Nemesis - Isaac Asimov - E-Book

Nemesis E-Book

Isaac Asimov

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Beschreibung

Unser Sonnensystem im 23. Jahrhundert: Die Menschheit hat das All in gewaltigen Raumstationen besiedelt. Auf einer davon lebt die Wissenschaftlerin Eugenia mit ihrer Tochter Marlene. Eines Tages macht sie eine beängstigende Entdeckung: Die rote Zwergsonne Nemesis, die durch die Milchstraße zieht, wird unserem Sonnensystem in 5.000 Jahren so nahe kommen, dass sie Planeten aus ihren Umlaufbahnen reißt. Um die Katastrophe zu verhindern, wird die Station ins Nemesis-System versetzt. Was Eugenia und Marlene dort entdecken, wird das Schicksal der gesamten Menschheit für immer verändern …

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Das Buch

Unser Sonnensystem im 23. Jahrhundert: Die Menschheit hat in gewaltigen Raumstationen das All besiedelt. Auf einer davon lebt die Wissenschaftlerin Eugenia mit ihrer Tochter Marlene. Eines Tages macht Eugenia eine beängstigende Entdeckung: Nemesis, eine rote Zwergsonne, die durch die Milchstraße wandert, wird unserem Sonnensystem in 5000 Jahren so nahe kommen, dass sie die Planeten aus ihren Umlaufbahnen reißt. Um die Katastrophe zu verhindern, wird Eugenias Heimatstation ins Nemesis-System versetzt. Was Eugenia und Marlene dort entdecken, wird das Schicksal der gesamten Menschheit für immer verändern …

Mit dem Foundation-Zyklus schuf Isaac Asimov die wohl bekannteste Future-History des 20. Jahrhunderts. In Nemesis legt er einen der Grundsteine, der für die Geschichte des Foundation-Universums von zentraler Bedeutung ist.

Der Autor

Isaac Asimov zählt gemeinsam mit Arthur C. Clarke und Robert A. Heinlein zu den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren, die je gelebt haben. Er wurde 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, in der Sowjetunion geboren. 1923 wanderten seine Eltern in die USA aus und ließen sich in New York nieder. Bereits während seines Chemiestudiums an der Columbia University begann er, Geschichten zu schreiben. Seine erste Story erschien im Juli 1939, und in den folgenden Jahren veröffentlichte er in rascher Folge die Erzählungen und Romane um die Foundation, die ihn weltberühmt machten. Isaac Asimov starb im April 1992.

Mehr über Isaac Asimov und seine Werke erfahren Sie auf:

diezukunft.de

ISAAC ASIMOV

NEMESIS

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

NEMESIS

Deutsche Übersetzung von Irene Holicki

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Ausgabe 01/2023

Copyright © 1989 by Isaac Asimov

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-28516-6V001

www.diezukunft.de

Prolog

Er saß alleine da, von Wänden umgeben.

Draußen funkelten die Sterne, darunter eine besondere Sonne mit einem kleinen Planetensystem. Sie stand vor seinem geistigen Auge – deutlicher, als er sie in Wirklichkeit hätte sehen können, wenn er jetzt das Fenster durchsichtig gemacht hätte.

Ein kleiner Stern in blassem Rosa, der Farbe von Blut und Zerstörung, mit einem passenden Namen.

Nemesis.

Nemesis – die Göttin der Vergeltung.

Wieder ging ihm die Geschichte durch den Sinn, die er einst in seiner Jugend gehört hatte, eine Legende, ein Mythos von einer die ganze Welt überspülenden Sintflut, die eine sündige, degenerierte Menschheit auslöschte und nur eine Familie verschonte, um mit ihr einen neuen Anfang zu machen.

Diesmal war es keine Flut. Nur Nemesis.

Wieder war die Menschheit in Dekadenz versunken, und die Nemesis, die nun über sie hereinbrechen würde, war nur die gerechte Strafe. Aber es würde keine Sintflut sein. So einfach war es diesmal nicht.

Und der Rest, der dem Unheil vielleicht entging – wohin sollte er sich wenden?

Warum spürte er keine Trauer? Die Menschheit konnte so nicht weitermachen. Sie starb ganz allmählich an ihren eigenen Missetaten. Wenn sie einen langsamen, qualvollen Tod gegen einen sehr viel schnelleren eintauschte, war das etwa ein Grund zu trauern?

Direkt um Nemesis kreiste ein Planet. Der Planet hatte einen Satelliten. Um den Satelliten zog Rotor seine Bahn.

Damals, bei jener Sintflut, waren einige wenige mit einer Arche in Sicherheit gebracht worden. Er hatte nur eine sehr vage Vorstellung, was eine Arche war, aber Rotor war sicherlich das Gegenstück dazu. Rotor konnte eine Gruppe von Auserwählten beherbergen, die von der Gefahr verschont bleiben und eine neue, viel bessere Welt errichten sollten.

Was die alte Welt anging – ihr Schicksal würde Nemesis besiegeln!

Wieder dachte er an den roten Zwergstern, der unaufhaltsam immer weiterzog. Er selbst und seine Welten waren in Sicherheit. Nicht so die Erde.

Nemesis war unterwegs, Erde!

Um göttliche Vergeltung zu üben!

1 Marlene

1

Als Marlene das Sonnensystem zum letzten Mal gesehen hatte, war sie etwas mehr als ein Jahr alt gewesen. Natürlich hatte sie keine Erinnerung daran. Sie hatte viel darüber gelesen, dabei aber niemals das Gefühl gehabt, es habe je zu ihr gehört oder sie zu ihm.

In ihrem ganzen fünfzehnjährigen Leben hatte sie nur Rotor bewusst erlebt und es immer für eine große Welt gehalten. Schließlich hatte es einen Durchmesser von acht Kilometern. Seit sie zehn Jahre alt war, hatte sie Rotor hin und wieder – einmal im Monat, wenn möglich – ganz umwandert, um sich Bewegung zu verschaffen. Manchmal hatte sie auch die Wege eingeschlagen, auf denen niedrige Schwerkraft herrschte, um ein wenig zu gleiten. Das machte immer Spaß. Doch ob man nun glitt oder wanderte, Rotor mit seinen Gebäuden, seinen Parks, seinen Farmen und vor allem seinen Menschen blieb immer gleich.

Sie brauchte für diese Ausflüge einen ganzen Tag, aber ihre Mutter hatte nichts dagegen, denn auf Rotor gebe es keinerlei Gefahren, sagte sie. »Anders als auf der Erde«, pflegte sie hinzuzufügen, aber sie erklärte nie, warum man auf der Erde nicht sicher war. »Das braucht dich nicht zu kümmern«, war die einzige Antwort.

Die Menschen mochte Marlene am wenigsten. Der letzten Zählung nach sollten sich angeblich sechzigtausend auf Rotor befinden. Zu viele. Viel zu viele. Und keiner von ihnen zeigte sein wahres Gesicht. Marlene hasste es, diese falschen Gesichter zu sehen und zu wissen, dass sich dahinter etwas anderes verbarg. Und sie konnte mit niemandem darüber sprechen. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie es manchmal versucht, aber dann war ihre Mutter wütend geworden und hatte ihr verboten, solche Sachen zu sagen.

Je älter sie wurde, desto deutlicher erkannte sie die Falschheit der anderen, aber desto weniger störte sie sich auch daran. Sie hatte gelernt, sie als selbstverständlich hinzunehmen und sich so viel wie möglich mit sich selbst und ihren eigenen Gedanken zu beschäftigen.

In letzter Zeit weilten ihre Gedanken oft auf Erythro, dem Planeten, um den Rotor schon fast ihr ganzes Leben lang kreiste. Sie wusste nicht, warum das so war, aber sie fing an, zu ungewöhnlichen Stunden aufs Beobachtungsdeck zu gleiten und sehnsüchtig den Planeten anzustarren. Dort wollte sie sein – auf Erythro.

Ihre Mutter fragte sie immer wieder ungeduldig, was sie denn unbedingt auf einem leeren, kahlen Planeten wolle, aber darauf konnte sie keine Antwort geben. Sie wusste es nicht. »Ich will es einfach«, sagte sie.

Auch jetzt war sie wieder alleine auf dem Beobachtungsdeck und betrachtete Erythro. Die Rotorianer kamen fast nie hierher. Sie hatten schon alles gesehen, vermutete Marlene, und aus irgendeinem Grund interessierten sie sich nicht so sehr für Erythro wie sie selbst.

Der Satellit war direkt vor ihr; teils hell, teils in Dunkelheit gehüllt. Eine schwache Erinnerung stieg in ihr auf, jemand hielt sie hoch, damit sie sehen konnte, wie er langsam in Sicht kam. Immer wieder hatte sie ihn beobachtet, jedes Mal war er größer gewesen, als Rotor sich ihm vor so vielen Jahren langsam genähert hatte.

Konnte das wirklich eine Erinnerung sein? Immerhin war sie damals schon fast vier gewesen, unmöglich war es also nicht.

Aber jetzt wurde diese Erinnerung – ob sie nun echt war oder nicht – von anderen Gedanken überlagert, von der immer sicherer werdenden Erkenntnis, wie groß ein Planet tatsächlich war. Erythros Durchmesser betrug mehr als zwölftausend Kilometer. Sie konnte es gar nicht fassen. Rotor hatte einen Durchmesser von nur acht Kilometern. Auf dem Bildschirm wirkte Erythro gar nicht so groß, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, darauf zu stehen und Hunderte – oder gar Tausende – von Kilometern weit zu sehen. Aber sie wusste, dass sie sich das wünschte. Sehr sogar.

