Neologismen - Hilke Elsen - E-Book

Neologismen E-Book

Hilke Elsen

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Beschreibung

Wie und warum bilden wir neue Wörter? Wird das von Textfunktion und Sprecherintention mitbedingt? Im Rahmen eines praktisch orientierten Überblicks über die Neologismenforschung beantwortet der Band diese Fragen exemplarisch anhand von Texten aus journalistischer, Kinder-, Sach- und Unterhaltungsliteratur. Die einzelnen Kapitel behandeln zunächst verschiedene theoretische Aspekte wie Lexikographie, Lexikologie, linguistische, methodische und empirische Grundlagen sowie Probleme der Wortbildung. Es folgen zahlreiche Beispielsanalysen, die als Grundlage eigener Arbeiten dienen können. Begleitet werden die einzelnen Kapitel von Übungsaufgaben und Hinweisen zu weiterführender Literatur. Der Band versteht sich als Lehrwerk und Begleitlektüre zu Seminaren im Hauptstudium. Er hilft beim Einstieg, bei den Vorüberlegungen und bei den ersten eigenen empirischen Erhebungen.

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Neologismen

Ein Studienbuch

Hilke Elsen

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Satz: pagina GmbH, Tübingen

 

ISSN 0941-8105

ISBN 978-3-8233-9485-3 (Print)

ISBN 978-3-8233-0340-4 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Einleitung1.1 Was ist Neologismenforschung?1.2 Wozu Neologismenforschung?1.3 Wozu dieses Buch?Weiterführende Literatur2 Theoretischer Hintergrund2.1 Geschichte2.2 Grundbegriffe2.3 Entstehungswege2.3.1 Fremdwortübernahme2.3.2 Bedeutungsänderung2.3.3 Wortbildung2.3.4 Kunstwortbildung2.4 Lautsymbolik und Sprachspiel2.5 Okkasionalismus und Neologismus2.6 Funktion und Intention2.7 Theoretischer RahmenWeiterführende LiteraturAufgaben3 Aktuelle Forschung3.1 Lexikographische Projekte3.1.1 Neologismensammlungen3.1.2 Allgemeine Sammlungen3.1.3 Aufgaben der Wörterbücher3.2 Lexikologische Arbeiten3.2.1 Textfunktionen3.2.2 Die Rolle von Neologismen im Spracherwerb3.3 Neologismenforschung in anderen SprachenWeiterführende LiteraturAufgaben4 Empirische Grundlagen4.1 Gütekriterien4.2 Experiment und Sprecherbefragung4.3 Korpusarbeit4.3.1 computerbasiert4.3.2 manuellWeiterführende LiteraturAufgaben5 Vorbereitung der eigenen Studie5.1 Von der Idee zur Hypothese5.2 Weitere Planung5.3 Exemplarischer Vergleich des Fremdwortanteils5.4 Größere ArbeitenWeiterführende LiteraturAufgaben6 Methodik6.1 Textgrundlage6.2 Dudenabgleich6.3 AnalyseAufgaben7 Problemdiskussionen7.1 Fremdwörter und Namen7.2 Konversion7.3 Komposita und ähnliche Formen7.4 Doppelmotivation7.5 Komplexe Verben7.6 Bedeutungsänderung7.7 Fach- und Gruppensprache7.8 Phraseologismen7.9 Kunstwörter7.10 HashtagWeiterführende LiteraturAufgaben8 Untersuchungen8.1 Kinderliteratur8.1.1 Kuschelwörter8.1.2 Tillwörter8.1.3 Snöfridwörter8.1.4 Zusammenfassung8.2 Jugendliteratur8.2.1 Ricowörter8.3 Unterhaltungsliteratur8.3.1 Achtsamwörter8.3.2 Älterwörter8.3.3 Mopswörter8.3.4 Zusammenfassung8.4 Sachbücher8.4.1 Waldwörter8.4.2 Utopiewörter8.4.3 KI-Wörter8.4.4 Zusammenfassung8.5 Journalistik8.5.1 Zeitungswörter8.5.2 Radiowörter8.5.3 Titanicwörter8.5.4 ZusammenfassungWeiterführende LiteraturAufgaben9 Übergreifende Betrachtung9.1 Quantitative Aspekte9.1.1 Überblick9.1.2 Entstehungswege9.1.3 Wortarten9.2 Qualitative Aspekte10 Fazit10.1 Zusammenfassung10.2 Ausblick11 Lösungsvorschläge für die AufgabenKapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8LiteraturA Forschungsliteratur, Nachschlagewerke, InternetquellenB BelegquellenRegister

Vorwort

Die Arbeit an diesem Band wurde ausgelöst durch lexikographische Aussagen, dass u.a. neue Wörter des Deutschen zu 40 % aus AnglizismenAnglizismus bestehen. Trotz anderer Ergebnisse aus lexikologischen Studien kam es in den letzten fast zwanzig Jahren nicht zu einer Relativierung in der Neologismenlexikographie, während auf lexikologischer Seite nur einige wenige neue Arbeiten veröffentlicht wurden, die durchaus, jedoch ungehört, kritisch auftraten. Mittlerweile erscheinen lexikographische Neologismensammlungen als repräsentativ für neue Wörter schlechthin und repräsentativ für DEN deutschen Wortschatz. Die faktische Heterogenität der deutschen Neologismenlandschaft, mit bedingt durch psycho-, soziolinguistische und textvarietätenabhängige Faktoren, weicht im Auge der Lexikographie einer scheinbaren Homogenität. Dies genauer zu zeigen ist eine der Aufgaben des vorliegenden Bandes. Der Blick auf die Forschung zu anderen Sprachen zeigt noch deutlicher die Defizite im deutschsprachigen Raum. Deswegen stellt der Band auch englischsprachige und vor allem französischsprachige Arbeiten und Projekte vor.

Eine weitere Aufgabe ist es, anhand exemplarischer Analysen Studierenden ein Werkzeug für eigene kritische Studien in die Hand zu geben. Sie sollen ermutigt werden, sich mit Wissenschaft zu beschäftigen, sodass sie ihren Teil für die Forschung beitragen können. Die Arbeit mit Neologismen bietet die Gelegenheit, Texte, die wir gern lesen, oder überhaupt sprachliche Quellen, die uns zusagen, mit Wissenschaft zu verbinden, seien es Kinderbücher, Pop oder Rap, Fußballsprache etc. So können auch schon Studierende früh lernen, mit Wörtern zu arbeiten. Dieser Band will anhand zahlreicher Beispielsanalysen zeigen, wie Neologismenforschung bereits im Studium begonnen werden kann in der Hoffnung, damit die gesamte Forschung in diesem Bereich anzuschieben und mit der Zeit mehr und vor allem aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Die Arbeit mit Wörtern kann Freude bereiten!

 

Dank

Vielen sei an dieser Stelle gedankt, für Denkanstöße, Kritik oder einfach nur fürs da Sein. Was die romanischen Sprachen anbelangt bekam ich Unterstützung von Vincent Balnat, für das Russische von Ellina Totoeva. Hans Joachim Hanke war wieder für die Technik da. Die Abbildung 2 zeichnete Annalena Hanke. Die Diskussionen im Doktorandenkolloquium trugen zu manchem guten Gedanken bei. Lisa Hartley, Aline Kodantke und Sören Stumpf sahen Teile des Manuskripts durch und steuerten nützliche Hinweise bei. Vincent Balnat und Ute Hofmann lasen den kompletten Text sorgfältig und kritisch. Auch sie halfen, ihn zu verbessern. Mareike Wagner vom Narr Verlag begleitete die Arbeit stets zuverlässig und kompetent. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich und ganz herzlich danken.

Oberschneitbach, im Mai 2021    Hilke Elsen

1Einleitung

1.1Was ist Neologismenforschung?

