Nebenan - Kristine Bilkau - E-Book

Nebenan E-Book

Kristine Bilkau

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Beschreibung

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022

Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht.

Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit.

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Seitenzahl: 335

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Über das Buch

Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht. Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit.

Kristine Bilkau, 1974 geboren, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Ihr erster Roman »Die Glücklichen« fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Litera tur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Vor »Nebenan« erschien »Eine Liebe, in Gedanken« im Luchterhand Literaturverlag. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Kristine Bilkau

Nebenan

Roman

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Das Zitat auf Seite 5 entstammt: Sarah Kirsch, Kommt der Schnee im Sturm geflogen © 2007, Deutsche Verlags-Anstalt, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch dankt die Autorin dem Else-Heiliger-Fonds, dem Künstlerhaus Eckernförde und der Hamburger Behörde für Kultur und Medien.

© 2022 Luchterhand Literaturverlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: buxdesign, Ruth Botzenhardt unter Verwendung einer Zeichnung von © Linda McCue

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19315-7V006

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

»… und auf dem Steppenpfad in der schimmernden Nacht unter den

Nebelgespenstern tanzte mein Luftgeist. Breitete die erhobenen Arme aus.

Einen zum Mond, den anderen zur Venus. Himmlische Kräfte durchzuckten ihn,

ich sah Flammen zwischen den Fingern.«

Sarah Kirsch, Kommt der Schnee im Sturm geflogen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

1

Ein Containerschiff schiebt sich langsam hinter den Baumkronen und dem Dach der Nachbarn vorbei. Anfangs, als sie erst wenige Tage hier wohnte, war es für sie ein unwirklicher Anblick, den Kanal und das Ufer nicht sehen zu können, selbst von hier oben, aus dem Schlafzimmer nicht, aber eine Schiffsbrücke und die geladenen Container. Stapel bunter Kästen, die gemächlich, wie von allein hinter den Dächern und Bäumen entlang glitten. Im Wochenblatt, das sie manchmal überfliegt, hat sie gelesen, die Leute haben hier früher in der Dämmerung weiße Schiffe durch die Wiesen und Moore schweben sehen, lange bevor der Kanal gebaut und eröffnet wurde. Daran muss sie denken, wenn ein Frachter wie von allein durch die Landschaft fährt.

Sie bleibt am Fenster, bis die bunten Stapel nicht mehr zu sehen sind, da entdeckt sie den Jungen. Er steht in der kleinen Sackgasse am Zaun der Nachbarn und scheint auf jemanden zu warten. Dünne Beine in einer grauen Jeans, ein Rucksack auf dem Rücken. Sein Gesicht lugt blass mit spitzer Nase unter seinem Hoodie hervor, die Hände hat er in die Hosentaschen geschoben, die Schultern hochgezogen. So sieht einer aus, der friert. Kein Wunder, der Junge ist nicht für dieses Wetter angezogen. Julia weiß nicht, zu wem er gehört. Er wohnt nicht in dieser Straße, sieben alte Häuser, von denen zwei während der letzten Monate entrümpelt wurden, weil ihre Besitzer ins Heim gezogen sind. Er wohnt, so weit sie weiß, auch nicht weiter hinten, An den Wiesen, der frisch geteerten Straße, die wie eine lang gezogene Acht verläuft, wo die Neubauten stehen, Bauhaus und Friesenstil im Wechsel, dazwischen leere Grundstücke, die noch zu verkaufen sind.

Eine Windböe bewegt die Zweige vor dem Fenster, der Efeu hätte längst geschnitten werden müssen, er überwuchert das Haus bis an den Dachfirst. Sie haben bisher alles wachsen lassen, den Rasen, die Sträucher, die Brennnesseln in den Beeten. Im Sommer, nach dem Einzug, haben sie mit dem Rasenmäher Schneisen ins hohe Gras gemäht, einen Pfad zur Gartenpforte, einen zum Schuppen, einen Weg zum alten Gewächshaus, wo Chris ein quadratisches Feld in die Wiese mähte und zwei Liegestühle hinstellte.

Sie geht nach unten, holt sich ein Glas Wasser aus der Küche, spült auf dem Weg ins Wohnzimmer mit einem großen Schluck die Folsäure-Zink-Kombination, das Vitamin D, das Q10 und die TCM-Kapsel hinunter. Sie kniet sich auf den Teppich vor die schlafende Hündin, drückt die Nase in Lizzys Fell, saugt den Geruch ein, Regenluft und nasse Steine, und sie muss an Frauen denken, die mit ihren Lippen und Nasenspitzen den Haarflaum ihrer kleinen Kinder berühren.

Der Junge ist nicht mehr am Zaun der Nachbarn zu sehen. Durch das Gestrüpp am Ende der Sackgasse führt ein Pfad den Hang hinunter zum Kanal. Wer zu Fuß zum Anleger will, nimmt ihn als Abkürzung. Der Junge wird wahrscheinlich mit der Fähre rüberfahren und vor der Kirche auf der anderen Seite auf den Bus warten, der ihn in die Schule bringt. Er scheint spät dran zu sein, oder er schwänzt die ersten Stunden. Sie glaubt, sie hat ihn einige Male am Kanalufer herumtrödeln sehen, als sie mit der Hündin spazieren ging. Für Kinder ist der Kanal kein besonders schöner Ort zum Spielen, eine Fahrrinne mit einem Betriebsweg, die Schilder weisen in metergenau gleichen Abständen darauf hin, dass es hier um Logistik geht, nicht um Landschaft. Die kleine Fähre ist die einzige Verbindung zwischen den beiden Dorfseiten, sie ist rund um die Uhr in Betrieb. Beim Kanalbau, vor über hundert Jahren, nahm man keine Rücksicht auf den Ort, seitdem hat das Dorf eine Nord- und eine Südseite.

Sie klappt den Laptop auf und öffnet das Forum, liest die neuen Einträge; Wir sind endgültig erschöpft, nach 72 ÜZ und 15 Runden Icsi, außerdem hat uns die PKD finanziell ruiniert. Wir denken an Plan B, falls jemand Erfahrung mit EZS hat, bitte PN.

