Neo-Zen - Detlef B. Fischer - E-Book

Neo-Zen E-Book

Detlef B. Fischer

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Beschreibung

Der Buddhismus ist gegenwärtig sehr populär in Europa. Viele Menschen sehen in ihm eine überzeugende Alternative zum Christentum. Die Lehre des Buddha wartet ohne Zweifel mit neuen, im Westen bislang unbekannten oder vernachlässigten Aspekten des Religiösen auf. Sie ist eine Religion ohne Gott, ist tolerant gegenüber anderen Lehren und Ihre Anhänger üben Meditation. Es stellt sich aber die Frage, ob wir, die abendländisch geprägten Menschen des 21. Jahrhunderts den Buddhismus in seiner asiatisch gewachsenen Form einfach übernehmen können? Oder ist es geboten, Anpassungen an die westliche Denkweise und Lebensart vorzunehmen? Wenn ja, welche könnten das sein? Diese und weitere Fragen werden in dem Buch "Neo-Zen" ausführlich erörtert.

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Seitenzahl: 513

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Detlef B. Fischer

Neo-Zen

Grundzüge eines westlichen Buddhismus

© 2019 Detlef B. Fischer

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7482-7380-6

Hardcover:

978-3-7482-7381-3

e-Book:

978-3-7482-7382-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Neo Zen

Grundzüge eines westlichen Buddhismus

„Mit fernem Wasser lässt sich kein nahes Feuer löschen!“ Tsue Hung (gestorben 525)

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die westliche Kultur

Wesen und Gestalt der westlichen Zivilisation

Stärken der westlichen Kultur

Schwächen der westlichen Kultur

3. Die asiatische Kultur

Historischer Abriss

Wesen und Gestalt der asiatischen Zivilisationen

Stärken der asiatischen Kulturen

Schwächen der asiatischen Kulturen

4. Der Austausch der Kulturen

Europäische Mystik

Asiatischer Rationalismus

5. Der Buddhismus

Wesen und Gestalt des Buddhismus

Stärken des Buddhismus

Schwächen des Buddhismus

6. Zwei Sonderwege des Zen: Dogen und Bankei

7. Der Buddismus im Westen

8. Der Taoismus

Wesen und Gestalt des Taoismus

Stärken des Taoismus

Schwächen des Taoismus

9. Schwerpunkte

Wege der buddhistischen Philosophie

Wege der taoistischen Philosophie

Negative und positive Theologie

Glaube und Vertrauen

Meditation

10. Neo-Zen als neuer Weg

1. Einleitung

Derzeit scheinen die demokratischen Länder der westlichen Hemisphäre glänzend dazustehen. Sie sind wohlhabend, relativ gut organisiert und sie führen untereinander keine Kriege. Es mangelt nicht an kulturellen Angeboten und selbst an den Rändern der Wohlstandsgesellschaften lebt es sich besser als in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, deren Bewohner massiv nach Europa, Nordamerika und Australien drängen. Irgendetwas müssen wir wohl richtig gemacht haben in der jüngsten und jüngeren Vergangenheit, denn sonst lebten vielleicht auch wir in gescheiterten Staaten mit korrupten Eliten, mordender Soldateska und Regierungen, die ihren Aufgaben nicht nachkommen. Aber hinter den sauberen Fassaden gärt es auch in den westlichen Gesellschaften. Der äußeren Freiheit, die im Westen unter großen Mühen errungen worden ist, steht heute eine trostlose innere Leere und Ideenlosigkeit gegenüber. Wo die materiellen Bedürfnisse im Großen und Ganzen befriedigt werden und man in relativer Sicherheit leben kann, schieben sich immer deutlicher Fragen in den Vordergrund, die mit materiellen Defiziten nichts zu tun haben. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Welt, allen Schaffens und Fortschreitens der Zivilisation drängt sich vor allem bei jenen ins Bewusstsein, denen es im landläufigen Sinne „gut geht“. Immer mehr Menschen der westlichen Hemisphäre sehnen sich nicht nach Geld, Status und Besitz, sondern suchen nach etwas, das ihrem Leben Bedeutung verleiht, suchen nach einem Standort in dieser flüchtigen Welt. Kein geringerer als der Dalai Lama hat die geistige Situation, in der sich die westliche Welt derzeit befindet, treffend durchschaut: „Ironischerweise kommen die größten Probleme aus industriell entwickelten Staaten, in denen ein noch nie dagewesenes Wissen lediglich Rastlosigkeit und Unzufriedenheit hervorgebracht zu haben scheint.“ (1) Allerdings ist die Rat- und Rastlosigkeit nicht nur eine Fehlentwicklung der westlichen Welt, vielmehr kündigt sich auf diese Weise eine neue Seinsstufe an.

Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow hat sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse beschäftigt und ein Modell entworfen, das er „Bedürfnispyramide“ genannt hat. Die Bedürfnispyramide hat 5 Stufen:

Die unterste und breiteste Stufe ist die der physiologischen Bedürfnisse, wozu Nahrung, Schlaf und Kleidung zählen. Die zweitunterste Stufe bildet die Stufe der Sicherheitsbedürfnisse: materielle und berufliche Sicherheit, sowie auch der Schutz vor Straftaten. Darüber steht die Stufe der sozialen Bedürfnisse: Familie, Ehe, Freundschaften und soziale Verankerung im Berufsleben. Die vierte Stufe ist die der Individualbedürfnisse, zu denen Anerkennung, Status und Macht gehören. Auf der obersten Stufe der Maslowschen Pyramide steht schließlich die Selbstverwirklichung, womit die Entfaltung der Persönlichkeit im weitesten Sinne gemeint ist. Das Modell besagt, dass immer dann, wenn die Bedürfnisse einer Stufe erfüllt sind, neue Bedürfnisse auftauchen, nämlich die der darüberliegenden Ebene. Erst wenn die Bedürfnisse der unteren vier Stufen weitgehend befriedigt sind, drängt sich der Aspekt der Selbstverwirklichung in den Vordergrund des Denkens, Wollens und Handelns. Natürlich ist das Modell kein starres Schema, sondern hat fließende Grenzen, aber in seiner grundlegenden Struktur halte ich es für stimmig.

In den kapitalistischen Ländern, deren wirtschaftlicher Erfolg auf Profitmaximierung und Effizienz beruht, leiden große Teile der Bevölkerung, unter ihnen auch mächtige Wirtschaftskapitäne, unter spiritueller Verarmung. Traditionell wird die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Welt bei allen Stämmen, Völkern und Gesellschaften anhand deren jeweiliger Religion beantwortet. Auf die Heilsversprechungen des Christentums, die angestammte Religion der westlichen Welt, vertrauen aber immer weniger Menschen. Heute ist nur schwer zu übersehen, dass den Kulturen des Westens auf dem Wege zu immer weiterem Fortschritt ihr Zentrum, ihre sinnstiftende Mitte, weggebrochen ist. Will man beschreiben, wie es um den „Geist der Gegenwart“ in den westlichen Ländern bestellt ist, dann findet man schnell eine Antwort: Der Geist der Gegenwart ist zwar nicht von Verzweiflung, dafür geht uns zu gut, aber durchaus von Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit geprägt.

Dass uns weder unsere heimische Religion, noch unsere akademische Philosophie bei der Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Daseins helfen können, sah der Dichter Hermann Hesse (1877-1962) schon 1926 weitsichtig voraus: „Dies religiöse oder metaphysische Bedürfnis, so alt und so wichtig wie das Bedürfnis nach Essen, nach Liebe, nach Obdach, wird in ruhigen, kulturell gesicherten Zeiten durch die Kirchen und durch die Systeme führender Denker befriedigt. In Zeiten wie der heutigen zeigt sich sowohl den überkommenen religiösen Bekenntnissen wie auch den Gelehrten-Philosophien gegenüber eine allgemeine Ungeduld und Enttäuschung; die Nachfrage nach neuen Formulierungen, neuer Sinngebung, neuen Symbolen, neuen Begründungen ist unendlich groß.“ (2) Hesse, der selbst aus einer Pfarrersfamilie stammt, hat sein Leben lang mit dem Christentum gerungen. In jüngeren Jahren hat er sich weit vom Christentum entfernt, später, im Alter, hat er sich ihm wieder angenähert, ohne jedoch wieder Christ zu werden. Sein zwischen Orient und Okzident hin- und her schweifender Geist hat eine ganze Generation bewegt und inspiriert. Was er über die geistigen Strömungen seiner Zeit in Deutschland geschrieben hat, ist immer noch aktuell: „Unser Leben ist ein nie unterbrochenes Gewebe von Auf und Ab, Niedergang und Neubildung, Verfall und Auferstehung, und so stehen all den düsteren und kläglichen Zeichen eines Zerfalles unserer Kultur andere, hellere Zeichen gegenüber, die auf ein neues Erwachen des metaphysischen Bedürfnisses, auf die Bildung einer neuen Geistigkeit, auf ein leidenschaftliches Bemühen um eine neue Sinngebung für unser Leben deuten.“ (3)

