Netzwerke in pastoralen Räumen - Miriam Zimmer - E-Book

Netzwerke in pastoralen Räumen E-Book

Miriam Zimmer

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Beschreibung

Wie gestalten kirchliche AkteurInnen ihre Beziehungen in pastoralen Räumen? Welche Strukturen entstehen, und wie lassen sich diese zielorientiert modellieren? PlanerInnen und SeelsorgerInnen stehen vor der Frage, wie pastorale Nähe in vergrößerten pastoralen Räumen sichergestellt werden kann. Dieser Band präsentiert Ergebnisse des Forschungsprojektes "Denken in Netzwerkdynamiken" des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (ZAP) in Kooperation mit dem Erzbistum Paderborn. Die Idee: Pastorale Räume können als Netzwerke konzipiert und modelliert werden. Als eines der ersten Bücher zum Thema geht es über einen metaphorischen Gebrauch des Netzwerkbegriffes hinaus: Es stellt ein konkretes Konzept sozialer Netzwerke für soziologische und pastoraltheologische Forschung und Praxis vor. Eine empirische Fallstudie analysiert reale Netzwerkstrukturen und -prozesse. Für kirchliche Netzwerkarbeit werden durch Moderations-, Rollen- und Kompetenzförderungsmodelle praktische Ansätze entwickelt.

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Miriam Zimmer/Matthias Sellmann/Barbara Hucht

Netzwerke in pastoralen Räumen

Herausgegeben vonProf. Dr. Matthias Sellmannund Dr. Martin Pott

AngewandtePastoralforschung

04

Miriam Zimmer Matthias Sellmann Barbara Hucht

Netzwerke in pastoralen Räumen

Wissenschaftliche Analysen – Fallstudien – Praktische Relevanz

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

©2017 Echter Verlag GmbH, Würzburgwww.echter.de

Umschlaggestaltung Peter Hellmund

ISBN 978-3–429-04336-0 (Print)ISBN 978-3–429-04911–9 (PDF)ISBN 978-3–429-06331-3 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

Einleitung

Miriam Zimmer, Matthias Sellmann, Barbara Hucht

WISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN

Netzwerkforschung und Pastoraltheologie

Eine Diskursanalyse aus Sicht der Soziologie

Miriam Zimmer

„Christsein in strukturellen Löchern“ oder:Die pastoraltheologische und pastoralplanerische Bedeutung der soziologischen Netzwerktheorie

Matthias Sellmann

FALLSTUDIE

„Pastoral vernetzt“

Interne und externe Beziehungen von Kirche zum Thema Krankheit im Sozialraum

Miriam Zimmer

PRAKTISCHE RELEVANZ

„Vertrauen und Verantwortung“

Die Idee der Netzwerkmoderation im Zukunftsbild des Erzbistums Paderborn

Barbara Hucht

Beziehungsprofile und Positionsanforderungen

Rollenbewusstsein in sozialen Netzwerken entwickeln

Miriam Zimmer

Wissen, Können und Motivation

Netzwerkkompetenzen stufenweise ausbauen

Miriam Zimmer, Matthias Sellmann, Barbara Hucht

Fazit und Ausblick

Miriam Zimmer, Matthias Sellmann, Barbara Hucht

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Miriam Zimmer,Matthias Sellmann,Barbara Hucht

Einleitung

Netzwerke sind heutzutage in aller Munde. Medien, Stadtquartiere, Wirtschaftsstandorte und Tourismusregionen bilden Netzwerke – nicht nur, um individuelle Chancen zu verbessern, sondern auch, um vor allem gemeinsame, übergeordnete Ziele zu erreichen. Netzwerke versprechen die Kumulation geballter Ressourcen, Vitalität und Innovation. Auch kirchliche AkteurInnen haben das Netzwerk als neue Strategie für sich entdeckt. Der Bedeutungsverlust der Kirchen in der heutigen Gesellschaft ist unabweisbar. Viele Menschen wenden sich von der einst so relevanten und mitgliederstarken Institution ab. Die katholischen Bistümer kämpfen sowohl gegen Priester- als auch gegen Gläubigenmangel und reagieren strukturell mit einer drastischen Vergrößerung der pastoralen Räume. Hier funktionieren jedoch alte pastorale Arbeitsformen nicht mehr und es stellt sich die Frage, wie sich in diesem Wandel angemessene neue Seelsorgebeziehungen gestalten lassen. Neue, der modernen, pluralen und individualisierten Gesellschaft angepasste Formen der religiösen Vergemeinschaftung werden entwickelt und ausprobiert.

Als mögliche Organisationsform dieser großflächigen Räume werden daher zunehmend netzwerkartige Strukturen propagiert (vgl. z. B. Zukunftsbild Paderborn, Köln, München-Freising, DBK-Papier „Gemeinsam Kirche sein“): Als fluide, offene und dezentrale Struktur sollen sie eine neue, lebendige Form der Interaktion von verschiedensten AkteurInnen in Bezug auf kirchliche und gesellschaftliche Themen befördern und dadurch Kirche handlungsfähiger machen. Auch im universitären, pastoraltheologischen Diskurs gelten Netzwerke als zukunftweisend. In der Debatte über die neue Sozialität kirchlicher Akteurinnen, kirchlicher Veranstaltungen und Gruppen wird auch an den theologischen Fakultäten im Netzwerk die Sozialform der Zukunft gesehen. Was dem Netzwerkbegriff aber für pastorale Zusammenhänge vor allem fehlt, ist eine konzeptuelle und praktische Konkretisierung. Was ist ein Netzwerk? Welche sind seine Komponenten? Was kann ein Netzwerk – und was kann es nicht? Wie kann man Netzwerke bilden oder bestehende Strukturen verändern? Sowohl die akademische als auch die praktische Auseinandersetzung bleibt Antworten auf diese Fragen bisher weitgehend schuldig.

Das Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) und das Erzbistum in Paderborn versuchen im Kooperationsprojekt „Pastoral vernetzt“, Klarheit in diese Debatte zu bringen. Im Februar 2014 ist das Kooperationsprojekt „Denken in Netzwerkdynamiken als Steuerungsmodell großer pastoraler Räume“ gestartet. Als Pilotprojekt begleitet es den Umsetzungsprozess des im selben Jahr veröffentlichten Zukunftsbildes der Diözese Paderborn mit wissenschaftlicher Fundierung und in der pastoralen Praxis verwertbaren Erkenntnissen. Das Zukunftsbild ist das Resultat des zehnjährigen Konsultationsprozesses „Perspektive 2014“, in dem Mitglieder des Erzbistums aus verschiedensten Orten und VertreterInnen unterschiedlicher kirchlicher Ebenen über die Zukunft der Diözese berieten. Die Paderborner Veröffentlichung stellt die Arbeitsprämisse und das Leitbild der zukünftigen diözesanen Arbeitsweisen auf struktureller und inhaltlicher Ebene vor. Im Kooperationsprojekt findet nicht nur die theoretische Auseinandersetzung mit dem soziologischen Netzwerkbegriff statt; auch wurde im Erzbistum Paderborn bereits eine empirische Fallstudie durchgeführt, in deren Folge dort nun modellhaft Netzwerkmoderation praktiziert und reflektiert wird. Dieses Buch präsentiert die ersten Ergebnisse des Projektes. Es ordnet sie in aktuelle pastoraltheologische Debatten ein und bietet praktische Erkenntnisse und Ansatzpunkte zur konkreten Gestaltung kirchlicher Arbeitszusammenhänge in Kooperationen und Interaktionen.

