Neuere deutsch-jüdische Geschichte - Thomas Brechenmacher - E-Book

Neuere deutsch-jüdische Geschichte E-Book

Thomas Brechenmacher

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Beschreibung

This volume provides an introduction to modern German&Jewish history, from the late Middle Ages to the twentieth century, using analytical categories such as ?migration=, ?inclusion/exclusion=, ?assimilation/acculturation=. The emphasis is less on offering a chronological narrative than on issues that are currently being examined in current research on German&Jewish history. Two chapters on historiographic narratives and methods of research round off the volume, along with a comprehensive bibliography on modern German&Jewish history. The book is intended for everyone wishing to familiarize themselves with the topic alongside academic courses, or in independent study.

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Thomas Brechenmacher/Michał Szulc

Neuere deutsch-jüdische Geschichte

Konzepte – Narrative – Methoden

Verlag W. Kohlhammer

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021417-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026219-5

epub:    ISBN 978-3-17-026220-1

mobi:    ISBN 978-3-17-026221-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Michael Wolffsohn,dem Freund und Lehrer

 

            Inhalt

 

 

Vorwort

1 Die Räume und Themen der deutsch-jüdischen Geschichte

2 Kategorien und Konzepte

Migration

Sepharden – Aschkenasen – »Ostjuden«

Stadt – Land

Inklusion – Exklusion

Hofjuden – Schutzjuden – Privilegierungen

Bürgerliche Verbesserung – Toleranz – Emanzipation

Aufklärung (haskala) – säkulare (Wissenschaft des Judentums) und religiöse Reform (Konfessionalisierung)

Verbürgerlichung – deutsch-jüdische Symbiose

Assimilation, Akkulturation und Identität

Jüdische Renaissance und Zionismus (Volk – Nation – Kultur)

Antisemitismus

3 Theorien, Narrative und Interpretationen

Historiographische Deutungen

Theorien zu Judenfeindschaft und Antisemitismus

4 Methoden

Klassisch-historistisch-hermeneutische Methoden

Sozialgeschichtliche Zugriffe

Kulturwissenschaftliche Methoden

5 Schluss: Wozu deutsch-jüdische Geschichte?

6 Bibliographischer Leitfaden zur neueren deutsch-jüdischen Geschichte

Lexika, Handbücher, Nachschlagewerke

Einführungen und Standardwerke

Biographische Nachschlagewerke

Bibliographien

Quelleneditionen und -sammlungen

Kategorien und Konzepte

Migration, Demographie, Statistik

Aschkenasen – Sepharden – »Ostjuden«

Stadt – Land

Hofjuden – Schutzjuden – Privilegierungen

Bürgerliche Verbesserung – Toleranz – Emanzipation

Aufklärung (haskala) – säkulare und religiöse Reform

Verbürgerlichung – deutsch-jüdische Symbiose – Assimilation, Akkulturation und Identität

Jüdische Renaissance und Zionismus (Volk – Nation – Kultur)

Antisemitismus

Historiographie (Narrative und Methoden)

Periodika zur deutsch-jüdischen Geschichte

Forschungsinstitutionen und -einrichtungen, Bibliotheken, Archive

Anmerkungen

Register

Personenregister

Sachregister

 

Vorwort

 

 

Das Thema der deutsch-jüdischen Geschichte ist das Leben der jüdischen Minderheit innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsumgebung in jenen Gebieten Europas, die – in unterschiedlichen staatlichen Formationen – als »Deutschland« gelten. Das vorliegende Buch will einen Einblick in die frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Grundbedingungen und -strukturen dieses Lebens geben und in die Methoden und Möglichkeiten einführen, dieses Leben wissenschaftlich zu erforschen und zu beschreiben.

Die lange Tradition jüdischen Lebens in Deutschland und Europa, mit all ihren Höhen und Tiefen, mündete in der Mitte des 20. Jahrhunderts in eine von Deutschen ersonnene und ausgeführte Katastrophe (Shoah). Die Vernichtung von 6 Millionen deutscher und europäischer Juden hätte das Ende des »europäischen Zeitalters der Juden« (Friedrich Battenberg) bedeuten können. Die Jahrzehnte der Nachkriegszeit, als nur noch wenige Zehntausend Juden in den beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches lebten – viele von ihnen mit dem Gefühl, auf »gepackten Koffern« zu sitzen –, schienen diese Befürchtung zu bestätigen. Doch nach dem Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges und nach der deutschen Wiedervereinigung erwies sich, dass glücklicherweise das Gegenteil der Fall ist: In Europa und speziell in Deutschland entstand und entsteht noch weiterhin neues jüdisches Leben. Es knüpft mitunter an die durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Zweiten Weltkrieg abgerissenen Traditionen an, zeigt sich aber auch – beispielsweise durch die russisch-jüdischen »Kontingentflüchtlinge« oder eine Vielzahl junger Menschen aus Israel, die von Metropolen wie Berlin angezogen werden – in vielgestaltigen neuen Formen.

Trotz des durch sie markierten Zivilisationsbruchs war die Shoah nicht der Endpunkt europäisch-jüdischen und deutsch-jüdischen Lebens. Sie war auch nicht jener Punkt, auf den die Entwicklung zwangsläufig zusteuerte. Auch wenn »Geschichte« immer erst durch rückschauende Konstruktion entsteht, muss sich der Historiker davor hüten, allzu einfache Kausalitätslinien zu ziehen. Aber er hat doch die Aufgabe, durch reflektiertes und methodisches Vorgehen, Tendenzen und Strukturen aufzuzeigen, und das, »was war«, analytisch wie begrifflich zu fassen. Zweifellos muss der Historiker im Fall der deutsch-jüdischen und der europäisch-jüdischen Geschichte immer erklären, wie es kommen konnte, nicht jedoch, dass es hatte kommen müssen. Das ist freilich nur ein Teil seiner Aufgabe. Zu ihr gehört auch zu zeigen, dass es eine facettenreiche, vielfältige, deutsch-jüdische Vergangenheit gab, mit Scheitern, Gewalt und Verbrechen, aber genauso mit Gelingen, Erfolg und Höhepunkten. Dazwischen Grau in unendlichen Schattierungen (Thomas Nipperdey). Geschichte als wissenschaftlich geleitete Re-Konstruktion des Vergangenen darf nie Schwarzweiss-Malerei sein, sondern hat stets die Zwischentöne, das Kontingente, das Mögliche im Gewesenen, aufzuzeigen.

Diesen Überlegungen folgend, verzichtet die vorliegende Einführung darauf, eine »Meistererzählung« der deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit zu geben (zahlreiche solcher Erzählungen liegen vor); sie erhebt nicht den Anspruch, möglichst viele Ereignisse und Begebenheiten zu referieren oder unzählige Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Sie arbeitet vielmehr mit Schlaglichtern auf aussagekräftige Zusammenhänge. Sie will Zugänge zur deutsch-jüdischen Geschichte öffnen, indem sie zunächst analytischen Schlüsselbegriffen und -konzepten diachron, quer durch die Epochen, folgt, sich anschließend zentralen Theorieansätzen und historiographischen Narrativen zuwendet und schließlich ein Spektrum von Methoden entfaltet, aus denen Erkenntnisse über die deutsch-jüdische Geschichte gewonnen werden können. Sie will zum Studium dieser Geschichte in ihrer europäisch-jüdischen Verflechtung anleiten und den wissenschaftsdisziplinären Charakter der deutsch-jüdischen Geschichte als eines Teils der Geschichtswissenschaft aber auch der Jüdischen Studien betonen. Sie will anregen zum vertieften Eigenstudium. Diesem Ziel dient nicht zuletzt die umfängliche Bibliographie im Schlussteil dieses Bandes.

Das Buch verarbeitet Erfahrungen aus der langjährigen Praxis in Lehre und Forschung an der Professur für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Potsdam. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird deutsch-jüdische Geschichte in Potsdam im Kontext eines kulturwissenschaftlichen Konzepts der Jüdischen Studien betrieben. Geschichtswissenschaft, Philosophie, Literatur- und Religionswissenschaft wirken hierin interdisziplinär zusammen; seit 2012 ist den Jüdischen Studien mit dem Institut für Jüdische Theologie ein Pendant zur Seite getreten, das sich umfassend der Erforschung und Praxis jüdischer Religiosität widmet. Das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien sowie das Abraham-Geiger-Kolleg als Rabbiner- und Kantorenseminar ergänzen dieses Spektrum über die Universität hinaus. Nicht zuletzt wirkt das Zentrum jüdische Studien Berlin-Brandenburg mit seiner Graduiertenschule als Institution zur Bündelung möglichst vieler wissenschaftlicher Initiativen und Interessen im Großraum Berlin. So hat sich dieser Raum von Potsdam aus in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum wissenschaftlicher Befassung mit Juden und Judentum in Deutschland und Europa entwickelt. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit will der vorliegende Band auch auf dieses ideale und inspirierende Umfeld für Forschung und Lehre hinweisen.

