essen angebaut werden kann, damit alle satt werden. Es blieb mir bis zum Ende der Reise ein Rätsel. Zu tun hat es wohl damit, dass Burundi hügelig ist und man Terrassen bauen muss, auf denen dann gepflanzt wird. Aber dazu braucht man Landmaschinen, die nicht vorhanden sind oder nicht bezahlbar. Hat mir trotzdem nicht eingeleuchtet. Damals traute ich mich irgendwann nicht mehr, die immer gleiche Frage zu stellen, und so schrieb ich unlängst Johannes Wedenig eine E-Mail und fragte ihn noch einmal. Dies war seine Antwort:

»Es liegt in erster Linie an der Bodenerosion und archaischen landwirtschaftlichen Praktiken. Außerdem führten Vererbungen zur Zerstückelung von landwirtschaftlichen Flächen, und so wurden die einzelnen Parzellen zu klein, um wirtschaftlich zu sein. Des Weiteren sind zu viele in der Landwirtschaft unterbeschäftigt, da es sonst kaum Einkommensmöglichkeiten gibt.«

 

Es schüttet. Der Regen weicht die Straßen auf, bis sie wegrutschen und uns schließlich entgegenkommen. Wir rutschen durch die Gegend zu einem kleinen Dorf, zu dem der Weg ein wenig ansteigend verläuft. Hier macht das Auto schlapp, es bleibt stecken und dreht sich um die eigene Achse. Wir steigen aus – und in eine Dusche hinein. Das Auto steht nun quer mitten auf der Straße, die uns wie gesagt entgegenströmt. Sieht irgendwie gut aus, warum nicht mal quer parken. Steine werden vor die Reifen gelegt, damit das Auto nicht mit der Regenflut weggespült wird: hinab ins Tal, hinunter zum Lake Tanganyika, rüber in den Kongo, wo das Auto wieder rausgefischt wird von Warlords, die seinen rückwärtigen Teil zur Hälfte quer absägen, um daraus einen Pick-up zu machen und dann Männer mit Kalaschnikows draufzustellen. Oder Kinder mit Kalaschnikows. Aber das passiert nicht, denn das Auto krallt sich fest, offensichtlich möchte es lieber bei uns bleiben statt Bürgerkrieg zu machen.

Und so stiefeln wir los, auch wenn wir Flipflops anhaben oder Turnschuhe.

Am Ende des Dorfes wohnt ein Mann, der uns in sein Haus einlädt und uns seine Geschichte erzählt. Er hat sieben Kinder und keine Frau mehr. Als er vor einigen Jahren morgens zu seinem Feld ging, um es zu bestellen, lag mitten auf dem Feldweg ein neugeborenes Baby. Der Mann schaute herum, um die dazugehörige Mutter zu finden oder irgendjemanden, zu dem das Kindchen gehören könnte. Da war aber niemand. Und so entschied er sich, das Baby mit nach Hause zu nehmen. Als sein achtes Kind. Er zog es gemeinsam mit seinen leiblichen Kindern groß und behandelte es genauso wie diese. Als alleinerziehender Vater in einem Land, in dem die Versorgung knapp ist. Er hat immerhin ein Feld; was darauf wächst, weiß ich nicht. In seinem Haus war es schwarze Nacht und eng. Aber dieses Haus wurde Heimat und Rettung für das kleine Mädchen, das, inzwischen zweijährig, herumlief.

Im Laufe des Tages war klargeworden, dass das ZDF-Team nicht mehr kommen würde, da die Situation in Nairobi zu prekär war. So hatte man kurzentschlossen einen burundischen Amateur-Kameramann gewinnen können, der gerade angekommen war. Dieser wollte nun unbedingt filmen, wie wir den Mann vor seinem Haus begrüßen und gemeinsam hineingehen. Also bei der ersten Begegnung live dabei sein sozusagen. Wir hatten aber mittlerweile Zeit mit ihm in seinem Zuhause verbracht, seine Geschichte gehört, einige seiner Kinder kennengelernt und uns angeregt unterhalten, auch über die Dringlichkeit von Solarlampen, die in seinem Haus sicherlich einen Unterschied machen würden. Sandros Metier. Wir waren uns nicht mehr fremd, wir mussten für den Wunsch des Kameramanns so tun, als ob. Dazu traten wir wieder auf die Straße, der Regen hatte inzwischen nachgelassen, und hier sollten wir nun die Szene spielen: erste Begegnung und Begrüßung, Händereichen, Haus betreten, Schnitt. Okay, können wir machen; das sollte ich können, würde man denken, nur so richtig Bock hatte ich nicht. Aber wenn der burundische Kameramann es so gern hätte, bitte sehr.

Und dann ging’s los! Der Mann war in seinem Element, er begann zu spielen! Dergestalt, dass man auch noch im dritten Rang gesehen hätte, was da vor sich geht. Er trat aus dem Dunkel seines Hauses auf mich zu, als sei ich eine langersehnte Cousine oder die wiedergefundene Schwester, breitete die Arme aus, schüttelte mit beiden Händen meine Hand, verneigte sich fast und immer wieder, so dass sein Körper sich stark bewegte, sprach zu uns einen unablässigen Schwall an Worten hin, die uns, selbst wenn wir sie wörtlich und nicht nur bezüglich seiner Haltung verstanden hätten, keine Millisekunde Unterbrechung ermöglichten, um auf sie zu reagieren, so unablässig und unermüdlich war er. Desgleichen in seiner Freude der Erstbegegnung, die vielmehr wie eine Wiederbegegnung anmutete. Er war geradewegs aus dem Häuschen, im wahrsten Sinne des Wortes, freute sich, uns zu begrüßen, und die eben noch so gefährlich erscheinende rutschige Straße wurde zu seiner Bühne. Es war phantastisch. Und ich muss leider zugeben, dass ich ein schlechter Partner war, da er mich mit seiner expressiven Performance zu einem Zuschauer machte. Ich begann zu lachen ob seiner eindringlichen Schauspielerei und weil er in unserem ganzen Gespräch keinmal so offen und begeistert gewesen war. Mein Lachen nahm er direkt als Inspiration, ebenfalls zu lachen und erneut die Hand zu reichen beziehungsweise meine zu nehmen, so dass wir schließlich Hand in Hand, wie Hänsel und Gretel, sein dunkles Häuschen betraten. Mittlerweile schüttelte ich mich geradewegs vor Lachen und Begeisterung, und es schien, als wären wir plötzlich verwandt geworden, der Mann und ich. Es war ein Höhepunkt seines Lebens, glaube ich, abgesehen von dem Tag, als er ein Baby auf dem Feldweg fand, zu dessen Lebensretter er wurde. Die unerwartete Chance auf eine Filmkarriere war wohl genauso exzeptionell, und er spielte sich die Seele aus dem Leib.