Die Neologismenforschung beschäftigt sich mit neuen Wörtern. Dies geschieht innerhalb zweier ganz unterschiedlicher Forschungsrichtungen, der lexikographischen und der lexikologischen. Im Bereich der Neologismenlexikographie, also aus der Sicht der Wörterbuchmacher:innen, gibt es für die deutsche Sprache einige, teils sehr große Projekte. Die lexikologische Forschung ist jedoch nicht stark ausgeprägt. Beide Richtungen stellen andere Fragen, verfolgen andere Aufgaben und erzielen daher auch andere Ergebnisse. Die Lexikographie sammelt und dokumentiert und orientiert sich an der Wörterbuchpraxis sowie an den Interessen der Nutzer:innen dieser Wörterbücher. Sie muss entsprechend Instrumentarien entwickeln, die die digitalen Informationen praktikabel nutzbar machen und vermitteln können. Das führt zu einer für diese Laien hin ausgerichteten Auswahl und Beschreibung der Stichwörter, beispielsweise zu 40 % Angloamerikanismen, wenn Hybridbildungen mitgezählt werden, sogar zu 60 % (Tellenbach 2002, Herberg 2002, 2004). Diese soll gleichzeitig als Spiegelbild der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen dienen (Herberg 2004: 341).

Die Lexikographie arbeitet deskriptiv im Gegensatz zur Lexikologie. Für sie stehen grundsätzlich sprachliche Strukturen, und zwar Wörter und Wortgruppen, und ihre Bedeutungen und Funktionen, ihr Wandel und Interrelationen mit außersprachlichen Faktoren im Fokus. Relativ neu ist hier die DiskursmorphologieDiskursmorphologie, die speziell nach Zusammenhängen zwischen Diskursfaktoren wie bestimmten Varietäten, Registern oder TextsortenTextsorte und morphologischen Erscheinungen fragt. Die Neologismenlexikologie stellt nicht nur die Frage danach, welche Wörter, Morpheme oder Wortbildungsarten neu sind, sondern auch wo, wie und warum sie entstehen und wie sie sich verbreiten. Hier geht es also nicht nur um lexikalische, und zwar semantische und morphologische, sondern auch um textlinguistische, soziolinguistische und kognitive Gesichtspunkte. Zusätzlich werden aktuelle Theorien wie die der Konstruktionsgrammatik auf Grundlage solcher Datenerhebungen diskutiert. Gerade diese Wechselwirkungen zwischen sprachinternen und sprachexternen Faktoren machen die (linguistische) Neologismenforschung auch zu einem Instrument der soziolinguistischen und Kognitionsforschung. Sie erweist sich damit als relevant für Erkenntnisse zu Sprachdynamik als Teil der gesellschaftlichen Entwicklung.

1.2Wozu Neologismenforschung?

Grundsätzlich besteht in der Bevölkerung Interesse an neuen Wörtern, auch weil einige auffallen, z.B. Ausdrücke der JugendspracheJugendsprache. Viele wollen etwas zu den Hintergründen wissen, vor allem aber zu Bedeutung oder Aussprache, gerade bei FremdwörternFremdwort. Hier gibt es auch viele grammatische Fragen. Dies ist ein Grund, warum Fremdwörter für die Öffentlichkeit eine prominente Rolle spielen. Wörterbuchprojekte bedienen bewusst und gezielt diesen Bedarf.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Untersuchung neuer Wörter zunächst einmal wichtig für die Einschätzung von ProduktivitätProduktivität, diesbezügliche Veränderungen, stilistische oder gar typologische Verschiebungen, innersprachliche Varianz und damit auch für SprachwandelSprachwandel. Dazu gehören auch die Bedingungen und die Gründe solcher Veränderungen. Dies ist zumindest für den Anfang auf struktureller Ebene der offensichtlichste Erkenntnisgewinn. Dieser sollte bei der Aktualisierung der Lehrbücher mit einfließen. Darüber hinaus führt die Neologismenforschung auch zu neuen Erkenntnissen darüber, warum wir welche neuen Wörter schaffen und schließlich akzeptieren, wie im vorigen Abschnitt angedeutet.

1.3Wozu dieses Buch?

Der Vergleich mit anderen Sprachen zeigt, wie schwach entwickelt die lexikologische Neologismenforschung für den deutschen Sprachraum ist. Das führt u.a. dazu, dass Ergebnisse aus der lexikographischen Neologismenforschung mit Neologismenforschung im Allgemeinen gleichgesetzt werden. Ein Grund für diesen Band ist also, dabei zu helfen, lexikographische Ergebnisse zu relativieren und sie um lexikologische zu ergänzen, damit lexikologische Fragen nicht mit lexikographischen Daten beantwortet werden. Zurzeit stellt sich das tatsächliche Bild der deutschsprachigen Neologismenlandschaft relativ einseitig dar, etwa wenn das Verhältnis zwischen deutschen und fremdsprachlichen neuen Wörtern aufgrund von filternden Aufnahmekriterien in Wörterbüchern verzerrt wird und zu falschen Schlussfolgerungen führt.

Kapitel 2.1 skizziert zunächst die Geschichte der Neologismenforschung. Kapitel 2.2 bis 2.7 stellen grundlegende Begriffe und Konzepte der Neologismenforschung vor. Kapitel 3 und 4 beschreiben die Forschungslage aus lexikographischer und lexikologischer Sicht sowie wichtige empirische Grundlagen. Danach leitet das Kapitel 5 zum wissenschaftlichen Arbeiten mit Neologismen an. Kapitel 6 führt in die zugrunde liegende Methodik ein, während Kapitel 7 zahlreiche bei der Analyse authentischer Sprachdaten auftretende Probleme diskutiert. Die darauffolgenden Abschnitte beschäftigen sich mit der Untersuchung verschiedener Texte. Sie überprüfen zusammen genommen mehrere Hypothesen, die sich in den theoretischen Kapiteln entwickelt haben und die in Kapitel 5.4 zusammengestellt wurden. Die empirischen Abschnitte sollen die Grundlage und die Vergleichsbasis für eigene wissenschaftliche Analysen bilden. KlangsymbolikLautsymbolikVerkleinerungsbildungDiminutivKlangspielereiLautspielRedewendungPhraseologismusWortartänderungWortartwechselGroßschreibungOrthographieKürzungKurzwortPhraseologiePhraseologismus

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Neologismen ist nicht nur für SprachwandelforschungSprachwandel, Sprachvergleiche oder für Produktivitätsbeurteilungen von Bedeutung, sondern unterstützt auch soziolinguistische und kognitive Fragestellungen. Dabei werden Daten gesammelt und dokumentiert und das Zusammenspiel zwischen Wörtern, Texten, Sprachbenutzer:innen und Gebrauchssituationen beleuchtet. Die lexikologische Auseinandersetzung mit neuen deutschen Wörtern ist nur schwach ausgeprägt.

Weiterführende Literatur

Die Bibliographien von HERBERG/KINNE (1998) und INNERWINKLER (2015) stellen die Literatur bezogen auf die deutschsprachige Forschung zusammen. Die Bibliographie von ELSEN (2011b) berücksichtigt auch andere Sprachen.

2Theoretischer Hintergrund

2.1Geschichte

Der Begriff Neologismus zu griechisch neos ‚neu‘ und logos ‚Wort, Rede, Kunde’ kam in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aus dem Französischen ins Deutsche. Dort war er im Zusammenhang mit sprachpuristischen Strömungen publik geworden und bezog sich, wie auch im Deutschen, zunächst auf Neubildungen, die gegen Regeln oder Sprachgefühl verstießen. Noch im letzten Jahrhundert wurde er im Deutschen nicht immer wertneutral gebraucht. Bis heute entzieht er sich einer eindeutigen und von allen geteilten Definition (vgl. Kap. 2.5).