Aurinel interessierte sich nicht für Erythro, und das war eine Enttäuschung. Er sagte, er habe an andere Dinge zu denken, zum Beispiel müsse er sich auf das College vorbereiten. Er war siebzehneinhalb. Marlene war gerade erst fünfzehn geworden. Das war doch kein so großer Unterschied, dachte sie trotzig, schließlich entwickelten Mädchen sich viel schneller. Angeblich jedenfalls. Sie schaute an sich selbst hinab und dachte, wie üblich bekümmert und unzufrieden, dass sie irgendwie immer noch so kurz und gedrungen aussah wie ein Kind.

Wieder wandte sie sich Erythro zu. Er war so gewaltig, so schön, und wo er beleuchtet war, strahlte er in so weichem Rot. Er war groß genug für einen Planeten, aber sie wusste, dass er in Wirklichkeit ein Satellit war. Er kreiste um Megas, und Megas (der noch viel größer war) war eigentlich der Planet, obwohl jedermann Erythro so bezeichnete. Die beiden zusammen, Megas und Erythro und auch Rotor, umkreisten die Sonne Nemesis.

»Marlene!«

Marlene hörte die Stimme hinter sich und wusste, dass es Aurinel war. In letzter Zeit fiel es ihr immer schwerer, mit ihm zu reden, und der Grund dafür war ihr peinlich. Sie liebte es, wie er ihren Namen aussprach, nämlich richtig, mit drei Silben – Mar-le-ne – das ›r‹ ein wenig gerollt. Wenn sie das hörte, wurde ihr jedes Mal warm ums Herz.

Sie drehte sich um, murmelte »Hi, Aurinel« und bemühte sich, nicht rot zu werden.

Er grinste. »Du siehst dir wieder mal Erythro an, nicht wahr?«

Sie gab keine Antwort. Natürlich, was sonst? Jeder wusste, was sie für Erythro empfand. »Wieso bist du hier?« (Bitte sag mir, dass du mich gesucht hast, dachte sie.)

»Deine Mutter hat mich geschickt«, sagte Aurinel.

(Na schön.) »Warum?«

»Sie sagte, du hättest schlechte Laune, und jedes Mal, wenn du dir selbst leid tätest, kämst du hier rauf. Ich soll dich holen, denn angeblich wirst du nur noch unleidlicher, wenn du hier bleibst. Warum hast du denn schlechte Laune?«

»Das hab ich gar nicht. Und wenn, dann habe ich meine Gründe.«

»Was für Gründe? Jetzt sag schon! Du bist doch kein kleines Kind mehr. Du musst allmählich lernen, dich auszudrücken.«

Marlene zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin durchaus in der Lage, mich zu artikulieren, vielen Dank. Mein Grund ist, dass ich gerne reisen möchte.«

Aurinel lachte. »Du bist doch gereist, Marlene. Du bist mehr als zwei Lichtjahre weit gereist. Niemand in der Geschichte des Sonnensystems hat auch nur einen kleinen Bruchteil eines Lichtjahres zurückgelegt – außer uns. Marlene Insigna Fisher ist durch die Galaxis gereist.«

Marlene unterdrückte ein Kichern. Insigna war der Mädchenname ihrer Mutter, und jedes Mal, wenn Aurinel sie mit allen drei Namen ansprach, pflegte er zu salutieren und eine Grimasse zu schneiden, aber das hatte er schon lange nicht mehr getan. Vermutlich, weil er jetzt allmählich erwachsen wurde und sich daran gewöhnen musste, würdevoll zu sein.

»An diese Reise kann ich mich nicht mehr erinnern«, sagte sie. »Das weißt du genau, und weil ich mich nicht daran erinnern kann, zählt sie auch nicht. Wir sind einfach hier, mehr als zwei Lichtjahre vom Sonnensystem entfernt, und wir werden nie zurückkehren.«

»Woher weißt du das?«

»Ach, komm, Aurinel. Kein Mensch redet doch von Rückkehr oder hast du schon mal davon gehört?«

»Na, selbst wenn nicht, wen kümmert das? Die Erde ist eine überbevölkerte Welt. Das ganze Sonnensystem ist allmählich überbevölkert und verbraucht sich. Hier draußen sind wir besser dran – wir sind die Herren über alles, was wir erforschen.«

»Nein, das ist nicht wahr. Wir erforschen Erythro, aber wir fliegen nicht hinunter, um dort zu herrschen.«

»Aber sicher. Wir haben eine wunderschöne, funktionierende Kuppel auf Erythro. Das weißt du doch.«

»Sie ist nicht für uns bestimmt. Nur für ein paar Wissenschaftler. Ich rede von uns. Uns lässt man nicht hinunter.«

»Das kommt schon noch«, sagte Aurinel unbekümmert.

»Sicher, wenn ich eine alte Frau bin. Oder tot.«

»So schlimm ist es doch gar nicht. Jetzt komm jedenfalls hier raus und mit mir zurück, damit deine Mutter zufrieden ist. Ich kann nicht hierbleiben. Ich habe zu tun. Dolorette …«

In Marlenes Ohren begann es zu rauschen, und sie hörte nicht mehr, was Aurinel danach noch sagte. Es genügte dieser Name – Dolorette! Marlene hasste Dolorette.

Aber was nutzte es? Aurinel schwänzelte schon seit einiger Zeit um Dolorette herum, und Marlene brauchte ihn nur anzusehen, um genau zu wissen, was er für dieses Mädchen empfand. Jetzt hatte man ihn geschickt, um sie zu suchen, und für ihn war das nur Zeitverschwendung. Sie merkte, dass er genau das dachte und dass er es kaum erwarten konnte, zu dieser … dieser Dolorette zurückzukommen. (Warum spürte sie solche Dinge immer? Manchmal war das abscheulich.)

Ganz plötzlich wollte Marlene ihm weh tun und suchte nach Worten, die ihn schmerzen würden. Aber wahr mussten sie sein. Anlügen würde sie ihn nicht. Und so sagte sie: »Wir werden nie ins Sonnensystem zurückkehren. Ich weiß auch, warum.«

»Ach, und warum?« Als Marlene zögernd schwieg, fügte er hinzu: »Ist das ein Geheimnis?«

Sie saß in der Falle, denn so etwas durfte sie eigentlich nicht sagen. Also murmelte sie: »Ich will es nicht verraten. Ich sollte es gar nicht wissen.« Aber sie wollte es sagen. In diesem Augenblick wollte sie, dass alle unglücklich waren.

»Aber mir kannst du es doch sagen. Wir sind doch Freunde, oder?«

»Sind wir das?«, fragte Marlene. Und dann: »Schön, ich werde es dir sagen. Wir werden nie zurückkehren, weil die Erde zerstört wird.«

Aurinel reagierte anders, als sie es erwartet hatte. Er brach in schallendes Gelächter aus. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigte, und sie starrte ihn gekränkt an.

»Marlene«, sagte er, »wo hast du das gehört? Du hast dir wieder Sensationsfilme angesehen.«

»Das ist nicht wahr!«

»Aber wie kommst du dann auf eine solche Idee?«

»Ich weiß es einfach. Ich spüre es. Aus dem, was die Leute sagen, aber doch nicht sagen, und aus dem, was sie tun, wenn sie gar nicht wissen, dass sie es tun. Manches verrät mir auch der Computer, wenn ich ihm die richtigen Fragen stelle.«

»Und was verrät er dir so zum Beispiel?«

»Das werde ich dir nicht sagen.«

»Besteht vielleicht die Möglichkeit, eine ganz winzige Möglichkeit« – er hielt zwei Finger dicht aneinander –, »dass du dir was davon einbildest?«

»Nein, bestimmt nicht. Die Erde wird nicht sofort zerstört werden – vielleicht dauert es noch ein paar tausend Jahre –, aber sie wird zerstört werden.« Sie nickte feierlich und sah ihn eindringlich an. »Und nichts kann es aufhalten.«

Marlene drehte sich um und ging weg, sie war wütend auf Aurinel, weil er an ihren Worten zweifelte. Nein, er zweifelte nicht nur, es war mehr. Er dachte, sie habe den Verstand verloren. Das hatte sie nun davon. Sie hatte zu viel geredet und nichts dabei gewonnen. Alles war schiefgelaufen.

Aurinel starrte ihr nach. Das Lachen war verschwunden, sein jungenhaft hübsches Gesicht drückte ein gewisses Unbehagen aus, und seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten.

2

Eugenia Insigna war nicht mehr die Jüngste. Schließlich hatte die Reise nach Nemesis zwei Jahre gedauert, und sie war schon ziemlich lange hier. Im Laufe der Jahre hatte sie sich immer wieder selbst ermahnt: Wir sind auf Dauer hier; wir arbeiten für das Leben unserer Kinder, für eine noch unbekannte Zukunft.

Aber sie hatte diese Vorstellung immer als bedrückend empfunden.

Warum eigentlich? Sie hatte doch gewusst, dass dies die unvermeidliche Konsequenz war, und zwar seit dem Augenblick, als Rotor das Sonnensystem verließ. Jedermann auf Rotor – alles Freiwillige – hatte es gewusst. Wer nicht den Mut zu einer endgültigen Trennung aufbrachte, hatte Rotor vor dem Start verlassen, und unter diesen war auch …

Eugenia führte den Gedanken nicht zu Ende. Er kam oft, und sie bemühte sich jedes Mal, ihn zu verdrängen.