Das Buch nimmt damit aktuelle innerkirchliche und pastoraltheologische Diskurse auf, reiht sich zugleich in kirchensoziologische und ekklesiologische Debatten über neue Sozialgestalten von Kirche ein und versucht die begriffliche Schärfung und Konkretisierung des Netzwerkkonzeptes aus mehreren Perspektiven. So wandelt sich Kirche und ihr Agieren vom institutionellen Akteur,1 der individuelle Wertesysteme und die persönliche Lebensgestaltung langfristig prägt, zum organisationalen Anbieter und Kooperationspartner, dem neue Erwartungen entgegengebracht werden.2 Diese neuen Interaktionsformen und - anforderungen können mithilfe der soziologischen Netzwerktheorie und ihrer empirischen Methoden sichtbar und verständlich gemacht werden. Die organisationssoziologische Frage, ob und inwiefern das Netzwerk an sich im soziologischen Sinne eine genuine Sozialform darstellt, muss hier weiter offenbleiben, ist jedoch in diesem Zusammenhang auch nicht von elementarer Bedeutung.

In den neu strukturierten Diözesen stehen die pastoralen MitarbeiterInnen der Pfarreien vor der Herausforderung, Netzwerkarbeit konkret und kleinteilig umzusetzen, während PlanerInnen in den Generalvikariaten versuchen, die großen Zusammenhänge neu zu strukturieren sowie Förderrichtlinien, Personaleinsätze und Stellenbeschreibungen netzwerkorientiert auszurichten. In vier Bereichen besteht akuter Bedarf, Netzwerke, deren Herkunft, Wesen und Relevanz gründlich zu analysieren und konsequent weiterzudenken: 1. in der begrifflichen Konkretisierung (Kap. 2), 2. der theologischen Verortung (Kap. 2, 3, 5), 3. dem Wissen um Strukturen und Mechanismen (Kap. 4) und 4. der handlungspraktischen Anwendung (Kap. 5–7). Der vorliegende Band soll zur wissenschaftlichen Fundierung in diesen vier Bereichen beitragen.

1. Der Netzwerkbegriff ist als Hoffnungskonzept der postmodernen Gesellschaft in vielerlei Diskursen auf breite Resonanz gestoßen. Allerdings wird er in Wissenschaft, Medien und Wirtschaft unterschiedlich rezipiert. In diesem Buch wird Netzwerk als bereits konsolidiertes soziologisches Konzept sozialer Beziehungen vor dem Hintergrund bestehender Theoriebildung und anerkannter empirischer Methodologie präsentiert und diskutiert.

2. Weiterhin werden das Netzwerkkonzept und das in ihm begründete relationale Denken und Handeln in diesem Buch über die spontanen assoziativen Bezüge des „Netze Auswerfens“ oder der eher unbeliebten „Spinne im Netz“ hinaus theologisch fundiert begründet und gerechtfertigt. Zudem wird diese „relationale Theologie“ gleichsam auf das Agieren von Kirche in der Welt und deren inhärente soziale Beziehungen angewendet.

3. Die Netzwerksoziologie hat bereits einiges Wissen und etliche Erkenntnisse über die Funktionsweise von Netzwerken, deren Strukturformationen und Produktivitätsvoraussetzungen sowie über kleinteilige Mechanismen unter bestimmten Strukturvoraussetzungen hervorgebracht. Diese Forschungsergebnisse sollen vor allem im Hinblick auf die Beziehungskonstellationen religiöser AkteurInnen vorgestellt werden. Darüber hinaus geht es darum, eigens für das Anliegen der sozialräumlichen Zusammenarbeit relevante netzwerksoziologische Erkenntnisse für Forschung und Praxis zu generieren.

4. Weiterhin will dieses Buch eine konkrete Handreichung zur Arbeit mit und in Netzwerken sein. Von der Perspektive auf die inneren Haltungen der Akteurinnen als Grundlage über Rollen und Kompetenzanforderungen bis hin zur übergeordneten organisationalen Ausrichtung sollen Anforderungen, Umsetzung und Konsequenzen von Netzwerkarbeit durchdacht werden. Die netzwerksoziologischen Methoden bieten so das Potenzial, proaktiv Beziehungen zu gestalten und damit Arbeitsprozesse zielorientiert zu modellieren.

Des Weiteren stellt dieser Band den Versuch dar, in dem beschriebenen Themenfeld drei Kluften zu überbrücken und im Sinne der Netzwerktheorie eine Broker-Rolle zwischen diesen strukturellen Löchern einnehmen.

Zunächst geht es darum, die theologische Abhandlung und die soziologische Auseinandersetzung aneinander anzunähern. Allein sprachlich stehen die beiden Fächer im Kontrast zueinander; aber auch im Umgang mit wissenschaftlichen Konzepten im Allgemeinen sowie mit dem Begriff des Netzwerkes im Besonderen divergieren sie mitunter beträchtlich. Während die Soziologie wissenschaftliche Zugänge zu Netzwerkmethode und Netzwerkarbeit theoretisch bereits umfassend diskutiert und probate empirische Methoden ausgearbeitet hat, sind diese Erkenntnisse in der pastoraltheologischen Forschung bislang nur sehr punktuell rezipiert worden. Ansonsten arbeitet die Pastoraltheologie diesbezüglich mit stark metaphorischen Verknüpfungen und lässt methodologische Überlegungen bisher weitgehend außen vor. Weiterhin wird versucht, die beiden wissenschaftlichen Traditionen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema zu verstehen und, die Vorteile beider Herangehensweisen aufgreifend, möglichst fruchtbar miteinander zu verschränken.

Eine weitere tiefe Kluft besteht im Diskurs zwischen netzwerksoziologischer Forschungsliteratur und Netzwerk-Ratgebern aus Wirtschaft, sozialer Arbeit und Medien, die sich vornehmlich auf praktische Erfahrungen berufen. Dieses Buch versucht, auch diesen Graben zu überbrücken, indem es an netzwerksoziologische Theorien anknüpft, eigene empirische Netzwerkforschung vorstellt, deren Erkenntnisse für die praktische Arbeit in Netzwerken fruchtbar macht und mit bestehender erfahrungsbasierter Ratgeberliteratur ins Gespräch bringt. Es wird sich also nicht mit einem der beiden Bereiche zufriedengegeben, sondern es geht darum, solide wissenschaftliche Forschung vorzustellen, die auch praktische Bedarfe ernst nimmt und hierfür Konzepte entwickelt.

Die dritte identifizierte Spaltung ist eine innertheologische, deren Überwindung sich das Zentrum für angewandte Pastoralforschung generell verschrieben hat: die Unverbundenheit zwischen praktischer Arbeit, Strukturentscheidungen sowie Maßnahmen in der organisationalen Steuerung der Kirche in Deutschland einerseits und der akademischen Pastoraltheologie andererseits. Die beiden Ebenen stehen sich meist distanziert-beobachtend gegenüber. Konzepte und Veröffentlichungen werden gegenseitig zwar wahrgenommen, schaffen aber meist nicht die Übertragung in den jeweils anderen Kontext. Dieses Buch soll am Beispiel sozialer Netzwerke durch eine kleinschrittige Auseinandersetzung mit der Soziologie entstammenden theoretischen Konzepten und deren Übertragung in die pastorale Praxis – und umgekehrt – genau diese Vermittlung leisten und dadurch für Mehrwert in beiden Feldern, der akademischen Pastoraltheologie und der praktischen Arbeit in den Diözesen, sorgen.