Eines der ersten Neologismenwörterbücher überhaupt erschien 1726 für das Französische, dem bald weitere folgten. Es kam zu einer bis heute andauernden, sehr aktiven Auseinandersetzung mit neuen Wörtern (Kinne 1996). Anders im Deutschen – noch 1996 stellte Michael Kinne fest: „Im Rahmen der germanistischen Linguistik sind Neologismenforschung und Neologismenlexikographie weitgehend Desiderate“ (Kinne 1996: 327). Im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache wurde, angestoßen durch osteuropäische lexikographische Forschung, seit den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erstmals das Thema Neologie (seriös) in einem Wörterbuch berücksichtigt (Herberg 2004). Eine nennenswerte Neologismenforschung oder Neologismenwörterbücher gab es jedoch nicht, denn gezielt um das Sammeln neuer Wörter ging es erst später. Daher ist die Forschungsgeschichte zu deutschen Neologismen kurz und dabei eng mit dem IDSIDS (Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Mannheim) verbunden. Die Wiedervereinigung, aber auch wachsendes öffentliches Interesse, veranlassten die Mitarbeiter:innen damals, ein Wörterbuch zu entwickeln. Vorbereitungen waren bereits in der ehemaligen DDR erfolgt (Heller et al. 1988). Die Arbeiten begannen 1997 mit der Absicht, die Öffentlichkeit über die neuen Wörter des Alltags zu informieren. Die erste Phase umfasste die Lexik von 1991 bis 2000. Die zweite Phase war den Neologismen des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends gewidmet. Quellen für die IDS-Datenbank sind hauptsächlich die elektronischen Textkorpora des IDS, die auf Zeitungen und einigen Zeitschriften basieren, sowie einzelne Sammlungen von Forscher:innen. Seltene Wörter (Okkasionalismen), Regionalismen, Fachbegriffe und Wörter sozialer Gruppen sowie Wörter aus der Schweiz und Österreich, die nur dort verwendet wurden, waren ausdrücklich ausgeschlossen (OWID), ebenso EigennamenName (Google, Instagram). Später gab es auch andere Erhebungen, die gezielt neue Wörter bearbeiteten, teils aus lexikographischer Sicht, z.B. Quasthoff (2007) oder die Wortwarte (seit 2000, vgl. https://wortwarte.de, Betrieb zum 01.01.2021 eingestellt, danach „Die Wortwarte – Reloaded“, https://wortwarte.org), teils lexikologisch, z.B. Elsen (2011a).

Die Geschichte der deutschsprachigen Neologismenforschung ist kurz und stark konzentriert auf lexikographische Fragestellungen.

2.2Grundbegriffe

Das Lexem als grundlegende Einheit eines Wortschatzes (Lexikon) einer Sprache ist ein sprachliches Zeichen und verbindet eine Form- mit einer Inhaltsseite. Die Form, auch Ausdruck genannt, hören oder lesen wir, den Inhalt bzw. die Bedeutung denken wir. Sie ist eine Vorstellung bzw. ein gedankliches Konzept. Dies sind sprachinterne Seiten des sprachlichen Zeichens. Sprachextern hingegen ist der dritte Aspekt, die außersprachliche Wirklichkeit, der Gegenstand, den wir mit einem Wort meinen, der Referent. Das Wort hat eine Referenz. Wir referieren mit dem Wort auf den Gegenstand, genauer gesagt auf eine ganze Klasse von Gegenständen. Bei dem Wort Baum mit der Formseite /baum/ (gesprochen) bzw. <Baum> (geschrieben) und der Inhaltsseite ‚Holzgewächs mit Stamm, Ästen, Blättern oder Nadeln …‘ denken wir an einen ganz bestimmten Pflanzentyp. Wenn wir das Wort aussprechen, verweisen wir damit vielleicht auf einen bestimmten Baum neben uns, vielleicht auch auf alle, die im Garten sind. Dies sind die Referenten.

Wir können mit Wörtern ganz neutral ohne stilistische Zusatzbedeutungen auf einen Gegenstand referieren, wie das bei Baum, Pferd, Gesicht der Fall ist. Viele neue Wörter führen wir ein, um damit neue Dinge einfach nur zu benennen, zum Beispiel Coronavirus. Die DenotationDenotation bezieht sich auf die Kern- oder Grundbedeutung. Aber Wörter können auch weitere Bedeutungsfeinheiten transportieren wie bei Antlitz, Visage, Ross, Gaul. Viele Wörter wie Baum oder Coronavirus haben nur eine Denotation. Andere weisen darüber hinaus auch stilistische oder emotionale Zusatzbedeutungen auf, die KonnotationenKonnotation. Das wäre bei Visage und Gaul abwertend, bei Antlitz und Ross gehoben. Die Konnotation ist Teil der Bedeutung und damit allgemeinsprachlichAllgemeinsprache und nicht individuell. Sie ist zu trennen von den Assoziationen, die wir mit einem Ausdruck verbinden. Wenn wir also bei Coronavirus an Hausarrest oder aber an Gefahr und Krankenhaus denken, dann sind das persönliche Assoziationen, die wir mit dem Wort verbinden, keine Konnotationen.

Nicht damit zu verwechseln ist die KollokationKollokation. Sie bezieht sich auf das Miteinandervorkommen von Lexemen bzw. auf Wörter, die häufiger benachbart auftreten wie beispielsweise Pferd und wiehern, aber nicht Pferd und lächeln. Der Begriff KookkurrenzKookkurrenz dagegen ist allgemeiner. Er verweist auf das gemeinsame Auftreten mindestens zweier Ausdrücke innerhalb eines KotextesKotext. Dieser Terminus bezieht sich auf den direkten textuellen Zusammenhang, während KontextKontext allgemeiner für die sprachliche Umgebung bzw. Situation steht. Bei der Kollokation gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang, bei der Kookkurrenz nicht unbedingt. Mithilfe der KookkurrenzanalyseKookkurrenzanalyseKookkurrenz können wir indirekt die Bedeutung des Wortes ermitteln. Wenn in der Nachbarschaft von Pferd Lexeme wie Wiese, grasen, wiehern, Sattel, reiten stehen, dann handelt es sich um das Tier, bei Brett, Zug, Spieler, verlieren, ziehen, König eher um die Schachfigur.

Abbildung 1 zeigt die häufigsten lexikalischen Nachbarn im ZEIT-Korpus von 2010.

Abbildung 1: KookkurrenzenKookkurrenz von Pferd, 2010, ZEIT-Korpus in DWDSDWDS; https://www.dwds.de/dstar/zeit_www/diacollo/?query=Pferd&_s=submit&date=&slice=10&score=ld&kbest=10&cutoff=&profile=2&format=bubble&groupby=&eps=0; 15.12.2020

Wir können auch sehen, wie sich ein eigentlich neutraler Ausdruck durch wiederholte Nachbarschaft mit negativ konnotierten Wörtern in seiner Bedeutung schleichend verändert. Denn der Inhalt von Lexemen kann durch den KontextKontext mit der Zeit verschlechtert werden wie im Falle von Migrantenfamilie, ein neutraler Begriff, im wiederholten Zusammenhang mit Wörtern wie ungebildet, einkommensschwach, Hartz IV, arm, sozial schwach, bildungsfern etc. (aus DWDSDWDS, 20.03.2021), vgl.:

Kinder,Kinder die gebildete Eltern haben, hängen die aus ungebildeten und Migrantenfamilien um mehr als ein Schuljahr ab. (Die Zeit, 05.12.2017, online)

 

„Hier flüchten die Eltern aus dem öffentlichen System, weil sie nicht wollen, dass ihre KinderKinder von zu vielen Mitschülern aus Hartz-IV- oder Migrantenfamilien umgeben sind“, sagt Nikolai. (Die Zeit, 25.10.2017, Nr. 44)

 

KinderKinder aus einkommensschwachen und Migrantenfamilien sollten zusammen mit allen anderen Schülern zu Mittag essen, spielen und voneinander lernen, in den Genuss von Kultur, Musik und Sport kommen. (Die Zeit, 02.08.2017, Nr. 32)

 

Doch KindernKinder mit armen Eltern, etwa aus Migrantenfamilien, hilft die Empfehlung wenig. (Die Zeit, 29.03.2017, online)

 

Jeden Tag gehe ich durch die Tür in meine scheiß Yuppie-Wohnung, in der sonst eine zehnköpfige arme Migrantenfamilie wohnen würde. (Die Zeit, 14.07.2016, online)

 

Doch der Besuch einer Kita garantiert nicht automatisch, dass KinderKinder aus bildungsfernen oder Migrantenfamilien bessere Bildungschancen haben. (Die Zeit, 29.06.2016, online)

 

Sind das KinderKinder aus sozial schwachen und Migrantenfamilien? (Die Zeit, 16.06.2016, online)

 

Wenn eine Schule das Ziel verfolgt, KinderKinder aus sozial schwachen und Migrantenfamilien zu fördern, braucht sie spezifische Konzepte. (Die Zeit, 16.06.2016, online)

Bei einer quantitativen Untersuchung zählen wir Wörter. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Type und Token. Type bzw. Typ bezieht sich einerseits auf die abstrakte lexikalische Einheit auf der Langue-Ebene, andererseits auf das Wort als sprachliche Einheit auch in einem Text (Lexikonwort), Token auf jedes einzelne tatsächliche Vorkommen, also auch auf Wortformen. Der Satz

Die kleine Waldelfe mag keine Wiesentrolle, aber alle Wiesentrolle finden die kleinen Waldelfen ungemein entzückend.

weist zwei neue Wörter als Type auf, und zwar Waldelfe und Wiesentroll. Sie kommen jeweils zweimal vor, damit haben wir vier Tokens: Waldelfe, Wiesentrolle, Wiesentrolle, Waldelfen. Die Type-token-ratio (Type-Token-Relation) ist das Verhältnis zwischen der Menge des Gesamttextes, den Tokens, und der der verschiedenen Wörter, den Types. Wenn ein Text viele Tokens und dabei wenig Types hat, ist der Wortschatz klein, er ist wenig differenziert. Ein Wort als Type wird in der Grundform zitiert, also im Nominativ Singular bzw. als Infinitiv.