Jetzt waren sie hier auf Rotor, aber war Rotor ihre Heimat? Für Marlene war es so; sie hatte nie etwas anderes gekannt. Aber für sie selbst, für Eugenia? Heimat, das waren Erde, Mond, Sonne, Mars und all die anderen Welten, die die Menschheit durch ihre Geschichte und ihre Vorgeschichte begleitet hatten. Sie hatten das Leben begleitet, seit es das Leben gab. Der Gedanke, dass ihre Heimat nicht Rotor war, ließ sie auch jetzt noch nicht los.

Aber schließlich hatte sie auch die ersten achtundzwanzig Jahre ihres Lebens im Sonnensystem verbracht und von ihrem einundzwanzigsten bis zu ihrem dreiundzwanzigsten Jahr auf der Erde promoviert.

Merkwürdig, wie sich die Erde immer wieder in ihr Bewusstsein drängte und sich nicht vertreiben ließ. Dabei hatte sie sich dort gar nicht wohl gefühlt. Das Gedränge, die schlechte Organisation, die Kombination von planloser Verwirrung in wichtigen Dingen und rigorosem Durchgreifen der Regierung bei Belanglosigkeiten, das alles war ihr zuwider gewesen. Sie hatte die Schlechtwetterperioden, das mit Narben übersäte Land, die Maßlosigkeit des Ozeans verabscheut. Als sie nach Rotor zurückkehren konnte, war sie von überwältigender Dankbarkeit erfüllt gewesen und hatte sich alle Mühe gegeben, ihren frisch gebackenen Ehemann für ihre geliebte, kleine, sich drehende Welt zu erwärmen – er sollte die hier herrschende Ordnung und Bequemlichkeit als ebenso angenehm empfinden wie sie, die hier geboren war.

Aber er hatte nur wahrgenommen, wie klein diese Welt war. »Nach sechs Monaten hat man alles gesehen«, hatte er gesagt.

Sie selbst hatte sein Interesse nicht sehr viel länger wach halten können. Na ja …

Es würde schon gut gehen. Nicht für sie, Eugenia Insigna hatte sich für immer zwischen den Welten verirrt. Aber für die Kinder. Marlene war auf Rotor geboren und konnte ohne die Erde leben. Marlene gehörte – jedenfalls fast – ausschließlich nach Rotor und konnte sogar ohne das gesamte Sonnensystem leben, für sie gab es nur noch das unbestimmte Gefühl, von dort herzustammen. Ihre Kinder würden nicht einmal das mehr kennen und nichts vermissen. Für sie würden die Erde und das Sonnensystem ein Mythos sein, und bis dahin war Erythro sicher eine in rasanter Entwicklung begriffene Welt.

Hoffentlich. Marlene war schon jetzt merkwürdig auf Erythro fixiert, allerdings hatte sich diese Marotte erst in den letzten paar Monaten herausgebildet und würde vielleicht ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen war.

Sich darüber zu beklagen, wäre der Gipfel an Undankbarkeit. Niemand hatte damit rechnen können, dass es im Orbit um Nemesis eine bewohnbare Welt gab. Die Umstände, die diese Welt bewohnbar machten, waren bemerkenswert. Die Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines solchen Himmelskörpers unter Berücksichtigung der Nähe von Nemesis zum Sonnensystem war verschwindend gering. Und doch gab es diese Welt.

Sie wandte sich den Tagesberichten zu, die der Computer mit der unendlichen Geduld seiner Gattung für sie bereithielt. Doch ehe sie Zeit fand, sie abzurufen, drang die sanfte Stimme ihrer Vorzimmerdame aus dem kleinen Knopflautsprecher an ihrer linken Schulter. »Aurinel Pampas möchte Sie sprechen. Er hat keinen Termin.«

Insigna schnitt eine Grimasse, dann fiel ihr wieder ein, dass sie ihn ja auf die Suche nach Marlene geschickt hatte. »Er soll reinkommen.«

Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel und war nicht unzufrieden. Sie fand, dass man ihr ihre zweiundvierzig Jahre nicht ansah, und hoffte, dass sie auch auf andere so wirkte. Es war eigentlich albern, sich Sorgen um das Aussehen zu machen, wenn ein siebzehnjähriger Junge vor der Tür stand, aber Eugenia Insigna hatte bemerkt, wie die arme Marlene diesen Jungen ansah, und wusste, was dieser Blick zu bedeuten hatte. Insigna hatte nicht den Eindruck, als könne Aurinel, der sich so viel auf sein Äußeres einbildete, in Marlene, die ihren Babyspeck noch nicht losgeworden war, jemals mehr sehen als ein drolliges Kind. Wie auch immer, wenn Marlene in diesem Fall einen Misserfolg verkraften musste, sollte sie nicht das Gefühl haben, ihre Mutter hätte irgendwie dazu beigetragen, indem sie es dem Jungen gegenüber an Liebenswürdigkeit fehlen ließ.

Sie wird mir ohnehin die Schuld geben, dachte Insigna mit einem Seufzer, als der Junge eintrat, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das noch die Schüchternheit des Heranwachsenden verriet.

»Nun, Aurinel«, begann sie. »Hast du Marlene gefunden?«

»Ja, Dr. Insigna. Genau da, wo Sie sagten, und ich habe ihr ausgerichtet, dass sie rauskommen soll.«

»Und wie fühlt sie sich?«

»Wenn Sie es genau wissen wollen, Dr. Insigna – ich weiß nicht, ob es eine Depression ist oder etwas anderes, sie hat sich jedenfalls eine komische Idee in den Kopf gesetzt. Sie möchte aber sicher nicht, dass ich Ihnen davon erzähle.«

»Nun, ich setze auch nicht gerne Spione auf sie an, aber sie hat häufig merkwürdige Ideen, und das macht mir Sorgen. Bitte erzähle mir, was sie gesagt hat.«

Aurinel schüttelte den Kopf. »Na schön, aber verraten Sie ihr nicht, dass Sie es von mir erfahren haben. Die Idee ist wirklich verrückt. Sie hat behauptet, die Erde würde zerstört werden.«

Er wartete, dass Insigna zu lachen anfing.

Sie tat es nicht. Stattdessen explodierte sie: »Was? Wie kommt sie denn darauf?«

»Ich weiß es nicht, Dr. Insigna. Sie ist ja sehr intelligent, aber sie hat immer wieder so komische Einfälle. Vielleicht wollte sie mich auch nur auf den Arm nehmen.«

»Vielleicht ist es genau das«, fiel ihm Insigna ins Wort. »Sie hat einen merkwürdigen Sinn für Humor. Also, hör zu, ich möchte nicht, dass du das irgendjemandem weitererzählst. Ich möchte nicht, dass dumme Gerüchte entstehen. Hast du mich verstanden?«

»Ja, sicher.«

»Ich meine es ernst. Kein Wort.«

Aurinel nickte eifrig.

»Jedenfalls vielen Dank, dass du es mir gesagt hast, Aurinel. Es war wichtig. Ich werde mit Marlene sprechen, um zu sehen, was sie beunruhigt – und ich werde ihr nicht verraten, was du mir erzählt hast.«

»Vielen Dank«, sagte Aurinel. »Aber eines wüsste ich doch gerne.«

»Und das wäre?«

»Wird die Erde tatsächlich zerstört werden?«

Insigna starrte ihn an, dann lachte sie gezwungen. »Natürlich nicht! Du kannst jetzt gehen.«

Sie sah ihm nach und wünschte sich sehr, ihr Dementi hätte etwas überzeugender geklungen.

3

Janus Pitt war eine eindrucksvolle Erscheinung, und das war ihm bei seinem Aufstieg zum Gouverneur von Rotor sehr nützlich gewesen. In den Anfängen, als die ersten Raumkolonien entstanden, hatte man um Leute geworben, die nicht mehr als mittelgroß waren, um so vielleicht den Bedarf an Platz und Versorgungsgütern einschränken zu können. Im Laufe der Zeit hatte man diese Vorsichtsmaßnahme als unnötig erachtet und fallen gelassen, aber bei den älteren Kolonien war die Erbanlage noch vorhanden, und der Durchschnittsrotorianer war ein bis zwei Zentimeter kleiner als die Durchschnittsbürger späterer Gründungen.

Pitt war jedoch groß, er hatte eisengraues Haar, ein längliches Gesicht und tiefblaue Augen, und sein Körper war noch immer gut in Form, obwohl er bereits sechsundfünfzig Jahre alt war.

Er blickte auf und lächelte, als Eugenia Insigna eintrat, spürte aber wie immer ein leichtes Unbehagen. In Eugenias Gegenwart fühlte er sich nie so ganz wohl, er empfand sie als anstrengend. Sie setzte sich stets für irgendwelche hehren Überzeugungen ein, gegen die man nur schwer ankämpfen konnte.

»Vielen Dank, Janus«, sagte sie, »dass du mich so kurzfristig empfangen hast.«

Pitt aktivierte den Zwischenspeicher seines Computers und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen.

»Bitte«, sagte er, »derlei Förmlichkeiten sind zwischen uns doch überflüssig. Dazu kennen wir uns schon zu lange.«

»Und wir haben gemeinsam eine Menge erlebt«, fügte Insigna hinzu.