Hesse wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar viel gelesen - 1946 erhielt den Nobelpreis für Literatur - aber die größte Wirkung entfaltete sein Werk erst nach seinem Tod. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begab sich in den westlichen Ländern eine ganze Generation auf vollkommen neue geistige Pfade. Der Konsum von Drogen gehörte zum Lebensstil der Hippies, die Propagierung freier Sexualität, eine neue Art von Musik und auch die Romane von Hermann Hesse. In den achtziger Jahren waren die wilden, anarchischen Zeiten der Hippie-Bewegung vorbei und nicht wenige der gesellschaftlichen Außenseiter wandten sich auf der Suche nach Lebenssinn den asiatischen Religionen zu. Entweder reisten sie selbst nach Indien oder Thailand, um weise Männer oder Frauen zu finden oder sie wandten sich spirituellen Lehrern zu, die sich in ihren eigenen Ländern aufhielten. Es war nicht immer Gold, was dort seinerzeit glänzte, denn zahlreiche Blender und Scharlatane hatten das Bedürfnis der jungen Leute rasch erkannt und versuchten, es auszunutzen. Orientalische Religiosität trieb seinerzeit seltsame Blüten, man denke an die „Guru-Mania“ der achtziger Jahre, wo man in Fußgängerzonen oder an Bahnhöfen von herumtanzenden Hare-Krishna-Sängern umringt war. Auch jener sehr erfolgreiche Guru, der mehr als neunzig Rolls Royce kaufte und sie dann auf einer Wiese verrosten ließ, ist vielen noch gut in Erinnerung. Aber aller Seltsamkeiten zum Trotz: Der nach Lebenssinn suchende Impuls war echt. Heute sind die Kinderkrankheiten der spirituellen Bewegung im Westen weitgehend überwunden. Inzwischen sind auch Europäer in der Lage, Spinner und Scharlatane als solche zu erkennen und sie von qualifizierten Lehrern zu unterscheiden.

Bereits seit der unmittelbaren Nachkriegszeit hat es in Westeuropa eine recht lebendige Auseinandersetzung mit dem indischen Yoga gegeben. Indische Yogis, wie etwa der seinerzeit hochgeachtete Swami Sivananda, reisten durch die Lande, hielten Vorträge und gründeten kleine Gemeinschaften. Entsprechende buddhistische Aktivitäten gab es erst gegen Ende der sechziger Jahre in Europa. Vor allem der Zen-Buddhismus stieß hier auf großes Interesse. Später etablierte sich auch der tibetische Buddhismus in all seine Spielarten. Anders als die Yoga-Bewegung, die sich eher als Schule des Körpertrainings verstand, wurde der Buddhismus als „richtige“ Religion und nicht nur als Gefäß meditativer Übungen angesehen. Buddhismus wurde nicht nur praktiziert, sondern auch studiert. In allen größeren Städten Westeuropas gibt es heute buddhistische Gruppen, die meditative Übungen, Schulungen und die Teilnahme an kultischen Aktivitäten anbieten. Vielen scheint es so, dass der Buddhismus die richtigen Antworten auf die von Hermann Hesse formulierte Frage nach neuer Sinngebung zu sein. Ob der Buddhismus allerdings den hohen Erwartungen, die er im Westen hervorruft, gerecht werden kann, soll in diesem Buch erörtert werden.