Namentlich geht unser Dank an Ulrike Wendt, die sich der Revision des Anmerkungsapparates angenommen hat. Für Anregungen, Hinweise und Kritik danken wir Prof. Dr. Nathanael Riemer (Potsdam); außerdem Prof. Dr. Yfaat Weiss und dem Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem für das Michał Szulc gewährte Forschungsstipendium. Dr. Daniel Kuhn betreute den Band beim Verlag Kohlhammer mit nie endender Geduld und schließlich zupackendem Engagement in der abschließenden Produktionsphase. Dr. Philipp Salamon-Menger (Wiesbaden) gilt ein besonderer Gruss an dieser Stelle; er weiss, warum.

Vor allem aber danken wir unseren Potsdamer Studentinnen und Studenten für ihre wache Präsenz in unseren Lehrveranstaltungen, die eine akademische Atmosphäre auch unter »Bologna-Bedingungen« am Leben hält. Dieses Buch entsprang aus der akademischen Lehre, und sein Zweck wäre erreicht, könnte es ihr wiederum dienen.

 

1

            Die Räume und Themen der deutsch-jüdischen Geschichte

 

 

Epochen und Grenzen

Forschung und Lehre zur deutsch-jüdischen Geschichte1 überschreiten die etablierten Disziplinengrenzen des historischen Fachs: Mittelalter, Frühe Neuzeit, Neuere Geschichte, Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Osteuropäische Geschichte. Diese Einteilung ist zweifellos sinnvoll unter Aspekten der Methoden und spezifischer Kompetenzen, etwa paläographischer oder sprachlicher Kenntnisse. Allerdings verstellt eine zu kleinteilige fachliche Segmentierung den Blick auf die langen Zeiträume, auf die größeren Zusammenhänge und tieferliegenden Strukturen. Auf keinen Fall kann deutsch-jüdische Geschichte in den engen Grenzen einer Nationalgeschichte abgehandelt werden, wenngleich das Kaiserreich von 1871 oder die Weimarer Republik ohne Zweifel Phasen eines verdichteten und besonders intensiven jüdischen Lebens in Deutschland definieren. Doch ebensosehr müssen (mindestens) die deutschsprachigen Teile des Habsburgerstaates miteinbezogen werden, aber auch böhmische, mährische und ungarische Länder und diejenigen Teile Polens, die 1772 und 1795 an Österreich fielen. Gleiches gilt für Preußen: einige jüdische Familien wurden 1671 durch Kurfürst Friedrich Wilhelm in der Mark Brandenburg zugelassen. Für den quantitativen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung Preußens waren aber die Annexionen des 18. Jahrhunderts (Schlesien, polnische Teilungen) ungleich bedeutender; die größte jüdische Bevölkerungsdichte (6,4 %) wies Preußen im Großherzogtum Posen, der späteren Provinz Posen, auf. Im Westen hingegen markiert der Verlauf des Rheins alte jüdische Siedlungsgebiete, deren politische Zugehörigkeit oftmals wechselte; am Beispiel Elsass-Lothringens mit seinem signifikanten jüdischen Bevölkerungsanteil wird dies besonders deutlich.

Das Alte Reich, die Übergangsformen der »Franzosenzeit« mit dem Königreich Westphalen und dem Großherzogtum Berg, mit Rheinbund und Großherzogtum Warschau, der Deutsche und Norddeutsche Bund, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, das Deutsche Kaiserreich, deren Nachfolgestaaten nach 1918 sowie schließlich das nationalsozialistische »Dritte« und dann »Großdeutsche Reich« mit den ihm seit 1939 unterworfenen europäischen Gebieten markieren die politischen Räume, in denen sich deutsch-jüdische Geschichte abspielte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommen die Bundesrepublik Deutschland und die DDR als Staatenräume einer sich langsam erneuernden deutsch-jüdischen Geschichte hinzu. Diese steht in steter Verflechtung mit der europäisch-jüdischen Geschichte. Sie entfaltet sich in wechselnden Zentren und von den Peripherien her, in unterschiedlich akzentuiertem Austausch und variierenden Zuordnungen. Dieses Wechselspiel lässt sich abbilden unter dem Begriff der Migration, denn Wanderungsströme prägen die Geschichte der jüdischen Minderheit in Europa, und speziell über Mitteleuropa hinweg auf besondere Weise.

Räume, Migration, Siedlungsformen

Die Frage nach den geographischen und politischen Räumen der deutsch-jüdischen Geschichte fordert geradezu eine überepochale Betrachtungsweise. Vor allem der deutsch-jüdische Soziologe Werner Jacob Cahnman(n) hat in seinen Studien die Augen für das geographisch-räumliche Bild der deutsch-jüdischen Geschichte geöffnet.2 Cahnman unterschied zwei sehr unterschiedlich geprägte geographische Räume, in denen sich zunächst eine ältere, »rheinisch-französisch« akzentuierte deutsch-jüdische Geschichte entfaltet habe, von der eine jüngere, um 1648 beginnende deutsch-polnische Phase zu unterscheiden sei. Vom Mittelalter zur Neuzeit hin habe sich das Gewicht, diesem Modell folgend, von West nach Ost verlagert. Zum 19. Jahrhundert hin bildete die »Ost-Schiene« dann ihrerseits je einen Nord-Ost- und einen Süd-Ost-Schwerpunkt aus. Als große Zentren jener Schwerpunkte können Frankfurt am Main stellvertretend für die Tradition des deutsch-jüdischen Westens, Hamburg und Berlin für einen hochdeutsch-jüdischen Nordosten sowie Wien und Prag für einen stärker jiddisch geprägten Südosten stehen.3

Dieser idealtypisch gezeichnete geographische Raum wird feingegliedert durch die jeweils bevorzugten Siedlungsformen deutscher Juden, die sich ihrerseits, wiederum bestimmten Entwicklungslinien der longue durée folgend, als epochenspezifisch prägend kennzeichnen lassen: groß- bzw. reichsstädtisch – kleinstädtisch – ländlich und wiederum ländlich/kleinstädtisch – groß- bzw. residenz- und handelsstädtisch, schließlich metropolitan. Migrationsströme und die damit verbundenen fundamentalen Veränderungen der Siedlungsschwerpunkte können als Indikatoren für epochale Umbrüche in der Geschichte der deutschen und europäischen Juden gelten.

Migrationsströme stehen auch am Beginn der Herausbildung der beiden Großgruppen des europäisch-mittelmeerischen Judentums seit der Spätantike: Sepharden und Aschkenasen. Beide Gruppen unterscheiden sich im religiösen und kulturellen Habitus, der wiederum abhängig ist von den Erfahrungen in den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften, mit allen Konsequenzen für Rechtsstellung, Sozial- und Berufsstruktur. Ökonomische, soziale und Fragen des rechtlichen Status der Minderheit entwickeln sich ihrerseits zu Push- und Pull-Faktoren für Migration. Das gilt für Mittelalter wie Neuzeit: in welchen sozialen und Rechtsräumen werden Juden geduldet, mit welchem Status? Welche Räume bieten sich zu welchem Zeitpunkt als Räume der Aufnahme an, zu welchen Bedingungen? Dies sind ins Räumliche gewendete Aspekte des schlechthin zentralen Themas der Inklusion und Exklusion.

Inklusion und Exklusion

Deutsch-jüdische (und cum grano salis europäisch-jüdische) Geschichte ist die Geschichte einer diskontinuierlichen Inklusion, die phasenweise und unter ständiger Gegenwirkung desintegrativer Kräfte zu gelingen schien, zuletzt jedoch auf gewalttätigste Weise negiert wurde. Sie steht in unablösbarem Zusammenhang mit der Gewaltgeschichte des Christentums einerseits und mit der alles andere als »unbefleckten« Geschichte der europäischen Modernisierung andererseits, ihren jeweiligen Rückschlägen und ihrem schließlichen, abyssischen Ausbruch absoluter Zivilisationsferne im 20. Jahrhundert als der dunklen, ins Nationalistische und schließlich Deterministisch-rassistische gekehrten Seite der rationalistischen Fortschrittsideologie der Epoche.

Die Variationen des großen Inklusionsthemas mit seinem steten Kontrapunkt der ausschließenden (exkludierenden) Bewegungen lassen sich für die deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit gleichfalls geographisch-räumlich und zeit-räumlich bestimmen. Das ältere kaiserliche Schutzjudentum wurde mediatisiert und zur Frühen Neuzeit hin neu definiert, so dass, zumal in den neuen höfisch-absolutistischen Herrschaftskomplexen seit dem 17. Jahrhundert, zahlreiche Formen von Privilegierungen entstanden (Hofjuden, Generalprivilegierte, etc.). Diese Rechte waren funktional, von den Herrschern ad personam zugeteilt, um nicht zu sagen, verkauft worden. Aber sie konnten in einen Modernisierungsdiskurs Eingang finden, der zunehmend nach dem »Wert« aller für das »gute« Staatswesen fragte und, von Einzelverhältnissen abstrahierend, an Homogenisierung interessiert war. Hier war der Weg vom »nützlichen Untertanen« zum Staatsbürger vorgezeichnet, und gerade für die Angehörigen der jüdischen Minderheit sollte definiert werden, unter welchen Voraussetzungen ihre »bürgerliche Verbesserung« erreicht und mit welchen Statusgewinnen dieser Schritt belohnt werden konnte. Überlegungen dieser Art gingen von den aufgeklärt-absolutistischen Staaten aus, das spät-friderizianische Preußen sowie das josephinische Reform-Österreich an ihrer Spitze. Quer dazu lief die in Europa durch die Französische Revolution von 1789 befeuerte Idee des allgemeinen Menschenrechts mit der Forderung nach gleichem, voraussetzungslosem und unverzüglich zu gewährenden Staatsbürgerrecht für alle. Diese Idee wurde, ausgehend von Frankreich, in die Zerfallsstaaten des Alten Reichs und in die Neugründungen exportiert sowie in unterschiedlichem Maße in Edikten gesetzgeberisch fixiert. Geleitet wurde diese »Sattelzeit« von etwa 1750 ab durch das Motiv der »Aufklärung«, das Paradigma der Vernunft, das auch den innerjüdischen Reformdiskurs (haskala) bestimmte. Den jüdischen Reformern ging es darum, den Anschluss an den wissenschaftlichen Geist der Zeit zu gewinnen, wiederum als Voraussetzung einer gelingenden Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft. Auch die Religiosität blieb vom Reformgedanken keineswegs unberührt, mit der Konsequenz einer Konfessionalisierung des Judentums im Laufe des 19. Jahrhunderts, die sich am Grad der jeweiligen Historisierung des religiösen Gesetzes, der Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über jüdische Religion im Sinne einer »Theologie« sowie der homogenisierenden Einordnung in staatlich vorgegebene Räume religöser Betätigung bemaß.