Sie besucht das Forum als stille Leserin seit vielen Monaten, doch manche Abkürzungen und Wortschöpfungen hat sie noch immer nicht durchschaut.

Lasst euch nicht unterkriegen, ich wünsche euch das Beste, für welchen Plan auch immer, antwortet jemand und schickt Emojis, die sich umarmen, Julia verachtet diese Smileys.

Große Neuigkeiten, sst positiv, nach 14 IVFs. Einfach so! Ich fasse es nicht, man kann durch Sex schwanger werden?!?!?

Draußen zerrt der Wind an der Wäsche, Chris hat die Sachen heute früh aufgehängt, bevor er zur Arbeit gefahren ist. »Keine Wäsche zwischen Weihnachten und Neujahr«, hatte sie vor den Festtagen zu ihm gesagt. »Warum nicht?« »Es bringt Unglück.« »Meinst du das ernst?« Sie hat diese seltsame Regel von ihrer Mutter, obwohl die alles andere als abergläubisch war. »Ein Stück Frottee auf einer Leine, da hängt ein sehr böser, gefährlicher Zauber dran«, machte Chris sich über sie lustig. Erst seitdem ihre Mutter nicht mehr lebt, hält sie sich an diesen Brauch, und dieses Jahr besonders. Sie hat sogar ein Horoskop gelesen und gehofft, darin würde etwas stehen von Familie und Wünschen, die sich erfüllen.

Auf einmal sieht sie ihn wieder, der Junge scheint hinter dem Nachbarhaus gewesen zu sein, nun stapft er durch das hohe Gras. Sie stellt sich ans große Fenster. Der Garten von Mona und Erik sieht nicht besser aus als ihrer, der Rasen gelb und matschig, ein großer Tonkübel auf der Terrasse ist in zwei Teile gebrochen, die Erde über den Boden verteilt. Ein Liegestuhl aus verblichenem Holz, die Stoffbahn zerrissen und schmutzig vom Regen, steht ganz hinten, vor den Tannen. Der Junge bleibt auf der Terrasse stehen und schaut hoch, ins Obergeschoss. Er zieht sein Telefon aus der Tasche, tippt etwas ein, hält es ans Ohr, in Gedanken hört sie das Freizeichen, eins, zwei, drei, vier, es scheint niemand ranzugehen. Während er durch die Fensterfront hineinspäht, öffnet sie leise die Tür und tritt auf die Terrasse. Die Holzbohlen sind kalt und rutschig unter ihren nackten Füßen, sie steigt in die Gummistiefel von Chris, die an der Mauer stehen.

»Hey«, sagt sie, während sie sich der Hecke nähert, doch der Junge scheint sie nicht gehört zu haben, er wühlt jetzt in seinem Rucksack und holt einen Stift und ein Stück Papier hervor. Sie ruft noch einmal, er hebt den Kopf, blickt sie wach und neugierig an.

»Weißt du, ob jemand da ist?«, fragt er.

Für einen Moment ist sie überrascht, dass er sie ohne jede Schüchternheit so unverwandt anspricht. Weißt DU, ob?, er hat das Du betont, als würden sie sich kennen, als hätten sie beide schon eine Weile gemeinsam hier gestanden und die Fenster angestarrt.

»Nein, ich glaube, sie sind noch nicht wieder zurück«, antwortet sie, »aber komisch, eigentlich ist doch schon wieder Schule, oder?«

Er schüttelt den Kopf. »Wir haben noch Ferien.«

»Ach ja, klar«, sie nickt sofort, obwohl es alles andere als klar ist, für sie zumindest, sie lebt nicht nach dieser Art Kalender, erste und letzte Ferientage, Schuljahresbeginn, Zeugnisausgabe. »Na, dann sind sie wahrscheinlich noch im Urlaub.«

Er blickt sie ungläubig an, als wäre Urlaub ein abseitiger Gedanke.

»Hast du überhaupt geklingelt?«, fragt sie ihn.

»Klar. Hast du einen Schlüssel?«

»Von meinen Nachbarn?«

Er nickt.

»Nein, tut mir leid.« Warum brauchst du einen Schlüssel, was willst du in dem Haus, dürftest du überhaupt hinein, kennen die Leute dich gut genug?, will sie fragen, aber sagt nichts, sie besitzt tatsächlich keinen Schlüssel.

Der Junge schiebt die Kapuze zurück, sein Haar ist hellbraun und etwas strähnig, er hat große grüne Augen und schmale Brauen, zwei feine Bögen, die ihm etwas Zerbrechliches geben. Sie schätzt ihn auf zwölf oder dreizehn Jahre. Wäre sie seine Mutter, dann hätte sie ihn mit Mitte zwanzig bekommen, da hatte sie gerade ihr Grundstudium beendet.

Sie stellt sich vor, ihm einen warmen Kakao anzubieten. Willst du dich kurz aufwärmen?, würde sie ihn fragen. Die Haut um seine Augen herum schimmert bläulich, als hätte er zu wenig geschlafen. Bei einer fremden Frau in der Küche her­umzustehen, der Kakao noch zu heiß, um daran zu nippen, Minuten, die sich dehnen. Ihr Vorschlag wäre sicher alles andere als verlockend für ihn.

»Na dann«, sagt sie und schiebt ein unentschlossenes »Tschüs, bis bald« hinterher, wie eine unsichere Tante, die nur selten mit ihrem Neffen zu tun hat und sich davor fürchtet, irgendeine Kleinigkeit falsch zu machen, ohne es überhaupt zu bemerken.

Zurück im Haus bleibt sie hinter dem Vorhang stehen, damit der Junge nicht sehen kann, dass sie ihn weiterhin beobachtet. Er schreibt etwas auf den Zettel, den er in der Hand gehalten hat, faltet ihn zusammen und scheint ihn unten an der Terrassentür zu befestigen. Genau kann sie es nicht erkennen. Danach schiebt er sich zwischen die Tannen hindurch und ist verschwunden, wahrscheinlich den Hang hin­unter zum Kanal.