Das gefilmte Material war natürlich völlig unbrauchbar. Wir spielten nicht für live dabei, wir spielten ungefähr so extrovertiert wie das Ensemble eines Fritz-Lang-Films. Aber das macht ja nichts, denn der Mann und ich kamen uns auf diese Weise wirklich nah – im Spiel. Da, wo man alles sein darf. Er musste aber gar nichts mehr sein, er war schon was. Ein Single-Dad in einem winzigen burundischen Dorf, das eine schräge Straße hat, die bei Regen runterrutscht, einer mit sieben Kindern, einer Ziege und einem Feld, der ein Findelkind zu sich nimmt, das zu allem Überfluss mangelernährt war, und der mit der Hilfe der Schwestern in den Gesundheitsstationen das Kind so lange aufpäppelte, bis es stark war und nicht mehr gefährdet. Einer, der von Fritz Lang bestimmt engagiert worden wäre, wenn es in den zwanziger Jahren den burundischen Männern erlaubt gewesen wäre, eine deutsche Stummfilmkarriere zu machen.

Auf der Fahrt zu unserem nächsten Halt sitzt Sandro, der so schnell Englisch spricht, wie Spanier Spanisch sprechen, neben mir. Sein Thema ist Solarenergie, und er hat dazu ein Projekt entwickelt. Wir sind auf dem Weg zu dem Dorf, in dem die Solarlampen bereits eingesetzt werden. Im Auto zeigt er mir die Lampe. Sie ist an einem Gummi befestigt, das größenverstellbar ist und um den Kopf gebunden wird. Wie eine Bergarbeiterlampe. Man kann das Leuchtding einstellen, so dass das Licht, wenn man lesen möchte, auf das Blatt fällt oder, wenn man damit durch die dunkle Nacht geht, den Weg vor einem beleuchtet. Ich frage ihn, ob ich mir eine für unsere Tour ausleihen darf.

»Ja«, sagt er, »aber du musst sie mir zurückgeben.«

»Selbstverständlich«, antworte ich und probiere die Lampe gleich aus.

»Die Solarzellen in der Stirnlampe werden wieder aufgeladen durch ein Sitzfahrrad.«

»Durch ein was?«

Er lacht. »Wirst du gleich sehen.«

Drei Prozent der Bevölkerung Burundis sind an das Stromnetz angeschlossen. Somit müssen die meisten Burunder Petroleumlampen, Batterien und Kerzen kaufen, für Licht und Radio, dafür verwenden sie ungefähr 15 bis 30 Prozent ihres Budgets. In dem Dorf, das wir erreicht haben, steht vor einem Haus der Generator für die Lampen. Das Sitzfahrrad. Man setzt sich auf einen aus Brettern zusammengenagelten Sitz, auf den der Generator geschraubt ist, der rechts und links Pedale hat. Wenn man nun in dem Holzsitz sitzt und die Füße auf die Pedale setzt und zu treten beginnt, muss man genau auf die Anzeige im Generator schauen, die grün leuchten muss. Tritt man zu schnell oder zu langsam, tut sich nichts, sprich, es wird nicht geladen. Wenn man es richtig macht, benötigt man ungefähr 20 Minuten, um fünf Solarlampen aufzuladen, die dann jeweils 30 Stunden halten. Sie sind robust, man kann sie mal fallen lassen, das macht ihnen nichts. Rose, vor deren Haus der Generator steht, zeigt uns, wie man tritt, sie ist behände und geübt. Es sieht nach einem Klacks aus.

Man bietet mir den Holzsitz an, und ich kann es natürlich nicht lassen, versuche es und blamiere mich. Von wegen Klacks. Zum einen ist es sauschwer, die Pedale überhaupt zu treten, es ist, als würde man einen Berg hochfahren, zum anderen bin ich zu schnell oder zu langsam. Bis ich den Rhythmus raushabe, dauert es. Wäre das Dorf auf meine Tretkünste angewiesen, blieben sie weiterhin im Dunkeln. Aber Gott sei Dank ist das nicht der Fall, und die Kinder können auch nach 18 Uhr, wenn die Sonne ausgeknipst wird, noch lesen oder Hausaufgaben machen, und wenn man abends rausgeht, ist es in jeder Hinsicht sicherer.

Solar ist also hier nicht in erster Linie um Nachhaltigkeit besorgt, obwohl es wohl kaum nachhaltiger geht, sondern vor allem darum, Licht nach Burundi zu bringen. Bislang wurden neun Fahrradgeneratoren und zweitausend Lampen angeschafft, aber man ist ja noch am Anfang.

Eine Lampe kostet 4,50 Euro. Gleich geht das Licht aus, außer Sandro und mir hat keiner eine Stirnlampe, wir sollten abfahren und unser Hotel finden in der Schwärze der Nacht. Immer wieder bin ich erstaunt, in welchen abgelegenen Gegenden der Welt wir Gästehäuser finden. Dies hier hat sogar eine Bar, da hängen burundische Männer ab, hören Musik, trinken Bier, und wir gesellen uns zu ihnen, bekommen sogar noch etwas zu essen. Der Bau sieht aus wie irgendeine Architektur an der bulgarischen Grenze zu Griechenland zu Ostzeiten; ich muss durch den stockdunklen Garten gehen zu meiner Zimmertür. Schalte darin das unerhebliche Licht an und suche direkt nach meiner neuen Stirnlampe. Binde sie um den Kopf und lege mich damit ins Bett – klarer war das Buch niemals vorher zu sehen. Danke, Sandro.