Mit der Reorganisation und Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress brachte dieses Jahrhundert zunächst Rückschläge für die Bestrebungen nach Inklusion der Juden. Einheitliche Regelungen konnten für das Gebiet des neugegründeten Deutschen Bundes nicht erzielt werden, und so entstand in der Folgezeit eine höchst ausdifferenzierte »Integrationslandschaft« mit unterschiedlichsten Graden rechtlicher Gleichstellung sogar innerhalb einzelner Staaten des Bundes, wie beispielsweise in Preußen. Die Bürokratien verhielten sich zögernd, während die ideologische Gegenströmung, angefacht durch teils bereits rassistisch untersetzte Nationalismen die Möglichkeit einer gelingenden Inklusion der Juden in die Mehrheitsgesellschaft bestritt und erbittert bekämpfte. Soziale Krisen befeuerten ihrerseits eine sozioökonomisch motivierte Judenfeindschaft, die phasenweise, zumal in Verbindung mit den Revolutionen von 1830 und 1848/49 zu Ausbrüchen von Gewalt gegen Juden führte. Auf der anderen Seite versuchten jüdische wie nichtjüdische Vertreter eines liberal-bürgerlichen Freiheitsdenkens – etwa in den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung – die emanzipatorische Idee einer bedingungslosen rechtlichen Gleichstellung der Juden zu verwirklichen. Als Preis dafür wurde – gleichfalls in unterschiedlichsten Dosierungen – eine Anpassung an den kulturellen Habitus der Mehrheitsgesellschaft angesehen oder gefordert, sowohl seitens jüdischer als auch nichtjüdischer Akteure. Die religiöse Reform stellte die theologische Variante dieses Prozesses der »Verbürgerlichung« dar; auf der säkularen Seite entsprachen ihm zahlreiche Spielarten der »Assimilation« (völlige Aufgabe der jüdischen Identifikation) und Akkulturation (Mischformen jüdischer und nichtjüdischer Identitätskonstruktionen). Sie reichen von Konversion, Gemeindeaustritt und Mischehe bis hin zu lediglich äußerlicher Angleichung an die Stile der Mehrheitsgesellschaft unter privater Beibehaltung des jüdisch-kulturellen und -religiösen Habitus. Die Vertreter einer »Wissenschaft des Judentums« versuchten demgegenüber einen innerjüdischen, nicht primär religiösen Modernitätsstandpunkt zu entwickeln, um das Ziel der Haskala weiterzuverfolgen, nämlich Juden als Juden auf geistige Augenhöhe mit den nichtjüdischen Repräsentanten der Wissenschaft als des Leitparadigmas der Zeit zu führen und derart ihre Inklusionsfähigkeit zu beweisen.

Die völlige und voraussetzungslose rechtliche Gleichstellung der Juden qua Gesetz wurde mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 für den kleindeutschen Nationalstaat sowie mit der Verfassung von 1867 für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie erreicht. Der durchschnittliche jüdische Bevölkerungsanteil betrug in jenen Jahren in Deutschland maximal 1,25 % (1871: 512 000), in Deutsch-Österreich um 1 % (1869: 59 500, davon die weitaus meisten in Wien). Keineswegs war für diese kleine, aber stark innovative und zu hohen Graden akkulturationsbereite Gruppe der Weg zur Inklusion damit abgeschlossen. Juden konnten vielfach überdurchschnittliche soziale Aufstiege vorweisen, zumal in Handel, Gewerbe, Industrie und den Freien Berufen. Die Chancen, die der ökonomische und technologische Wandel vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot, hatten viele Juden genutzt – wiederum auch durch Migration, jetzt in die pulsierend expandierenden neuen Großstädte. Doch fast in gleichem Maße provozierte dieser Erfolg neue exklusorische Gegenströmungen. Die große Wirtschaftskrise der 1870er Jahre (»Gründerkrach«) begünstigte eine Reihe von judenfeindlichen Agitatoren, Initiativen, Gruppen, bald auch Parteien, denen es zwar nicht gelang, die gesetzlich gewährte rechtliche Gleichstellung der Juden zu revidieren, deren »Erfolg« auf die Dauer jedoch darin bestand, die Mehrheitsgesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen mit einer latenten Judenfeindlichkeit zu durchsetzen. Als besonders tückisch erwies sich dabei eine ideologische Melange aus sozioökonomischem Ressentiment gegen die vermeintlichen »Gewinner« der industriellen Modernisierung, pseudo-wissenschaftlich verkleidetem, sozialdarwinistische Modetheorien der Zeit nutzenden Rassenantisemitismus und nationalem Chauvinismus, in dem nationale Machtphantasien und rassistisch begründete Homogenitätsideen ineinander verschmolzen.

Die Integration der sich in ihrer Mehrheit »deutsch« fühlenden bürgerlichen Juden war durch diese exklusorischen Strömungen massiv gefährdet. Gerade Schlüsselmarkierungen der bürgerlich-nationalen Identifikation (»einjährig-freiwilliges« Reserveoffizierspatent, weitergehende Karrieren im Militär, in den höheren öffentlichen Ämtern, insbesondere als ordentliche Universitätsprofessoren, Mitgliedschaft in Studentenverbindungen und Standesorganisationen) wurden jüdischen Lebensläufen systematisch vorenthalten. Zusätzlichen Auftrieb erhielten die antisemitischen Agitatoren seit dem Beginn der 1880er Jahre, als eine erneute Migrationswelle – diesmal aus dem sogenannten »Ansiedlungsrayon« im Westen des Zarenreichs – die Struktur der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Österreich fundamental veränderte. Die nicht auf bloße Durchwanderung begrenzte Massenmigration sogenannter »Ostjuden« mit völlig anderem sozialen und kulturellen Hintergrund forderte auch die alteingesessenen deutschen Juden heraus, trieb vor allem jedoch die antisemitische Agitationsspirale weiter an; gegen die »Ostjuden« als »minderwertige Elemente« russischer und polnischer Herkunft ließ sich trefflich polemisieren.

Schließlich führte der Erste Weltkrieg zu einem neuen Tiefpunkt in der Auseinandersetzung um die Stellung der deutschen Juden. Galt für unzählige Juden der Dienst in den deutschen Armeen als letzter und endgültiger Nachweis ihres uneingeschränkten und unbedingt opferbereiten »Deutschtums«, so verstand es wiederum die antisemitische Agitation, die Stimmung zu drehen. Das vaterländische Engagement der Juden wurde diskreditiert und durch propagandistische Verdikte über vermeintliche »Kriegsgewinnlerei« und »Drückebergerei« konterkariert. Dass sich das Preußische Kriegsministerium 1916 dazu hinreissen ließ, eine »Judenzählung« im Heer zu veranlassen, ließ die Agitatoren triumphieren und erschütterte das Vertrauen der Juden nachhaltig. Bereits durch die zionistische Bewegung war seit dem späteren 19. Jahrhundert im innerjüdischen Diskurs die Möglichkeit des Gelingens einer Inklusion auf Basis der Akkulturation radikal bestritten worden. Diesem Modell stellten die Zionisten die Alternative einer nationalen und kulturellen Selbstbesinnung des Judentums entgegen, die – in einer letzten und endgültigen großen Migrationsbewegung – in die Gründung eines eigenen jüdischen Staates, vorzugsweise in Palästina, münden sollte. Unter den bürgerlichen deutschen Juden fand der zionistische Gedanke Sympathisanten, jedoch nur wenige aktive Anhänger. Zur Auswanderung und zur Übernahme eines neuen, stark agrar-sozialistisch-kollektivistisch akzentuierten, gegenbürgerlichen Lebensstils in einem zu kolonisierenden Palästina ließen sich vorwiegend Angehörige der jüngeren Generationen motivieren.