Sie könnte hinübergehen und nach dem Zettel suchen. Sie schämt sich sofort für ihre Neugier, außerdem weiß sie nicht einmal, ob Mona, Erik und die Kinder wirklich verreist sind. Gut möglich, dass einer von ihnen zu Hause her­umhängt, genau wie sie gerade, und nur keine Lust hatte, an die Tür zu gehen. Wahrscheinlich hat der Junge eine Nachricht für die Mädchen hinterlassen, ein kleines Zeichen, ein ungewöhnliches, auf Papier, nur auffindbar für eine Person, die weiß, dass sie suchen muss.

2

Das schmerzhafte Kribbeln in den Fingerspitzen ist noch immer zu spüren. Astrid schüttelt die eine Hand, dann die andere. Sie hätte die Fäustlinge anziehen sollen, bevor sie die Eisschicht von den Fenstern gekratzt hat. Also doch noch etwas Kälte nach den ungewöhnlich lauen Tagen. Auf der Straße vor ihr glänzt die gefrorene Nässe. Sechs, sieben Kilometer sind es noch, schätzt sie.

Dafür, dass sie aus dem Tiefschlaf geholt wurde, ist sie schnell auf die Beine gekommen. Kaum mehr als eine halbe Stunde ist es her, da hat die Notfallnummer geklingelt. Kurz nach vier war das. Andreas stand mit ihr auf und kochte Kaffee. Er legte sich aufs Sofa, stellte sich ein Hörspiel an, er könne jetzt eh nicht mehr schlafen. Bevor sie ging, drückte er ihr ein verpacktes Sandwich in die Hand, das er für sie vorbereitet hatte. »Guck, wir beide sind noch gut in Form bei diesen nächtlichen Einsätzen.«

Eine fast achtzigjährige Frau ist gestorben. Der Rettungsdienst konnte nichts mehr tun, und man rief Astrid für die Todesbescheinigung. Sie lässt sich nur noch selten für den Bereitschaftsdienst eintragen, diese Zeiten sind vorbei. Ein Jahr noch, dann würde sie die Praxis gern abgeben und, wenn möglich, zum Übergang zwei Tage die Woche dort arbeiten, so stellt sie sich das vor. Wenn sie bis dahin jemanden findet, der die Praxis übernimmt.

Sie dreht die Heizung runter, stellt das Radio an. Wann ist sie das letzte Mal so durch die Nacht gefahren. Sie muss an die Kinder denken, erwachsene Männer. Erwachsen, bei dem Wort erfasst sie immer wieder Erstaunen. Sie sieht die schlafenden Jungs vor sich, wie viele Nächte sind es gewesen, in denen sie nach ihnen gesehen hat, Tausende.

Der Älteste, der sich in eine Wissenschaftlerin aus Delhi verliebte und mit ihr nach Malmö zog. Zwei Kinder hat seine Frau in die Beziehung gebracht, zwei weitere haben sie bekommen.

Der Zweitälteste, der in Den Haag lebt, der bei fast jedem Telefonat sagt, es würde ihm gut gehen, alles gut. Sie hofft fast, dass er sich endlich einmal über etwas, irgendetwas beklagen würde. Es kann ja nicht alles gut sein, das ist nicht möglich.

Der Kleine, in Berlin, der glaubt, sie haben nicht bemerkt, dass er sein zweites Studium abgebrochen hat und sich mit Caféjobs durchschlägt.

Allein durch die Nacht zu fahren und sie alle drei vor sich zu sehen, es ist ein bisschen, als würde sie wieder über den Schlaf der Jungs wachen.

Sie kneift die Augen zusammen, weiter hinten scheint das Feld übersät von hellen Flecken, sie schimmern aus der Dunkelheit hervor. Sie bremst etwas ab und fährt langsamer. Wie ein riesiger Schwarm weißer Vögel, der sich dort niedergelassen hat, oder nein, wie unzählige kleine Inseln aus Schnee, aber es hat nicht geschneit. Merkwürdig sieht es aus. Kurz entschlossen biegt sie in einen Feldweg ein, stellt den Motor ab und steigt aus.

Die Erde ist gefroren, sie muss auf jeden Schritt achten, um in den harten Mulden nicht zu straucheln. Diese Stille, sie hört sich selbst bei jedem Atemzug schnaufen. Was tut sie hier eigentlich? Sie sollte im Auto sitzen, auf dem Weg zu ihrem Notfall, und nicht allein im Dunkeln über einen Acker stolpern. Dieses Meer aus weißen Flecken, es sieht zu eigenartig aus, Taschentücher, es wirkt, als wären Tausende Papiertaschentücher über das Feld geweht. Oder es ist Papier, Altpapier, das jemand hier entsorgt hat. Die Säcke sind gerissen, und der Wind hat alles verteilt.

Jetzt erkennt sie es, unzählige Briefe sind es. Sie hebt einige davon auf, liest die Namen und Adressen, alle aus dieser Gegend. Poststempel ist der 17. und 18. Dezember, mehr als zwei Wochen sind diese Sendungen alt. Sie findet handbeschriebene Umschläge aus gutem Papier, Weihnachtsgrüße und Neujahrswünsche, stellt sie sich vor. Sie haben ihre Adressaten nicht erreicht. Einige Inkasso-Absender liest sie. Rechnungen und Mahnungen, die den Leuten vor den Festtagen erspart geblieben sind.

Erstaunlich, auf einem Umschlag stehen das Dorf und die Straße, in der sie aufgewachsen ist. Es ist das Haus schräg gegenüber, der hässliche große Gelbklinker. Sie steckt den Brief ein, sie wird ihn den Leuten bringen, wenn sie das nächste Mal Elsa besucht. »Guten Tag, ich habe Ihre Post nachts auf einem Feld an der Landstraße gefunden.« Sie blickt sich noch einmal um, ein Wagen ist nicht zu sehen, auch kein Fahrrad. Nichts deutet auf einen Unfall hin.