Der vorliegende Band richtet sich vor allem an pastorale PlanerInnen, Netzwerk- und ReligionssoziologInnen sowie TheologInnen, die sich mit aktuellen Veränderungsprozessen von Kirche wissenschaftlich, aber vor allem auch organisatorisch auseinandersetzen. Die Lektüre soll vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen abnehmender Kirchenbindung, organisationalen Wandels und kirchlicher Neuorientierungsprozesse eine konkrete Vorstellung davon vermitteln, was Netzwerke sind und wie sie im Bereich von Kirche gewinnbringend konzipiert werden können. Weiterhin soll sie zur erkenntnisreichen Beobachtung von sozialen Kontexten mit Fokus auf deren Beziehungsstrukturen beitragen. Darüber hinaus möchten wir mit diesem Band erste Anregungen bieten, um dieses Wissen auf die konkrete eigene kirchliche Arbeit in den Leitungs- und Planungsebenen der (Erz-)Bistümer sowie in den Sozialräumen der Pfarreien anzuwenden. Uns geht es darum, zu vermitteln, wie die eigene Beziehungsgestaltung dem Erreichen persönlicher und organisationaler Ziele einerseits sowie der Vermittlung der christlichen Botschaft und damit dem kirchlichen Auftrag andererseits dienen kann.

Alle Kapitel in diesem Buch bergen neue Erkenntnisse für die angesprochenen Bereiche. Allerdings können die einzelnen Kapitel angesichts der thematischen Breite des Bandes oftmals nur als Einstieg in eine tiefergehende Auseinandersetzung gelten. In den folgenden zwei Projektjahren sollen die Themen weiter fundiert und konkretisiert werden. Die AutorInnen wollen dem/r LeserIn die bisherigen Ergebnisse jedoch nicht vorenthalten, sondern – im Gegenteil – dazu ermutigen, die Fragestellung und die präsentierten Ansätze selbst weiter zu denken und eigene Vorgehensweisen zu entwickeln. Zu diesem Zweck schließt jedes Kapitel mit Ausblicken für die Forschung und für die Praxis.

Aus der Projektlogik ergibt sich folgender Auftau des Buches:

Zunächst zeichnet Miriam Zimmer anhand eines Blicks in die Forschungsliteratur zunächst die Genese soziologischer Netzwerkforschung nach, um daraufhin das Aufkommen des Netzwerkbegriffes in der Pastoraltheologie und seine dortigen Implikationen zu analysieren (Kapitel 2). Dabei wird deutlich, dass die Pastoraltheologie den Netzwerkdiskurs nicht einheitlich im Sinne der soziologischen Netzwerkforschung gebraucht, sondern vielerorts auch als Metapher für eine neue Form des Kirche-Seins.

Anschließend stellt Matthias Sellmann die kirchliche Relevanz der Koordination sozialen Handelns in Netzwerken dar (Kapitel 3). Durch die strukturellen Raumveränderungen ergeben sich neue Handlungsnotwendigkeiten, die gleichzeitig die Chance bereithalten, die binnenkirchliche Orientierung hinter sich zu lassen. Das Kapitel stellt damit eine neue Gemeindetheologie in handlungspraktischer und geistlicher Dimension vor, die in ihrer Konsequenz ein neues christliches Selbstverständnis impliziert.

Mit der Präsentation der empirischen Studie eines sozialräumlichen Netzwerkes zur Arbeit mit kranken Menschen stellt Miriam Zimmer mithilfe soziologischer Methoden schließlich real existierende Beziehungen von Kirche vor (Kapitel 4). Sie zeigt sowohl die spezifischen Eigenschaften dieser Netzwerkstruktur als auch – auf Basis qualitativer Daten –, wie die verschiedenen AkteurInnen das Thema Krankheit konzeptionieren und was Kooperation befördert oder behindert.

Barbara Hucht ermittelt in Kapitel 5, wie Netzwerkmoderation aus organisationsentwicklerischer Sicht zu denken ist. Diese Erkenntnisse vergleicht sie mit dem Verständnis von Führungshandeln im Zukunftsbild des Erzbistums Paderborn. Sie kann somit grundlegende Gemeinsamkeiten, aber auch Spannungen zwischen Anforderungen von Netzwerkarbeit und den formulierten Ansprüchen an kirchliches Führungshandeln sowie etwaige Entwicklungspotenziale aufzeigen.

Im Anschluss erläutert Miriam Zimmer ein wissenschaftlich-analytisches und zugleich praxisrelevantes Konzept von Netzwerkrollen (Kapitel 6). Auftauend auf der soziologischen und psychologischen Rollentheorie und ihren eigenen Forschungsergebnissen aus der Netzwerkstudie kann sie unterschiedliche Netzwerkrollen identifizieren und einen ersten Ansatz vorstellen, um diese zu systematisieren und für die praktische Arbeit fruchtbar zu machen.

Die drei AutorInnen entwickeln schließlich ein Modell der Netzwerkkompetenz (Kapitel 7). Dieses speist sich aus den verschiedenen Zugängen des Projektes und knüpft an die Erkenntnisse der Kompetenzforschung an. Das Netzwerkkompetenzmodell konkretisiert die Anforderungen an kirchlich Engagierte3, benennt die Potenziale von AkteurInnen und weist auf Lernperspektiven für unterschiedliche Handlungsebenen der Netzwerkarbeit hin.

Im Fazit (Kapitel 8) diskutieren die AutorInnen ihre aktuellen Erkenntnisse in Bezug auf die Forschung zu sozialräumlichen Netzwerken, die Praxisrelevanz vor allem für die kirchliche Arbeit in großen pastoralen Räumen sowie die zuvor aufgeworfenen Fragen. Dabei bleibt die Erkenntnis bestehen, dass dieses Buch nur einen Einblick in die praktische Netzwerkforschung vermitteln und einen ersten Ausblick auf zukünftige wissenschaftliche Fundierungen und praktische Konkretisierungen werfen kann.

Unser Dank gilt Dr. Andreas Henkelmann, Christine Zimmerhof, Benedikt Jürgens, Nina Hölscher für die wertvollen Kommentare, Beiträge und inhaltliche Unterstützung bei der Planung des Bandes und während der Erstellung der einzelnen Kapitel. Katharina Rahlf und Robert Lorenz von Splendid. Text- und Webdesign für präzises Lektorat und Layout. Dem ZAP und dem Erzbistum Paderborn, die durch die Projektierung des Netzwerkthemas und die finanzielle Unterstützung dieses Buch erst möglich gemacht haben.