Einige neue Wörter entstehen dadurch, dass sie eine neue Bedeutung annehmen. Hier ist die Kernbedeutung bzw. DenotationDenotation von weiteren, mitschwingenden Nebenbedeutungen, den KonnotationenKonnotation, zu trennen, während sich KollokationKollokation und KookkurrenzKookkurrenz auf die syntaktischeSyntax bzw. kotextuelleKotext Nachbarschaft beziehen, die indirekt zur Bedeutung beitragen kann.

2.3Entstehungswege

2.3.1Fremdwortübernahme

Woher kommen neue Wörter? – Klar, aus anderen Sprachen. Das ist eine wichtige und vor allem augenfällige Quelle. Im Rahmen der FremdwortforschungFremdwort gibt es zahlreiche formale und etymologische, also Ursprung und Entstehungsweg betreffende, Aspekte zu bedenken, die zu unterschiedlichen Typen und Gruppen an fremdsprachlichen Wörtern führen. Für unsere Arbeit ist jedoch in erster Linie wichtig, ob ein Begriff so, wie er ist, aus einer anderen Sprache übernommen wurde oder in der jetzigen Gestalt erst im Deutschen entstand wie Talkshow-Joker (Titanic), ein neu gebildetes Determinativkompositum (vgl. auch Kap. 7.1).

2.3.2Bedeutungsänderung

In der Neologismenforschung werden Konzepte aus der SprachwandelforschungSprachwandel relevant. Zu den inhaltlichen Veränderungen zählen u.a. Bedeutungsverbesserung, -verschlechterung, -erweiterung, -verengung.

Bei der Bedeutungsverengung bezeichnet das Wort weniger Referent:innen, Beispiele oder Situationen. So bezog sich Hochzeit auf verschiedene weltliche und kirchliche Feste, heute nur noch auf das der Eheschließung. Ähnlich verhält es sich mit Gutes im Buch von Steinhöfel („Rico, Oskar und das Herzgebreche“):

Die übrigen Rentner sind fit wie die Turnschuhe, kippen über ihren Bingokarten gern mal ein Gläschen Gutes und schäkern und lachen dabei so laut und so viel, als wollten sie der ganzen Welt dauernd ihre tollen dritten Zähne zeigen. (Steinhöfel 2013: 59)

Im gesamten Buch bedeutet Gutes in diesem Zusammenhang nur ‚Schnaps‘.

Im Gegensatz dazu lässt sich bei der Bedeutungserweiterung das Wort auf mehr Beispiele anwenden, es wird allgemeiner wie bei Frau im Althochdeutschen für die Herrin. Später wurde es weniger auf Edeldamen, sondern generell auf verheiratete Frauen bezogen, während es heute noch allgemeiner ‚erwachsene weibliche Person‘ meint. Es lässt sich damit auf wesentlich mehr Menschen anwenden. Ein weiteres Beispiel ist spannend. Dieses Wort wird immer häufiger statt als ‚Spannung erregend, fesselnd’, sondern allgemein wie interessant verwendet, also eher ohne emotionale Beteiligung, sondern nur intellektuell anregend oder auch nur aus Höflichkeit dem Gesagten gegenüber. Wir finden es auf immer mehr Situationen und Inhalte bezogen, ein Ergebnis kann spannend sein, eine Aussage, eine Idee, ein Projekt. Entsprechend entstand spannenderweise, das in vielen Situationen statt interessanterweise auftritt.

Bei der Bedeutungsverbesserung vermittelt ein Ausdruck im Gegensatz zu früher positive Bedeutungen, gehört einer gehobeneren Sprache an oder bezieht sich allgemein auf besser eingeschätzte Referent:innen. Dies geschieht jedoch nicht so oft. So bedeutete Minister im Lateinischen ‚Untergebener, Diener’, bei uns ist er ein hoher staatlicher Verwaltungsangestellter. Wesentlich häufiger kommt es zur Bedeutungsverschlechterung wie bei Weib, einer ursprünglich neutralen Bezeichnung für Frauen (vgl. heute noch weiblich), die sich später standardsprachlich zur Beleidigung entwickelte.

Bedeutend interessanter für die Neologismenforschung aber sind konkret die verschiedenen Verfahren, die zu einer Bedeutungsänderung führen wie MetapherMetapher, MetonymieMetonymie, EuphemismusEuphemismus. Sie spielen ebenfalls eine Rolle in der Sprachwandelforschung. Bei der Metapher handelt es sich um eine bildliche Übertragung, eine Bedeutungsübertragung aufgrund von Ähnlichkeit.

Blödsinn! dachte Lennart und machte dem Mops, der bis dahin sinnentleert, so schien es, und beständig leise gurgelnd ins Treppenhaus gestarrt hatte, die Tür vor der Nase zu. Das Wichtigste war, dass ihm dieser fellüberzogene Fleischklops nicht verendete und dass er ein neues Zuhause fand. (Simon 2016: 78f.)

Fleischklops bezieht sich auf einen Kloß bzw. Klops aus Hackfleisch zum Essen. In dieser Passage spielt der Begriff auf die Körperfülle des Hundes an.

Nicht so häufig ist die MetonymieMetonymie bzw. Bedeutungsverschiebung aufgrund einer Verwandtschaftsbeziehung oder einem anderen direkten bzw. logischen Verhältnis wie etwa Kontakt zwischen Gesagtem und Gemeintem. Hierher gehört auch die Teil-Ganzes-Relation (pars pro toto), vgl.:

Es könnte wunderbar praktisch sein, nur noch nachts ins Tagebuch zu schreiben, so wie jetzt. Mama ist im Club, Oskar schläft auf der Blümchenwiese und ich sollte eigentlich meine Ruhe haben. (Steinhöfel 2013: 123)

Mit Blümchenwiese ist die gesamte Luftmatratze gemeint, nicht nur das Stoffmuster mit den vielen bunten Blümchen.

Ein besonderer Fall ist die Verhüllung oder Beschönigung (EuphemismusEuphemismus, „Hüllwort“), wenn ein angenehmeres, „schöneres“ Wort ein unschönes, peinliches oder tabuisiertes Wort ersetzt wie bei:

Er wand sich, versuchte panisch, die Skeletthand abzustreifen, die ihn gepackt hatte, sprang hoch, riss die kleine Lampe vom Nachttisch, rutschte ab, schlug mit dem Gesicht auf den Bettrahmen und fiel seitlich aus dem Bett, wo er auf dem Vorleger aus Schaffell benommen liegen blieb. Was für ein perfekter Albtraum. Der Radiowecker zeigte zwanzig nach vier. Lennart fasste sich an die Stelle, mit der er das Bett geküsst hatte, gleich unterhalb des rechten Auges. Er stieß einen zischenden Laut aus und fluchte. Es tat ziemlich weh, und es war bereits ordentlich angeschwollen. (Simon 2016: 40f.)

In diesem Fall dient der EuphemismusEuphemismus(das Bett) küssen als angenehmerer Ausdruck für (mit dem Gesicht auf den Bettrahmen) schlagen und verharmlost dabei auch die Verletzung.