Unschlüssig bleibt sie im Auto sitzen, losfahren, dieses Meer von Briefen liegen zu lassen, sie fände das unanständig. Einen Moment überlegt sie, dann sucht sie die Nummer der Polizeidienststelle aus dem Netz und ruft dort an, etwas Besseres fällt ihr nicht ein. Die Beamtin am Telefon sagt, man würde jemanden schicken.

Das Wasser in der Wanne ist unbeweglich wie Glas. Neben den Beinen der Frau schwebt ein Taschenbuch, die aufgefächerten Seiten wirken schwerelos. Im Gesicht der Frau sind weder Anstrengung noch Schmerzen zu lesen. Diese Stille, Astrid hält beklommen den Atem an, doch kurz darauf fängt sie sich wieder. Der Rettungswagen ist wieder abgefahren, sie hatten nur noch feststellen können, dass die Frau seit Stunden nicht mehr lebte. Der Mann steht im Türrahmen, stumm, mit hängenden Schultern.

Ein Unfall scheint es nicht gewesen zu sein. Sie sieht sich nach elektrischen Geräten um, einem Föhn oder einem Rasierapparat, doch es liegt nichts offen herum.

»Hat Ihre Frau unter chronischen Krankheiten gelitten«, fragt sie, »und können Sie mir zeigen, welche Medikamente sie eingenommen hat?«

Er nimmt drei Schachteln vom Regal.

»Etwas gegen Stimmungsschwankungen und Schlaflosigkeit«, sagt er.

Sie erkennt die Präparate am Schriftzug, es sind Mittel gegen Altersdepression und Angstzustände, außerdem etwas gegen erhöhten Blutdruck. Herzversagen wäre möglich, ein stummer Infarkt, auch ein Schlaganfall wäre denkbar. Oder ein schon etwas länger zurückliegender Sturz, der nicht ernst genommen worden war und eine Hirnblutung ausgelöst hat. Wie es seiner Frau in den letzten Tagen ergangen sei, ob sie sich müde gefühlt, über Kopfschmerzen, über Atemnot, Bauchschmerzen oder Übelkeit geklagt hätte, fragt sie. Der Mann schüttelt nur den Kopf.

»Wann hatte sie sich das Bad eingelassen?«

»Ich glaube, gegen neunzehn Uhr.«

»Aber Sie haben sie eben erst, also vor ungefähr anderthalb Stunden, entdeckt.« Sie schaut auf die Uhr, es ist kurz nach fünf.

Er nickt, er sei abends im Wohnzimmer eingeschlafen.

»Wir sind eigentlich bei Dr. Gebhard in Behandlung. Ich dachte ... Aber er war nicht …«, bricht der Mann ab.

Dr. Gebhard, ihr alter Kollege, der bei Frauen von schwankenden Stimmungen statt von Depressionen sprach. Wahrscheinlich hätte er den Totenschein längst mit eindeutigem Befund ausgefüllt. Herzstillstand, damit der Bestatter sich auf den Weg machen konnte. Aus Rücksicht auf den Mann hätte er das getan, und auch ein bisschen aus Bequemlichkeit.

Sie wandert mit dem Blick weiter über den Körper der Frau. So behutsam wie möglich. Am Oberarm schimmert ein Hämatom, deutlich größer als ein Daumenabdruck. Die Frau könnte sich gestoßen haben, doch jemand könnte den Arm auch hart angepackt haben. Das rechte Handgelenk wirkt geschwollen.

»Ist Ihre Frau gestern oder in den vergangenen Tagen gestürzt? Hatte sie Schmerzen in der Hand?«, fragt sie und betrachtet den Mann dabei aufmerksam. Er schüttelt den Kopf, das wisse er nicht.

Sie atmet tief durch. Sie sollte nichts mehr anfassen oder verändern. Himmel, das hier, das ist so eine Situation, in der sie die Polizei rufen muss. Verstorbene in Badewannen, da sind die Umstände ohnehin schon schwer zu klären. Das Hämatom und das Handgelenk machen es noch dringlicher.

»Es tut mir leid«, beginnt sie und bereitet den Mann darauf vor, dass sie als Nächstes die Beamten benachrichtigen würde. Er blickt sie an, sichtlich entsetzt, dann dreht er sich wortlos um. Unten klappt eine Tür laut zu. Der Luftzug zieht hoch ins Bad, er berührt das Wasser in der Wanne. Luftbläschen lösen sich von der Haut der Frau, schimmernde Punkte, ein Silberregen, der nicht fällt, sondern steigt.

Zusammen warten sie im Wohnzimmer auf die Beamten. Sie fragt ihn, ob Verwandte in der Nähe wohnen, ob er seine Kinder anrufen wolle.

Er schüttelt den Kopf und winkt ab. Auch wenn er ruhig in seinem Sessel sitzt, kann sie seine Anspannung sehen. Seine Kiefer bewegen sich, der Mann scheint die Backenzähne aufeinanderzupressen. Zehn, fünfzehn lange Minuten werden sie nun zusammen hier ausharren müssen, bis ein Streifenwagen kommt.

»Das ist eine Zumutung«, sagt er, mehr zu sich selbst, aber gerade deutlich genug, damit sie es hören kann.

»Ich kann verstehen, dass die Situation schwer erträglich ist, aber ändern kann ich es leider nicht«, antwortet sie und fragt noch einmal, ob sie jemanden für ihn anrufen soll. Er schüttelt wieder den Kopf, gibt ein kurzes Schnaufen von sich.