Von besonderer Attraktivität im Westen ist der Umstand, dass die Lehre des Buddha ohne den Glauben an einen Gott auskommt, dass sie ihrem Wesen nach nicht-theistisch ist. Nicht-theistisch ist aber auch eine andere, ebenfalls aus Asien stammende Lehre, der Taoismus. Auch diese Religion ist im Westen lange bekannt, nur hat sich ihre Verbreitung ganz anders abgespielt, als die des Buddhismus. Es sind vor allem zwei Bücher, die seit ihrem Erscheinen im Abendland, die erste Übersetzung des Tao-te-king (in Latein) stammt aus dem Jahr 1788, große Bewunderung hervorgerufen haben: das „Tao-te-king“ von Lao-tse und Tschuang-tses „Wahres Buch vom südlichen Blütenland“. Diese beiden taoistischen Klassiker liegen heute in zahlreichen Übersetzungen vor. Die Faszination für den Taoismus hat aber nicht dazu geführt, dass sich taoistische Gruppen in Europa oder Amerika gebildet hätten, die sich zu einer Religion mit Namen Taoismus bekennen. Taoistische Bewegungsmeditationen wie Tai-chi und Chi-gong sind wohl sehr verbreitet, aber dass jene, die es üben, auch die grundlegenden Werke dieser Religion studiert haben, ist eher unwahrscheinlich. Der Taoismus ist als geistige Bewegung im Westen so gut wie gar nicht vorhanden. Zumindest in Europa existiert keine überregionale Organisation, die als Vertretung der Taoisten agiert. Auch gibt es keine nennenswerten taoistischen Zeitschriften und keine taoistischen Klöster. Bücher über Taoismus gibt es zuhauf, aber Taoisten, es gibt sie durchaus, sind im gesellschaftlichen Leben so gut wie unsichtbar. Es sind wohl eher die „Stillen im Lande“, die sich zum Taoismus als ihrer eigenen Religion bekennen. „Der Taoismus ist eine individualistische Philosophie. (…) Das taoistische Ideal ist der 'verborgene Meister' (yin-shi), der, statt nach Ruhm und Ansehen in der Gesellschaft zu streben, in Unbedeutendheit, aber eben auch Ungebundenheit sein Wesen entfaltet.“ (4) Im Grunde ist auch nicht ganz klar, ob es sich beim Taoismus um eine Religion handelt oder ob der ursprüngliche, der philosophische Taoismus, nicht doch eher so etwas wie eine Lebenshaltung ist.

Auf diese Frage wird weiter unten etwas genauer eingegangen, aber wichtiger ist mir im Hinblick auf den Taoismus etwas anderes: Der Taoismus verfügt über einige interessante spirituelle Einsichten, die sich im Buddhismus nicht finden, die jedoch einer westlichen Spiritualität nicht fehlen sollten. Vor allem der genuin taoistische Grundsatz „Im Einklang mit der Natur leben“ ist heute, in Zeiten des Klimawandels und gigantischer Naturzerstörungen, von großer Aktualität. Während der Buddhismus heute viel Aufmerksamkeit auf sich zieht und im Westen von Fachleuten auch inhaltlich tiefer durchdrungen und befragt wird, ist das beim Taoismus eher nicht der Fall. Buddhisten und Taoisten stehen sich, wenn sie sich überhaupt je begegnen, eher fremd gegenüber. Die beiden Lehren werden als grundlegend verschieden wahrgenommen. Eine Verbindung zwischen diesen beiden Lehrtraditionen scheint es nicht zu geben. Zwar wird von den Autoren buddhistischer Bücher immer wieder angemerkt, dass der Taoismus bei der Entwicklung des chinesischen Chan (Zen) eine große Rolle gespielt hat, aber die Frage, wie sich dieser Prozess abgespielt hat, wird in der Regel nicht beantwortet. Meist werden ein paar Zeilen über „Naturverehrung“ und „Landschaftsmalerei“ geschrieben, aber mehr Information wird nicht geliefert. In Wirklichkeit hat es in jener Epoche, in der der Buddhismus in China Fuß zu fassen begann, einen lange währenden geistigen Austausch zwischen den beiden Religionen gegeben, der beide Lehren stark bereichert, verändert und für Jahrhunderte geformt hat. Zu einer Verschmelzung von Taoismus und Buddhismus, die in bestimmten Perioden der chinesischen Geschichte durchaus möglich gewesen wäre, ist es nie gekommen. Wahrscheinlich hat die beiderseitige Herausbildung eines eigenen Klerus und Lehrsystems sowie die Schöpfung allerhand ritueller Praktiken dazu geführt, dass irgendwann eine größere Annäherung nicht mehr möglich war. Die christlichen Kirchen kennen, aller Ökumene zum Trotz, dieses Problem.