 

Am nächsten Tag nehme ich an einem Kochkurs teil. Bei Mama Lumière. Im Regen natürlich. In dem Dorf, das wir auch dieses Mal erst nach langer Fußstrecke erreichen, weil das Auto nicht weiterkommt, werden wir mit Gesang empfangen, sie kommen uns bereits singend und klatschend entgegen.

Einmal die Woche treffen sich die Frauen, um zusammen für die Kinder des Ortes zu kochen. Sie treffen sich bei Mama Lumière, die lesen und schreiben kann und die die Frauen anleitet, wie man nahrhaft und gesund kocht. Würde man denken, wissen alle, ist aber nicht der Fall. Heute gibt es Bananen, Bohnen, Kartoffeln und Erdnüsse und irgendwas, das grün ist. Grün ist wichtig. Heute sind es Avocados. Hier gibt es keine Gesundheitsstation in der Nähe, mit Plumpy-nuts-Säckchen. Die Frauen müssen lernen, ihren mangelernährten Kindern ausreichend Gutes zukommen zu lassen. Daher das gemeinsame Kochen, jeder leistet einen gemüselichen Beitrag, der in den Topf kommt. Für die Mütter bleibt nichts. Doch die meisten Kinder konnten innerhalb von acht Wochen deutlich zulegen. Eine Gesundheitshelferin kommt direkt in das Dorf, um die Kinder zu wiegen und zu vermessen.

Als wir zurück zum Auto gehen, begleiten uns die Kinder des Dorfes. Sie wollen das Auto sehen und Fotos machen. Es ist schön hier, es ist wilde Natur, in die ein paar runde Hütten gebaut sind, in denen Menschen leben, die bunte Tücher tragen und viele Kinder zur Welt bringen. Ich bewundere diese Menschen, wie sie es schaffen, hier zu leben und zu überleben. Sie sind es, die das Gleichgewicht der Welt halten, sie sind es, die den Europäern ermöglichen, die Ressourcen der Erde zu versauen.

Wir gehen durch hüfthohes Grün und roten Matsch. Die Kinder springen barfüßig um uns herum. »Irgendwo hören die Wege auf, das Ziel verschwimmt, man ist nirgendwo.« (Hilsenrath)

 

3000 Kinder leben in Burundi auf den Straßen. Am Abend kommen wir in Ngozi an, um einige zu treffen. Der Regen ist noch stärker geworden, was man sich nicht hätte vorstellen können. It’s raining cats and dogs, sagen die Engländer dazu. Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind. Möglicherweise kommt es aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, als in englischen Städten Abwasser- und Müllentsorgung noch nicht geregelt waren, so dass bei starkem Regen Katzen und Hunde durch die Straßen geschwemmt wurden. Der Zustand der englischen Städte von damals gleicht dieser heutigen burundischen Stadt. Insofern passt der Ausdruck in diese Umgebung.

Wir stehen nass unter irgendeiner abgerissenen unbehausten Wellblechbude von Ngozi und warten. Ich mache eine Tonaufnahme des Regens. Wir warten auf die Sozialarbeiter einer lokalen NGO, die jeden Mittwoch zu unerfindlicher nächtlicher Uhrzeit zu einer Art Tankstellen-Werkstatt-Bushaltestelle kommen, um an die Straßenkinder Lebensmittel zu verteilen. Ein paar Kinder sind bereits bei uns, Sandro kennt sie. Er scherzt mit ihnen, und ich frage, woher sie kommen, warum sie auf der Straße leben, wo sie schlafen. Es sind dieselben Geschichten. Die Familien sind arm und groß, so viele Kinder, nicht genug zu essen für alle, also muss einer gehen. Ein Kind. Oder zwei. Sie gehen, damit die anderen Familienmitglieder leben. Es ist ihre eigene Entscheidung gewesen, sagen mir verschiedene Jungs. Sie tun es für die Familie. Und gehen ins Ungewisse, Unbekannte, sie gehen auf die Straße, bündeln sich manchmal zu Gruppen, die sich helfen, manchmal bleiben sie allein. Schule ist offenbar keine Option, denke ich und täusche mich, wie ich später erleben werde.

Kinder, die auf Pappen schlafen oder in kaputten Häusern, manchmal auf dem Boden der Küche einer Gastwirtschaft, was bereits einem Lottogewinn gleichkommt. Die zwischen dem Weggeworfenen versuchen, etwas Essbares zu finden. In einem Land, in dem Mangelernährung ein großes Problem darstellt …

Bei mir in der Nähe wohnte einen Winter lang eine Frau unter der Brücke. Ihre ordentliche Wohnstatt wurde stetig größer und komfortabler. Schließlich zog ein Mann dazu. Eine WG quasi, vielleicht eine Liebe, das wäre schön. Wir grüßten uns. Ich hatte ihr vor einiger Zeit eine Matratze gebracht und etwas Warmes zum Anziehen oder mal eine Tüte mit Essen. Manchmal saßen sie abends da und spielten Gitarre. Wenn ich spät an ihnen vorbeiging, hörte ich, wie der Mann schnarchte, und wunderte mich, dass sie dabei schlafen konnte. Dieselben Probleme, auch auf der Straße.

Es ist so weit, sie kommen. Wir laufen über die flussgleiche Straße zur Tankstelle, das Auto der NGO fährt vor. Sie haben Weißbrot und knallorange Limonade dabei, die wie flüssiges Bonbon zu schmecken scheint.