Sie schickt Andreas eine Nachricht, dass es noch mindestens eine Stunde dauern wird, bis sie zurückkommt. Zur Sicherheit gibt sie ihm die Adresse. Zur Sicherheit. Sie muss auf einmal an die Schulung für Selbstverteidigung denken, die sie vor langer Zeit gemacht hatte. Für den Kurs hatte sie sich angemeldet, nachdem sie bei einem Notfall in einer Wohnung bedroht worden war. Sie hatte ein bestimmtes Medikament, ein Beruhigungsmittel, nicht verschreiben wollen, für eine junge Frau, die im Bett lag. Es gab keinen Befund, der es gerechtfertigt hätte. Als sie gehen wollte, versperrte der Mann ihr die Tür, rempelte sie sogar an. Sie würde hier nicht rauskommen ohne das Rezept. Sie schaffte es, der Situation zu entkommen, weil sie Schritte im Treppenhaus hörte und anfing laut zu reden. »Okay, danke, ich finde selbst hinaus«, sie rief das förmlich durch die geschlossene Tür, und der Mann ließ sie durch.

Während ihrer Ausbildung wurden solche Situationen mit keinem Wort erwähnt. Sie hat das selbst herausfinden müssen. Entschuldigung, ich bekomme einen Anruf, die Hand in der Tasche, Telefon hervorholen, zur Tür marschieren. Dieser einfache Trick hat bisher am besten geklappt, wenn sich etwas zusammengebraut hatte.

Das Haus liegt an der L96, zehn Kilometer von der Stadt entfernt, kein Dorf in der Nähe, nur eine Bushaltestelle. Es ist eines dieser alten Landarbeiterhäuser, an denen man vorbeifährt, ohne sich zu fragen, wer dort lebt. Sie betrachtet die Fotos an der Wand, eine Tochter, einen Sohn. Sie erkennt den hellblauen Hintergrund, die weißen Wölkchen darauf, die Aufnahmen kommen aus der Foto-Ecke im alten Kaufhaus. Dort hatte sie selbst ihre Söhne früher fotografieren lassen. Klebrige Kirschlollis gab es zur Belohnung fürs Stillhalten.

Endlich, ein Wagen fährt vor. Während der Mann von einer Beamtin befragt wird, und deren Kollege sich oben umschaut, bleibt sie auf dem Stuhl neben der Tür sitzen und wartet ab, ob sie gebraucht wird.

»Und Sie waren die ganze Zeit hier unten, während Ihre Frau gebadet hat?«

Er habe ferngesehen und sei eingeschlafen, erzählt der Mann. Kurz nach drei sei er nach oben ins Schlafzimmer gegangen und habe bemerkt, dass seine Frau nicht im Bett liege.

»Könnte ich ein Glas Wasser haben?«, fragt er.

Sie will aufstehen und helfen, doch die Polizistin winkt ab und holt dem Mann ein Glas aus der Küche.

»Auf dem Herd steht ein Topf mit einem Rest Suppe. Sie und Ihre Frau, haben Sie gestern gemeinsam zu Abend gegessen?«, fragt sie und reicht ihm das Glas.

Er nickt, »Ja, also, nur ich habe was gegessen.«

»Hatte Ihre Frau keinen Hunger?«

Er schüttelt den Kopf.

»Sie haben sich die Suppe warm gemacht? Wissen Sie noch, wann das war?«

Er überlegt. »Gegen acht?«

»Haben Sie Ihre Frau gefragt, ob sie auch etwas essen möchte?«

»Nein, sie kam ja nicht runter.«

Astrid betrachtet ihn. Sie kam ja nicht runter. Seine Frau hatte im Wasser gelegen, einen Abend und eine halbe Nacht. Er ist nicht nach oben gegangen, um ihr etwas zu Essen anzubieten. Oder auch nur, um nach ihr zu sehen. Damit hatte er eine Entscheidung getroffen, so beiläufig, dass es ihm wahrscheinlich nicht einmal wie eine Entscheidung vorkam. Sie lässt den Blick noch einmal durch das Zimmer wandern, zum Sofa, auf dem etwas Strickzeug an der Seite liegt, zu den Fotos an der Wand. Eine junge Frau und ein junger Mann auf einem Bild, in weißem Kleid und schwarzem Anzug. Hochzeit, Sechzigerjahre, schätzt sie.

Es sind die Kleinigkeiten, es sind eigentlich fast immer die Kleinigkeiten, an denen das Traurige sich festmacht, denkt sie. Achtlosigkeit zwischen Erwachsenen ist keine Straftat. Achtlosigkeit, dafür gibt es auf einem Totenschein kein Kästchen zum Ankreuzen.

Ist alles in Ordnung?, schreibt Andreas, er ist offenbar immer noch wach.

Ja, ich gehe jetzt schwimmen. Ich muss fit bleiben, damit ich mit dir sehr alt werden kann.

Jetzt? Na gut. Das nächste Mal komme ich mit, antwortet er.

Sie schickt ihm nur einen Kuss als Antwort, Andreas versteht es schon als Sport, wenn er einen kurzen Spaziergang macht.

Sie lässt die Autoscheibe herunter und saugt den kalten Fahrtwind ein, es ist kurz nach halb sieben. Das Hallenbad hat jetzt geöffnet. Sie sehnt sich nach Bewegung. Die Schwimmtasche liegt noch im Kofferraum, die hatte sie vor einigen Tagen eingepackt und dann doch nicht gebraucht.

Sie fährt an dem Feld mit den Briefen vorbei. Kein Auto ist zu sehen, niemand von der Polizei, und auch von der verstreuten Post ist nichts mehr zu erkennen. Alles dunkel, alles schwarz. Als hätte sie das alles geträumt. Ohne die Straße aus den Augen zu lassen, greift sie in ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz und wühlt darin, bis sie den Umschlag in den Fingern hat. Da ist er, sie hat ihn aufgesammelt, sie hat sich das nicht eingebildet.

»Das Deckenlicht in der Umkleide ist kaputt, es flackert komisch«, sagt Sinja an der Kasse zur Begrüßung.

Doch das Licht funktioniert einwandfrei, kein Zucken, kein Flackern. Astrid schließt die Schranktür ab, legt sich das Armband mit dem Chip um das Handgelenk, bugsiert mühsam das zerfranste Ende durch die Schnalle und ärgert sich über die müden Augen.