Gleichwohl veränderte sich über die Schwelle des Weltkriegs hinweg auch das Gesicht des deutschen Judentums. Durch anhaltende Zuwanderung aus dem Osten hatten sich, zumal in großen Städten wie Wien und Berlin, neue Viertel mit starken russisch-polnisch-jüdischen Bevölkerungsanteilen herausgebildet. Auf der anderen Seite hatte der verstärkte Kontakt jüdischer Intellektueller mit ostjüdischer Kultur und Religiosität, etwa mit dem mystisch akzentuierten Chassidismus, das Interesse für ein »ursprünglicheres« Judentum geweckt, das sich nicht in Akkulturationsschüben der Selbstauflösung näherbringe, sondern vielmehr der eigenen kulturellen Identität besinne. Diese »jüdische Renaissance«, programmatisch vorangetrieben etwa von Denkern wie Martin Buber, blieb nicht frei von Versatzstücken des zeitgeistigen völkischen Denkens.

Die Jahre der Weimarer Republik zeigen sich als Jahre der Polarisierung. Kunst, Kultur, aber auch Wissenschaft der 1920er Jahre sind von den Leistungen jüdischer Intellektueller bedeutsam geprägt. Auf der anderen Seite tobte ein immer gewaltbereiterer Antisemitismus, dessen Publikum sich vor allem aus Anhängern politisch-ideologischer Fanatismen sowie Angehörigen sozialer Grenzschichten speiste: den durch den Weltkrieg Entwurzelten, den vom »Versailler Schanddiktat« bitter Enttäuschten, den von den ökonomischen Krisen dieser »ersten Nachkriegszeit« Radikalisierten. Juden zu Sündenböcken für all diese unerklärlich scheinenden Umbrüche zu stempeln, war vereinfachend genug, um agitatorische und terroristische Energien freizusetzen. Der Mord an dem als »Erfüllungspolitiker« denunzierten jüdischen Außenminister Walther Rathenau 1922 – um nur ein Beispiel zu nennen – wurde in deutschnationalen Kreisen vielfach mit unverhohlener Schadenfreude quittiert und als Symbolakt gegen das verhasste Weimarer »System« interpretiert.

Jüdische Renaissance und Antisemitismus

Die bürgerlichen deutschen Juden fanden sich zunehmend in eine doppelte Defensive gedrängt: gegen den anwachsenden völkischen Antisemitismus einerseits, gegen die Herausforderung durch den Zionismus andererseits. Dem korrespondierte ein wachsendes Bewusstsein auch unter den Bürgerlichen, dass der Weg der Akkulturation einen möglicherweise zu hohen Preis für die Inklusion – nämlich das Risiko der Selbstauflösung – gefordert haben könnte. Wenn der Antisemitismus schon nicht aus der Welt zu schaffen war, warum sollte dann nicht die eigene »Jüdischkeit« auch stärker gepflegt, betont und herausgestellt werden? Die Übersetzung der hebräischen Bibel durch Martin Buber und Franz Rosenzweig zählt ebenso in den Umkreis der kulturellen Leistungen und Initiativen dieser »jüdischen Renaissance« wie Franz Rosenzweigs Frankfurter Lehrhaus und daran anknüpfende Projekte jüdischer Erwachsenenbildung sowie die Leistungen einer erneuerten Wissenschaft des Judentums, unter ihnen die großen lexikalischen Unternehmungen Encyclopaedia Judaica (1928–1934) und Jüdisches Lexikon (1927–1930).

Im Übrigen blieb die rechtliche Gleichstellung auch während der Republik unangetastet. Im Vertrauen auf die Rechtssicherheit eines demokratischen Verfassungsstaates aber auch auf die eigenen erbrachten Nachweise vollgültigen Staatsbürgertums – dem Stil der Zeit entsprechend vor allem: des Frontkämpfertums im Weltkrieg – erschien den meisten deutschen Juden die völlige Negation des Erreichten kaum denkbar. Vorübergehende Eintrübungen aufgrund politisch tagesaktueller Erfordernisse waren vorstellbar, aber die radikale Aufkündigung jeglichen zivilisierten Zusammenlebens?

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat dieser Fall ein, brach das vermeintlich unumstürzbare Faktum der rechtlichen Gleichstellung weg, nicht sofort von einem Tag auf den anderen, aber doch mit erschreckender Konsequenz. Eine verblasene und aufs Äusserste gewaltaffine rassistisch-antisemitische Ideologie war Regierungsprogramm geworden. Ihre Vollstrecker entzogen den Juden sukzessive jede Lebensgrundlage in Deutschland und entfachten schließlich den Völkermord an den europäischen Juden, der 6 Millionen Todesopfer forderte.

Ideologeme und Narrative

Die Auseinandersetzung mit judenfeindlichen Ideologemen und deren politischen wie sozialen Formen, vom religiösen Antijudaismus zum sozioökonomisch und rassistisch motivierten Antisemitismus (sowie Formen des Antizionismus und Antiisraelismus), bildet eine fortwährende Aufgabe des Forschens und Nachdenkens über jüdische Geschichte insgesamt, deutsch-jüdische Geschichte im speziellen. Der in Deutschland erdachte und vornehmlich durch Deutsche ausgeführte Judenmord verpflichtet in besonderer Weise dazu. Abgesehen davon ist wissenschaftliche Aufklärung über alle Formen der Judenfeindlichkeit eine universelle Aufgabe von hoher Komplexität, zu der die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Fächer ihren Beitrag leisten müssen. Judenfeindschaft zielt radikal auf Exklusion, im schlimmsten Fall auf Eliminierung ab und durchzieht die gesamte jüdische Geschichte als ständige Negation der Inklusionsthematik. Als eigene Disziplin hat sich die Antisemitismusforschung in den vergangenen Jahrzehnten differenziert entwickelt und etabliert. Im Rahmen einer um analytische Kategorien bemühten Hinführung zur deutsch-jüdischen Geschichte gewinnt das Thema »Antisemitismus« neben seiner realhistorischen Bedeutung auch unter systematisierenden Gesichtspunkten an Gewicht, spielen doch Diagnosen über das Phänomen der Judenfeindschaft in zahlreichen bedeutenden sozialwissenschaftlichen Theorieansätzen seit dem 19. Jahrhundert eine herausragende Rolle im Zusammenhang mit Erklärungsansätzen über die Pathologien von Gesellschaften. Von hier aus lässt sich auch eine Verbindung herstellen zu einer knappen Abhandlung über Theorien und Narrative zur (deutsch-)jüdischen Geschichte, die ihrerseits in eine abschließende Betrachtung über geschichtswissenschaftlich-methodische Zugriffe auf die Thematik führt.

 

2

            Kategorien und Konzepte

 

 

Migration4

 

Deutsch-jüdisches, in europäisch-jüdische Existenz eingebettetes Leben lässt sich unter dem Paradigma der Wanderung (Migration) begreifen. Diese Feststellung erfolgt ausdrücklich nicht unter dem Vorzeichen wertgeleiteter Narrationen, wie etwa derjenigen vom jüdischen als dem »ewig wandernden« und damit »ewig fremden« Volk, dessen vorzugsweise durch Gott zugemessenes »Schicksal« in Zyklen des Exils, der Wanderschaft und des neuen Exils bestehe.5 Ahasverus, die bis ins 13. Jahrhundert zurückzuverfolgende Legendenfigur des »wandernden Juden«, steht als Chiffre für derartige Interpretamente,6 und die populären Folgerungen, ob aus jüdischer Binnensicht oder aus nichtjüdischer Außenperspektive mit entweder anti- oder philosemitischer Konnotation, sind hinlänglich bekannt.7

Analytischer Zugriff

Die Wissenschaft ist vielmehr an einem analytischen Zugriff interessiert, der Migration in der europäisch-jüdischen Geschichte des späten Mittelalters und der Neuzeit empirisch beobachtet, ihr Ausmaß beschreibt und die Frage nach den Gründen und den Folgen der Wanderungsbewegungen stellt. In der Fachliteratur wurde die Bedeutung von Migrationsbewegungen für die jüdische Geschichte unterschiedlich eingeschätzt.8 Die sich seit den 1980er Jahren etablierende, sozialwissenschaftlich und seit einiger Zeit auch kulturwissenschaftlich geleitete Disziplin der Migrationsforschung hat gelehrt zu differenzieren und von Großtheorien und monokausalen Ansätzen abzusehen;9 im Fokus der Fragestellungen, Methoden und Erklärungsansätze dieser Disziplin, mitbedingt auch durch den »transnationalen Turn« unserer Wissenschaft, schärft sich der Blick für die Migrationsgeschichte des europäischen Judentums.10

Wer Migration, der allgemeinen Migrationsforschung folgend, als »räumliche Bevölkerungsbewegung«, als »die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen« versteht,11 wird nicht umhin kommen, solche Wanderungsbewegungen als schlichtweg konstitutiv für die Entfaltung europäisch-jüdischen Lebens zu bezeichnen.12 Dabei ist es unerheblich, ob von Migration als Aus- und Einwanderung (staatliche Grenzen überschreitend) oder Ab- und Zuwanderung (Wanderung innerhalb der Grenzen eines Staates) die Rede ist. Beides kennzeichnet in charakteristischem Maße die europäisch-jüdische Geschichte des hier betrachteten Zeitraums. Hinzu kommen Formen der »Mobilität« als eher kleinräumige Bewegungsmuster von temporärer, mitunter zirkulärer und mehr individueller Natur.13 Mobilität, ebenfalls eine hoch charakteristische Entwicklungskonstante jüdischen Lebens, weist in ihren unterschiedlichen Ausprägungen Überschneidungen und fließende Übergänge zur Migration auf;14 davon wird im Zusammenhang mit den Land-Stadt-Bewegungen, aber auch mit den sozialen Mobilitätsaspekten der Verbürgerlichung die Rede sein. Zunächst geht es um die großen, transterritorialen migratorischen Bewegungen.