Und dann können wir von der Überdachung aus sehen, wie aus allen Ecken und Straßen, wie beim Rattenfänger von Hameln, die Kinder herausgesprungen kommen. Manche flitzen und springen über die Pfützen, manche gehen geradewegs hindurch, keiner hat eine Regenjacke, einige keine Schuhe. Menschen sind ansonsten nicht zu sehen. Nur die Kinder wagen sich auf die Straße, da sie dort leben. Sie sammeln sich, nehmen Brot und orangefarbenes Getränk.

»Muss es denn wirklich dieses Lebensmittelfarbengetränk sein«, frage ich.

»Das mögen sie so gern.«

Mit sechzehn Jahren seit acht Jahren auf der Straße zu leben sagt viel über die Gewalt in den Familien aus, die sie von ihrem Zuhause weggetrieben hat. Die Eltern sind im Krieg gestorben, ein Elternteil hat neu geheiratet. Dieselben Geschichten. Die Kinder verdingen sich in Ngozi, indem sie Müll wegschleppen oder Waren tragen; das Geld, das sie dafür erhalten, reicht nicht wirklich für genug Essen.

Gegenüber der Tankstelle sieht man ein Haus, das wahrscheinlich einmal blau angemalt war, es ist beleuchtet, davor steht irgendetwas, das in Europa mit dem Sperrmüll weggebracht würde. Dort zu schlafen kostet die Kinder pro Nacht 200 BF (Burundische Franc), das sind 25 Cent. Auch Geschäftsbesitzer, unter deren Vordach die Kinder manchmal schlafen, lassen sich das bezahlen. Aus der Not Kapital zu schlagen ist weltweit verbreitet und eine richtig gute Einnahmequelle.

Ein Kind hat einen Plastikkorb mit einem bunten Tuch darin, seine Kuscheldecke, schätze ich. Der Junge steht knöcheltief in der Pfütze und bewegt sich nicht, er ist fast apathisch. Vielleicht auf Droge, vielleicht traumatisiert und verwirrt. Auch als die zwei Frauen und zwei Männer von der lokalen NGO die Sandwiches und Getränke verteilen, macht er keine Bewegung. Später versteckt er schließlich sein Brot, das er endlich genommen hat, unter dem klitschnassen Tuch in seinem Plastikkorb. Ich frage mich, was davon übrig bleiben wird, nachdem der Regen es aufgeweicht hat.

Auf die Frage, ob sie, wenn man ihnen Schuluniform, Bücher, Essen und Schlafplatz zur Verfügung stellte, zur Schule gehen würden, gibt es einen Riesenapplaus. Allein die Vorstellung gebiert Phantasien: Ein Junge will Präsident werden. Pedro von UNICEF sagt, das wäre ein Scheißjob. Ein anderer sagt, er wäre gern Chauffeur. Und zwei weitere Kinder sagen, sie würden gern als Berufswunsch täglich ausreichend essen und in einem Haus leben.

Schließlich brechen die Sozialarbeiter der lokalen NGO auf zu den nächsten beiden Stationen, an denen sie Essen verteilen. Die Kinder sind verschwunden, als wäre es ein Spuk gewesen … Wenn der Regen nur aufhörte. Wenn die Kinder nur täglich zu essen hätten und einen Schlaf- und Schulplatz.

Tief in der Nacht sitze ich schließlich im Irgendwo mit der solarischen Untertagelampe von Sandro um den Kopf gewickelt in einem Zimmer, und das Licht scheint auf meine Aufzeichnungen. Es reicht nicht, es reicht einfach nicht, die Übermacht der Not kann durch Humanitarians und Aktivisten nur gelindert, nicht beendet werden. Denke ich, Stunden bevor ich eine Frau kennenlerne, die dazu in der Lage ist. Ihr Name: Marguerite Barankitse.

Ich schreibe in meine Kladde, und immer wieder gibt es einen kleinen Stromausfall, den ich aber nur entfernt wahrnehme, da der Unterschied zwischen Zimmerlicht an und Zimmerlicht aus nicht wirklich deutlich ist, so dass ich es ausknipse, ich habe ja die Lampe. Die schöne Parallele ist, dass ich dies in Spanien in einem Häuschen an einem wilden Fluss schreibe, während ich eine Stirnlampe trage, die meine Stieftochter mir mitgab.

 

Die schöne amerikanische Frau, die uns auf dieser Reise begleitet hat, heißt Stella. Sie hat 20 Jahre in Deutschland gelebt, weil sie mit einem Deutschen verheiratet war und mit ihm zwei Kinder hat. Mittlerweile ist sie zurückgekehrt nach Kalifornien. Ihr Koffer kam nicht in Bujumbura an, und da wir zügig weiterfuhren, hatte sie auch keine Gelegenheit mehr, ihn abzuholen, als er nach zwei Tagen eintraf. Also helfen wir ihr alle aus, mit Zahncreme, Shampoo und Wäsche, und so geht es auch. Gott sei Dank ist sie keine Brillenträgerin wie ich und hat die Brille im Koffer gelassen. Was ich übrigens bei weiten Reisen niemals tun würde, aus genau der Befürchtung heraus, dass der Koffer mit der Brille nicht ankommt. Das Einzige, das man nicht ausleihen kann, wenn man eine so kurzsichtige Brillenschlange ist wie ich.

Stella ist seit über zehn Jahren aktive Unterstützerin von UNICEF. Sie ist die Geschäftsführerin einer Stiftung, die von einem großen Unternehmen gegründet wurde. Aus Personenschutzgründen nenne ich hier keine Namen, auch ihr Name ist verändert. Sie ist dafür verantwortlich, zu entscheiden, für welche Projekte wie viel Unterstützung gegeben wird. »Eigentlich ein Traumjob«, sagte ich zu ihr. »True«, sagt sie und lächelt. Die Möglichkeit zu haben, finanziell so einzutreten, dass in großem Umfang Projekte realisiert werden können, das ist wow. Der Umfang ihrer Spenden der letzten zehn Jahre für konkrete Projekte von UNICEF überall in der Welt ist astronomisch. Stella ist eine bezaubernde Person, und wir haben uns im Verlauf der Reise angefreundet. Sie ist vornehm, sanft, empathisch und aufgeschlossen und macht alles mit. Und so fahren wir also gemeinsam am nächsten Tag ins »Maison Shalom«, und dort wird sie finden, was sie sucht.