1 Vgl. SELLMANN, Matthias: Katholische Kirche heute: Siebenfache Pluralität als Herausforderung der Pastoralplanung, in: Wilhelm DAMBERG / Karl-Joseph HUMMEL (Hg.): Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart, Paderborn 2015, S. 113–228; LUDWIG, Holger: Von der Institution zur Organisation. Eine grundbegriffliche Untersuchung zur Beschreibung der Sozialgestalt der Kirche in der neueren evangelischen Ekklesiologie, Leipzig 2010.

2 Vgl. KRECH, Volkhard / SCHLAMELCHER, Jens / HERO, Markus: Typen religiöser Sozialformen und ihre Bedeutung für die Analyse religiösen Wandels in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 65 (2013), S. 51–71.

3 Mit kirchlich Engagierten meinen wir hier alle Personen, die freiwillig, beruflich, ehren- oder hauptamtlich für die und im Namen der Kirche engagiert sind.

Wissenschaftliche Analysen

Miriam Zimmer

Netzwerkforschung und Pastoraltheologie

Eine Diskursanalyse aus Sicht der Soziologie

1 EINLEITUNG

Der Netzwerkbegriff, der in der kirchlichen Konzeptarbeit und pastoraltheologischen Auseinandersetzung zunehmend herangezogen wird, bezieht sich, wenn auch lose, immer wieder auf die soziologische Netzwerktheorie. Deren Ursprünge sind wiederum fast so alt wie das Fach Soziologie selbst und entspringen einer intensiven Debatte um ihren eigentlichen Gegenstand, ihre Theorien und folgerichtig auch ihre Methoden. Heute ist die Netzwerksoziologie eine der etablierten Strömungen der Soziologie, die in ihrer Geschichte immer wieder methodische Weiterentwicklungen und theoretische turns erlebt hat.

Um die theologischen Referenzen adäquat einordnen und die pastoralplanerischen Anliegen verstehen und bewerten zu können, bedarf es zumindest einer überblicksartigen Darstellung der netzwerksoziologischen Entwicklungen. So können am Ende dieses Textes eine Bewertung bisheriger „theologischer Netzwerkbegriffe“ und ein „produktiver Ausblick“ auf den zukünftigen Umgang mit Netzwerkkonzepten erfolgen.

Dieses Kapitel dient somit zunächst vor allem dazu, ein theoretisches Fundament, einen common ground, zu schaffen, auf dessen begrifflicher Konkretion theologische und kirchensoziologische Debatten, pastoralplanerische Konzepte und Evaluationsinstrumente auftauen können. Des Weiteren stellt sich dieses Kapitel auch der Herausforderung, zwischen den jeweiligen Fachsprachen – der pastoraltheologischen und der soziologischen – zu übersetzen, um die in der Einleitung erwähnte Kluft zwischen den beiden Fachtraditionen zu überwinden und somit an die Debatten beider Fächer anschließen zu können.

Im Folgenden wird zunächst die Genese der Netzwerksoziologie als theoretisches und methodisches Konzept nachgezeichnet. Anschließend werden die bisherigen Anwendungen der Netzwerkperspektive in der Kirchensoziologie und Pastoraltheologie dargestellt. Am Schluss soll eine Beurteilung über die Adäquatheit des Netzwerkkonzepts in der aktuellen Kirchensoziologie und Pastoraltheologie stehen.

2 DIE URSPRÜNGE DER SOZIOLOGISCHEN NETZWERKANALYSE

Die Begründung der Netzwerktheorie und -analysepraxis ist ein Gemeinschaftswerk. Die heutige Netzwerkforschung stammt aus der Zusammenführung paralleler, unterschiedlichen Fachtraditionen entspringender Entwicklungen vornehmlich in Deutschland und im angelsächsischen Raum. In Deutschland können wir Grundlagen der Netzwerktheorie in der Begründungsdebatte um die Soziologie als neue Fachdisziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden, während in Großbritannien und den USA die Netzwerkperspektive in der Psychotherapie und Anthropologie eher aus instrumentellem Interesse vorangetrieben wurde.

2.1 DEUTSCHLAND

Georg Simmel wird mit seiner Gegenstandsbestimmung der Soziologie (1908) als Begründer der relationalen Soziologie und theoretischer Ideengeber der Netzwerkanalyse betrachtet. Er beschreibt die Herausforderungen der damals neu zu begründenden Disziplin Soziologie in einem Dreischritt.

Simmel postuliert zunächst, dass Soziologie sich als Wissenschaft, welche die Gesellschaft zum Gegenstand hat, mit deren Konstitution und Formen beschäftigen muss. Diese Formen sind allerdings neben den vergesellschafteten Individuen vor allem die Wechselwirkungen zwischen ihnen.1 Somit ist Gesellschaft bei Simmel „einmal der Komplex vergesellschafteter Individuen, das gesellschaftlich geformte Menschenmaterial […]. Dann aber ist ‚Gesellschaft‘ auch die Summe jener Beziehungsformen, vermöge deren aus den Individuen eben die Gesellschaft im ersten Sinne wird“2.

Obwohl Simmel den Netzwerkbegriff nicht explizit benutzt, zeigen seine Ausführungen über die gesellschaftskonstituierenden Wechselwirkungen zwischen Individuen, dass der Begriff den Gedanken Simmels nicht fernliegt:

„[…] daß sie im allgemeinen noch nicht zu festen, überindividuellen Gebilden verfestigt sind, sondern die Gesellschaft gleichsam im status nascens zeigen – natürlich nicht in ihrem überhaupt ersten, historisch unergründbaren Anfang, sondern in demjenigen, der jeden Tag und zu jeder Stunde geschieht; fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Hier handelt es sich gleichsam um die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials, die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder hypostasiert. […] – all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen […] knüpfen uns unaufhörlich zusammen. In jedem Augenblick spinnen sich solche Fäden, werden fallen gelassen, wieder aufgenommen, durch andere ersetzt, mit anderen verwebt.“3

In diesem Zitat wird zweierlei deutlich: Zum einen konstruiert Simmel bereits eindeutig die Beziehungsstruktur zwischen den Individuen als Mikro-MakroLink, was die spätere Netzwerkforschung weiter ausbauen und differenzieren wird. Zum zweiten ist seine Sprache, wenn von Fäden, Verknüpfen und Verweben die Rede ist, schon damals nahe an der Netz-Metapher.

In den folgenden Kapiteln seines Buches untersucht Simmel spezielle Formen und Dynamiken dieser Wechselwirkungen. Er leitet soziale Prozesse innerhalb von Beziehungs-Triaden, also Beziehungskonstellationen zwischen drei Individuen, ab. Diese bilden, bekannt als die „Simmel’schen Triaden“, bis heute die mikroskopische Grundlage für netzwerktheoretische Ableitungen.4 Zudem betrachtet er den Zusammenhang von Gruppengröße und -kohäsion.5

Auch der Kölner Professor Leopold von Wiese schlug mit seinen Arbeiten „Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungsbedingungen der Menschen“ (1924)6 und „Soziologie – Geschichte und Hauptprobleme“7, das 1926 erstmalig erschienen und bis 1971 in neun Auflagen herausgegeben wurde, eine ähnliche Richtung ein. Sein Konzept der beziehungswissenschaftlichen Soziologie war auch sein Forschungsprogramm:

„Für die beziehungswissenschaftliche Soziologie ist diese Art der Verbundenheit das Objekt der Forschung, zu dem auch jene geschichtlichen Zeitabschnitte Stoff darbieten. Man kann es auch so ausdrücken: Nicht das Produkt, sondern die Beziehungen der Produzenten sind das Forschungsgebiet. […] Die Bindungs- und Lösungsakte, die Näherungen und Entfernungen sind die Vorgänge, in denen sich das ganze zwischenmenschliche Dasein abspielt.“8

Dieses Zitat zeigt, dass eine auf sozialen Beziehungen beruhende soziologische Theoriebildung die Dynamik dieser Wechselbeziehungen einbinden muss.