Sie ist allein in der Halle. Das Reha-Center hat einen Teil der Bahnen für sich abgetrennt, doch es ist noch niemand da. Auf einmal öffnet sich neben ihr die Tür der Herrendusche, ein Mann kommt heraus. Er stößt fast mit ihr zusammen und überholt sie mit zwei hastigen Schritten. Sie blickt ihm verwundert nach. Er hat sich offenbar gerade wirklich darum bemüht, in einem leeren Schwimmband schneller zu sein als sie.

Vor ihr erreicht er die Treppe, von dort führen die Stufen in den flachen Teil des Beckens. Er löst seine Füße aus den Badelatschen. Sie wartet mit etwas Abstand hinter ihm und betrachtet seinen breiten blassen Rücken. Ein Latschen hat sich an seinem Zeh verfangen, der Mann schüttelt ihn ab, sein gesamter Körper wackelt dabei. Er lässt sich ins Wasser fallen, macht einige Kraulzüge, ungelenk, denkt sie. Auf Anfang dreißig schätzt sie ihn, halb so alt wie sie, kein guter Schwimmer. Seine Badeschlappen hat er vor der Treppe liegen lassen, mittig, sie schiebt die Latschen mit einem Fuß beiseite, wie sie es früher täglich mit den Hausschuhen, Schnürschuhen, Sneakers und Gummistiefeln ihrer Söhne gemacht hat.

Sie setzt die Schwimmbrille auf. Gleichmäßiges Kraulen, stilles Zählen, eins, zwei, drei, Luftholen, vier, fünf, sechs, Luftholen. So schwimmt sie ihre Bahnen, drei, dann vier. Zwischendurch sieht sie den Mann, wie er emsig krault und danach schwer atmend am Rand verschnauft, er übernimmt sich, er sollte es langsamer angehen lassen.

Sie gleitet unter Wasser, sieht den Schatten ihres Körpers auf den Bodenkacheln, viel schmaler als in Wirklichkeit, wenn sie vor dem Spiegel steht. Die ersten Bahnen waren mühsam, doch langsam wird es besser, so ist es immer, nach einer Weile fühlt sie sich leicht und kräftig. Sie legt an Tempo zu.

Sie taucht auf und sieht aus dem Augenwinkel wieder den Mann, wie er einige Meter neben ihr krault. Zusammen erreichen sie den Beckenrand, wieder wirft er ihr einen Blick zu, er scheint erschöpft zu sein. Sie versucht, ihn nicht zu beachten, sondern berührt nur kurz den Rand und wendet. Sie taucht ab und schwimmt weiter. Gegenüber angekommen sieht sie ihn einige Meter hinter sich, er müht sich ab, das Wasser spritzt bei jeder seiner Bewegungen. Auf einmal hat sie den Eindruck, dass sie ihm mit ihrer Ausdauer auf die Nerven fällt. Sie spürt eine seltsame Genugtuung dabei.

Subtile Aggressionen zwischen Schwimmern, sie kennt das eigentlich nur, wenn es im Becken voll ist. Wenn man sich die Bahnen teilen und Rücksicht aufeinander nehmen muss, und wenn man sich dabei ständig begegnet und in die Quere kommt. Ein Miteinander wie eine soziale Studie. Einige schieben sich durch das Wasser, ohne nur einen halben Meter auszuweichen, verschanzt hinter ihren Schwimmbrillen und ihrem Tempo. Andere bewegen sich wie im Slalom durch das Becken, um nicht getreten zu werden, und finden vor lauter Umsicht nicht in den eigenen Rhythmus. Sie gehört meistens zu denen, die ausweichen müssen. Einige Male hat sie es darauf ankommen lassen und ist nicht sofort bereitwillig zur Seite geschwommen. Sie hat einen Tritt in die Wade und einen in die Hüfte einstecken müssen, um ihre Anwesenheit zu verteidigen.

Sie legt eine kurze Pause ein und sieht, dass der Mann gegenüber am Beckenrand lehnt und schwer atmend zwei Finger an die Brust legt, als wolle er seinen Herzschlag spüren. Als er ihren Blick bemerkt, wirft er sich wieder ins Wasser. Sie streckt den Körper, taucht einige Meter, schwimmt ebenfalls weiter.

Haben Sie Ihre Frau gefragt, ob sie auch etwas essen möchte?

Nein, sie kam ja nicht runter.

Sie sieht die Frau in der Wanne vor sich, eins, zwei, drei, Luftholen, sie sieht, wie die Frau den Kopf auf das zusammengerollte Handtuch legt, wie sie sich heißes Wasser nachlaufen lässt, vier, fünf, sechs, wie sie nach ihrem Buch greift und es aufschlägt, Luftholen.

Andreas ist siebenundsechzig, sie würde ihm das nicht sagen, aber ihre Sensoren sind wieder so geschärft wie zu jener Zeit, als die Kinder klein waren. Wenn Andreas baden würde, und es nach einer halben, dreiviertel Stunde ungewohnt still werden, kein Wasser rauschen würde, wäre sie auf dem Weg nach oben, in Gedanken die eine Hand an seinem Puls, die andere am Telefon.

Der Mann beobachtet sie vom Beckenrand aus. »Meine Güte«, sagt sie leise und beginnt die nächste Bahn. Sie ist kein bisschen erschöpft, im Gegenteil, jetzt wird sie erst richtig loslegen. Zehn, fünfzehn Bahnen wird sie schaffen, und noch mehr. Sie wird länger durchhalten als er. Schwimmen, immer weiter schwimmen. Bis er japsen wird, bis er völlig außer Atem aus dem Becken steigen, nein, kriechen wird.

Ich schwimm dich kaputt, denkt sie, mit einer Kälte, die sie überrascht.