 

Wir fahren nach Ruyigi zu der one and only Marguerite Barankitse. Die Sonne scheint, der Himmel strahlt blitzblau, und der Regen ist nur noch eine schattige Erinnerung. Wir sind wieder trocken. Alles neu.

Marguerite, besser bekannt als Maggy, die Founderin des 1994 gegründeten Maison Shalom, begrüßt uns auf Deutsch. Sie trägt ein strahlendes Lächeln und ein rotes Kleid. Sie trägt ausschließlich rote Kleider.

Ihre Geschichte geht so: Maggy wurde 1954 in Burundi geboren; als sie fünf war, starb ihr Vater. Ihre damals 24-jährige Mutter hat ihre Tochter zur Schule geschickt, Bildung war dieser jungen Singlemutter wichtig, sie hat alles getan, um Maggy das zu ermöglichen. So schloss sie die Schule ab und wollte anschließend Lehrerin werden. Sie studierte im französischen Lourdes und arbeitete später in Zürich, daher spricht sie Deutsch. Sie ist katholisch, wie die Mehrheit Burundis katholisch ist. Und sie ist Tutsi. Mit 23 Jahren adoptierte sie sieben Kinder, vier Hutus, drei Tutsis. Die Leute im Ort sagten, du bist verrückt, und sie sagte, ja, ich bin verrückt, denn den Verrückten hören die Menschen zu.

Als der Bürgerkrieg in Ruanda ausbrach, in dessen Folge die Hutus an den Tutsis einen Genozid verübten – 800000 bis 1000000 Menschen wurden getötet –, flohen sowohl Tutsis als auch später Hutus aus Ruanda. Der Konflikt schwappte nicht nur in den Ostkongo, sondern auch nach Burundi. Infolgedessen wurden 60 Mitglieder aus Maggys Familie von den Hutus umgebracht.

Die Ethnien hatten im Laufe der Geschichte Burundis häufig Konflikte, die noch geschürt wurden durch ihre unterschiedliche Behandlung während der Kolonialzeit der Belgier, die in allen drei Ländern vor Ort waren. Die Tutsis wurden für administrative Aufgaben ausgebildet, die Hutus für landwirtschaftliche. Die Tutsis verhielten sich schließlich, als wären sie besser.

1993 nahm Maggy ihre sieben Kinder und begann in einer Diözese in Ruyigi bei einem Bischof als Sekretärin zu arbeiten. Auch Freunde von ihr waren mitgegangen, hier lebten Hutus und Tutsis friedlich zusammen. In der Umgebung wurde Maggy bald bekannt als jemand, der sich deutlich für das friedliche Zusammenleben dieser Ethnien einsetzte, was nicht gut ankam. »Sie ist verrückt.« Maggy selbst sieht bis heute keinen Unterschied und führt den Konflikt nicht auf Ethnien zurück, sondern auf falsche Politik.

Am 24. Oktober 1993 kam ein Trupp von Tutsis, 600 Männer, von denen Maggy einige kannte, in die Diözese. Sie kamen, um zu töten. Oder um sich zu rächen. Man weiß es nicht. Sie kamen mit Gewalt in ihrem Gepäck. Maggy flehte um das Leben der 25 Kinder, die sich dort aufhielten, bot schließlich Geld an, eine Menge Geld, 10000 Dollar, hier war die Diözese. Im Angesicht des Todes handelte und verhandelte sie und sagte dann zu den Männern, ich muss die Kinder erst verstecken, bevor ich euch die Dollars gebe. So führte sie die Kinder in eine kleine Kammer und überbrachte das Befreiungsgeld. Dann sagte einer der Männer, den sie kannte, du bist eine Verräterin, wir werden dich nicht töten, sondern du wirst zusehen, wie wir deine Freunde und Kollegen töten. Sie banden sie nackt auf einen Sessel. Maggys Freundin, die Tutsi ist und mit einem Hutu verheiratet, hatte zwei kleine Töchter, sie sagte: »Nimm sie zu dir, als wären sie deine eigenen Kinder.«

Dann begann das Massaker. 72 Menschen wurden vor Marguerites Augen mit Macheten ermordet und in Stücke zerhackt. Vor ihr lagen Arme und Beine, Hände und Füße …

Als sie uns das Memorial des 24. Oktober 1993 zeigte, das etwas außerhalb des Haupthauses des »Maison« auf einem einfachen Stück Feld aufgestellt ist, und dort die Geschichte erzählte, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen, sagte sie: »Und auf einmal war es ganz still.«

Nach dem Schreien und Flehen, dem Schlagen der Macheten und dem Geräusch, das sie machen, wenn sie Körper zerschneiden, nach den Schmerzenslauten und Schreien, den Gebeten und dem Flehen, den Todesschreien der Menschen, war das Schlachten irgendwann zu Ende. Alle waren tot. Da war es auf einmal ganz still. Die Männer gingen. Maggy saß nackt auf ihrem Stuhl zwischen all den toten Menschen, von denen sie jeden Einzelnen gekannt hatte. 25 Kinder, sowohl Tutsis als auch Hutus, hatte sie in einer Kammer versteckt. Sie hatten überlebt.

In diesem Moment wusste sie, was zu tun sei. Sie musste ein Haus für die Kinder bauen, damit sie gemeinsam leben würden, damit der Hass und das Töten ein Ende nähmen.