Von Wiese grenzt sich dabei dezidiert einerseits von substantialistischen, sich an der Lehre biologischer Organismen orientierenden Ansätzen9 und andererseits von individualistische Gegenstandsbestimmungen10 ab. Rückblickend ist er als Ausgangspunkt für die Netzwerkanalyse insofern relevant, als er die Beziehungsstruktur schon seinerzeit als Netz erkannt und bezeichnet hat:

„Die Soziologie hat vielmehr das soziale und zwischenmenschliche Geschehen zum Gegenstande. […] Es gibt eine soziale Sphäre des menschlichen Lebens; es besteht neben den Körpern und Seelen von Einzelmenschen ein unsubstanzielles Netz von Beziehungen zwischen ihnen.“11

Zudem bemerkte von Wiese die Nähe der beziehungswissenschaftlichen Soziologie zu ihrer grafischen Veranschaulichung: „Schon die hier vorgenommene Heraushebung der Bedeutung der sachlichen Beobachtung zeigt, wie eng die beziehungswissenschaftliche Soziologie mit der Soziographie verknüpft ist.“12

Wie in diesen beiden Darstellungen zu erkennen ist, war die relationale Perspektive von der ersten Stunde an in der Fachdiskussion um die Definition der soziologischen Disziplin verankert. Die beiden Vordenker beschrieben den Stoff, aus dem die Gesellschaft ist – das Beziehungsnetz –, mit der Intention zur Theoriebildung. Die Untersuchungseinheiten, die Wechselwirkungen oder Verknüpfungen, charakterisierten sie als dynamisch und prozesshaft. Die auf dieser ersten Exploration beruhende theoretische Tradition der relationalen Soziologie ist bis heute vor allem im deutschsprachigen Raum fortgeschrieben worden.13

2.2 USA/ENGLAND

Parallel zu den theoretischen Debatten in Deutschland entwickelte der Psychiater Jacob Levi Moreno einen Therapieansatz, der nicht wie die Psychoanalyse auf die biografische Vergangenheit fixiert ist, sondern – ausgehend von aktuellen emotionalen Beziehungen zur sozialen Umwelt und zur Arbeit – für die Genesung psychisch Kranker sorgen sollte. In dem Buch „Who shall survive?“14 stellte Moreno seinen Ansatz der Soziometrie vor. Er berechnete empirisch die Popularität von SchülerInnen in Schulklassen und leitete daraus LehrerInnenverhalten ab; darüber hinaus stellte er soziale Beziehungen zum ersten Mal grafisch dar, indem er einzelne Akteure je nach Attribut durch Dreiecke und Kreise und die Beziehungen zwischen ihnen durch Verbindungslinien symbolisierte.15 Mit dieser neuen Darstellungsform und ihrer Interpretation schuf Moreno wesentliche Grundlagen für die spätere Netzwerkforschung; mehr noch: Die Art und Weise der Darstellung sozialer Beziehungen hat sich bis heute kaum verändert.

Der britische Sozialanthropologe Alfred Reginald Radcliff-Brown trug als Vertreter einer weiteren Fachtradition ebenfalls zur Entstehung der Netzwerkforschung bei. In seinem Werk „On Social Structure“ (1940) benutzte er als erster den Begriff des Netzwerks, um soziale Strukturen zu beschreiben: „But direct observation does reveal to us that these human beings are connected by a complex network of social relations. I use the term ‚social structure‘ to denote this network of actually existing relations.“16

Radcliff-Brown grenzte sich von einigen Soziologen ab, die seiner Meinung nach einzelne soziale Beziehungen in Dyaden genauestens beschrieben, während er seinen Gegenstandsbereich in der Untersuchung ganzer Beziehungsnetzwerke zwischen vielen Personen als sozialen Strukturen sah, in denen überindividuell immer wieder formgleiche Konstellationen zu finden seien.17 Möglicherweise distanzierte er sich mit dieser Aussage implizit vor allem von Simmels relationaler Soziologie, der im zweiten Kapitel seiner „Soziologie“ das Augenmerk dezidiert auf die Beschreibung von Dyaden und Triaden legte.

Aus dem strukturalistischen Ansatz Radcliffe-Browns entwickelte sich die sogenannte Manchester-Gruppe18, die den Netzwerkansatz mithilfe ethnografischer Studien methodisch19 und theoretisch20 weiterentwickelte. Diese Gruppe begründete auch die Praxis der Untersuchung von ego-zentrierten Netzwerken.21

2.3 ZWISCHENFAZIT

Wie in der vorangegangenen Betrachtung gezeigt werden konnte, keimte der Gedanke, soziale Beziehungen als Forschungsgrundlage zu betrachten und analysieren, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Fachtraditionen und unterschiedlichen nationalen Forschungskontexten auf.

Seit Morenos einschlägigem Werk hat sich die Netzwerktheorie eng verknüpft mit ihrer Methodologie weiterentwickelt. Das führte mancherorts dazu, dass der Netzwerkforschung eine eigene Theoriebildung gänzlich abgesprochen wird. Für die weitere Betrachtung der Entwicklung dieses Forschungsstrangs ist es daher zweifellos angebracht, diese beiden Aspekte – Theorie und Methode – nicht getrennt, sondern zusammen zu betrachten.

3 THEORETISCHE NETZWERKSOZIOLOGIE

Heutige, allgemeine Grundlagen der Netzwerktheorie und -methode lassen sich relativ knapp darstellen. Die Grundannahme des Forschungsstranges lautet, dass soziale Beziehungen in Wechselwirkung mit individuellem und kollektivem Handeln sowie mit personalen, gruppenspezifischen und/oder gesellschaftlichen Outputs stehen. Je nach Fragestellung kann/können die soziale(n) Beziehung(en) demnach als unabhängige, abhängige, moderierende oder auch nur mediierende Variable in einem Forschungsdesign untersucht werden.

Akteure – ob einzelne Personen oder Kollektive – werden in Netzwerken als Knoten dargestellt. Sie besitzen einerseits, wie in jeder anderen Erhebung auch, Attribute (z. B. Alter, Geschlecht, Beruf usw.) und sind andererseits über soziale Beziehungen miteinander verbunden. Diese sozialen Beziehungen werden in Form von Kanten dargestellt. Kanten können unterschiedlichste Arten (E-Mailverkehr, Vertrauen, Treffen, gemeinsame Unternehmungen, Verwandtschaft, Zitation in Publikationen, Weisungsbefugnis, Hilfeleistungen usw.) und Stärken (Häufigkeit, Intensität, Dauer usw.) von sozialen Beziehungen darstellen. Sie können gerichtet sein, dann ist zwischen asymmetrischen und symmetrischen bzw. reziproken Beziehungen zu unterscheiden, oder ungerichtet.22

Abb. 1: Beispiel für ein Gesamtnetzwerk(eigene Darstellung)

Tab. 1: Entsprechende Ego-Netzwerke zu Abb. 1(eigene Darstellung)

Stellt man diese Knoten und Kanten für eine Gruppe grafisch dar, so erhält man ein Beziehungsnetzwerk. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, Netzwerke zu analysieren: zum einen als Gesamtnetzwerk, zum anderen als Egonetzwerke einzelner Akteure. Bei der zweiten Analysemöglichkeit werden je ein Knoten/Akteur und dessen direkte Kontakte untersucht.