Im Westen sind wir aber heute in einer ganz neuen Situation, denn zu einer wirklichen Verwurzelung sowohl des Buddhismus wie auch des Taoismus ist es bisher nicht gekommen. Noch gibt es genügend Raum für die Entwicklung neuer Wege und für ein ganz neues Denken. „Der Buddhismus als gelebte Weisheitslehre muss in seiner Breite und Tiefe erst noch erarbeitet werden. Auch wenn das intellektuelle Verständnis und das Wissen in den letzten Jahren sehr zugenommen haben, stehen die 'Verwirklichung' und die Verankerung des dharma im Tagtäglichen und in unserem kulturellen Umfeld noch weitgehend aus.“ (5) Was Hawkins über den Buddhismus sagt, gilt für den Taoismus nicht weniger, aber der Fokus westlicher Aufmerksamkeit liegt eindeutig mehr auf dem Buddhismus. Möglicherweise liegt es auch daran, dass der Buddhismus über eindrucksvolle Führungsfiguren wie den Dalai Lama oder den vietnamesischen Mönch Thich Nath Than verfügt, die im Laufe der letzten Jahrzehnte zu „Dharma-Stars“ herangewachsen sind. Aber ich bin skeptisch, ob es sinnvoll ist, sich auf der Suche nach einer neuen Spiritualität nur auf den Buddhismus zu stützen. Ursprünglich war die Schule des Erhabenen ein asketischer Mönchsorden, dessen oberste Maxime „Alles Leben ist nichts als Leiden“ hieß. Die Religion des Buddha hat zwar im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Wandlungen erfahren, aber bei genauerer Betrachtung fällt es schwer, sie mit den Bedürfnissen der Bewohner westlicher Länder kompatibel zu machen. Nach dem optimistischen Aufbruch in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist bei europäischen Buddhisten inzwischen eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Der Buddhismus ist zwar nach wie vor präsent und lebendig, aber die Zahl derer, die buddhistische Meditation praktizieren und den Dharma als ihren Lebensweg betrachten, stagniert.

Meiner Auffassung nach ist es an der Zeit, den geistigen Horizont ein Stück weiter zu öffnen und sich auch den grundlegenden Einsichten taoistischer Philosophen zuzuwenden. Der Taoismus steht dem westlichen Denken und Empfinden in mancher Hinsicht näher als der Buddhismus, da er sich nicht so sehr mit Leiden und Erlösung beschäftigt. Taoisten stehen dem Leben grundsätzlich positiv gegenüber und suchen nach einem erfüllten Leben im Hier und Jetzt. Ihr Ideal ist ein Leben im Einklang mit der Natur sowie eine Harmonisierung der inneren Kräfte. Nach taoistischer Auffassung bilden Mensch, Natur und Kosmos eine sich ergänzende Einheit. Kosmos, Natur und Mensch folgen den gleichen Regeln, denn durch das Wechselspiel von Yin und Yang steht alles miteinander in Verbindung. Angesichts der vielfältigen ökologischen und sozialen Probleme unserer Zeit ist diese Art des Denkens von großer Relevanz. Ich halte es für geradezu fahrlässig, darauf zu verzichten, da ich bei all den ökologisch orientierten Bewegungen des Westens eine spirituelle Grundlage schmerzlich vermisse. Während Christen mit „Wir müssen Gottes Schöpfung bewahren“ einen schlüssigen Grundsatz im Hinblick auf die ökologischen Probleme unserer Zeit gefunden haben, herrscht bei Buddhisten in dieser Hinsicht eher Ratlosigkeit. Der Taoismus liefert uns hier, ohne auf die Postulierung eines Gottes zurückzugreifen, ein stimmiges Theorem.

Es wird allerdings Zeit brauchen, bis wir im Westen die kulturellen Einflüsse Asiens wirklich tief verinnerlicht haben, denn auch wenn wir buddhistische und taoistische Texte lesen, asiatische Gewänder tragen, mit Stäbchen essen, Räucherwerk anzünden und jahrelang meditieren, kratzen wir immer noch an der Oberfläche. Was uns im Hinblick auf ein tieferes Verständnis am meisten im Wege steht, ist unsere westliche Geistesstruktur. Während die Angehörigen asiatischer Völker in der Meditation oder auch in alltäglichen Situationen rasch ins All-Eine hinübergleiten, kommen wir, salopp gesagt, aus unserem Verstand nicht raus. Daher erhebt sich zunächst die Frage, was unsere westliche Kultur ausmacht. Auf welchem geistigen Fundament stehen wir eigentlich?