ÜbertreibungÜbertreibung, Untertreibung, IronieIronie und negative Assoziationen sind verbreitete Beweggründe für Bedeutungsänderungen.

Was er vorhin, als er mit Isakssons Sekretärin vom Hauseingang zum Treppenaufgang gelaufen war, lediglich als graue Fliesen wahrgenommen hatte, war in Wirklichkeit ein Muster. Ein grobes Mosaik und nur aus der Höhe identifizierbar. Was sich die Erbauer des Hauses dabei gedacht hatten, blieb wohl für immer im Dunkeln verborgen. Weder war dieses kreisförmige Ornament von ausgesuchter Schön- noch von künstlerischer Feinheit. Wer so viel Geld besaß, sich eine derartige Hütte zu bauen wie diese hier, hätte vielleicht besser nochmal in die Gelben Seiten geguckt, bevor er sich für den erstbesten Fliesenleger entschied. (Simon 2016: 166f.)

Hier bezieht sich Hütte auf eine Villa, also auf ihr Gegenteil, und ist damit ironischIronie gemeint.

Ein weiterer Fall der Bedeutungsänderung liegt vor bei „Wir haben hier eine Schnapsidee“ (swr3, 02.02.2021). Denn das Wort bedeutet nicht, wie lexikalisiert, ‚unsinnige Idee‘, da im Alkoholrausch entstanden, sondern tatsächlich wörtlich ‚eine Idee, die mit Schnaps zu tun hat’. Dies wird aus dem Zusammenhang klar. Coronabedingt (Neologismus) konnten die Bierhersteller ihre Bierfässer nicht verkaufen. Kurz vor dem Verfallsdatum kam ein Brauer auf die Idee, daraus Schnaps zu brennen. Ein idiomatisierter Begriff wird also wörtlich verwendet und dadurch remotiviertRemotivation.

2.3.3Wortbildung

Bei weitem die wichtigste Quelle für Neologismen ist im Deutschen die Wortbildung. Während sich die Terminologie zu Semantik bzw. BedeutungswandelSprachwandel in den verschiedenen Abhandlungen prinzipiell deckt, herrscht bei der Wortbildung wenig Einigkeit. Der vorliegende Band berücksichtigt auch Wortbildungstypen, die teilweise unter anderen Typen subsumiert werden, wie es etwa oft bei der Zusammenbildung als Ableitung der Fall ist oder bei der KontaminationKontamination als Zusammensetzung. Denn sie haben sich bei der Neologismenuntersuchung in Elsen (2011a) als varietäten- bzw. textsortenabhängig unterschiedlich produktivProduktivität ergeben. Viele verwenden auch den AffixoidbegriffAffixoid nicht, sondern sortieren die betreffenden Elemente bei Affixen oder Kompositionsgliedern ein. Damit verwischen sie aber die Produktivität solcher Einheiten und der daraus resultierenden Wortbildungsart. Für eine differenzierte, textsortenabhängige Betrachtung des aktuellen produktiven Wortbildungsverhaltens im Deutschen ist eine kleinteilige Analyse jedoch maßgebend. Bei einer grobteiligen Analyse, die für das Deutsche nur die Wortbildungsarten Zusammensetzung, Ableitung und KürzungKurzwort annimmt, werden varietätenabhängige Besonderheiten nicht sichtbar, und es kann wieder auf eine gewisse, jedoch künstliche Homogenität für das Gesamtdeutsche geschlossen werden.

Im Deutschen ist die Komposition die am weitesten verbreitete Methode, um neue Wörter zu bilden: Zwei oder mehr Wurzeln bzw. Grundmorpheme (nicht Wörter, vgl. Politonkel) bilden ein neues Wort. Bei einem Determinativkompositum bestimmt das Erstglied das zweite inhaltlich näher, es determiniert es, vgl. Entenfuß ‚Fuß einer Ente‘, Trollfuß ‚Fuß eines Trolls‘, Trollhand ‚Hand eines Trolls‘. Das Erstglied trägt den Wortakzent, während das zweite WortartWortart, Flexion und GenusGenus (grammatisches Geschlecht) des Gesamtausdrucks festlegt. Ein besonderes Determinativkompositum ist das verdeutlichendeverdeutlichendes KompositumKompositum, dessen Glieder Gleiches oder Ähnliches meinen, vgl. Pellerinde:

Man kann sich kaum vorstellen, dass Traurigkeit auch unter einem blauen Himmel mit weißen Wölkchen funktioniert, in einer Straße voller hoher grüner Bäume mit schöner Pellerinde, wo jede Menge gut gelaunter Leute herumspazieren und vor den Cafés und Restaurants sitzen. Tut sie aber. (Steinhöfel 2013: 86)

Das Possessivkompositum gleicht im Aufbau dem Determinativkompositum. Die Bezugsgröße selbst, ein Mensch, ein Tier, wird im Ausdruck nicht erwähnt, sondern ein Teil bzw. eine Eigenschaft, die dann für das Ganze steht wie bei Rotkehlchen oder Rothaut.

Dann wird es Zeit für Erfolgsgeschichten: „Ich habe es geschafft, zehn Prozent meines Körpergewichts abzunehmen!“, vermeldet das bunt gemusterte Stretchoberteil neben mir. „Was denn, 30 Kilo?“, frage ich neidisch, „das ist phänomenal!“ (Bode 2019: 62)

Mit Stretchoberteil ist die Teilnehmerin der Abnehm-Gruppe gemeint, die ein entsprechendes Oberteil trägt. Das Wort bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf das Kleidungsstück, sondern auf die gesamte Person.

Das Kopulativkompositum, auch Koordinativkompositum genannt, verbindet zwei oder mehr Wurzeln einer WortartWortart. Ihr Verhältnis ist im Gegensatz zum Determinativkompositum gleichberechtigt, nicht hierarchisch, ohne dass also ein Glied das andere näher bestimmt. Die Glieder sind parataktisch angeordnet. Oft schwingt die Bedeutung ‚und zugleich‘ mit wie bei schwarz-weiß oder ‚entweder oder‘ wie bei süßsauer, vgl. auch:

Im Kopf war das so, dass die Bingokugeln kurz rot wurden und klackerten, dann grau wurden und wieder aufhörten, dann wieder rot wurden und klackerten und so weiter. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass diese Erpressung aufhörte. So viele Nüsschen konnte kein Mensch essen, um bei so viel Rot-Grau-Rot die Nerven zu behalten. (Steinhöfel 2013: 214)

Reduplikativkomposita wie Mischmasch schließlich weisen ganz oder teilweise Verdopplung und damit Verstärkung eines Elementes auf.

Historisch basiert eine Zusammenrückung auf dem wiederholten Nebeneinander mindestens zweier Lexeme, die mit der Zeit als Einheit empfunden wurden, ohne dass dabei das letzte Wort die WortartWortart des Gesamtausdrucks bestimmen muss. Klassische Beispiele sind Vergissmeinnicht oder Tunichtgut. Im Falle von neuen Wörtern fällt dieser entwicklungs- und frequenzbasierte Aspekt fort, und das Fehlen der Determinativbedeutung rückt als Kriterium in den Mittelpunkt, vgl. Nochwas:

Als ich vorgestern zu Edeka ging, um Birnen, Minitomaten und noch was zu kaufen, fiel auf dem Weg zum Laden das Nochwas einfach aus meinem Kopf. Ich hörte es förmlich auf den Gehsteig knallen und zerplatzen. (Steinhöfel 2013: 18)

Teilweise finden wir dafür auch den Begriff Univerbierung.

Zusammenbildungen bestehen mindestens aus drei Morphemen und sind weder eindeutig als Komposition noch als Ableitung einzuordnen, obwohl sie Züge von beiden tragen, vgl. Schneckenaufspießer:

Du meinst diese Möchtegernsportart von postklimakterischen Besserverdienergattinnen, die im Pulk mit ihren Schneckenaufspießern um den See hecheln? (Bode 2019: 55)

Es gibt weder *schneckenaufspieß(en) noch *Aufspießer, sodass weder eine Interpretation als Ableitung in Frage kommt, *schneckenaufspieß+er, noch als Komposition, *schnecken+Aufspießer. Die drei Komponenten Schnecken, aufspieß(en) und -er werden gleichzeitig zu einem neuen Wort zusammengefügt, ohne dass es eine strukturelle Hierarchie gäbe.