Bis heute lässt sich in den verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Weiterentwicklungen die disziplinäre Heterogenität innerhalb der Netzwerkforschung identifizieren. So betonen z. B. Simmels „Wechselwirkungen“ die Fluidität und Prozesshaftigkeit sozialer Beziehungen, während Radcliffe-Brown seine Netzwerke als feste Strukturen beschreibt. Ausgehend von diesen ersten Werken wurde die Netzwerkforschung in der Mitte des 20. Jh. verstärkt im angelsächsischen Raum vorangetrieben, was zunächst eine sehr strukturalistische Forschungstradition hervorbrachte, die erst in den letzten Jahrzehnten durch andere Perspektiven ergänzt wurde.

3.1 STRUKTURALISTISCHE ANSÄTZE

Als eine der ersten empirischen Netzwerkforschungen ist wohl die Small World-Studie des Sozialpsychologen Stanley Milgram (1967) zu nennen. Milgram testete empirisch zwei sich widersprechende Thesen: Alle Menschen seien, erstens, miteinander verbunden und könnten sich gegenseitig über relativ wenige Zwischenstationen erreichen können. Zwischen Menschengruppen bestehen, zweitens, unüberwindbare Zwischenräume (gaps).23 Um herauszufinden, welche dieser Thesen (eher) zutrifft, händigte er einer willkürlich ausgesuchten Person in den USA einen Folder aus und gab ihr den Auftrag, diesen nur über jeweils Bekannte einer anderen willkürlich ausgesuchten Person zukommen zu lassen. Den Weg des Folders verfolgte Milgram nach und stellte dabei fest, dass dieser zwischen zwei und zehn Stationen variierte. Der Median lag bei fünf Stationen.24 In weiteren Studien testeten Milgram und seine Kollegen mit der Small World-Methode die Ergebnisse seiner ersten Studie experimentell25 und formulierten sich daraus ergebende weitere Fragen nach Verbindungen zwischen ethnischen Gruppen.26

Mit dieser Studie begründete Milgram eine Forschungsrichtung innerhalb der Netzwerkanalyse, die heute unter der Bezeichnung Diffusion Studies oder Flow-Netzwerke rangieren. Diese Studien untersuchen, wie schnell sich Dinge im Netzwerk verbreiten – zum Beispiel: Viren, Informationen/Gerüchte, Normen/Verhaltensweise, Innovationen, Geld usw. Bei der Gesamtbetrachtung des Netzwerks kann interessant sein, wie schnell sich etwas verbreitet, über welche Shortcuts Wege signifikant verkürzt oder durch das Herausnehmen eines Akteurs ganz unterbrochen werden können. Mit Blick auf den einzelnen Knoten im Netzwerk werden Fragen nach dessen Position, dessen Zugang zu oder Kontrolle über Flows relevant.27

Abb. 2:links: Netzwerk mit geringer Dichte;rechts: Netzwerk mit höherer Dichte (eigene Darstellung)

Ein weiteres frühes Maß für die Beschreibung von Netzwerken ist die Netzwerkdichte (Density). Die Dichte wird seit den frühen Aufsätzen von John Barnes aus dem Verhältnis aller möglichen Verbindungen im Netzwerk zu den real existierenden Beziehungen berechnet.28 Bis heute stellt diese Maßzahl, wahlweise für das gesamte Netzwerk, Ego-Netzwerke oder einzelne Subgruppen berechnet, eines der grundlegenden Indizes für die Geschlossenheit des Netzwerks dar.

Die vielleicht ältesten Netzwerk-Messkonzepte, die aus der Struktur von Netzwerken bzw. der Position einzelner Knoten in einem Netzwerk Handlung(soptionen) für die einzelnen Knoten oder das Gesamtnetzwerk ableiten, sind die Zentralitätsmaße. Zentralität bezeichnet die Position einzelner Knoten im Netzwerk im Verhältnis zu den anderen Knoten und geht von der Idee aus, dass Knoten, die an zentralen Positionen verortet sind, mehr Handlungsoptionen und Einfluss akkumulieren können als Knoten, die sich eher in der Peripherie befinden.29 Schon seit den 1940er Jahren wurden am Massachusetts Institute of Technology (MIT), beginnend mit den Forschungstätigkeiten von Harold Leavitt30 und Sidney Smith31, die Zentralität von Netzwerkknoten und deren Auswirkung auf das Verhalten von Akteuren einerseits und die Zentralisierung von gesamten Netzwerken andererseits untersucht. Robert L. Burgess fasste 1969 die Forschungsaktivitäten und Ergebnisse des MIT bezüglich des Verhaltens von Akteuren in Kommunikationsnetzwerken hinsichtlich ihrer Zentralität zusammen.32 Er stellte fest, dass die Forschungsaktivitäten von der Hypothese ausgingen, dass Zentralität in Kommunikationsnetzwerken zu größerem Einfluss führt, konnte diese These jedoch nicht eindeutig belegen.

Erst später nahm Linton Freeman in seinem wegweisenden Aufsatz „Centrality in Social Networks: Conceptual Clarification“33 eine Systematisierung und Vereinheitlichung von insgesamt neun Zentralitätsmaßen vor, die sich alle graphentheoretisch berechnen lassen und von denen er jeweils Implikationen für die Handlungsoptionen der Akteure ableitete. Freeman identifizierte die Degree-basierte Zentralität, die aus der absoluten Anzahl von direkten Verbindungen eines Knotens berechnet wird und damit als Indikator für dessen Kommunikationsaktivität(spotenzial) gilt. Des Weiteren beschrieb er die Betweenness-basierte Zentralität, welche die Häufigkeit misst, in der ein Knoten auf der kürzesten Verbindung zwischen zwei anderen Knoten liegt. Diesem Maß attestierte er die potenzielle Kontrolle über Kommunikation. Drittens entwickelte er works 1 (1978/79), S. 215–239. die Closeness-Zentralität. Sie misst die Nähe zu jedem anderen Punkt im Netzwerk und damit nach Freemans Modell die relative Unabhängigkeit eines Knotens bzw. die Möglichkeit, Kommunikationskontrolle durch andere Knoten zu umgehen. Jedes dieser drei Zentralitätsmaße lässt sich absolut oder relativ zu den anderen Knoten im Netzwerk berechnen. Zudem lassen sich aus allen drei Zentralitätsmaßen Zentralisierungsindizes für Gesamtnetzwerke ableiten und berechnen. Mit diesem Aufsatz hat Freeman einige Klärung in die Diskussion um die Zentralität in Kommunikationsnetzwerken gebracht. Bis heute werden seine Berechnungskonzepte auf Netzwerkgraphen angewandt.34