Push- und Pull-Faktoren

Die allgemeine Migrationsforschung unterscheidet Push- und Pull-Faktoren – Flieh- und Anziehungskräfte. Beide spielen stets zusammen. Als wesentlicher Push-Faktor, der mehr als einzelne Juden zur Wanderschaft veranlasste, wirkte im Spätmittelalter, in der Frühen Neuzeit, aber auch (und wieder) im späten 19. und im 20. Jahrhundert die Vertreibung, so dass vertreibungsbedingte Zwangsmigration die häufigste in diesem Zusammenhang zu beobachtende Form der Migration ist. Freilich aber nicht die einzige: Siedlungs- und Arbeitswanderungen, als sog. subsistence- oder bettermentmigrations, mit dem Ziel, die materielle Existenz zu sichern, vielleicht auch zu verbessern, korrespondieren oftmals mit den Zwangswanderungen; die zusätzlich zur räumlichen auch eine Verlagerung des sozialen Ortes bezweckenden Typen der Bildungs-, Ausbildungs- und Wohlstandsmigration treten zum 19. Jahrhundert hin mehr und mehr an die Stelle der Zwangsmigrationen, die ihrerseits jedoch nicht verschwinden. In diese Migrationsmuster verwoben sind Motive der Kulturwanderung, die auch die Frage nach der Entfaltung bzw. überhaupt der Erhaltung eigener jüdischer Kultur und Religiosität umfassen. Religiöse Motive können zu Vertreibung führen und damit Zwangsmigrationen auslösen. Sie können Teil eines Motivbündels sein; sie können aber auch nur vorgeschützt sein, um andere Motive zu kaschieren.

Vertreibung der Sepharden von der iberischen Halbinsel

Vertreibung löste die große Migrationswelle der sephardischen Juden aus Spanien (1492) und Portugal (1496/97) aus.15 Deren Wanderungsbewegungen führten südwärts in Richtung Nordafrika und ostwärts ins Osmanische Reich, nach Saloniki, Konstantinopel und an die Küsten des östlichen Mittelmeers. Eine kleinere Strömung führte spanische und portugiesische Juden in jener Zeit nach Italien. Im Laufe des 16. Jahrhunderts mussten infolge inquisitorischer Verfolgung schließlich auch die getauften Juden – sogenannte conversos (spanisch) oder marranos (portugiesisch) die iberische Halbinsel verlassen. Sie migrierten in Richtung nordwestlicher Zentren Europas und legten den Grund für ökonomisch wie geistig aufblühende sephardisch-jüdische Gemeinden des 17. Jahrhunderts, allen voran Amsterdam, Hamburg-Altona, und später London.16 Mit Heinz Schilling ließe sich hier von einer »Konfessionsmigration« sprechen,17 da das dominante auslösende Moment (Push-Faktor) im Ziel einer konfessionell homogenen Gesellschaft lag. Freilich mischen sich, worauf Imanuel Geiss aus dem Blickwinkel einer Geschichte des Rassismus hingewiesen hat, bereits proto-rassistische Elemente bei,18 richteten sich Misstrauen und Verdacht doch schon seit dem späten 15. Jahrhundert stets auch gegen die conversos, also diejenigen Juden, die sich, durch Zwang oder freiwillig, dem konfessionellen Homogenisierungsbestreben unterworfen hatten. Getrieben von der Ideologie der limpieza desangre trafen Gewalt und Vertreibung schließlich massiv eben gerade auch die »Neu-Christen«, weil sie nicht »rein« genug erschienen, um als Teil einer homogenen sozialen Oberschicht akzeptiert zu werden. Die geforderte »Blutsreinheit« diente dazu, eine ökonomisch überaus erfolgreiche Bevölkerungsgruppe zu eliminieren, die ihrerseits den Willen zu konfessioneller Akkulturation bewiesen hatte, freilich dadurch nur umso mehr störte. Demgegenüber bestimmte ein konfessioneller Faktor die Aufnahmebedingungen (Pull-Faktoren) für die iberischen Sepharden im nördlichen Europa mit. In den Niederlanden und in Hamburg fanden sie Akzeptanz gerade als »Neu-Christen«, nicht als Juden.19 Erst ab dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts war es hier wie dort wieder möglich, sich offen zum Judentum zu bekennen.

Die große Ostmigration des »langen 15. Jahrhunderts«

Prägender als die Sephardenmigration seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, speziell für die Gestalt deutsch-jüdischer aber auch osteuropäisch-jüdischer Existenz, ist jedoch jene andere Migrationsbewegung, die zwischen dem späten 14. und dem frühen 16. Jahrhundert durch die Vertreibung der Juden vor allem aus den Reichsstädten ihr Plateau erreichte. Die Anfänge dieser großen Wanderungsbewegung in östlicher Richtung reichen ihrerseits zurück bis in das Zeitalter der Kreuzzüge und in die Phase der »deutschen Ostsiedlung« während des Hochmittelalters. Auch die Pestepidemie der Jahre 1348/49 löste Wellen der Judenvertreibung aus, wurde doch dem angeblich religiös bedingten »Hass« der Juden gegen die Christen oftmals die Schuld an dem unerklärlichen Geschehen zugeschrieben (»Brunnenvergiftung«). Doch erst das »lange 15. Jahrhundert« führte zu anhaltender und systematischer Vertreibung der Juden aus den Städten. Die vielfach angeführten, religiös begründeten Vorurteile gegen Juden – Ritualmord, Hostienfrevel oder »jüdischer Wucher« – reichen aber nicht hin, diese sehr lang anhaltende Phase der Vertreibung zu erklären. Vielmehr scheinen die Gründe in einer Transformation des spätmittelalterlichen Reiches zu liegen. Weil aus den Funktionen der Juden innerhalb des sozialen und ökonomischen Gefüges keine Vorteile mehr zu ziehen waren, wurden sie ihnen immer weniger zugebilligt. Diese Transformation spiegelt sich in dem zeitgenössischen geflügelten Wort: »Man bedarf keiner Juden mehr, es sind andere, die wuchern können.«20 Hier schlägt sich die Erfahrung des wirtschaftlichen Aufstiegs zahlreicher Reichsstädte während des 15. Jahrhunderts nieder, dem der ökonomische Abstieg der jüdischen Gemeinden als Ergebnis steuerlicher Auspressung seitens ihrer traditionellen »Schutzherrn«, der Kaiser bzw. Könige, korrespondierte. Je weniger sich der Schutzherrnstatus für den König »lohnte«, um so mehr schwand sein Interesse an den Judengemeinden, so dass sich schließlich der politische Spielraum für die städtischen Obrigkeiten öffnete, den königlichen Judenschutz abzulösen, sich der jüdischen Güter zu bemächtigen und sich der Juden zu entledigen.21 Religiöse Verdikte verbrämen hier die eigentlichen Motive – ein Phänomen, das sich im Laufe der europäisch-jüdischen Geschichte vielfach beobachten lässt.

Auch wenn gegen Ende des 15. Jahrhunderts verstärkt Vertreibungen aus einzelnen Territorien des Reiches hinzutraten,22 liegt die historische Zäsur jener Epoche doch im Ende der jahrhundertealten reichsstädtischen Tradition jüdischen Lebens.23 Siedlungsgeographisch wirkten sich die Vertreibungen des »langen« 15. Jahrhunderts für die im Heiligen Römischen Reich verbleibende jüdische Bevölkerung fragmentierend aus. An die Stelle der großen Stadt traten Kleinstädte, in sehr vielen Fällen jedoch ländliche Gemeinden. Das Dorf wurde zum bevorzugten Siedlungsraum der Juden. Kennzeichnend für das 16., 17. und große Teile des 18. Jahrhunderts ist im Reich die häufig wechselnde jüdische Streusiedlung in Abhängigkeit von den jeweiligen landesherrlichen Gegebenheiten und Herrschaftsverhältnissen;24 hinzu tritt das Phänomen der Ansiedlung von Juden in Dörfern an den Peripherien der Reichsstädte, mit dem Ziel, weiterhin die ökonomischen Möglichkeiten dieser Zentren (Märkte) zu nutzen.25

Der große Migrationsstrom entwickelte sich freilich anders: Die Vertreibungen aus dem Reich zwischen etwa 1390 und 1520 wirkten als Motor einer starken jüdischen Ostmigration in Richtung des polnisch-litauischen Königreichs. Diese Migration hielt weit über das 16. Jahrhundert hinweg noch an. Neue Zentren jüdischen Lebens bildeten sich hier langsam heraus, im Großherzogtum Litauen, in der westlichen Ukraine (Podolien und Wolhynien), aber auch bereits in west- und südpolnischen Städten wie Krakau, Lublin und Posen. Bevölkerungsziffern aus jener Zeit sind grundsätzlich unsicher. Grobe Schätzungen rechnen mit ca. 12 000 Juden im ganzen polnisch-litauischen Staat um 1500; 150 Jahre später war deren Zahl bereits auf ca. 150 000 angewachsen. Von deutlich weniger als 1 Million europäischer Juden lebten in der Mitte des 18. Jahrhunderts mehr als die Hälfte, wahrscheinlich eher drei Viertel (ca. 500 000), in jenem polnisch-litauisch-ukrainischen Raum.26