Die explizite Derivation entsteht durch das Anfügen eines Derivationsaffixes an einen Stamm, meist vorn (mit Präfix) oder hinten (mit Suffix), vgl. un-verschrumpelt, Lehr-er, seltener beides gleichzeitig (mit Zirkumfix, Ge-grunz-e). Im Gegensatz zur Derivation geschieht bei der Konversion rein äußerlich gar nichts, es handelt sich aber um einen WortartwechselWortartwechsel, nur eben ohne Wortbildungsmerkmal wie bei dem NomenNomenGlucks zum Verb glucksen (die Infinitivendung ist ein Flexionssuffix und fällt aus der Betrachtung heraus, OrthographieOrthographie ist ebenfalls kein Wortbildungskriterium).

Herr Kofferfisch sagt besonders höflich: „Danke schön, wie lieb von dir!“, schwimmt zur Startlinie und schluckt den Inhalt des Fläschchens mit einem einzigen Glucks hinunter. (Müller 2018: 28)

Die Rückbildung geht von einem morphologisch komplexen Wort aus. Es wird um ein Wortbildungsmorphem gekürzt oder ein Morphem wird durch ein anderes ersetzt, vgl. selbstoptimiert zu Selbstoptimierung:

Dies spiegelt sich auch in den immer beharrlicheren Versuchen, in Versicherungen vom Solidarprinzip abzugehen und Tarife an Verhalten zu binden – der feuchte Traum der Kranken- und Lebensversicherer, die ordnungsgemäß gesundes, risikofreies und selbstoptimiertes Leben per App oder Smartwatch überwachen. (Welzer 2020: 138)

Die AffixoidbildungAffixoidbildung befindet sich in einem Zwischenbereich von Komposition und Derivation. AffixoideAffixoid treten reihenbildend auf, sind platzfest, mit Stämmen kombinierbar, nicht ableitbar und haben ein lexikalisches Pendant, von dem sie inhaltlich so weit entfernt sind, dass ihre Funktion die eines Derivationsaffixes erfüllt. SuffixoideSuffixoid treten hinten an einen Stamm und führen bei NominaNomen meist zu Kollektiva (Schreibkraft, Lehrkraft). Vor allem bei den AdjektivenAdjektiv ist das Inventar offen und die Nähe zum lexikalischen Pendant geht immer mehr verloren.

Das Schlimme: Diese Serie aus der Stummfilmzeit, die wir damals als lustig, aber auch tierisch alt wahrgenommen haben, war jahrzehntetechnisch damals fast so weit von uns entfernt wie die 80-er Jahre von unseren Kids. (Bode 2019: 39)

Während gentechnisch sich auf Gentechnik bezieht und damit keine AffixoidbildungAffixoidbildung ist, bedeutet jahrzehntetechnisch allgemein ‚bezogen auf Jahrzehnte‘, ‚was Jahrzehnte anbetrifft‘.

PräfixoidePräfixoid, die vorn an einen Stamm treten, bewirken in der Regel Steigerung oder Intensivierung:

Wo sind sie, die großen Fernsehmomente wie die Hammerwortspiele in „Auf los geht’s los“, wo unter der Vorgabe „Eine weibliche Verwandte scharfmachen“ nach dem Begriff „Tante-Emma-Laden“ gesucht wurde? (Bode 2019: 41)

Anders als bei den Determinativkomposita Hammergriff oder Hammerstiel hat Hammer in dieser Passage nichts mit dem Werkzeug zu tun, sondern dient der Steigerung und ist gleichzeitig stilistisch auffällig.

Die Kürzung oder Kurzwortbildung führt nicht zu neuen Wörtern, sondern zu Varianten von vorhandenen Lexemen. Darum kommt es in der Regel nicht zu WortartwechselWortartwechsel oder Bedeutungsänderung, sondern höchstens zu anderen KonnotationenKonnotation oder stilistischen Färbungen. Die Ausgangswörter existieren neben den Kurzformen weiter. Selten verselbstständigt sich das KurzwortKurzwort und entwickelt eine eigene Bedeutung, sodass Kurzwort und Vollform als unterschiedliche Lexeme zu betrachten sind, vgl. BMW zu Bayerische Motorenwerke, dann auch für die Automarke gebraucht. Unabhängig von solchen sehr seltenen Ausnahmen gehört eine parallele Vollform mit in das Definitionsspektrum eines Kurzwortes.

Einige Kurzwortklassifikationen trennen danach, ob ein zusammenhängender Teil vorn (Kopfwort) wie bei Corona zu Coronavirus, Coronavirusinfektion, -krise oder -pandemie, hinten (Schwanzwort), in der Mitte (Rumpfwort) oder aber zweiteilig vorn und hinten (Klammerwort) übrig bleibt wie bei EU-Schnitt, das zu EU-Durchschnitt gehört.

Das Leben in Deutschland bleibt teurer als im EU-Schnitt […]. Mit Abstand teuerstes Land für Verbraucher innerhalb der EU ist seit Jahren Dänemark: Dort lag das Preisniveau im vergangenen Jahr um 41,3 % über dem EU-Durchschnitt. (Aichacher Nachrichten 22.06.20: 1)

Unabhängig von dieser Betrachtungsweise gibt es auch die Einteilung, die sich auf die Einheiten bezieht, die nach der Kürzung übrigbleiben. Buchstabenwörter zum Beispiel bestehen aus einzelnen Buchstaben, meist der erste einer Silbe oder eines Wortes wie bei BMW oder EU/Europäische Union. Silbenkurzwörter setzen sich aus einzelnen Silben oder Silbenteilen zusammen wie Kiga zu Kindergarten.

KurzwörterKurzwort sind von rein graphischen Abkürzungen zu trennen, die in der Regel als Vollform ausgesprochen werden, vgl. usw., z.B. Sie gehören nicht in den Bereich der Wortbildung.

Die Übersicht über die Kurzwortbildung hat gezeigt, dass als Ausgangsformen nicht nur Lexeme in Frage kommen, sondern auch WortgruppenlexemeWortgruppenlexem wie Europäische Union und Bayerische Motorenwerke. Dabei handelt es sich um feste Fügungen mindestens zweier getrennt geschriebener Wörter, die eine kognitive Einheit darstellen. Im Gegensatz zu freien syntaktischenSyntax Fügungen verbinden sich die Inhalte nicht erst bei der Rezeption, sondern bilden ein einheitlich vorhandenes Ganzes, so wie bei den Komposita. Die Einzelwörter bleiben beieinander und lassen sich nicht austauschen, die Struktur ist relativ stabil, vgl. das Wortgruppenlexem weißes Haus, *weiße Häuser, *das weiße, schöne Haus. Die letzten beiden Formen sind nur als freie syntaktische Fügungen interpretierbar. Um in den Texten Wortgruppenlexeme zu identifizieren, gibt es neben dem wiederholten Auftreten teilweise Hinweise durch Kursiv- und/oder GroßschreibungOrthographie.

Dagegen gab es nichts zu sagen. Zumal die ehemals Lautlosen Wälder des Schluchtentals ihren größten Schrecken verloren hatten, seitdem sie ganz und gar nicht mehr lautlos waren. (Schmachtl 2019: 26)

Ein Charakteristikum der WortgruppenlexemeWortgruppenlexem ist ihre unzweideutige Verwandtschaft mit den Determinativkomposita, nur bestehen sie nicht aus einem einzelnen Wort. In der Snöfrid-Geschichte (Schmachtl 2009) tritt der Begriff Lautlose Wälder in Kursivsetzung und mit großgeschriebenem AdjektivAdjektiv viermal auf und verhält sich nicht anders als das Kompositum Schluchtental. Wortgruppenlexembildung ist in FachsprachenFachsprache hochproduktiv.