»Das ist richtig«, sagte Pitt. »Wie geht es deiner Tochter?«

»Über sie wollte ich eigentlich mit dir sprechen. Sind wir abgeschirmt?«

Pitts Augenbrauen gingen in die Höhe. »Warum abgeschirmt? Was gibt es denn abzuschirmen, und vor wem?«

Diese Frage rief Pitt wieder ins Bewusstsein, in welch merkwürdiger Situation Rotor sich befand. Man war praktisch allein im Universum. Das Sonnensystem war mehr als zwei Lichtjahre entfernt, und soweit man wusste, gab es im Umkreis von Hunderten oder gar von Milliarden von Lichtjahren keine anderen von intelligenten Lebewesen bewohnten Welten.

Die Rotorianer mochten sich manchmal einsam oder unsicher fühlen, aber Störungen von außen brauchten sie nicht zu befürchten. Nun ja, fast nicht, dachte Pitt.

»Du weißt, was es abzuschirmen gibt«, sagte Insigna. »Du warst es doch, der immer auf Geheimhaltung bestanden hat.«

Pitt aktivierte die Abschirmung und seufzte. »Müssen wir wieder davon anfangen? Bitte, Eugenia, es ist doch alles entschieden. Es war schon vor vierzehn Jahren entschieden, als wir starteten. Ich weiß, dass du hin und wieder darüber nachgrübelst …«

»Darüber nachgrübeln? Warum auch nicht? Es ist schließlich mein Stern« – sie machte eine Handbewegung in Richtung Nemesis –, »und ich bin dafür verantwortlich.«

Pitts Wangenmuskeln spannten sich an. Müssen wir das alles schon wieder durchkauen?, dachte er. Laut sagte er: »Wir sind abgeschirmt. Nun, was hast du auf dem Herzen?«

»Marlene. Meine Tochter. Irgendwie weiß sie Bescheid.«

»Worüber?«

»Über Nemesis und das Sonnensystem.«

»Wie könnte sie? Es sei denn, du hast es ihr gesagt?«

Insigna breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus. »Natürlich habe ich ihr nichts erzählt, aber das ist auch gar nicht nötig. Ich weiß nicht, wieso, aber Marlene scheint alles zu sehen und zu hören. Und aus den kleinen Dingen, die sie hört und sieht, zieht sie ihre Schlüsse. Diese Fähigkeit hatte sie schon immer, aber im letzten Jahr ist es viel schlimmer geworden.«

»Nun, dann rät sie, und manchmal hat sie Glück und landet einen Treffer. Sag ihr, dass sie unrecht hat, und sorge dafür, dass sie nicht darüber redet.«

»Aber sie hat es schon einem jungen Mann erzählt, der damit zu mir gekommen ist. So habe ich es erfahren. Aurinel Pampas. Er ist ein Freund der Familie.«

»Ach ja. Ich kenne ihn – ein wenig jedenfalls. Sag ihm einfach, er soll nicht auf die Hirngespinste eines kleinen Mädchens achten.«

»Sie ist kein kleines Mädchen mehr. Sie ist fünfzehn.«

»Für ihn ist sie ein kleines Mädchen, das kannst du mir glauben. Ich sagte doch, ich kenne den jungen Mann. Mir macht er den Eindruck, als wolle er mit aller Gewalt erwachsen sein, und ich erinnere mich noch daran, wie ich in seinem Alter war. Damals hatte ich für fünfzehnjährige Mädchen nur Verachtung übrig, besonders wenn sie …«

Insigna fiel ihm verbittert ins Wort: »Ich verstehe. Besonders, wenn sie klein, pummelig und nicht besonders attraktiv sind. Spielt es eine Rolle, dass sie hochintelligent ist?«

»Für dich und mich? Sicher. Für Aurinel ganz gewiss nicht. Wenn nötig, werde ich mich mit dem Jungen unterhalten. Sprich du mit Marlene. Sag ihr, die Idee sei absurd, es sei nicht wahr, und sie dürfe keine Märchen verbreiten, die die Leute verwirren könnten.«

»Wenn es aber nun wahr ist?«

»Das tut nichts zur Sache. Hör zu, Eugenia, wir beide haben diese Möglichkeit seit Jahren geheim gehalten, und es wäre besser, wenn wir das weiter täten. Wenn etwas durchsickert, wird es übertrieben, und die Emotionen schlagen hoch – Emotionen, die zu nichts führen. Sie werden uns nur von der Aufgabe abhalten, mit der wir uns beschäftigen, seit wir das Sonnensystem verlassen haben, und die uns vielleicht noch Generationen lang in Anspruch nehmen wird.«

Sie sah ihn an – schockiert, ungläubig.

»Das Sonnensystem, die Erde, die Welt, von der die Menschheit stammt, löst das alles wirklich keinerlei Empfindungen in dir aus?«

»Doch, Eugenia, ich empfinde alles Mögliche, wenn ich daran denke. Aber das sind nur Gefühle, und sie dürfen mich nicht beeinflussen. Wir haben das Sonnensystem verlassen, weil wir der Ansicht waren, es sei an der Zeit, dass die Menschheit sich ausbreitet. Ich bin sicher, dass uns andere folgen werden, vielleicht sind sie schon unterwegs. Wir haben die Menschheit zu einer galaktischen Erscheinung gemacht, und deshalb dürfen wir nicht mehr in den Kategorien eines einzelnen Planetensystems denken. Unsere Aufgabe liegt hier.«

Sie starrten sich an, dann sagte Eugenia mit einem Unterton der Verzweiflung: »Du redest mich auch jetzt wieder in Grund und Boden, wie du es schon seit so vielen Jahren tust.«

»Ja, und nächstes Jahr und übernächstes Jahr sind wir wieder an diesem Punkt. Du bleibst nicht unten, Eugenia, und das ist ermüdend. Es hätte mit dem ersten Mal schon genug sein sollen.« Damit wandte er sich wieder seinem Computer zu.

2 Nemesis

4

Zum ersten Mal hatte er sie vor sechzehn Jahren in Grund und Boden geredet, im Jahr 2220, jenem aufregenden Jahr, in dem sich ihnen die Tore der Galaxis geöffnet hatten.

Damals hatte Janus Pitt dunkelbraunes Haar gehabt und war noch nicht Gouverneur von Rotor gewesen, obwohl er allenthalben als aufstrebender Mann galt. Er leitete das Ministerium für Forschung und Handel und war für die Fernsonde verantwortlich, die in hohem Maße das Ergebnis seiner Initiative war.

Es war der erste Versuch, Materie mit Hyperbeschleunigung durch den Weltraum zu befördern.

Soweit bekannt war, hatte nur Rotor die Technik der Hyperbeschleunigung entwickelt, und Pitt war am energischsten von allen dafür eingetreten, diese Technik geheim zu halten.

Bei einem Treffen des Rates hatte er gesagt: »Das Sonnensystem ist überbevölkert. Auch die Weltraumkolonien und selbst der Asteroidengürtel bringen nur eine vorübergehende Entlastung. Bald wird es auch dort unangenehm eng werden. Außerdem hat jede Kolonie ihr eigenes, genau ausgewogenes Ökosystem, und aufgrund dessen entfernen wir uns voneinander. Die Handelsbeziehungen werden eingeschränkt, weil man befürchtet, sich die Parasiten oder Krankheitserreger irgendeiner anderen Siedlung einzufangen.

Die einzige Lösung, meine verehrten Kollegen, ist, das Sonnensystem zu verlassen – ohne großes Trara, ohne Vorankündigung. Brechen wir auf, suchen wir uns eine neue Heimat, wo wir eine neue Welt aufbauen können, eine Welt mit unserer eigenen Menschheit, unserer eigenen Gesellschaft, unserem eigenen Lebensstil. Dazu brauchen wir die Hyperbeschleunigung – aber sie steht uns ja zur Verfügung. Im Laufe der Zeit werden auch andere Kolonien diese Technik entwickeln und ebenfalls fortziehen. Das Sonnensystem wird sein wie eine Löwenzahnblüte, die ihre Samenschirmchen durch den ganzen Weltraum aussendet.

Aber wenn wir als Erste gehen, finden wir eventuell schon eine Welt, ehe die anderen uns folgen können. Wir können dort Fuß fassen und sind, wenn andere kommen und uns vielleicht unsere neue Welt streitig machen wollen, stark genug, um sie abzuwehren. Die Galaxis ist groß, und es muss noch weitere lohnenswerte Ziele geben.«

Natürlich war er auf Widerstand gestoßen, zum Teil auf sehr heftigen. Manche Ratsmitglieder argumentierten aus ihrer Angst heraus – aus der Angst, die vertraute Umgebung zu verlassen. Andere ließen sich von Gefühlen leiten, von der Liebe zur Wiege der Menschheit. Auch einige Idealisten meldeten sich zu Wort: Sie wollten das Wissen weitergeben, damit auch andere sich auf den Weg machen konnten.

Pitt hatte kaum zu hoffen gewagt, dass er sich durchsetzen würde. Aber er hatte gesiegt, weil Eugenia Insigna ihm den Trumpf geliefert hatte. Was für ein unglaublicher Glücksfall, dass sie zuerst zu ihm gekommen war.

Sie war damals noch ziemlich jung, erst sechsundzwanzig, bereits verheiratet, aber noch nicht schwanger. Als sie ihn aufsuchte, war sie sehr erregt, ihr Gesicht war gerötet, in den Händen hielt sie einen riesigen Stapel Computerausdrucke.

Pitt erinnerte sich, dass er über die Störung nicht sehr erfreut gewesen war. Schließlich war er Minister und sie – nun ja, sie war ein Niemand. Das sollte sich freilich mit einem Schlag ändern.