Dort entfaltete sich ein vielstimmiges jüdisches Leben in unzähligen, vor allem kleinstädtisch-dörflichen Siedlungsformen, bei hoher Entwicklung jüdisch-religiöser Bildung und Eigenkultur und unter Beibehaltung kultureller Überbleibsel, die an die Herkunft aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dauerhaft erinnerten (v. a. des Jiddischen), und ausgeprägter autonomer Gemeindeorganisation.27 Die von den örtlichen Magnaten gewährte rechtliche und kulturelle Autonomie ist zusammen mit den königlichen Privilegien, die das wenig besiedelte, agrarisch strukturierte polnisch-litauische Großreich den jüdischen Migranten überhaupt erst öffneten, zu den Pull-Faktoren zu zählen, die Juden in Richtung Osten ziehen ließen. Dies allein genügte aber nicht; entscheidend war eine soziale Funktion. Juden konnten in die von den adeligen Großgrundbesitzern dringend benötigten Zwischenpositionen einrücken, als Händler und Handwerker zwischen Stadt und Land, und, sozial noch darüber angesiedelt, als Gutsverwalter und Pächter zwischen Adeligen und Bauern. Ohne eigene Machtansprüche stellten sie für die Magnaten keine Konkurrenz dar. Andererseits brachten sie Fähigkeiten mit, die den Magnaten vielfach abgingen: Lese- und Schreibkenntnisse, Erfahrungen im Umgang mit Geld und dessen Verwaltung, Fähigkeiten in Fragen des Handels und Gewerbes. Der loyale Einsatz ihrer ökonomischen und sozialen Kompetenz wurde durch Autonomierechte belohnt. Solange die Juden ihre Aufgaben erfüllten, konnten sie weitgehend ungestört ihr eigenes religiöses und kulturelles Leben führen.28 Entsprach dies dem idealtypischen Modell einer »Integration«?29

Re-Migration seit 1648

Das Zusammenleben zum gegenseitigen Nutzen ging jedenfalls so weit, dass für das 17. Jahrhundert gar von einer »Allianz zwischen Adel und Judentum« im polnisch-litauischen Großreich gesprochen wird.30 Daraus ging eine anhaltende Blüte jüdisch-religiöser, rabbinisch-talmudischer Kultur mit wichtigen Zentren, wie etwa Vilnius, hervor. Der »religiöse Faktor« wirkte weder als entscheidender Push- noch Pull-Faktor; allerdings gewann er als Pull-Faktor im Laufe der Zeit offensichtlich an Bedeutung, je deutlicher für die migrierenden Juden wurde, dass ihnen im polnisch-litauischen Reich religiös-kulturelle Autonomie als eine Art Belohnung dafür gewährt wurde, dass sie bestimmte ökonomische und soziale Funktionen im Sinne der maßgeblichen Kräfte der Mehrheitsgesellschaft zufriedenstellend erfüllten.31

Dieses sozioökonomische Gefüge brach zusammen, als die politische Expansion überzogen wurde. Überdehnungskrisen mehrten sich gegen Mitte des 17. Jahrhunderts; das polnisch-litauische Großreich begann von den Peripherien her zu bröckeln. Der Aufstand der ukrainischen Kosaken 1648 gegen die polnische Adelsherrschaft war mit blutigen Ausschreitungen gegen die jüdischen Gemeinden in der westlichen Ukraine verbunden, denn die dortigen Bauern hassten die Juden, die sie als die Handlanger der adeligen Unterdrücker aus Polen sahen. Von Norden her fielen die Schweden ins polnisch-litauische Großreich ein und verwandelten die Region bis 1660 in den Schauplatz eines Krieges von europäischem Ausmaß.32

Kosakenaufstand und Nordischer Krieg dezimierten die jüdische Bevölkerung Polen-Litauens um ein Viertel und setzten eine neuerliche Migrationsbewegung in Gang, diesmal in Richtung Westen. Jetzt waren Pull- und Push-Faktoren vertauscht: infolge der Ereignisse des 30-jährigen Kriegs hatte sich die Situation im Reich dramatisch verändert; Entvölkerung und Verwüstung bestimmte das Bild. Politisch war ein Machtvakuum entstanden, in das aufstrebende Territorialherrschaften vorstießen. Die kaiserliche Macht war zurückgedrängt. Das Reich war offen für Erneuerung, das Machtvakuum zog an. Wiederum spielten Push- und Pull-Faktoren zusammen.

Zwar war auch die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Kerngebieten des Reiches noch von vielfältigen Mikrowanderungen, wechselnden Ansiedlungen und vorübergehenden Vertreibungen der Juden geprägt (z. B. Worms zwischen 1689 und 1699),33 aber es ergaben sich doch vielfältige neue Chancen für Juden, v. a. dort, wo sich langsam die Höfe konsolidierten und sich der fürstliche Absolutismus mit seinen neuen, materiellen und militärischen Bedarfen etablierte, desgleichen in den aufstrebenden Handelsmetropolen wie Hamburg, Frankfurt/M. und Amsterdam sowie in London, wo Juden seit 1656 wieder zugelassen wurden.34 Neue Funktionen entstanden, und Juden konnten sie erfüllen, etwa durch die händlerisch-unternehmerische Vernetzung von Hof und Handelsstadt. Hieran ließen sich Karrieren knüpfen als Hoffaktoren oder Hofjuden, die den steigenden Finanz- und Ressourcenbedarf, sei es für die Repräsentation, sei es für das Militär der absolutistischen Fürsten befriedigen konnten.35 Wiederum: Juden fanden Akzeptanz, weil sie sich in der Lage zeigten, in soziale und ökonomische Leerstellen einzurücken.

Kosakenaufstand und Nordischer Krieg stießen zwar die jüdische Migrationswelle in Richtung Westen an, konnten aber das jüdische Leben auf polnisch-litauischem Gebiet keineswegs auslöschen. Das polnische Judentum blieb fortan ein eigener bedeutender Faktor jüdischen Lebens in Europa. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wuchs es auf über 500 000 meist in dörflich-kleinstädtischen Strukturen lebende polnische Juden an. Unter den städtischen Gemeinden sind besonders hervorzuheben im Westen Polens Krakau/Kazimierz (1764/65: 19 300 Juden), weiter östlich Lublin (1764/65: 20 100); nochmals weiter östlich Lemberg (westl. Ukraine, 1764/65 6200).36 Diese große Zahl der polnischen Juden geriet in den Strudel der territorialen Veränderungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere der polnischen Teilungen zwischen Russland, Preußen und Österreich.

Doch auch die alte »rheinische Schiene« der deutsch-jüdischen Geschichte erhielt durch die Westmigration nach 1650 neue Impulse. Beispielhaft zu nennen wäre die bereits erwähnte neue Residenzstadt Mannheim mit der Erstansiedlung von Juden 1652. Straßburg, Frankfurt und Worms konnten ihre relativ ungebrochenen, wenngleich freilich nicht immer sehr erfreulichen Traditionen (in Frankfurt etwa die enge »Judengasse«, die durch die höchst restriktive städtische Judenordnung bis hin zur Französischen Revolution aufrecht erhalten wurde)37 fortführen; in Lothringen wuchs eine bedeutende jüdische Gemeinde in Metz heran. Alles in allem konnte die Rheinschiene aber nie mehr zu jener Blüte jüdischen Lebens zurückfinden, wie sie vor den großen Vertreibungen des »langen 15. Jahrhunderts« für diesen Raum kennzeichnend war.38

Diese knappe Skizze zeigt, wie die Schwerpunkträume jüdischen Lebens im neuzeitlichen Mitteleuropa aus den beiden großen Migrationswellen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit hervorgingen: der ersten, ostwärts gerichteten, mit ihrem Schwerpunkt zwischen 1390 und 1520, und der zweiten, westwärts gerichteten zwischen etwa 1650 und 1700.39

Die Westwanderung ließ zum Ende des 17. Jahrhunderts hin nach. Damit endete eine Phase umfassender, vertreibungs- bzw. gewaltbedingter Zwangsmigrationen, ungeachtet des Weiteren Vorkommens von Vertreibungen in kleinerem Stil, die freilich mitunter gleichwohl erhebliche Folgen für die Geschichte der deutschen Juden zeitigten. Zu diesen folgenreichen »Zwangsmigrationen kleineren Stils« zählt die Ausweisung der Juden aus Wien und Niederösterreich 1669/70. Über die aus fiskalischen Gründen geduldeten Juden brachen mehrere kaiserliche Ausweisungsdekrete herein, nachdem sich die antijüdische Stimmung am Wiener Hof und in der Stadt angestaut und schließlich infolge einer Häufung von Unglücksfällen (Tod des Thronfolgers, Brand der Hofburg) entladen hatte. Der klassische Sündenbockreflex setzte ein: 2000 bis 3000 Juden mussten das Erzherzogtum bis 1671 verlassen und wanderten nach Böhmen, Mähren, Ungarn, aber auch ins Osmanische Reich ab. Damit war die jüdische Gemeinde Wiens und die jüdische Besiedelung Niederösterreichs auf lange Zeit zerstört.40 Freilich: Bereits in den 1680er Jahren wurde mit dem »Hofjuden« Samuel Oppenheimer wieder ein Jude in Wien zugelassen; die Ausweisung hatte empfindliche Lücken im merkantilen System hinterlassen.