Unweit wohnte ein deutscher Entwicklungshelfer, Martin. Sie ging mit den Kindern zu ihm und sagte, ich werde all diesen Kindern ein Zuhause geben. Noch in der Nacht begannen sie die Toten zu beerdigen. Am nächsten Tag entstand die Idee des Maison Shalom, in dem sie bis zum Ende des Kriegs im Jahr 2003 20000 Kindern ein Zuhause gab.

 

»Là, ou il y a la haine, que je mette l’amour«, steht auf dem Memorial. »Wo Hass ist, werde ich Liebe geben.«

 

Nach Ende des Krieges hörte die Arbeit selbstverständlich nicht auf, aber es waren weniger Kinder, die kamen. Und dort waren wir nun, in dem Zuhause so vieler Kinder, und bekamen eine Tour, die sich gewaschen hatte, nachdem wir im Haupthaus mit Maggy in ihrem plüschigen Zimmer Tee aus deutschem Porzellan getrunken hatten.

Wir gingen hinüber in die Grundschule. Im Maison Shalom gibt es vom Kindergarten bis zum Beginn der Universität und der Möglichkeit, verschiedene Ausbildungen zu machen, alles. Hätte ich es nicht gesehen, ich könnte nicht glauben, dass es existiert. In dieser Größe und Qualität, in der Schönheit und Durchdachtheit. Und jeder, dem wir hier begegnen, ist freundlich und offen, ohne Berührungsängste und spricht zumeist drei Sprachen. Kirundi, Französisch, Englisch. Also gehen wir erst mal rüber zur Grundschule, über einen Rasen, an dessen Ende das recht große weiße Gebäude steht. Es ist Nachmittag, und die Schule ist aus, aber die Kinder sind noch im Hort, obwohl es hier sicherlich nicht Hort heißt. Die Kinder tragen Schuluniformen, weil man in Burundi Schuluniformen trägt, nur mit dem Unterschied, dass die Eltern der Kinder nichts dafür zahlen müssen; und auch für die Schule nicht, wie es sonst auch an den staatlichen burundischen Schulen der Fall ist. Ein Teil der Kinder hat keine Eltern und lebt hier, andere, die sie irgendwo aufgelesen hat, versucht sie in ihre Familien und Communities zu integrieren, und wiederum andere gehen hier zur Schule und dann nach Hause.

Wir gehen also über diese großzügige gepflegte Rasenfläche, und die kleinen Vorschul- und Schulkinder in ihren blauen Uniformen kommen Maggy fröhlich entgegengerast, in einem Tempo, zu dem nur diese kleinen Mausis fähig sind. Und alle rufen irgendetwas zu uns herüber, Quatsch, nicht zu uns, nur zu Maggy natürlich. Ich kann es nicht ganz verstehen, sie sprechen wohl Kirundi, obwohl mir das Wort ganz vertraut vorkommt. Und dann, ja, dann ist es deutlich, die Kinder laufen auf Maggy zu und rufen: »O’ma! O’ma!«

Die Kinder versuchen an ihr hochzuklettern, Maggy schnappt sich eins, nimmt es auf den Arm und ein nächstes, umarmt sie im Pulk, mittlerweile skandieren die Kinder gemeinsam: »O’ma, O’ma, O’ma …!«, und lacht: »Sie nennen mich Oma. Ich bin ja nicht die Mama, darum habe ich gedacht, sie könnten mich doch Oma nennen, so wie man das bei euch zur Großmutter sagt.« Sie lacht sich kaputt über ihre eigene gute Idee. Ich bin fassungslos. Hier in Ruyigi, und ich behaupte mal, die meisten müssen nachsehen, wo das liegt, ruft eine ganze Schulklasse Oma.

Wir gehen durch die Schule und die großzügigen Räume; sie sind ausgestattet mit Tafeln und Schulheften, Büchern. Eine ganze Bücherei sehen wir schließlich, für die älteren Kinder. Und weiter geht es bis zu dem universitätsgleichen Schulgebäude. Hier lernen die Schüler, die den Schulabschluss gemacht haben, für die Aufnahme an der Universität in Bujumbura oder einer Universität im Ausland. Zu dem Zweck gibt es eine Kooperation mit vier europäischen Universitäten, die einmal die Woche per Skype Vorlesungen halten für die zukünftigen Studenten. Die Abschlüsse der Schüler hier sind ausgezeichnet, Maggy ist stolz auf ihre Kinder, alle werden an den Universitäten angenommen. Die jungen Leute, die sich nicht für eine akademische Laufbahn entscheiden, können andere Ausbildungen machen. Zur Hebamme, zur Krankenschwester, zum Koch. Wir gehen durch die riesige Küche. Ich habe vergessen, für wie viele Menschen hier gekocht wird. Sehr viele! Es ist riesig, es ist halb innen, halb außen. Mangelernährung ist hier offensichtlich kein Thema mehr.

In einem Zimmer der Lehrer und der Mitarbeiter des Maison platzt Maggy mit uns in eine Art Konferenz. Eine Gruppe sitzt über Plänen, anscheinend ist ein neues Gebäude in Planung. Ein junger Mann steht auf, er ist Ingenieur und betreut an Maggys Seite alle Bauvorhaben. Er ist einer der Direktoren des Maison Shalom.

»Das ist mein Sohn Richard«, sagt Maggy und stellt uns vor.

»Wir wollen nicht stören«, sagen wir.

»Nein, nein, Sie stören nicht«, sagt er freundlich lächelnd und reicht uns die Hand. Richard hat eine graue Hose an und ein weißes Hemd, das bis zu den Ellbogen aufgekrempelt ist. Seine Unterarme sind vollständig vernarbt. Er erzählt, dass sie gerade einen Fischteich planen, wenn die Käserei abgeschlossen ist, wofür alles bereits verlegt wurde. Er ist eines der vielen Kinder Maggys, der bei ihr groß wurde, zur Schule ging, dann nach Amerika, dort Ingenieurwissenschaften studierte und nun als Ingenieur für den gesamten Campo verantwortlich ist, mit immer neuen Vorschlägen und Planungen. Als ich Maggy später frage, was mit seinen Armen passiert sei, sagt sie, dass er und seine Schwester als kleine Kinder in ein brennendes Haus geworfen worden waren. Sie konnten herausgeholt werden und wurden direkt zu Maggy gebracht, die sich um sie gekümmert hat, sie ärztlich versorgen ließ und die dann bei ihr lebten.