3

wann soll man, tippt sie ins Suchfenster –

den rasen kalken

sich wiegen

elterngeld beantragen

aktien kaufen

sich trennen, bietet ihr der Algorithmus an, efeu schneiden, tippt Julia weiter und erfährt, dass bei Frost davon abgeraten wird, besser sei es im späten Frühjahr und ein zweites Mal gegen Ende des Sommers.

Sie würde trotzdem gern im Garten arbeiten, etwas anpacken, etwas Sinnvolles tun. Sie zieht ihren Parka über und steigt in die Gummistiefel, holt die Arbeitshandschuhe, eine Spitzhacke, einen Spaten und die Schubkarre aus dem Schuppen, sie haben das Werkzeug nicht selbst angeschafft, es wurde hier zurückgelassen.

Das Gewächshaus rottet hinten im Garten vor sich hin. Kurz nach dem Einzug, Anfang Juni, hatte sie es herrichten wollen, etwas säen, Karotten, Mangold, Bohnen, doch sie verschob es von Woche zu Woche, nun sind die Scheiben noch immer blind vor Schmutz.

Sie schlägt die Spitzhacke in den Boden, löst nach und nach das trockene Gestrüpp und die Wurzeln, sie findet ein paar Scherben und legt sie zur Seite, hackt und gräbt mechanisch weiter, wirft Pflanzenreste in die Schubkarre.

Sie wissen nicht viel darüber, wer vor ihnen hier gewohnt hat, ein kleines Backsteinhaus, Baujahr 1921. Jemand hatte es geerbt und zum Verkauf angeboten, ohne sich die Mühe zu machen, die Zimmer leer zu räumen, man wollte es offenbar ohne Aufwand so schnell wie möglich loswerden. Sie zahlen das Haus in kleinen Raten ab, es war ein guter Kauf, unter dem schmutzig pfirsichfarbenen Teppich verbarg sich ein robuster Holzboden, den sie nur abschleifen und einölen mussten. Die alten schwarzgrünen Kacheln im Bad gefielen ihnen, Black Forest Green oder Glasshouse Green würde man sie heute nennen. Sie kratzten Tapeten ab, ließen die Wände verputzen und eine neue Küche einbauen.

Am ersten Abend, noch ohne Möbel, hatten sie eine Decke im Wohnzimmer ausgebreitet, darauf ein kleines Picknick, Brot, Käse und Oliven, dazu etwas Bier. Auf der Fensterbank flackerten Teelichter, die Terrassentür stand offen, es hatte geregnet und roch nach feuchten Blättern.

»Wir haben es geschafft, wir sind raus«, hatte Chris gesagt. Er meinte damit ein Geflecht aus Bedingungen, in dem sie sich gefangen gefühlt hatten. Die Suche nach einer größeren Wohnung, die aussichtslos gewesen war. Seine Dozentenstelle im Zentrum für Schulbiologie, die nicht verlängert worden war, seine Sorge, er würde keine neue Stelle finden. Ihr Versuch, im Einkauf eines Versandhandels zufrieden zu sein, weil es sich um eine Festanstellung handelte. Ihre Hoffnung, diese Sicherheit würde sich lohnen, weil sie schwanger werden und in Elternzeit gehen würde, mit einer Chance, auch danach noch einen Job zu haben.

Sie weiß es noch genau, sie kam von einem Wochenende zurück, Strategietage in einem Hotel am Bodensee. Ein Konzern hatte den Versand, für den sie arbeitete, gekauft. Das Wochenende sollte dem Neubeginn Schwung geben. Die halb nackten Kollegen in der Sauna, in den Duschen und Whirlpools, überall das strömende, plätschernde Wasser. Die vollen Buffets morgens und abends. Die Leute, die so viel wie möglich aus diesen Tagen herausholen wollten, gratis Massagen, Cocktails, Golfstunden. Alles kam ihr obszön vor. Zwischen den unbeschwerten, entspannten Menschen bestand sie nur noch aus einem Gedanken: Sie wollte nichts von all dem. Sie sehnte sich nach einem kleinen Lebensradius, der so wenig Schaden anrichten würde wie möglich.

Geradezu elektrisiert war sie, als Chris die Frage stellte, wie es anders weitergehen könnte.

Sie hebelt den harten Boden mit der Spitzhacke auf, atmet laut pustend aus, motiviert sich mit Gedanken an hellgrüne Stiele und Blätter, die im Frühling aus der Erde schlüpfen werden, an das Sonnenlicht, das auf das geputzte Glasdach fallen wird. Sie erinnert sich, wie angetan sie war, als sie das Gewächshaus auf den Fotos sah, das Gerippe aus alten Streben und die moosigen Scheiben. Sie war leicht zu begeistern bei der Immobiliensuche, hochgewachsene Obstbäume im Garten, ein alter Kachelofen im Wohnzimmer, gut erhaltene Kassettentüren. Chris dagegen achtete auf Heizkosten, den Zustand des Dachs und feuchte Wände. Sobald ein Objekt in die engere Wahl kam, fing er an, sich mit der Umgebung zu beschäftigen. Er recherchierte, ob sich längst vergessene Müllhalden in der Nähe befanden, die womöglich seit Jahrzehnten das Grundwasser belasteten, Deponien für verseuchten Elbschlamm oder Grundstücke längst geschlossener Chemiefirmen, die den Boden vor fünfzig Jahren oder mehr mit Einverständnis der Regierung vergiftet hatten und nie zur Rechenschaft gezogen worden waren. Er las nach, ob die Lagerung von Castorfässern infrage kam. »Wer das Land romantisiert, hat noch nie das Register der Mülldeponien aus den letzten siebzig Jahren gesehen.«

Ihr ist warm, sie schwitzt und spürt, wie ein Rinnsal ihr von der Brust über den Bauch läuft. Sie knöpft den Parka auf und zieht die Handschuhe aus, wühlt weiter in der Erde, sammelt Wurzelreste auf und entdeckt etwas Kleines, Rundes. Für einen Stein zu glatt, mit Spucke reibt sie die Erde ab, es ist eine Murmel, eine perlmuttweiße mit blaugrüner Maserung. Sie stellt sich Kinderhände vor, die eine Mulde in die Erde drücken, den Boden für eine Bahn glatt streichen, Murmeln anstupsen. Beim Renovieren hatte sie sich gefragt, wann wohl zuletzt Kinder hier gewohnt hatten, und die Antwort in einem der oberen Zimmer gefunden, als sie die Tapeten von den Wänden löste. Unter den Schichten entdeckte sie eine bunte Tapete, Szenen aus Märchen.