Empirische Untersuchungen, die Thesen von Freemans Zentralitätskonzepten in Tauschnetzwerken testeten, konnten diese jedoch nicht (immer) bestätigen.35Philip Bonacich36 fand z. B. heraus, dass in Tauschnetzwerken nicht nur die Zentralität eines Knotens, sondern auch die Macht der mit ihm direkt verbundenen Knoten ausschlaggebend für seine eigenen Möglichkeiten ist. Er entwickelte ausgehend von dieser theoretischen Annahme das Eigenvektormaß, das die Zentralität von Knoten im Netzwerk unter Einfluss der Zentralität der direkt verbundenen Knoten misst.37

Maßgeblich für die Entwicklung einer graphentheoretischen Netzwerktheorie war Mark Granovetters 1973 veröffentlichter Aufsatz „The Strength of Weak Ties“38. Er problematisierte die bisherige Forschungspraxis, die sich hauptsächlich auf die Untersuchung starker Verbindungen (strong ties) zwischen Individuen in Ego-Netzwerken fokussiert habe, indem er die potenziellen Vorteile schwacher/loser Verbindungen (weak ties) für Individuen in Gesamtnetzwerken betonte. Starke Verbindungen verweisen hier auf eine hohe Kontakthäufigkeit bzw. großen Informationsaustausch oder auch emotionale Nähe zwischen zwei Knoten und werden meist in durchgezogenen, breiten Linien dargestellt. Schwache Verbindungen hingegen bezeichnen eine geringe Kontakthäufigkeit und eher seltene Kommunikationshandlungen. Meist werden sie durch unterbrochene oder schmale Linien dargestellt. Ausgehend von der These relativer Homogenität in eng verbundenen Gruppen wies Granovetter auf die besondere Rolle schwacher Bindungen hin.39 Diese schwachen Verbindungen können zu Brücken (bridges) zwischen in sich stark verbundenen Gruppen werden, über die dann heterogene Informationen (z. B. über offene Stellen) zwischen den Gruppen ausgetauscht werden können.40 In der Regel bilden sich solche Brücken zwischen zwei in der Organisationsforschung sogenannten Liaison-persons, die Granovetter als „Individuals with many weak ties“ identifiziert. Mit diesem Aufsatz leistete Granovetter zudem einen Beitrag zur allgemeinen Debatte um die Verknüpfung von Mikroperspektiven und Makrostrukturen in der soziologischen Theorie:

„The major implication intended by this paper is that the personal experience of individuals is closely bound up with larger-scale aspects of social structure, well beyond the purview or control of particular individuals. […] weak ties […] are here seen as indispensable to individuals’ opportunities and to their integration into communities; strong ties, breeding local cohesion, lead to overall fragmentation.“41

Nach einigen empirischen Arbeiten und theoretischen Diskussionen um seine Theorie veröffentlichte Granovetter selbst 1983 eine Revision derselben, in der er seinen Ansatz ausdifferenzierte.42 Hier formulierte er die jeweiligen netzwerkstrukturellen Vor- und Nachteile starker und schwacher Bindungen.

Knapp zwanzig Jahre später veröffentlichte Ronald Burt seinen netzwerktheoretischen Band „Structural Holes. The Social Structure of Competition“43 (1992). Aus der Sozialkapitaltheorie leitete er die Netzwerkvorteile von Akteuren mit nicht-redundanten (nonredundant) Beziehungen hinsichtlich ihres Zugangs zu Informationen und Kontrolle ab. Der Theorie des sozialen Kapitals zufolge erzielen sie effektiver und effizienter als andere Akteure Netzwerkgewinne.

Schon in diesem Band diskutierte Burt die Ähnlichkeit seines Ansatzes zu den weak ties von Granovetter. Er argumentierte jedoch, dass sein Ansatz gehaltvoller sei, da nicht die weak ties, sondern eben die strukturellen Löcher kausale Bedingung für die Netzwerkvorteile eines Akteurs seien.44 Dennoch bleibt festzuhalten, dass beide Autoren innovativ für die Netzwerk-Theoriebildung waren, da sie Kriterien für strategische, zweckgebundene Vernetzung entwickelten.

Abb. 3: Bridges (Granovetter)45

Abb. 4: Strukturelle Löcher (Burt)46

Aus diesen strukturalistischen Ansätzen, speziell aus der Sozialkapitaltheorie von Burt, lassen sich nun – abhängig von der jeweiligen Akteursposition – strukturelle Rollen in Netzwerken ableiten, die im Verhältnis zu den anderen Akteuren/Positionen mit besonderen Ressourcen ausgestattet sind. Theoretische und empirische Aufsätze widmeten sich bereits bestimmten Rollen in spezifischen Netzwerkkonstellationen. So beleuchtet z. B. Ronald Burt47 die Rolle von „opinion leaders“ bzw. „opinion brokers“ in Diffusionsnetzwerken und Sozialkapitalansätzen. Interessanterweise sagt Burt,48 dass Kohäsion (starke Bindung) und strukturelle Äquivalenz (ähnliche Beziehungsstrukturen) die Netzwerkvoraussetzungen für „Ansteckung“ seien. Er identifiziert diese „Makler“ oder „Vermittler“ als diejenigen, die durch ihre starke Bindung (Kohäsion) zu einem Knoten einer fremden Gruppe im Netzwerk Informationen oder Innovationen streuen und damit auch kontrollieren können. Diffusion in einer Gruppe entsteht dann durch strukturelle Äquivalenz. Burt bezeichnet diese „opinion brokers“ im Kontext des Sozialkapitalansatzes auch als „network entrepreneurs“, deren Broker-Tätigkeit sich in schnellerem sozialen und beruflichen Aufstieg, positiverem Ansehen, höherer Bildung und überdurchschnittlicher eigener Mobilität49 und in rascherer Informationsverarbeitung und Lösungsfindung für das Gesamtnetzwerk manifestiert.

Aus dieser Perspektive – je nach ihrer Position in Netzwerken haben Akteure bessere oder schlechtere Zugänge zu Informationen, Ressourcen oder Prestige – wurde innerhalb der Netzwerktheorie der Begriff des sozialen Kapitals neu definiert. Sozialkapitalansätze begreifen in Anlehnung an Pierre Bourdieu50 grundsätzlich soziale Beziehungen als soziales Kapital, welches in andere Kapitalsorten umgewandelt werden kann und dadurch sozialstrukturell von Bedeutung ist. Unter dem Label „soziales Kapital“ werden daher Netzwerkkonstellationen auf die strukturellen Vor- und Nachteile der Akteure hin untersucht.51 Ronald Burt ist einer der bekanntesten Theoretiker, der soziale Beziehungen als soziales Kapital und Link zwischen individuellen Attributen und Sozialstruktur entwickelt hat.52

Abb. 5: Beispiel einer Blockmodellanalyse53

Einen induktiven Weg, um Rollen in Netzwerken zu identifizieren, zeigen White et al. mithilfe der Blockmodellanalyse. In ihrem Aufsatz „Social Structure from Multiple Networks: I. Blockmodels of Roles and Positions“ entwerfen die Autoren eine Methode, die mittels der Analyse der Netzwerkmatrizen über die Anordnung von gleichförmigen Beziehungsmustern (Blöcke) äquivalente Positionen im Netzwerk identifiziert, die dann wiederum je nach Netzwerk als bestimmte Rollen interpretiert werden können.54 Mithilfe fünf bereits bestehender Datensätze von Netzwerken konnten die Autoren je nach Netzwerkart bestimmte Rollen ausmachen, die für den Erklärungszusammenhang von Bedeutung sind.