Zwölf Jahre nach der Gründung des Maison Shalom baute sie ein Krankenhaus, das REMA Hôpital. Auch das sehen wir und lernen Kinder von ihr kennen, die dort als ausgebildete Krankenschwestern, Hebammen und Pflegepersonal arbeiten. Teil des Krankenhauses ist das Mutter-und-Kind-Zentrum, in das Mütter aus der Gegend kommen können, um während der Schwangerschaft untersucht zu werden und ihre Kinder dort zur Welt zu bringen. Alle Einrichtungen hier sind für die Bewohner der gesamten Region Ruyigis.

Sie baute ein Kino und einen Swimmingpool, das war noch während des Krieges, und spätestens da wusste man, dass sie wirklich verrückt ist, denn wer würde so etwas in Kriegszeiten bauen. Sie sagte, die Kinder müssen nicht nur zur Schule gehen, sie müssen auch spielen und Spaß haben dürfen, darum brauchen wir das für die emotionale Gesundheit unserer Kinder.

Die katholische Kirche Luxemburgs ist ein großer Unterstützer des Maison Shalom, darum gibt es die monetären Ressourcen, um all das überhaupt aufbauen zu können. Außerdem ist UNICEF Partner und Unterstützer des Maisons, wie auch andere UN-Organisationen und Spender wie beispielsweise Stella.

Wir schauen uns das Haus an, in dem die Käserei untergebracht ist, daneben wurde bereits eine riesige Grube für den anstehenden Fischteich ausgehoben. Silbern und unwirklich glänzt das Dach der Käserei über dem Feld. Ein ganzes Dorf ist aus dem Haus Shalom geworden.

Wir fahren zurück in das Haupthaus, dort gibt es ein Café und Gästeräume, in die man sich einmieten kann, wenn hier zum Beispiel Konferenzen stattfinden; heute haben wir uns dort eingemietet. Sie nennt die Gästeräume »Villas des Anges«, Häuser der Engel.

Während wir unsere Sachen hineinschleppen, wartet Maggys strenger Fahrer, der uns die gesamte Zeit durch die Gegend gekurvt hat, im Auto. Ich frage Maggy, warum er nicht mit reinkommt.

»Oh«, sagt sie und lacht, »das würde er niemals tun, er passt auf mich auf, er ist mein Beschützer. Und dabei hätte er eigentlich mein Mörder sein sollen.«

»Wie bitte?!«

»Ja, er sollte mich töten, er hatte den Auftrag. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er stattdessen nicht lieber einen Job haben würde, der gut bezahlt wird, hier bei mir. Als mein Fahrer. Damit er seine Familie ernähren kann. Seitdem weicht er nicht von meiner Seite und passt auf mich auf.« Sie lacht immer noch, wir unterhalten uns in einem Gemisch aus Französisch, Englisch und Deutsch. »He was my murderer«, sagt sie konspirativ und mit dem schönsten französischen Akzent.

Ich bin mal wieder sprachlos und schaue mir, als wir zurück ins Auto krabbeln, den Fahrer, der ein Mörder werde sollte, mit ganz anderen Augen an.

Maggy hat viele Menschenrechtspreise gewonnen, unter anderem den »World’s Children’s Prize« (WCP) im Jahr 2003. Ein Preis, der vielleicht besser bekannt ist unter dem Namen »Kinder-Nobelpreis«, den es seit dem Jahr 2000 gibt. (2000 fing ich bei UNICEF an, fällt mir dabei ein.)

Ein Preis, der von der nur denkbar größten Jury, nämlich Millionen von Kindern, vorgeschlagen, ausgewählt und entschieden wird. Der erste Preis im Jahr 2000 ging posthum an einen 16-jährigen pakistanischen Jungen, der mit fünf Jahren begann, in einer Teppichfabrik zu arbeiten und schließlich ein sogenannter debt slave wurde. Ein Leibeigener, weil er Schulden abarbeiten musste, Geld, das seine Mutter bei dem Fabrikbesitzer für eine Operation geliehen hatte. 100 Dollar. Dafür arbeitete der kleine Junge jahrelang jeden Tag zwölf Stunden. Als er frei war, begann er sich für Kinder, die debt slaves waren, einzusetzen, um sie zu befreien. Und auf die Missstände aufmerksam zu machen. Im Jahr 1995, als er sechzehn Jahre alt war, wurde er ermordet.

 

Marguerite Barankitse hat sich in ihrer Arbeit mit der Situation von Gefängnisinsassen auseinandergesetzt und vor zwei Jahren in Ruyigi erreicht, dass Frauen und Männer getrennt voneinander einsitzen. Wir fahren ins Gefängnis, um etwas über die Situation der Jugendlichen dort zu lernen und vor allem von ihrem neuen Projekt zu erfahren.

Als wir dort ankommen, sind gerade ein paar Jungen aus einer recht entfernten Gegend eingetroffen. Die Frage ist: Was macht man mit Kindern und Jugendlichen, die straffällig geworden sind, und wie ist die rechtliche Situation, gibt es eine Gerichtsverhandlung? Maggy gibt diesbezüglich juristischen Beistand für die Kinder, um zu erfahren, wie sich der Fall im Einzelnen verhält, ob sie überhaupt straffällig wurden und wenn ja, warum.