Von irgendwoher hört sie einen dumpfen Beat, dazu Glockenspiel, eine eigenartig reizvolle Mischung. Vielleicht ist die Familie zurückgekommen, die Mädchen haben ihre Fenster geöffnet und hören Musik. Sie geht zu den Brombeerhecken, schiebt sich durch die Lücke, um in den Nachbargarten zu kommen, und bleibt gerade so an der Seite, dass sie die Dachluken sehen kann, aber nicht sofort bemerkt werden würde. Die Fenster sind geschlossen, die Rollos sind halb heruntergelassen, es scheint sich nichts verändert zu haben. Sie zählt nach, drei Tage ist es her, dass sie dem Jungen mit dem Rucksack begegnet ist und er den Zettel auf der Terrasse versteckt hat. Heute früh hat sie das erste Mal seit den Weihnachtstagen ein Grüppchen Kinder mit Schulranzen gesehen, auf dem Weg zum Fähranleger, die Ferien sind nun offenbar wirklich vorbei.

Das Haus soll verkauft werden, es muss schon recht lange auf dem Markt sein, während ihrer Suche wurde es ihnen regelmäßig ins Postfach gespült. Chris und sie hatten sich die Bilder angesehen. Ein riesiges Haus, das spießigen, längst verjährten Wohlstand ausstrahlt, große Zimmer mit holzvertäfelten Decken, unten ein Partykeller und sogar ein Schwimmbad mit Sauna. Sie erinnert sich an das Foto, ein kleiner Pool, dahinter ein Wandbild mit einem Sonnenuntergang am Strand, dunkle Schatten in den Ecken, die nach Schimmel aussahen. Der Kaufpreis war unrealistisch hoch. Kein Wunder, dass die Eigentümer es noch immer nicht losgeworden sind.

Sie nimmt den kleinen Weg an der Hausseite entlang zum Eingang, unschlüssig bleibt sie in der Einfahrt stehen, die Garage ist geschlossen. Sie könnte klingeln, und falls jemand öffnet, könnte sie nach Zucker oder Mehl fragen.

Aus dem Briefkasten quellen aufgeweichte Wochenblätter. Sie versucht, sich zu erinnern, wann sie Mona oder Erik, die beiden Mädchen und den kleinen Jungen zuletzt gesehen hat, das war kurz vor Weihnachten, da hat sie zumindest den Wagen vorbeifahren sehen. Von den Festtagen hat sie hier nichts mitbekommen, sie und Chris waren unterwegs gewesen. Sie klingelt und wartet eine Weile, achtet auf jedes Geräusch, Schritte oder ein Türklappen, doch alles bleibt still.

Sie geht einmal hinten herum um das Haus, bis sie auf der Terrasse steht. Durch das große Fenster schaut sie ins Wohnzimmer, ein wuchtiges Sofa und einen niedrigen Tisch kann sie erkennen, es scheint nicht viel herumzuliegen, keine Bücher oder Zeitungen, auch kein Spielzeug. Sie tastet die Unterseite des Türrahmens ab, da steckt tatsächlich etwas. Der Zettel, den der Junge hinterlassen hat, er ist weich vor Nässe, es hat geregnet in den vergangenen Tagen. Vorsichtig faltet sie ihn auseinander. Sie versucht, die Nachricht zu entziffern, die Buchstaben wirken wie hastig hingeschrieben, dazu noch mit Bleistift, durch die Feuchtigkeit etwas verblasst.

Bitte meldet euch!

Denkt nicht mehr an das Wasser.

Ich habe es verschluckt.

Sie ist nicht sicher, ob sie richtig gelesen hat, in Gedanken tauscht sie die Buchstaben, ein W gegen ein M, von Wasser zu Messer. Denkt nicht mehr an das –. Oder: verschluckt, ein l und ein u – aber vielleicht auch ein i, verschickt.

Wie sie es auch dreht und liest, sie kann mit der Nachricht nichts anfangen. Sachte legt sie das Papier wieder zusammen und schiebt es zurück unter den Türrahmen.

4

Andreas atmet gleichmäßig, er scheint noch tief zu schlafen. Seitdem er nicht mehr arbeitet, bleibt er bis spätnachts auf, liest die Bücher, die jahrelang in Stapeln gewartet haben, und verbringt den halben Tag im Pyjama. Obwohl er gern Lehrer war, hat er vor dem Einschlafen schlecht gelaunt ans Aufstehen gedacht und oft über den frühen Schulbeginn geflucht. »Sieben Uhr fünfzig, komatöse Teenager, müdes Lehrpersonal, wer hat was davon?« Er litt unter Schlaflosigkeit. Jetzt zelebriert er nachts die wachen Stunden und legt sich nachmittags ein oder zwei Stunden hin. Er lebt den Rhythmus des Studenten, der er gewesen war, bevor das erste Kind kam.

So leise wie möglich steht Astrid auf und geht ins Bad, duscht und zieht sich an. Aus der Schale auf der Fensterbank fischt sie ein Paar Ohrringe. Marli steht unten im Garten, sie trägt einen Jogginganzug und scheint aus der Puste zu sein. Sie würde Marli gern etwas Liebes hin­unterrufen, wie früher, doch sie ist nicht sicher, wie Marli das aufnehmen würde. Sie ist sich bei Marli mit überhaupt nichts mehr sicher.

Schritte auf der Treppe, Andreas ist aufgestanden, unten klappt eine Tür, dann hört sie sein sattes Plätschern im ­Gäste-WC.