Davon hatte er damals natürlich noch keine Ahnung und war deshalb ungehalten, weil sie sich bis in sein Zimmer durchgekämpft hatte. Als er bemerkte, wie erregt die junge Frau war, schauderte er unwillkürlich. Sie würde nicht lockerlassen, bis er sich mit den komplizierten Unterlagen beschäftigte, die sie in der Hand hielt, und sie würde mit einer Begeisterung auf ihn einreden, die ihm schnell zu viel werden würde.

Er beschloss, ihr zu sagen, sie solle einem seiner Assistenten eine kurze Zusammenfassung geben. »Wie ich sehe, haben Sie Informationen, Frau Dr. … ah … Insigna, die Sie mir vorlegen wollen. Zu gegebener Zeit werde ich sie mir gerne ansehen. Könnten Sie die Unterlagen vielleicht inzwischen einem meiner Leute aushändigen?« Damit zeigte er auf die Tür und hoffte inständig, sie würde sich auf dem Absatz umdrehen und in diese Richtung verschwinden. (In späteren Jahren fragte er sich manchmal, wenn er Muße hatte, was wohl geschehen wäre, wenn sie das getan hätte, und bei dieser Vorstellung überlief es ihn jedes Mal eiskalt.)

Aber sie sagte: »Nein, nein, Herr Minister, ich muss mit Ihnen sprechen und mit niemandem sonst.« Ihre Stimme zitterte, als könne sie ihre innere Erregung kaum bezähmen. »Es ist die größte Entdeckung, die gemacht wurde seit … seit …« Sie gab auf. »Es ist die größte.«

Pitt warf einen skeptischen Blick auf die Blätter in ihrer Hand. Sie zitterten, aber der Funke sprang nicht auf ihn über. Diese Spezialisten hielten jeden Minifortschritt auf ihrem jeweiligen Miniarbeitsgebiet für systemerschütternd.

Er resignierte. »Können Sie mir die Sache in einfachen Worten erklären, Doktor?«

»Sind wir abgeschirmt, Sir?«

»Wozu müssen wir abgeschirmt sein?«

»Ich will nicht, dass jemand mithört, solange ich nicht ganz sicher bin. Ich muss das alles erst noch nachprüfen, so oft, bis es keinen Zweifel mehr gibt. Aber eigentlich habe ich keinen Zweifel. Das klingt etwas wirr, ich weiß.«

»Das kann man wohl sagen«, bemerkte Pitt kalt und berührte mit der Hand einen Kontakt. »Wir sind abgeschirmt. Jetzt reden Sie.«

»Es steht alles hier drin. Ich werde es Ihnen zeigen.«

»Nein. Erklären Sie es mir zuerst. In kurzen Worten.«

Sie holte tief Luft. »Herr Minister, ich habe den nächsten Stern entdeckt.« Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihr Atem ging schnell.

»Der nächste Stern heißt Alpha Centauri«, sagte Pitt. »Das ist seit vierhundert Jahren bekannt.«

»Das ist der nächste Stern, den wir bisher kannten, aber nicht der nächste, den es gibt. Ich habe einen entdeckt, der noch näher ist. Die Sonne hat einen entfernten Begleiter. Können Sie sich das vorstellen?«

Pitt musterte sie nachdenklich. Ein typischer Fall. Wenn sie jung genug, begeistert genug, unerfahren genug waren, platzten sie jedes Mal zu früh heraus.

»Sind Sie sicher?«, fragte er.

»Ich bin sicher. Wirklich. Sehen Sie sich die Daten an. Es ist das Aufregendste, was in der Astronomie geschehen ist, seit …«

»Falls es geschehen ist. Ich will die Daten gar nicht sehen, damit werde ich mich später befassen. Erzählen Sie es mir. Wenn es einen Stern gibt, der uns viel näher ist als Alpha Centauri, warum wurde er nicht schon früher entdeckt? Warum mussten erst Sie kommen, Dr. Insigna?« Er wusste, dass es sarkastisch klang, aber sie schien viel zu erregt, um seinen Tonfall zu beachten.

»Dafür gibt es eine Erklärung. Der Stern befindet sich hinter einer dunklen Wolke, einem Staubnebel, der zufällig zwischen diesem Begleitstern und uns liegt. Ohne die Absorption durch diesen Staub wäre es ein Stern achter Größe, und man hätte ihn tatsächlich längst bemerkt. Der Staub verringert jedoch die Lichtabgabe, sodass er wie ein Stern neunzehnter Größe erscheint, der sich zwischen vielen Millionen anderer schwach sichtbarer Sterne verliert. Es gab keinen Grund, auf ihn aufmerksam zu werden. Niemand hat ihn beachtet. Er steht weit am südlichen Himmel der Erde, und in der Zeit vor den Raumkolonien konnte man diesen Abschnitt mit den meisten Teleskopen gar nicht sehen.«

»Wenn dem so ist, wie haben Sie ihn dann entdeckt?«

»Mithilfe der Fernsonde. Dieser Nachbarstern und die Sonne verändern natürlich ihre Stellung zueinander. Ich vermute, er und die Sonne kreisen sehr langsam, in einem Zeitraum von Jahrmillionen, um ein gemeinsames Schwerkraftzentrum. Vor ein paar Jahrhunderten mögen sie vielleicht so gestanden haben, dass man den Nachbarstern auf einer Seite der Wolke in vollem Licht hätte sehen können, aber dazu hätte man noch immer ein Teleskop gebraucht, und die gibt es erst seit sechshundert Jahren – an den Orten der Erde, von denen aus der Nachbarstern sichtbar gewesen wäre, kamen sie sogar noch später in Gebrauch. In ein paar Jahrhunderten wird man ihn wieder deutlich sehen, wenn er auf der anderen Seite der Staubwolke hervorkommt. Aber so lange brauchen wir nicht zu warten. Die Fernsonde hat das für uns erledigt.«

Pitt spürte, wie er Feuer fing, wie eine schwache Wärme in ihm aufstieg, und er sagte: »Soll das heißen, dass die Fernsonde eine Aufnahme von dem Himmelsabschnitt gemacht hat, der diesen Nachbarstern enthält, und dass sie dabei so weit draußen im Raum war, dass sie um die Wolke herumsehen und den Nachbarstern in vollem Licht erkennen konnte?«

»Genau. Wir fanden einen Stern Größe acht an einer Stelle, wo es keinen solchen Stern hätte geben dürfen, und das Spektrum war das eines roten Zwergs. Rote Zwerge leuchten nicht weit, also musste er ziemlich nahe sein.«

»Ja, aber warum näher als Alpha Centauri?«

»Natürlich habe ich den gleichen Himmelsabschnitt auch aus dem Blickwinkel von Rotor studiert, und der Stern Größe acht war nicht da. Ziemlich in der Nähe gab es jedoch einen Stern Größe neunzehn, der in der Aufnahme der Fernsonde fehlte. Ich ging davon aus, dass der Stern Größe neunzehn der Stern Größe acht war, nur verdunkelt, die Tatsache, dass sie sich nicht exakt an derselben Stelle befanden, musste das Ergebnis einer parallaktischen Verschiebung sein.«

»Ja, das ist mir klar. Ein in der Nähe befindliches Objekt erscheint vor dem fernen Hintergrund an verschiedenen Stellen, wenn man es von verschiedenen Orten aus betrachtet.«

»Das ist richtig, aber die Sterne sind so weit weg, dass die Positionsveränderung, auch wenn die Fernsonde einen großen Teil eines Lichtjahres zurückgelegt hatte, bei fernen Sternen keine merkliche Verschiebung bewirkt hätte. Bei einem nahen Stern war das freilich anders. Und was diesen Nachbarstern angeht, so war die Verschiebung gewaltig, relativ gesehen natürlich. Ich habe den Himmel von verschiedenen Positionen der Fernsonde auf dem Weg nach draußen überprüft. Während der Perioden, in denen sie sich im Normalraum befand, wurden drei Aufnahmen gemacht, und der Nachbarstern erschien jedes Mal heller, weil er von der Sonde aus gesehen immer näher an den Rand der Wolke rückte. Der parallaktischen Verschiebung nach muss sich der Nachbarstern in einer Entfernung von nur etwas mehr als zwei Lichtjahren befinden. Das ist nur halb so weit weg wie Alpha Centauri.«

Pitt sah sie nachdenklich an, und während der langen Pause, die nun folgte, wurde sie unruhig und verlegen.