Die Norm ist, dass Jugendliche zu den Erwachsenen ins Gefängnis gebracht werden. Um das langfristig und nachhaltig zu ändern, gibt es von Johannes und Maggy den Vorschlag eines »centre of re-education for minors«, eines Zentrums für die Resozialisierung Minderjähriger. Das Grundstück dafür hat Maggy bereits gefunden und erstanden. Wir schauen es uns an. Man sieht nichts, außer einem länglichen Stück Land, unbebaut, unbepflanzt, einfach Land mit Grasbüscheln und Geröll. Ein Platz. Ein Grundstück. Oder Bauland, würde man in Europa sagen. Der Plan ist, dass die jungen Menschen einen eigenen Ort erhalten, in dem es Gerichtsverhandlungen geben wird, in dem es einen offenen und geschlossenen Vollzug gibt. In dem Strafmündigkeit gilt. Ein Haus, das zu den Bewohnern Ruyigis hin offen ist, in dem man eine Ausbildung und Seminare machen kann, in dem berufsbildend gearbeitet wird, in dem sich straffällig gewordene Jugendliche mit Nicht-Straffälligen Ruyigis treffen, sich begegnen, austauschen oder anfreunden und gemeinsam lernen oder chillen. Damit Prävention den Kreislauf der Kriminalität unterbricht und junge Menschen Zukunftschancen bekommen, um sich entwickeln zu können und sich zu befreien von eingefahrenen Vorurteilen und Verhaltensmustern. Damit das Töten und der Hass zwischen den Ethnien ein Ende nimmt und Menschen dazu verführt werden, ihr eigenes Schicksal und das ihres Landes in die Hand zu nehmen und zu gestalten.

Ein Zentrum für junge Menschen, in dem Fahrräder repariert werden und es Computerkurse geben wird, Musik gemacht wird, getrommelt, getanzt und gesungen, in dem sie sich ihre Kostüme selber nähen, wenn sie eine Tanztruppe gründen und Hoffnung und Phantasie entwickeln für ihre Zukunft. In dem sie ihre Strafe absitzen und währenddessen etwas lernen, um danach gewappnet zu sein für ein selbständiges Leben, ohne erneut in die Kriminalität zu rutschen.

Das ist Maggys und Johannes’ Idee, das möchten sie gemeinsam bauen und gestalten und leiten. Es ist alles fix und fertig in ihren Köpfen, Johannes hat Pläne dabei und breitet sie auf der Wiese aus, zeigt, wie es aussehen soll, was benötigt wird, welches Personal dort arbeitet. Auch haben sie die Unterstützung der Politiker Ruyigis, wenn sie es denn selbsttätig bauen, wofür sie 15000 Dollar benötigen.

Und in dem Moment trat Stella auf die Bühne und sagte: »Ihr bekommt das Geld dafür von uns.«

Musik.

 

Der Weg am nächsten Tag zurück nach Bujumbura ist endlos. Wir schauen aus dem Fenster und sehen Burundi, wenn es nicht regnet. Hängen unseren Gedanken nach, all den Eindrücken und Erlebnissen. So viele Menschen sind uns begegnet, die sich nicht auflösen, nur weil wir sie nicht mehr sehen, so wie wir uns nicht auflösen werden, wenn wir morgen oder übermorgen zurückfliegen nach Europa. Aber vorher gehen wir noch in eine kinderfreundliche Schule. Im Ernst. Sie heißt »child friendly school« und befindet sich in Bujumbura, das wir trotz der langwierigen Fahrt irgendwann erreichten. Kinderfreundliche Schulen sind anscheinend der neueste Schrei, und ich möchte verstehen, was hier abgeht, und darf am Englischunterricht teilnehmen.

Dass das Prinzip einer Schule ist, kinderfreundlich zu sein, denke womöglich nur ich; wie sehr es weltweit praktiziert wird, sei dahingestellt. Hier in der Schule mit 1500 Schülern ist die Idee offenbar wirklich neu, und das sieht man bereits an der Aufstellung der Schulbänke, die nicht militärisch angeordnet hintereinanderstehen, mit drei Kindern pro Bank, damit möglichst 90 Kinder in den Raum gequetscht werden können, sondern zu Gruppentischen zusammengeschoben wurden.

Die Lehrerin bewegt sich zwischen den Tischen, sagt englische Vokabeln, die Kinder rufen die Übersetzung in den Raum. Sie haben alle Bücher, Hefte, Stifte. Hier wird nicht auf gedrillte Wiederholung dessen, was der Lehrer sagt oder schreibt, gesetzt, sondern auf selbständiges Denken, man will sie dazu ermutigen, zum Denken, dazu, eine Meinung zu haben, und dazu sich eine Meinung zu bilden. Sie dürfen lernen ohne Angst. Das ist neu. Das ist nötig.

Dann klingelt es zur Pause, und was da abging, kann man sich nicht vorstellen, ein Gedränge ohne Ende, Schulhof ja, aber nichts zu tun. Ein einziger Baum steht da, vom vielen Hinaufklettern ist er schon ganz blank und kurz vorm Aufgeben. Die Toiletten sind leider in einem erbärmlichen Zustand, besser wäre, hinter das Klohaus zu pinkeln als hinein. Es gibt also noch zu tun.

 

Am letzten Abend gehen wir in das Rooftop-Café »Gourmand«. Das Gefälle zwischen Stadt und Land ist gewaltig. Hier sitzen junge Leute, trinken Smoothies oder Café au Lait, Studenten hocken hier über ihren Computern, es gibt free wifi, und alle Mädchen haben geflochtene braids. Erst als ich das sehe, realisiere ich, dass auf dem Land keine Frau geflochtene Zöpfe hatte, was ungewöhnlich ist, denn in afrikanischen Ländern flechten sich die Frauen Zöpfe, um lange Haare zu haben. Die Kunst in Sachen Haarflechterei ist in Afrika exzeptionell, flächendeckend verbreitet und kennt kein Ende in ihren phantasievollen farbigen Möglichkeiten, Formen, Frisuren und unterschiedlicher Zopfdicke. Die Haare sind aus Plastik und kosten wenig. Der Aufwand ist nicht das Material, sondern das Flechten selbst, was in einem Affenzahn gemacht wird und ohne Schonung der Kopfhaut des