Die KontaminationKontamination (Wortkreuzung, Wortmischung) wird standardsprachlich kaum genutzt. Hierbei verschmelzen Wortteile von meist zwei, teils auch drei oder selten mehr Wörtern zu einem neuen, welches Bedeutungsaspekte der Ursprungswörter verbindet und nicht immer eine morphologische Struktur aufweist. Diese Wortbildungsart arbeitet im Gegensatz zur regulären Wortbildung nicht mit Morphemen und wird teilweise darum als nicht zur Wortbildung gehörig betrachtet. Sie ist allerdings z.B. in der FachspracheFachsprache der Chemie durchaus produktivProduktivität. Kontaminationen haben meist stilistischen Charakter. Ein Beispiel aus dem vorliegenden Korpus ist Diddator, das aus Fragmenten von Diddl und Diktator besteht, wie der Textzusammenhang zeigt:

Nachdem Kritiker des „Käseblatts“ in einem Gegenheft namens „Kackblatt“ Informationen veröffentlicht hatten, dass die Diddl ihren Ursprung eventuell im Nationalsozialismus gehabt haben könnte – damals hätte es eine großohrige Maus unter dem NamenName „Diddator“ gegeben –, und er dann noch einen jahrelangen Rechtsstreit mit dem ukrainischen Unternehmer Yegor Orlow, der heimlich einen Diddl-Vergnügungspark in Odessa errichtet hatte, hätte führen müssen, stand Goletz kurz vor dem Ruin. (Titanic 06/20: 23)

Nicht alle Wortbildungsarten und Morpheme sind produktivProduktivität im Deutschen, das heißt, sie werden nicht für die Bildung neuer Wörter herangezogen, etwa {-t} in Fahrt, Sicht, Zucht zu fahren, sehen, ziehen. Von der Produktivität ist die Frequenz zu trennen. Dieser Begriff bezieht sich darauf, dass eine Form, ein Muster oder ein Morphem häufig oder selten in einem Wortschatz zu finden ist. Auch unproduktive Muster können mehr oder weniger frequent sein. Wenn eine eigentlich nicht produktive Wortbildungsart dennoch verwendet wird, fällt uns das auf, dann ist sie markiertmarkiert. Auch grundsätzlich seltene Muster fallen auf, beispielsweise die außerhalb der Chemiefachsprache nur in stilistisch markierten Zusammenhängen genutzte KontaminationKontamination. Je neutraler, einfacher, häufiger, „normaler“ und unauffälliger ein Element ist, desto unmarkierter ist es, dann hat es weniger Eigenschaften als ein markiertes Element.

Begleitend und ergänzend zu Wortbildungsarten und Bedeutungsänderungen gibt es weitere systematische Motive und Mittel, die zu Neologismen führen.

Die Wortbildung ist im Deutschen die wichtigste Methode, neue Wörter zu bilden. Mehrere Arten der Komposition, Derivation, Kurzwortbildung, aber auch KontaminationKontamination und Konversion führen in unterschiedlichen Anteilen zu Neologismen. Im Deutschen ist die Determinativkomposition das beliebteste Mittel.

2.3.4Kunstwortbildung

Die Kunstwortbildung gehört nicht in den Bereich der Wortbildung, sie führt aber auch zu neuen Wörtern. KunstwörterKunstwort (Urschöpfungen) sind neue Wurzeln. Wir kennen sie am ehesten noch aus der WerbungWerbung (Elmex, Kodak, Omo), aber auch aus der phantastischen Literatur, wo sie oft der Benennung verschiedener Personen oder phantastischer Geschöpfe oder Spezies dienen, etwa im „Herrn der Ringe“ (Ar-Zimrathôn, Uglúk, Uruk-hai). Sie entstehen nicht über die reguläre Wortbildung, weisen keine morphologische Struktur auf und sind teilweise lautlich motiviert. Sie lassen sich von den KurzwörternKurzwort trennen, die auch oft keine morphologische Struktur haben (Azubi, Stabi), aber immer eine parallele Langform, während für die Abgrenzung zur KontaminationKontamination formal und inhaltlich Ursprungswörter erkennbar sein sollten. Gelegentlich finden wir Lexeme, die zum Teil aus Kunstwort, zum Teil aus Morphemen bestehen und so zu einem Übergangsbereich zwischen Kunstwort- und regulärer Wortbildung führen, etwa in der Phantastischen Literatur, aber auch in der FachspracheFachsprache der Chemie. Der NameName des Minerals Afwillit beispielsweise setzt sich aus einer Kunstwortwurzel und dem Derivationsmorphem {-it} für Mineralien zusammen. Ertruser und Tefroder sind Bewohner:innen von Ertrus und Tefroda. Die Bezeichnungen bestehen aus einer Kunstwortwurzel und dem Morphem für Bewohner/innen {-er}.

Das vierte, jedoch peripher genutzte, Verfahren, das zu neuen Wörtern führt, ist die Kunstwortbildung. Sie kommt nur in wenigen Bereichen des Deutschen zum Einsatz. LautsymbolikLautsymbolik oder SprachspielSprachspiel sind häufig die Motive, die einem KunstwortKunstwort zugrunde liegen.

2.4LautsymbolikLautsymbolik und SprachspielSprachspiel

LautsymbolikLautsymbolik ist einer der Beweggründe für die Gestaltung neuer Wörter. Die Definitionen in der Literatur variieren, und es ist bisher kein klarer Gegenstandsbereich festgelegt worden.

LautsymbolikLautsymbolik heißt, dass unterhalb der morphologischen Ebene die Lautebene zum Träger von Information wird. Nicht nur Sprachlaute, sondern auch phonetische Merkmale, Töne, Lautgruppen, Silben, komplexere Lautstrukturen oder prosodische Muster können wiederholt und für größere Sprechergruppen bestimmte Assoziationskomplexe auslösen und dann mit Bedeutungsaspekten in Verbindung stehen. (Elsen 2016: 23)

LautsymbolikLautsymbolik, vor allem Klang- bzw. LautmalereiLautmalerei (OnomatopöieOnomatopöie, Onomatopoiie, Onomatopoesie) als ein wichtiger Teilbereich, ist ein beliebtes Stilmittel, um Varianten zu lexikalisierten Einheiten zu schaffen. Sie gibt Zittern, Müdigkeit, Langsamkeit, Lautstärke, Betonung etc. wieder. Da es sich um kein morphologisches Mittel handelt, das Wort dadurch jedoch eine zusätzliche Bedeutung erhält, ist es zwar morphologisch nicht nachvollziehbar, aber trotzdem neu und führt zu KunstwörternKunstwort. Es sind weder Druckfehler noch orthographischeOrthographie Varianten.

„Klingt nach einem Wasserschnupfen, hm?“, stupst Sebi sie lieb an. Emmi nickt und niest gleich noch mal. „Und dü hast einö kleine Fröstbeule auf dem Kopf!“, schnieft sie und zeigt auf Herrn Kofferfisch. (Müller 2018: 54)

 

Snöfrid sah Panik in Björns aufgerissenen Augen. Dann sah Snöfrid noch etwas. Und jetzt verstand er endlich, was Björn rief. „Lauf!“, brüllte der Kauz. „Lauf, laaaauuuf!!!“ Denn nicht nur Björn kam unheimlich schnell näher. Die Trolle hinter ihm leider auch. (Schmachtl 2019: 85)

Manche Neologismen sind nicht einfach nur Determinativkomposita, so etwa Toast-Tauben-Schießen (swr3, 20.01.2021). Bei dieser „Sportart“ handelt es sich um eine preiswerte Alternative zum Tontaubenschießen, die während der Coronasperre ganz einfach in der Küche mit einem Golfschläger und einem Toaster mit guter Springfeder praktiziert werden kann. Denn SprachspielereiSprachspiel ist ein weiteres Motiv für neue Wörter. Für den Begriff des Sprach- oder WortspielsWortspiel gibt es ebenfalls keine feste Definition. Er beruht auf dem primären Erkennungsmerkmal der spielerischen und unterhaltenden Funktion eines Ausdrucks. Diese ließe sich im Grunde nur empirisch über SprecherbefragungenSprecherbefragung belegen. Aber es ist weit mehr als nur ein Stilmittel, wie es im Rahmen literaturwissenschaftlicher Analysen oft scheint. Die wenigen Forschungsarbeiten, die bisher aus linguistischer Sicht vorliegen, offenbaren zunehmend systematische Aspekte des Phänomens. Beschreibungen, Typologien und Diskussionen haben aber noch nicht zu einem Konsens geführt, sodass es keine eindeutige Begriffsbestimmung, sondern nur verschiedene Vorschläge gibt. Dieser Abschnitt dient als vorläufige Vorstellung des Begriffs, ohne eine endgültige Definition festlegen zu wollen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Konzept des Wortspiels.