»Minister Pitt«, fragte sie schließlich, »möchten Sie nun die Werte sehen?«

»Nein«, sagte er. »Was Sie mir gesagt haben, genügt mir. Ich muss Ihnen jetzt einige Fragen stellen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, scheint die Chance, dass sich jemand auf einen Stern Größe neunzehn konzentriert, seine Parallaxe berechnet und seine Entfernung feststellt, minimal zu sein.«

»Etwa gleich null.«

»Gibt es eine andere Möglichkeit, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass ein verdunkelter Stern sich sehr nahe bei uns befinden muss?«

»Er könnte eine starke Eigenbewegung haben – für einen Stern. Ich meine, wenn man ihn ständig beobachtete, würde sich seine Stellung am Himmel durch seine Eigenbewegung in mehr oder weniger gerader Linie verändern.«

»Würde man das in diesem Fall bemerken?«

»Möglicherweise, aber nur wenige Sterne haben eine starke Eigenbewegung, selbst wenn sie uns nahe sind. Sie bewegen sich in drei Dimensionen, und wir sehen die Bewegung nur in einer zweidimensionalen Projektion. Ich kann Ihnen das erklären …«

»Nein, ich verlasse mich weiter auf Sie. Hat dieser Stern eine starke Eigenbewegung?«

»Es würde einige Zeit dauern, das festzustellen. Ich habe ein paar ältere Bilder von diesem Himmelssektor, und wenn es eine merkliche Eigenbewegung gäbe, könnte ich es herausfinden. Aber das würde einiges an Arbeit bedeuten.«

»Glauben Sie, dass er eine so starke Eigenbewegung besitzt, dass sie sich einem Astronomen aufdrängen würde, wenn er den Stern ganz zufällig bemerkte?«

»Nein.«

»Dann wäre es also denkbar, dass wir auf Rotor die Einzigen sind, die von diesem Nachbarstern wissen, weil wir als einzige eine Fernsonde ausgeschickt haben. Das ist Ihr Spezialgebiet, Dr. Insigna. Stimmen Sie mir zu, dass wir als Einzige eine Fernsonde ausgeschickt haben?«

»Die Fernsonde ist kein Geheimprojekt, Herr Minister. Wir haben Versuche der anderen Kolonien mit einbezogen, und dieser Teil des Projekts wurde mit jedermann diskutiert, sogar mit der Erde, die sich zurzeit nicht allzu sehr für Astronomie interessiert.«

»Ja, das überlässt man den Kolonien, was durchaus vernünftig ist. Aber haben irgendwelche anderen Kolonien eine Fernsonde ausgeschickt, ohne dass wir davon wissen?«

»Das bezweifle ich sehr, Sir. Dazu hätten sie die Hyperbeschleunigung gebraucht, und diese Technik haben wir vollkommen geheim gehalten. Wenn andere die Hyperbeschleunigung hätten, wüssten wir es. Sie müssten Experimente im Weltraum durchführen, die es uns verraten würden.«

»Aufgrund des Abkommens über den freien Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen müssen alle mithilfe der Fernsonde gewonnenen Informationen veröffentlicht werden. Heißt das, dass Sie bereits …«

Insigna unterbrach ihn empört. »Natürlich nicht. Vor einer Veröffentlichung müsste ich noch sehr viel mehr herausfinden. Was ich jetzt habe, ist nur ein Vorergebnis, das ich Ihnen vertraulich mitteile.«

»Aber Sie sind nicht die einzige Astronomin, die an der Fernsonde arbeitet. Ich nehme doch an, dass Sie die Ergebnisse Ihren Kollegen gezeigt haben.«

Insigna errötete und wandte den Blick ab. Dann sagte sie abwehrend: »Nein. Ich habe dieses Phänomen bemerkt und es weiterverfolgt. Ich habe seine Bedeutung erkannt. Ich. Und ich möchte, dass das auch öffentlich anerkannt wird. Es gibt nur einen Stern, der der Sonne am nächsten ist, und ich möchte als seine Entdeckerin in die Annalen der Wissenschaft eingehen.«

»Vielleicht gibt es einen, der noch näher ist.« Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs gestattete sich Pitt ein Lächeln.

»Der wäre schon längst bekannt. Selbst mein Stern wäre bekannt, gäbe es nicht diese winzige, sehr ungewöhnliche Wolke, die ihn verdunkelt. Dass es einen anderen, noch näheren Stern gibt, ist völlig ausgeschlossen.«

»Dann läuft es also auf Folgendes hinaus, Dr. Insigna. Sie und ich sind die Einzigen, die von der Existenz dieses Nachbarsterns wissen. Habe ich recht? Niemand sonst?«

»Ja, Sir. Bisher wissen nur Sie und ich davon.«

»Nicht nur bisher. Es muss unser Geheimnis bleiben, bis ich bereit bin, einigen ausgewählten anderen davon Mitteilung zu machen.«

»Aber das Abkommen über den freien Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen?«

»Muss ignoriert werden. Ausnahmen gibt es immer. Ihre Entdeckung berührt die Sicherheit der Kolonie. Wenn die Sicherheit der Kolonie auf dem Spiel steht, sind wir nicht verpflichtet, die Entdeckung allen zugänglich zu machen. Die Hyperbeschleunigung halten wir doch auch geheim, oder nicht?«

»Aber die Existenz des Nachbarsterns hat nichts mit der Sicherheit der Kolonie zu tun.«

»Ganz im Gegenteil, Dr. Insigna. Vielleicht ist es Ihnen noch nicht klar, aber Sie sind da auf etwas gestoßen, das das Schicksal der Menschheit verändern kann.«

5

Eugenia Insigna sprang auf. Wie vom Blitz getroffen starrte sie ihn an.

»Setzen Sie sich! Wir beide stecken jetzt unter einer Decke und müssen zusammenhalten. Von jetzt an bist du für mich Eugenia, wenn wir unter uns sind, und du nennst mich Janus.«

Insigna zögerte. »Ich glaube nicht, dass sich das so gehört.«

»Es muss sein, Eugenia. Eine Verschwörung kann man nicht in kalter, förmlicher Atmosphäre betreiben.«

»Aber ich will mich mit niemandem verschwören! Und ich verstehe auch nicht, warum alles, was mit dem Nachbarstern zusammenhängt, geheim gehalten werden soll.«

»Du hast wohl Angst um deinen Ruhm als Wissenschaftlerin?«

Insigna zögerte einen winzigen Moment lang, dann sagte sie: »Darauf kannst du deinen letzten Computerchip verwetten, Janus. Ich will nicht auf den Ruhm verzichten.«

»Vergiss erst einmal«, sagte er, »dass der Nachbarstern existiert. Wie du sicher weißt, setze ich mich schon seit einer Weile dafür ein, dass Rotor das Sonnensystem verlassen sollte. Wie stehst du dazu? Würdest du gerne aus dem Sonnensystem fortziehen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin mir nicht sicher. Es wäre ganz nett, so ein astronomisches Objekt zum ersten Mal aus der Nähe zu sehen – aber es ist auch ein wenig beängstigend, nicht wahr?«

»Du meinst, die Heimat zu verlassen?«

»Ja.«

»Aber das müsstest du doch gar nicht. Deine Heimat ist hier. Auf Rotor.« Er machte eine weit ausholende Armbewegung. »Sie würde dich begleiten.«

»Trotzdem, Herr Min… Janus, Rotor ist nicht die ganze Heimat. Wir haben Nachbarn, die anderen Raumkolonien, die Erde, das ganze Sonnensystem.«

»Eine sehr überfüllte Wohngegend. Irgendwann müssen einige von uns wegziehen, ob wir wollen oder nicht. Auf der Erde gab es einmal eine Zeit, da mussten einige Leute Gebirge und Ozeane überqueren. Vor zweihundert Jahren mussten die Menschen auf der Erde ihren Planeten verlassen und Raumkolonien gründen. Das hier ist nur ein weiterer Schritt in einer uralten Geschichte.«

»Ich verstehe, aber es gibt einige Leute, die nie fortgegangen sind. Es gibt Menschen, die noch immer auf der Erde leben, und es gibt Menschen, die seit unzähligen Generationen in ein und derselben kleinen Region auf der Erde leben.«

»Und du willst eine von diesen Sesshaften sein.«

»Ich glaube, Crile, mein Mann, gehört dazu. Er lehnt deine Ansichten ganz entschieden ab, Janus.«

»Nun, auf Rotor herrscht Rede- und Meinungsfreiheit, er kann mir also widersprechen, soviel er will. Aber ich möchte dich noch etwas fragen: Wenn die Menschen allgemein, auf Rotor oder auch anderswo, daran denken, das Sonnensystem zu verlassen, wohin wollen sie dann?«

»Natürlich nach Alpha Centauri. Das ist der Stern, den alle für den nächstgelegenen halten. Selbst mit Hyperbeschleunigung erreichen wir im Durchschnitt bestenfalls Lichtgeschwindigkeit, wir würden also mindestens vier Jahre brauchen. Alle anderen Ziele sind noch viel weiter entfernt, und vier Jahre unterwegs zu sein, das ist lange genug.«

»Angenommen, es wäre möglich, sich noch schneller fortzubewegen, und angenommen, man könnte noch viel weiter kommen als bis Alpha Centauri, wohin würdest du dann gehen?«

Insigna überlegte eine Weile, dann sagte sie: »Wahrscheinlich trotzdem nach Alpha Centauri. Man wäre dort noch immer in der alten Gegend. In der Nacht sähen die Sterne nicht sehr viel anders aus. Man würde sich geborgen fühlen, und wir hätten nicht so weit nach Hause, falls wir zurückkehren wollten. Außerdem ist Alpha Centauri A, der größte der drei Sterne im Alpha-Centauri-System, praktisch ein Zwilling der Sonne. Alpha Centauri B ist kleiner, aber nicht zu klein. Selbst wenn man Alpha Centauri C, einen roten Zwerg, außer acht lässt, bekäme man sozusagen immer noch zwei Sterne für einen, und damit auch zwei Planetensysteme.«

»Nehmen wir einmal an, eine Kolonie wäre nach Alpha Centauri aufgebrochen, hätte dort einen einigermaßen bewohnbaren Planeten gefunden und sich niedergelassen, um eine neue Welt aufzubauen, und zu Hause, im Sonnensystem, wäre dies bekannt geworden. Wohin würden die nächsten Kolonien gehen, wenn sie sich ihrerseits entschließen sollten, das System zu verlassen?«

»Natürlich nach Alpha Centauri«, antwortete Insigna prompt.