Die Wiener Ereignisse von 1669/71 blieben nicht ohne Konsequenzen für die Geschichte der Juden in Brandenburg-Preußen. Nachdem die Juden aus der Mark Brandenburg noch im 16. Jahrhundert zwei Mal ausgewiesen worden waren, nahm Kurfürst Friedrich Wilhelm 1671 50 der aus Wien vertriebenen Familien auf und erlaubte ihnen, sich in Berlin und einigen anderen Städten der Mark (z. B. der Stadt Brandenburg) zunächst für 20 Jahre anzusiedeln. Voraussetzung war allerdings: die Familien mussten wohlhabend sein.41 Diese Aufnahme ist im Zusammenhang mit der bevölkerungspolitischen Aufrüstungsstrategie des Großen Kurfürsten zu sehen, zu der auch die Aufnahme anderer, zahlenmäßig viel größerer Gruppen, z. B. französischer Hugenotten 1685 (Potsdamer Edikt), Niederländer, Waldenser oder Salzburger Protestanten zu rechnen ist. Einige der aus Wien ausgewiesenen jüdischen Familien konnten damit die »Zwangsmigration« in eine bettermentmigration umwandeln. Gleichwohl blieb das Leben der in die Mark Brandenburg zugelassenen Juden stark beschränkt; so durften keine religiösen Gemeinden gebildet und keine Synagogen gebaut werden. Der Pull-Faktor erwuchs aus einer Nutzen-Kalkulation: Explizite Aufgabe der zugelassenen Juden war die Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des aufstrebenden Kurfürstentums, etwa durch den Aufbau von Handelsgesellschaften und durch die Vernetzung Berlins und der Mark mit Hamburg und Amsterdam. – Juden wurden vom Großen Kurfürsten auch außerhalb der Mark geduldet, so in Ostpreußen, aber auch in Territorien, die durch den Westfälischen Frieden an Brandenburg-Preußen gefallen waren, wie Jülich-Kleve und die ehemaligen Bistümer Minden und Halberstadt.

So legte die Ausweisung der Juden aus Wien indirekt den Grund für das neue brandenburg-preußische Judentum und dessen Weg über das 18. Jahrhundert hinweg zu einer ökonomisch wie geistig und kulturell bedeutenden Bevölkerungsgruppe, aus der nicht wenige am Aufstieg Preußens erheblichen Anteil hatten. Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die preußische Judenpolitik, wie generell in den Territorien des Reichs, auch in diesem Jahrhundert restriktiv blieb; sie stand nicht unter dem Zeichen der Toleranz, sondern unter demjenigen des Merkantilismus.42 Eine großangelegte Vertreibung der Juden aus Brandenburg-Preußen fand allerdings nicht mehr statt.

Anders in den Ländern der habsburgischen Krone. Strukturell war die merkantilistische Judenpolitik in der Habsburger Monarchie derjenigen in Preußen ähnlich. Allerdings fielen die gegen die Juden gerichteten Zornausbrüche einzelner Herrscher eruptiver aus. Fast schon anachronistisch erscheint die 1744/45 von Kaiserin Maria Theresia zunächst über die Juden Prags, sodann über die Juden des gesamten Böhmen und Mähren verhängte Ausweisung. Den Anlass dazu gab der zweite Schlesische Krieg, der die Preußen 1744 für kurze Zeit bis nach Prag führte. Im Zuge der preußischen Besetzung Prags geriet das Gerücht in Umlauf, die Juden hätten Prag an die Preußen verraten, und dies wiederum führte unmittelbar nach dem (baldigen) Abzug der Preußen im November 1744 zunächst zu pogromartigen Ausschreitungen und schließlich zum Ausweisungsedikt. Dass in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine derart »mittelalterliche« Ausweisungsaktion in Mitteleuropa kaum mehr akzeptabel war, zeigte der internationale Sturm der Entrüstung aus zahlreichen jüdischen Gemeinden und auch von jüdischen Hoffinanziers gegen die Maßnahme. Auch nichtjüdische Vertreter diverser Höfe schlossen sich an, unter ihnen der Sultan des Osmanischen Reichs, der Papst und der Erzbischof von Mainz. In Wien führte der einflussreiche Hoffaktor Wolf Wertheimer den Protest an. Und nicht zuletzt wies auch der Magistrat der Stadt Prag selbst auf die erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Probleme hin, die durch die Ausweisung entstünden. Kurzfristig half alles nichts: den Prager Juden wurde befohlen, im Laufe des Jahres 1745 die Stadt zu verlassen; mittelfristig konnte die Maßnahme jedoch nicht aufrechterhalten werden, 1748 erging die offizielle Erlaubnis zur Rückkehr.43

Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts

Die drei ersten Viertel des 19. Jahrhunderts waren in Mitteleuropa – abgesehen von Maßnahmen einiger Hansestädte nach dem Wiener Kongress – nicht mehr von Vertreibungsmigration geprägt. Trotzdem blieben Wanderungsbewegungen für die Schicksale der Juden bestimmend.44 Einerseits folgten auch die Juden den großen Trends, die sich aus den allgemeinen ökonomischen, sozialen und demographischen Faktoren ergaben; andererseits eilten sie Trends in mancher Hinsicht sogar voraus.

Juden nahmen Teil an der großen Welle der allgemeinen Auswanderung nach Übersee, die ihrerseits ein Resultat der wirtschaftlichen Transformationen und der mit diesen verbundenen ökonomischen Krisenerscheinungen seit dem Ende der Napoleonischen Ära war. Ebenso bildeten die anhaltenden politischen und rechtlichen Restriktionen in den Staaten des Deutschen Bundes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Push-Faktor, gerade auch für Juden. Schließlich trugen die (nicht auf Deutschland beschränkten) gewaltsamen, aber nicht mit Vertreibungen verbundenen Ausschreitungen von 1819 (»Hep-Hep-Krawalle«) zu verstärkter jüdischer Auswanderung bei. Zwischen 1845 und 1870 wird für die deutschsprachigen Gebiete (jedoch ohne die Habsburgermonarchie) mit 70 000 bis 113 000 jüdischen Auswanderern gerechnet, die meisten von ihnen aus der Provinz Posen, gefolgt von Auswanderern aus Bayern und aus Württemberg.45 Sukzessive wurde durch diese Migrationswelle, zunehmend auch aus Osteuropa, der Grund gelegt für den neuen jüdischen Siedlungsschwerpunkt Nordamerika, zunächst mit den Zentren New York, Boston und Chicago.46

Bedeutung für die Entwicklung des europäischen Judentums im 19. Jahrhundert gewinnt sodann die Binnenwanderung im Zuge des ebenfalls allgemeinen Urbanisierungsprozesses. Hier nahmen Juden sogar eine Vorreiterrolle ein, d. h., die Wanderung von Juden in Richtung der großen bzw. der stark wachsenden Städte vollzog sich schneller und nachhaltiger als die der Nichtjuden. Dies ist ein Indiz für einen »vorauseilenden« Prozess der Verbürgerlichung und ist im Zusammenhang mit dem vorübergehend überproportional wachsenden Anteil der jüdischen Bevölkerung zu sehen.47

Als bestimmende Push-Faktoren sind politische, ökonomische oder soziale Missstände zu identifizieren. Die Unzufriedenheit darüber verband sich mit der Hoffnung vieler Juden, in anderen Regionen der Welt (Auswanderung) oder in anderen sozialen Formationen (Großstädte) die eigene Existenz zu sichern und nach Möglichkeit zu verbessern. Typologisch ist hier zwischen subsistence migration und bettermentmigration zu unterscheiden. Subsistencemigration steht in der Terminologie der Migrationsforschung für die Migration absolut armer Gruppen in der Regel über große räumliche Distanzen, während betterment migration Wanderungen weniger armer Gruppen über kürzere Distanzen bezeichnet, mit dem primären Ziel, die eigene Lebenssituation zu verbessern, nicht überhaupt erst existentiell zu sichern.48 Dass derartige Phänomene in der Realität nicht überschneidungsfrei vorkommen, bedarf kaum der Erwähnung. So weisen beispielsweise auch vertreibungsbedingte Zwangsmigrationen stets Charakteristika von subsistence migration auf.