Als theoretische Verankerung netzwerkanalytischer Überlegungen wird zum einen gerne die soziologische Systemtheorie nach Luhmann55 und zum anderen Bourdieus Kapitaltheorie genannt. In letzterer werden soziale Netzwerke als soziales Kapital begriffen und operationalisiert.56

So entwickelte die strukturalistische Netzwerktheorie nach und nach Analyseverfahren zur immer genaueren Bestimmung von Positionen, Gruppierungen und Dynamiken in Netzwerken. Ihnen allen gemein ist die starke Betonung der Struktur vor allem als Einflussfaktor für individuelle und kollektive Outputs. Jedoch wurde, ähnlich wie bei anderen strukturalistischen Theorieansätzen, zunehmend Kritik an diesen engen Grundannahmen und der damit einhergehenden Vernachlässigung anderer Perspektiven geübt. Entsprechend wurde die Netzwerktheorie um andere theoretische Blickwinkel ergänzt und somit die gesamte theoretische Debatte über soziale Netzwerke erweitert.

3.2 KRITIK AM STRUKTURALISTISCHEN ANSATZ DER NETZWERKTHEORIE UND NEUE PERSPEKTIVEN

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regte sich allerdings einige Kritik am rein strukturalistischen Ansatz der bisherigen Netzwerkforschung. Die aus dieser Kritik entstehenden neuen Arbeiten leiteten den Cultural Turn in der Netzwerksoziologie ein. Zwei Werke gelten als bahnbrechend für diese neue Phase:

Harrison White integriert in seinem Buch „Identity and Control“57 Struktur und Kultur in der Netzwerktheorie. Ausgehend von den Konzepten der Identität, Kontrolle und Netzwerkdomänen konstituiert White Netzwerke als „fluide, mehrlagige Beziehungsstrukturen, die auf Bedeutungszuschreibungen basieren und selber Bedeutungen generieren. Bedeutungen gerinnen und formieren sich zu Geschichten. Geschichten entstehen somit als Begleiterscheinung des Wechselns zwischen Netzwerkdomäne, die neue Bedeutungszuschreibungen ermöglichen, und sind Interpretationen von Beziehungen.“58 Mit diesem Cultural Turn begründete White einen Paradigmenwechsel in der Netzwerksoziologie.

Mustafa Emirbayer löste mit seinem „Manifesto for a Relational Sociology“ eine weitere Welle in Richtung einer theoretischen Fundierung der relationalen Soziologie als neuen Paradigmas für die soziologische Theoriebildung aus. Anhand klassischer soziologischer Konzepte zeigt er deren relationale Perspektive auf den verschiedenen Ebenen und fordert damit, soziologische Theorie grundsätzlich relational zu begründen.59 Emirbayer lässt in diesem Manifest auch die Probleme, die die klassische, strukturalistische Netzwerktheorie für eine umfassende soziologische Theoriebildung aus relationaler Perspektive beinhaltet, wie etwa die Abbildung von Dynamik und das Hervorbringen kausaler Erklärungen, nicht unerwähnt. Als weitere Herausforderung betrachtet er die Möglichkeit individuellen Handelns (agency) aus relationaler Perspektive, die er anschließend selbst in einigen Aufsätzen diskutiert.60 Bei dieser Frage sieht er besonders starken Entwicklungsbedarf.

Ausgehend von diesen beiden bahnbrechenden Arbeiten versuchen Netzwerksoziologen seither, die blinden Flecken der strukturalistischen Netzwerktheorie im Rahmen einer neuen relationalen Soziologie zu bearbeiten.61 So konzeptioniert Rainer Schützeichel in seinem Aufsatz „Ties, Stories and Events“62 unter Bezugnahme auf Charles Tilly Netzwerke als Prozesse von Ereignisfolgen, die sich auf Handlungsakte gründen,63 und versucht damit, deren Dynamik theoretisch zu fassen. Matthias Koenig wägt in seinem Beitrag „Soziale Mechanismen und relationale Soziologie“ die Erklärungskraft der relationalen Soziologie für soziale Mechanismen ab.64

In empirischen Studien konnte zudem die Kulturabhängigkeit von Netzwerkbildung und -effekten gezeigt werden. So fanden Burt et al. heraus, dass Manager in Frankreich und den USA ihr soziales Kapital durch strukturelle Löcher unterschiedlich bewerten und dadurch auch andere Outputs erzielen.65 Zhixing Xiao und Anne Tsui66 zeigten dementsprechend, dass in der kollektivistisch orientierten Kultur Chinas Brokerpositionen sogar negative Effekte auf die Karriereentwicklung haben:

„Brokers do not fit with the collectivistic values of China. Further, the more an organization possesses a clean-like, high-commitment culture, the more detrimental are structural holes for employees’ career achievements […]. In high commitment organizations, the ‚integrators‘ who bring people together to fill structural holes enjoy greater career benefits“67.

Der kulturellen Wende folgten auch persönlichkeitsorientierte Erweiterungen. Sie gehen davon aus, dass nicht allein die Position im Beziehungsnetzwerk über den Erfolg eines Akteurs entscheidet, sondern der Akteur auf dieser Position sie auch zu nutzen wissen muss. Mit anderen Worten: Verschiedene Personen können dieselbe Netzwerkposition sehr unterschiedlich ausfüllen und entsprechend unterschiedliche Ergebnisse erzielen. So müssen nach Burt, Kilduff und Tasselli68 Broker bestimmte Fähigkeiten besitzen, um ihre Position im Netzwerk zu gestalten und für sich nutzen zu können, um hier nur ein Beispiel zu nennen.

3.3 DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE (ANT)

Eine auf ihre Art und Weise radikale Position innerhalb der relationalen Soziologie vertritt die Akteur-Netzwerk-Theorie69, die – ursprünglich aus der Technikforschung stammend – auch nicht-menschliche Akteure in die Netzwerktheorie einbezieht. Dabei geht sie von folgender Prämisse aus:

„Natur, Technik und Gesellschaft entstehen als ko-konstitutives Resultat der wechselseitigen Relationierung – der Netzwerkbildung – heterogener Entitäten. Die Unterscheidung zwischen Natur, Technik und Gesellschaft darf deshalb bei der wissenschaftlichen Beobachtung der entsprechenden Prozesse des Netzwerkbildens nicht verwendet werden.“70 Damit definiert sich in der ANT jeder Akteur als „[…] jegliche Entität, der es mehr oder weniger erfolgreich gelingt, eine Welt voller anderer Entitäten mit eigener Geschichte, Identität und Wechselbeziehungen zu definieren und aufzubauen“.71

Die ANT zielt folglich darauf ab, die heterogenen Prozesse zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren in Netzwerken zu erklären, in denen sich Akteure selbst erst konstituieren und verändern.72

3.4 MARKT – HIERARCHIE – NETZWERK: UNTERNEHMENSSOZIOLOGISCHE VERWENDUNG DES NETZWERKBEGRIFFES