»Die Menschheit neigt also dazu, die naheliegendsten Ziele anzusteuern, und wenn eine Kolonie Erfolg hat, würden die anderen ihr schnell folgen, bis irgendwann die neue Welt ebenso übervölkert wäre wie die alte, bis es wieder viele Menschen aus vielen verschiedenen Kulturen und schließlich viele Kolonien mit vielen verschiedenen Ökologien gäbe.«

»Dann würde es Zeit, zu anderen Sternen weiterzuziehen.«

»Aber immer, Eugenia, wird der Erfolg an einem Ort andere Kolonien nachziehen. Ein geeigneter Stern, ein guter Planet, und die anderen kommen in Scharen.«

»Vermutlich.«

»Wenn wir hingegen einen Stern ansteuern, der nur etwas mehr als zwei Lichtjahre entfernt ist, nur halb so weit wie Alpha Centauri, und niemand außer uns weiß davon, wer wird uns dann folgen?«

»Niemand, bis die anderen den Nachbarstern ebenfalls entdecken.«

»Aber das kann lange dauern. Und während dieser langen Zeit würden alle nach Alpha Centauri oder zu irgendwelchen anderen naheliegenden Zielen strömen. Sie würden den roten Zwergstern direkt vor ihrer Haustür gar nicht bemerken, und wenn, dann würden sie ihn als ungeeignet für die Besiedlung durch den Menschen verwerfen – jedenfalls, solange sie nicht wüssten, dass sich dort bereits einige Menschen mit Erfolg niedergelassen haben.«

Insigna sah Pitt unsicher an. »Was soll das alles heißen? Angenommen, wir steuern diesen Nachbarstern an und niemand weiß davon. Wo liegt der Vorteil?«

»Der Vorteil liegt darin, dass wir uns ungehindert ausbreiten können. Wenn es einen bewohnbaren Planeten geben sollte …«

»Das wird nicht der Fall sein. Nicht im System eines roten Zwergsterns.«

»Trotzdem könnten wir alle dort vorhandenen Rohstoffe verwenden, um so viele Kolonien zu bauen, wie wir wollen.«

»Du meinst, wir hätten mehr Platz.«

»Ja, viel mehr Platz, als wenn die anderen in Scharen nachdrängten.«

»Dann hätten wir also etwas mehr Zeit, Janus. Irgendwann würden wir auch den Raum füllen, der uns um den Nachbarstern herum zur Verfügung steht, selbst wenn wir allein wären. Es würde vielleicht fünfhundert Jahre dauern anstatt zweihundert. Was macht das für einen Unterschied?«

»Der Unterschied wäre größer, als du dir vorstellen kannst, Eugenia. Wenn die anderen Kolonien nachdrängen können, wie sie wollen, haben wir bald tausend verschiedene Kulturen, und sie bringen all die alten Feindschaften, all die Fehler der traurigen, irdischen Geschichte mit. Wenn wir da draußen eine Weile allein sind, können wir ein System von Raumkolonien errichten, das in kultureller und ökologischer Hinsicht homogen ist. Das wäre eine weit bessere Ausgangsbasis – weniger Chaos, weniger Anarchie.«

»Weniger interessant. Weniger abwechslungsreich. Weniger lebendig.«

»Keineswegs. Natürlich werden sich Gegensätze herausbilden, davon bin ich überzeugt. Die einzelnen Kolonien werden sich voneinander unterscheiden, aber es wird zumindest eine gemeinsame Basis geben, in der alle diese Unterschiede ihren Ursprung haben. Das wäre für die ganze Kolonie ein großer Fortschritt. Und selbst wenn ich unrecht habe, du siehst doch sicher ein, dass der Versuch einmal gemacht werden muss. Warum nicht einen Stern einer so vernünftig durchdachten Entwicklung vorbehalten, um zu sehen, ob es funktioniert? Wir können uns einen Stern reservieren, einen wertlosen roten Zwerg, für den sich normalerweise niemand interessieren würde, und versuchen, ob wir nicht eine neue und möglicherweise bessere Gesellschaft aufbauen können.

Wir sollten doch einmal ausprobieren, wozu wir imstande sind«, fuhr er fort, »wenn unsere Energie sich nicht in sinnlosen, kulturell bedingten Meinungsverschiedenheiten aufzehrt und erschöpft, wenn nicht ständig unsere gesamte Biologie durch Übergriffe fremder Ökologien zugrunde gerichtet wird.«

Insigna spürte, wie ihr Widerstand nachließ. Selbst wenn das Experiment scheiterte, hätte die Menschheit etwas gelernt – dass dieser Weg nämlich in eine Sackgasse führte. Und wenn es doch funktionierte?

Aber dann schüttelte sie den Kopf. »Ein unerfüllbarer Wunschtraum. Jemand wird den Nachbarstern unabhängig von uns entdecken, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, ihn geheim zu halten.«

»Aber wie viel von deiner Entdeckung, Eugenia, war denn Zufall? Sei ehrlich. Du hast den Stern doch rein zufällig bemerkt. Zufällig hast du die Sondenaufnahme mit anderen Karten verglichen. Hättest du ihn nicht auch übersehen können? Hätten ihn andere unter anderen Umständen nicht übersehen?«

Insigna antwortete nicht, aber ihr Gesichtsausdruck verriet Pitt genug.

Seine Stimme war weicher geworden, klang fast hypnotisierend: »Und wenn es nur ein Aufschub von hundert Jahren wäre … Wenn wir nur hundert Jahre Zeit hätten, um unsere neue Gesellschaft aufzubauen, wären wir groß genug und stark genug, um uns zu schützen, und die anderen müssten weiterziehen und neue Welten ansteuern. Wenn wir uns so lange verstecken könnten, das würde reichen.«

Insigna schwieg noch immer.

»Habe ich dich überzeugt?«, fragte Pitt.

Sie schüttelte sich. »Nicht ganz.«

»Dann denk darüber nach. Ich bitte dich nur um einen Gefallen: Kein Wort zu niemandem über den Nachbarstern, solange du nachdenkst, und übergib mir alle damit zusammenhängenden Informationen, damit ich sie sicher verwahre. Ich werde sie nicht vernichten. Ehrenwort. Wir werden sie brauchen, wenn wir zum Nachbarstern fliegen. Kommst du mir wenigstens so weit entgegen, Eugenia?«

»Ja«, sagte sie endlich. Dann wurde sie lebhafter. »Aber noch eines. Du musst mir erlauben, dem Stern einen Namen zu geben. Wenn ich ihm einen Namen gebe, dann ist es mein Stern.«

Pitt lächelte kurz. »Wie willst du ihn denn nennen? Insignas Stern? Eugenias Stern?«

»Nein. So töricht bin ich nicht. Ich möchte ihn Nemesis nennen.«

»Nemesis?«

»Ja.«

»Aber warum?«

»Ende des zwanzigsten Jahrhunderts flackerten kurze Zeit Spekulationen über die mögliche Existenz eines Nachbarsterns zur Sonne auf. Damals kam man zu keinem Ergebnis. Kein Nachbarstern wurde gefunden, aber in den Arbeiten, die sich damit befassten, war er als Nemesis bezeichnet worden. Ich möchte diese kühnen Denker gerne ehren.«

»Nemesis? Gab es nicht eine griechische Göttin dieses Namens? Eine ziemlich unangenehme?«

»Die Göttin der Vergeltung, der gerechten Rache, der Strafe. Der Name ist als bildhafter Ausdruck in unsere Sprache eingegangen. Als ich ihn vom Computer suchen ließ, bezeichnete er ihn als archaisch.«

»Und warum haben diese Veteranen den Namen Nemesis gewählt?«

»Das hatte etwas mit der Kometenwolke zu tun. Es sah so aus, als durchdringe Nemesis alle sechsundzwanzig Millionen Jahre auf seiner Bahn um die Sonne diese Wolke und löse einen Kometenschauer aus, der ins innere Sonnensystem eindringt. Man vermutete, dass der eine oder andere die Erde treffen und in der Vergangenheit große Teile des Lebens auf ihr vernichtet hatte.«

Pitt sah sie erstaunt an. »Stimmt das?«

»Nein. Diese Theorie konnte sich nicht halten, aber ich möchte trotzdem, dass der Stern Nemesis genannt wird. Und es soll aktenkundig gemacht werden, dass ich ihm diesen Namen gegeben habe.«

»Das verspreche ich dir, Eugenia. Du hast ihn entdeckt, und das wird offiziell vermerkt. Wenn der Rest der Menschheit irgendwann die Nemesis-Region – wäre das eine zutreffende Bezeichnung? – entdeckt, dann wird man erfahren, wer als Erster die Entdeckung gemacht hat und wie es dazu kam. Dein Stern, deine Nemesis, wird, mit Ausnahme der Sonne selbst, der erste Stern sein, der eine menschliche Zivilisation bescheint, und der erste, dessen Licht auf eine menschliche Zivilisation fällt, die von anderswoher stammt.«

Pitt sah ihr nach, als sie ging, und war im Großen und Ganzen zuversichtlich. Sie würde mitspielen. Dass er ihr gestattet hatte, den Stern zu taufen, war das Tüpfelchen auf dem i gewesen. Nun wollte sie doch bestimmt zu ihrem eigenen Stern reisen. Und die Vorstellung, um ihren Stern herum eine logische, geordnete Zivilisation zu errichten, aus der weitere Zivilisationen sich über die ganze Galaxis ausbreiten konnten, musste sie einfach faszinieren.