Jean-François Sablayrolles unterscheidet mehrere Dimensionen der neologistischen WortspieleWortspiel: Bauweise, Funktion, Gebrauchssituation, Lebensdauer sowie Verbreitung. Er stellt in mehreren Veröffentlichungen die Gründe für Wortspiele bzw. Spiele mit Wörtern zusammen – sie dienen dem Vergnügen, helfen zu überzeugen, suchen nach Aufmerksamkeit oder Einverständnis, verführen, verspotten, provozieren, ersetzen Argumente, und dies in ganz unterschiedlichen Situationen wie verschiedenen Literaturgenres, Sketchen, Gesprächen, Reden, WerbungWerbung, Slogans, politischen Diskursen. Strukturell erweisen sich besonders RegelbrücheRegelbruch als relevant, für das Französische sind KontaminationenKontamination offenbar am produktivstenProduktivität. Im Rahmen der Neologismenanalyse übernimmt die spielerische Funktion eine untergeordnete Rolle, da sie nicht nur selten, sondern auch zumeist gepaart mit anderen Funktionen auftritt (u.a. Sablayrolles 2015). Inwiefern es sich also um einen eigenen Neologismentypus handeln könnte, muss sich erst noch herausstellen. Vorerst fassen wir das Wortspiel als eine der Gründe bzw. Motivationen für neue Wörter auf, das Kreativität, aber auch Provokation ausdrücken kann.

Neuere Diskussionen führen von der primär strukturellen Ebene fort. Winter-Froemel betont die pragmatisch-interaktive Komponente. Auch Thaler fasst das WortspielWortspiel ähnlich wie einen Sprechakt auf unter Beteiligung mindestens zweier Personen, der nicht gelingen muss, der aber auch dann gelingt, wenn er zwar unabsichtlich auftritt, aber von der Gegenseite als solcher akzeptiert wird. Es ist vor allem sozial bedingt. Neben der unterhaltenden Funktion dient es mit dazu, Aufmerksamkeit zu erregen, Gruppensolidarität auszudrücken, Erinnerungsvermögen zu stützen oder Kreativität zu demonstrieren. Es kann strategische, ästhetische, höfliche, satirische, didaktischeDidaktik, persuasive oder auch argumentative Aufgaben erfüllen (Thaler 2016, Winter-Froemel 2016).

Die spielerische Wirkung beruht sehr oft auf einer Form von Kontrast – zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Erwartetem und Unerwartetem (wenn eine Person in typisch bayerischer Lederhose Plattdeutsch spricht), zwischen zwei Wörtern in einem Kompositum, die ungewöhnliche Inhalte verbinden (Karies-Filet1). Sie ergibt sich aus Überraschungseffekten bzw. Unerwartetheit, die auf vielen unterschiedlichen Wegen erreicht werden können, beispielsweise RegelverletzungenRegelbruch (unkaputtbar, Bäumin, Titanic 06/20: 51) und verschiedenen Formveränderungen. Sie können allein wirken, in Kombination und/oder mit anderen Bedeutungen einhergehen und zu HomophonieHomophonie führen. Oft gibt es nicht nur eine einzige Entstehungsmöglichkeit, da es letztendlich um das Ergebnis geht, nicht um bestimmte Wege, es zu erreichen. Teils werden Laute, Buchstaben, Silben ausgetauscht, hier f durch b: „Brühling – Friseurlehrlinge, die Kunden die Kopfhaut verbrühen, während sie ’Ist es recht so?‘ fragen“ (Fröhlich et al. 2010: 60). Der neue Ausdruck klingt an brühen an und lässt sich auch als KontaminationKontamination aus brühen und Lehrling interpretieren.

Neben neuen Trennungen („Bad Minton – Kurort für Gelenkverletzungen“, Fröhlich et al. 2010: 32) oder Umstellungen kann auch Sprachmaterial hinzugefügt werden: „Lahmbada – Medizinisch-gymnastischer Ausdruck für die Art und Weise, wie man sich bewegt, wenn einem das Bein eingeschlafen ist“ (Fröhlich et al. 2010: 209).

Weitere Möglichkeiten sind die Verwechslung von FremdwörternFremdwort (inkontinentes Verhalten statt inkonsequent), nachgeahmte FachwörterFachsprache („Linguinistik/die – […] Lehre vom Klebeverhalten ungarer oder italienischer Flachspaghetti“, Gisler et al. 2019: 510, „Sitzophrenie/die – volkstümlich auch Plattarschsurfen“ Gisler et al. 2019: 783, „Mythologramm/das – alte Geschichten komplett in 3D neu aufgezeichnet“ Gisler et al. 2019: 575), schwer oder unaussprechbare Wörter, vgl.:

Wenhuzienkuviov, Venedikucekz Apolkijihun (*Gtzugbbbjiuk, Sibirien, 4.12.1786; † Frunglkkkimug, Sibirien, 4.2.1809) Venedikucekz Apolkijihun Wenhuzienkuviov war ein Maler aus Gtzugbbbjiuk, Sibirien. Er inspirierte mit seinem Hauptwerk Swuqartzklamvid (‚Elisenteigrezept‘) neben dem armenischen Grußkartenfabrikanten Hufrezik Duggntijfereit auch den dalmatinischen Vogelpfeifer Rutingruzk Sokenfraawtz (Fröhlich et al. 2010: 393),

Wiederholungen (DINGELDIDONG! DINGELDIDING! DINGELDIDONG!,  Müller 2018: 8), graphische Auffälligkeiten, HomophonieHomophonie („Ökomähne – Unfassbar schlechte Frisur gläubiger, junger Christen“, Fröhlich et al. 2010: 268) und/oder zusätzliche Assoziationen bzw. RemotivationenRemotivation, vgl. „Rotkehlchen – Aus dem badischen stammender, scherzhafter und veralteter Begriff für Guillotine“, Fröhlich et al. 2010: 322) oder:

Auswurf ist der Ausdruck für eine Standardsituation im Fußball. Ein Spieler der eigenen Mannschaft wirft dabei den Ball, allerdings in die falsche Richtung. (Fröhlich et al. 2010: 28)

Die formalen Aspekte allein reichen für die Diskussion solcher Neologismen nicht aus. MetaphernMetapher, HomonymeHomonymie, AlliterationenAlliteration, ReimeReim und Wortbildungen wie Komposita und Derivationen etc. können zu Wortspielerei führen, wenn sie nicht der reinen Referenz, InformationsverdichtungInformationsverdichtung oder einer anderen neutralen, strategischen Funktion dienen. Beispielsweise wird aus Sachsen-Anhalt das WortgruppenlexemWortgruppenlexemSachsen zum Anhalten (Steinhöfel 2013: 188). Der zweite Teil des Begriffs erfährt eine Umdeutung, wie es im Spracherwerbsprozess häufiger der Fall ist. Denn bei der KinderetymologieKinderetymologie versucht ein KindKinder ein komplexes Wort, das es nicht versteht, zu deuten. Stattdessen bildet es ein ähnliches, das für das Kind dann transparentTransparenz ist, vgl. allez hüpf (statt allez hopp), Sandmensch (statt Sandmännchen), Paradieschen (statt Radieschen), drei Muskeltiere zu drei Musketiere, Burschi zu Porsche.

Im nächsten Ausschnitt erklärt der Text zunächst den Tiernamen und verbindet ihn dann über KlangähnlichkeitKlangähnlichkeit mit einem Wort aus einem ganz anderen Themengebiet, Schlamassel, das ebenfalls zum KontextKontext passt:

Mit etwas Pech fallen sie dabei in ein Schlammloch, und dann war’s das. Ihr schwerer Panzer zieht sie erbarmungslos nach unten, sosehr sie auch strampeln. Sie winken ihren Asselkumpels noch ein letztes Mal mit einem Fühlerchen zu, und dann saufen sie ab. Deshalb nennt man jemanden, der in einer schwierigen oder ausweglosen Lage steckt, eine Schlammassel. (Steinhöfel 2013: 77)

Auch das folgende Beispiel wirkt erst im Text ironischIronie-humorvoll:

Die Männerklappe