Doch gerade in diesem Augenblick der Entspannung, als er ungehemmt in goldenen Zukunftsträumen hätte schwelgen können, überfiel ihn ein leises Grauen, das seinem Wesen völlig fremd war.

Warum Nemesis? Wie kam sie nur auf die Idee, den Stern nach der Göttin der Vergeltung zu nennen?

Er war fast schwach genug, dies für ein böses Omen zu halten.

3 Die Mutter

6

Sie saßen beim Abendessen, und es war wieder einmal so weit, dass sich Insigna vor ihrer eigenen Tochter fast ein wenig fürchtete.

Dieses Unbehagen trat in letzter Zeit immer häufiger auf, ohne dass sie gewusst hätte, warum. Vielleicht weil Marlene immer schweigsamer wurde, sich mehr und mehr in sich zurückzog, ständig mit Gedanken beschäftigt schien, die zu tiefgründig waren, um sie in Worte fassen zu können.

Und manchmal mischten sich Schuldgefühle in Insignas nervöse Unruhe: Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht genügend mütterliche Geduld für das Mädchen aufbrachte, und weil sie sich der körperlichen Unzulänglichkeiten ihrer Tochter nur allzu bewusst war. Marlene war sicher nicht auf so herkömmliche Weise hübsch wie ihre Mutter oder auf so ungewöhnliche, wenn auch etwas wilde Art gut aussehend wie ihr Vater.

Marlene war klein und gedrungen. Insigna fand nur dieses eine Wort, das so genau auf die arme Marlene passte.

Und dann natürlich arm. Dieses Adjektiv verwendete sie in Gedanken fast immer, und sie musste sich sehr zusammennehmen, um es nicht auch einfließen zu lassen, wenn sie sich mit jemandem unterhielt.

Klein. Gedrungen. Dick, ohne fett zu sein, das war Marlene. Sie besaß keinerlei Anmut. Ihr ziemlich langes und völlig glattes Haar war dunkelbraun, ihre Nase ein wenig knubbelig, die Mundwinkel zogen sich leicht nach unten, das Kinn war klein, die ganze Haltung passiv und in sich gekehrt.

Nur ihre Augen natürlich, die waren groß und glänzend schwarz, darüber wölbten sich scharf gezeichnete dunkle Brauen, und die langen Wimpern waren so dicht, dass sie fast künstlich wirkten. Trotzdem, Augen allein konnten nicht alles andere aufwiegen, so faszinierend sie auch sein mochten.

Seit Marlene fünf Jahre alt war, wusste Insigna, dass sich wahrscheinlich kein Mann jemals allein aufgrund ihres Äußeren zu ihr hingezogen fühlen würde, und das bestätigte sich von Jahr zu Jahr mehr.

Aurinel hatte ein Auge auf sie geworfen, ehe sie ins Teenageralter kam, offensichtlich hatten ihn damals ihre frühreife Intelligenz und ihr fast schon brillant zu nennender Verstand fasziniert. Und Marlene hatte sich auf ihre etwas schüchterne Art gefreut, wenn er mit ihr zusammen war, so als sei ihr undeutlich bewusst, dass ein Junge etwas Liebenswertes sei, ohne dass sie freilich hätte sagen können, warum.

In den letzten zwei Jahren hatte Marlene, wie es Insigna schien, endlich begriffen, was ein Junge war. Bücher und Filme, die ihrem Alter und ihrer körperlichen Entwicklung weit voraus waren, die sie aber mit unersättlicher Gier verschlang, hatten ihr – abgesehen von ihrem Verstand – dabei geholfen, aber auch Aurinel war älter geworden, und je mehr die hormonelle Umstellung sich bemerkbar machte, desto weniger reizten ihn die Plänkeleien mit Marlene.

An diesem Abend beim Essen fragte Insigna: »Und wie war dein Tag, meine Liebe?«

»Ziemlich ruhig. Aurinel hat nach mir gesucht, und vermutlich hat er dir schon alles berichtet. Tut mir leid, dass du jemanden nach mir schicken musstest.«

Insigna seufzte. »Ach, weißt du, Marlene, manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass du unglücklich bist, und da ist es doch ganz natürlich, dass ich mir Sorgen mache, oder? Du bist zu viel allein.«

»Ich bin gern allein.«

»Du verhältst dich aber nicht so. Man hat nicht den Eindruck, dass du dich glücklich fühlst, wenn du allein bist. Es gibt eine Menge Leute, die sich gerne mit dir anfreunden würden, und es würde dir sicher guttun, dich nicht so abzukapseln. Aurinel ist doch dein Freund.«

»Er war es. Zurzeit ist er mit anderen Leuten beschäftigt. Heute war das ganz offensichtlich, und es hat mich zur Weißglut gebracht. Er war mit seinen Gedanken die ganze Zeit über bei Dolorette.«

»Hör mal«, sagte Insigna, »das kannst du ihm eigentlich nicht verdenken. Dolorette ist in seinem Alter.«

»Körperlich vielleicht«, sagte Marlene. »Aber sonst ist sie ein ziemlicher Hohlkopf.«

»Das Körperliche ist in diesem Stadium sehr wichtig.«

»Das merkt man. Es macht auch aus ihm einen Hohlkopf. Je mehr er Dolorette anschmachtet, desto leerer wird sein Kopf. Ich sehe es genau.«

»Aber er bleibt nicht stehen, Marlene, und wenn er ein wenig älter ist, geht ihm vielleicht auf, worauf es wirklich ankommt. Und du wirst schließlich auch älter …«

Marlene sah ihre Mutter spöttisch an, dann sagte sie: »Lass es gut sein, Mutter. Du glaubst doch selbst nicht, was du da andeutest. Keinen Moment lang.«

Insigna wurde rot, weil sie plötzlich erkannte, dass Marlene das nicht zufällig erraten hatte. Sie wusste es – aber wieso? Insigna hatte versucht, so aufrichtig zu sprechen, wie sie nur konnte, hatte sich bemüht zu empfinden, was sie sagte. Dennoch hatte Marlene sie sofort entlarvt. Und es war nicht das erste Mal. Insigna hatte allmählich den Eindruck, als wäge Marlene jeden Tonfall, jedes Zögern, jede Bewegung sorgfältig ab und wisse daher immer genau das, was sie nicht erfahren sollte. Es musste wohl an dieser Eigenschaft liegen, dass Insigna zunehmend Angst vor ihrer Tochter hatte. Schließlich war es nicht angenehm, wenn einen jemand mit einem einzigen, verächtlichen Blick durchschaute, als sei man aus Glas.

Was von dem, was Insigna irgendwann einmal gesagt hatte, hatte Marlene zum Beispiel auf die Idee gebracht, die Erde sei dem Untergang geweiht? Sie musste dieses Thema ansprechen und mit ihrer Tochter ausdiskutieren.

Insigna fühlte sich plötzlich müde. Warum versuchte sie überhaupt, Marlene zu täuschen, wenn es ihr doch nie gelang? Also sagte sie: »Na schön, kommen wir zur Sache, meine Liebe. Was willst du?«

»Ich sehe, dass du es wirklich wissen möchtest«, konstatierte Marlene, »deshalb werde ich es dir sagen. Ich möchte weg.«

»Weg?« Insigna stellte fest, dass sie die einfachen Worte ihrer Tochter nicht zu begreifen vermochte. »Gibt es denn überhaupt einen Ort, wo du hinkönntest?«

»Rotor ist nicht alles, Mutter.«

»Natürlich nicht. Aber es ist alles im Umkreis von mehr als zwei Lichtjahren.«

»Nein, Mutter, das stimmt nicht. Erythro ist keine zweitausend Kilometer von hier entfernt.«

»Das zählt doch so gut wie gar nicht. Man kann dort nicht leben.«

»Es gibt aber Menschen, die dort leben.«

»Ja, unter einer Kuppel. Eine Gruppe von Wissenschaftlern und Technikern, die wichtige wissenschaftliche Arbeit verrichten. Die Kuppel ist viel kleiner als Rotor. Wenn du dich hier schon beengt fühlst, wie wird es dann erst dort sein?«

»Auf Erythro gibt es außerhalb der Kuppel eine ganze Welt. Eines Tages werden sich die Menschen überall auf dem Planeten verteilen.«

»Vielleicht. Aber das ist keineswegs sicher.«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Selbst wenn, es wird Jahrhunderte dauern.«

»Aber es muss doch einmal anfangen. Warum kann ich nicht dabei sein, wenn es anfängt?«

»Marlene, das ist doch lächerlich. Du hast hier ein behagliches Zuhause. Wann hat das alles denn begonnen?«

Marlene presste die Lippen aufeinander, dann sagte sie: »Ich weiß es nicht genau. Vor ein paar Monaten, aber es wird immer schlimmer. Ich halte es hier auf Rotor einfach nicht mehr aus.«

Insigna sah ihre Tochter stirnrunzelnd an und dachte: Sie glaubt, sie hat Aurinel verloren, das bricht ihr das Herz, und jetzt will sie fortgehen, um ihn zu bestrafen. Sie will sich selbst auf eine öde Welt verbannen, damit es ihm leid tut …

Ja, das war durchaus möglich. Sie erinnerte sich, wie sie selbst mit fünfzehn gewesen war. In dieser Zeit waren Herzen so zerbrechlich, dass der kleinste Stoß sie zerspringen ließ. Teenagerwunden heilten zwar schnell, aber das wollte oder konnte keine Fünfzehnjährige glauben. Fünfzehn! Erst später, viel später …

Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken!

»Was fasziniert dich eigentlich so an Erythro, Marlene?«, fragte sie.