Die jüdischen Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts vor der osteuropäischen Migrationswelle seit den 1880er Jahren – ob nun subsistence- oder betterment migration – haben oftmals sogar »Emanzipationsgewinne« zur Voraussetzung, nämlich höhere individuelle Freiheitsgrade durch zunehmend gewährte Freizügigkeit und abnehmende Regulation im Bereich der Berufstätigkeit. Dieser Faktor wirkte auf der » Push«- wie auf der » Pull-Seite«. Dauerhafte Wanderung von Juden in die großen Städte setzte zumindest in Ansätzen voraus, dass dieser Zuzug von seiten der Städte auch gewährt oder ihm mindestens aktiv nichts entgegengesetzt wurde. Für die Angehörigen einer konfessionellen und kulturellen Minderheitsgruppe lag im übrigen der Reiz der größeren und großen Städte auf der Hand: hier lagen Chancen für sozialen Aufstieg, und diese waren verbunden mit der Aussicht auf ein vielleicht gar völliges Entkommen aus dem Status der Minderheit, weil dieser in der Anonymität der größeren Stadt eine geringere oder gar keine Rolle mehr spielte. Die Möglichkeit, die eigene Religiosität oder kulturelle Identität unbeobachtet zu leben, spielt dabei ebenso eine Rolle, wie die Option, beides gegebenenfalls auch geräuschlos hinter sich zu lassen. Bettermentmigration bezeichnet damit nicht nur die Hoffnung auf einen materiell höheren Lebensstandard, sondern auch die Aussicht auf ein Verblassen der sozialen Stigmatisierung.

Einem großen Teil, wenn auch bei weitem nicht allen in die Städte wandernden Juden gelang dieser »Weg ins Bürgertum« (Simone Lässig) als betterment migration. Gerade dieser Teil aber musste sich von einer neuen Welle jüdischer Migration herausgefordert sehen, die seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Struktur des deutschen Judentums ein weiteres Mal fundamental veränderte.

Interkontinentale Großmigration vom Ende des 19. Jahrhunderts bis ins Zeitalter der Weltkriege

Die in den frühen 1880er Jahren einsetzende, sogenannte »Ostjudenmigration«49 trug nun wiederum sehr starke Züge einer vertreibungsbedingten Zwangsmigration, zu der Judenfeindlichkeit und antijüdische Gewalt zusammenwirkten. Da es sich bei den aus dem Zarenreich und den von diesem beherrschten Gebieten Polens, Litauens, Weissrusslands, der Ukraine und Bessarabiens Fliehenden in der Regel um arme bis sehr arme Juden handelte, deren Wanderungsziele nicht primär das Deutsche Reich oder die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie waren, sondern die Weiterwanderung nach Übersee, wird wiederum von subsistencemigration zu sprechen sein. Freilich mischten sich bereits Töne eines neuen Motivs hier ein: Ideen einer jüdisch-nationalen Erweckung oder »Autoemanzipation« (Leon Pinsker) bildeten schon vor der Ausbreitung der Herzlschen Variante des Zionismus kulturpolitische oder ideologische Unterströmungen der neuen jüdischen Migrationsbewegung.

Auslöser der neuerlichen jüdischen Großmigration in westliche Richtung, die sich in verschiedenen Wellen bis über den Ersten Weltkrieg hinaus erstreckte, war die sich radikal verschärfende antijüdische Politik des russischen Reiches nach der Ermordung des Zaren Alexander II. im März 1881 und die sich an dieses Ereignis knüpfenden Pogrome. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war es die Politik der Zaren gewesen, die Ansiedlung der Juden auf einen etwa 450 Kilometer breiten Streifen im Westen des Reiches, zwischen Vilna im Norden und Odessa im Süden – den sogenannten Ansiedlungsrayon – zu begrenzen.50 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten in diesem Gebiet fast 4,9 Millionen Juden, mehr als 90 Prozent aller Juden im Russischen Reich.51 Die Ermordung Alexanders II. – übrigens nicht durch einen Juden – markierte äußerlich den Umschlag von der bisherigen Politik der »Russifizierung« der Juden hin zu einer massiv antijüdischen Gesetzgebung und exklusorischen Politik unter Begünstigung pogromartiger Gewaltausbrüche, mit dem Ziel, den Juden die Sündenbockrolle für die Reformunfähigkeit des Landes einerseits und die aus dieser Reformunfähigkeit hervorgehenden sozialrevolutionären Wellen andererseits zuzuschreiben, und sie letzten Endes aus dem Lande zu vertreiben – auch bereits im Sinne der jetzt überall aufblühenden gesamtslawisch-völkisch-nationalen Ideologien.52 Zu den Push-Faktoren der Migrationswellen aus dem Zarenreich nach 1900 zählten das Kishinev-Pogrom von 1903 sowie Verfolgungen in Zusammenhang mit dem russisch-japanischen Krieg 1904/05 und der Revolution von 1905.

Die Wende in der russischen Politik schlug sich in einer langanhaltenden Massenauswanderung53 nieder, die in den Anrainerstaaten als massives Flüchtlingsproblem wahrgenommen wurde. Deshalb konzentrierten sich jüdische wie nichtjüdische Hilfsorganisationen darauf, die Weiterwanderung zu ermöglichen und zu organisieren.54 Die weitgehende Öffnung der USA als Aufnehmerland konnte erreicht werden, so dass zwischen 1881 und 1900, meist über Hamburg, Bremen und Rotterdam, fast 700 000 Juden nach Nordamerika auswanderten, ein Drittel davon allein nach New York. Zwischen 1901 und 1914 folgten weitere 1,6 Millionen, davon 1,3 Millionen allein über Hamburg.55 Insgesamt verließen vor dem Ersten Weltkrieg fast 2,5 Millionen Juden Osteuropa. Auf ganz Europa bezogen, sollten es bis 1939 3,7 Millionen werden. Neben dem Hauptstrom in die Vereinigten Staaten (68 %) führten weitere Auswanderungswege nach Lateinamerika (10 %), Kanada (5 %) und nach Palästina (12 %, absolut 435 000 bis 1939, davon 30 000 bereits vor 1900).56 Die neuen globalen, vor allem nord- und südamerikanischen Siedlungsschwerpunkte der Juden entstanden damit bereits vor 1914 durch die Migrationsbewegung aus dem Osten Europas; sie wurden weiter gespeist durch die Auswanderungswellen während des Ersten Weltkriegs und der Folgezeit. Seit 1941 unterbanden die genozidale nationalsozialistische Expansion und die zunehmend auf Abschottung zielende Politik der Aufnahmeländer allerdings die weitere Auswanderung fast vollständig. Erst mit der Gründung Israels kam eine neuerliche Migrationswelle in Gang, die nun einen Großteil der durch den Krieg entwurzelten jüdischen displacedpersons (DP), meist osteuropäischer Herkunft in den neuen jüdischen Staat in Palästina führte – zwischen 1948 und 1954 allein 740 000.57 Mit Blick auf die sich fundamental verändernden jüdischen Siedlungsschwerpunkte ließe sich von einer interkontinentalen Großmigrationswelle der Juden sprechen, die sich – über verschiedene Unterphasen hinweg – über das Zeitalter der Weltkriege in die weltpolitische Phase des Kalten Krieges hineinzog.

Obwohl der Zustrom von Juden aus Osteuropa seit den 1880er Jahren zum größten Teil weitergeleitet wurde, blieb er nicht ohne Konsequenzen für die Gestalt der jüdischen Minderheit in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas und für die politische Debatte über den Status dieser Minderheit innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft.58 Nicht alle »Ostjuden« verließen die Durchgangsländer, viele blieben, ob nun absichtlich oder unabsichtlich, legal oder geduldet. Preußen versuchte in den 1880er Jahren der Zuwanderung durch Ausweisungsaktionen entgegenzutreten; so wurden etwa zwischen 1885 und 1887 etwa 30 000 Juden russischer und polnischer Herkunft ausgewiesen. Andere Länder des Reiches, wie Sachsen und Bayern, agierten weniger strikt. Auf die Gesamtheit bezogen blieb die Zahl der in Deutschland »hängenbleibenden« Juden östlicher Herkunft zunächst relativ gering. 1900 belief sie sich auf etwa 41 000 Personen im Deutschen Reich; 1910 auf etwa 79 000, also um die 13 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung. Von diesen lebten ca. 48.000 in Preußen (11,6 % der jüdischen Bevölkerung Preußens) und etwa 10 000 in Sachsen (59 % der jüdischen Bevölkerung Sachsens).59 Infolge der zweiten großen Migrationswelle während des Ersten Weltkriegs wuchs der Anteil der »Ostjuden« an der jüdischen Gesamtbevölkerung Deutschlands dann immerhin auf etwa 20 % an.60

Die regional stark variierenden Anteile hängen mit bestimmten, meist großstädtischen Schwerpunktbildungen durch die ostjüdische Zuwanderung zusammen. Manche jüdischen Gemeinden vor allem Sachsens und Bayerns wuchsen in dieser Zeit erst zu nennenswerten Größen heran: Leipzig, Dresden und München.61 Der Anteil der »Ostjuden« in Berlin lag hingegen eher im Mittelfeld. Strukturell stammten die in Deutschland verbleibenden Zuwanderer weniger aus den russisch-polnischen Gebieten als aus den polnischen (galizischen) Teilen der Habsburgermonarchie, daneben auch aus Böhmen und Mähren, aus der Bukowina sowie in beträchtlicher Anzahl aus Wien. Auch dies sind Hinweise auf eine durch die politischen Umstände begünstigte betterment migration. Die bereits unter besseren Bedingungen – wenngleich dessenungeachtet meist arm – in der Habsburgermonarchie lebenden Juden östlicher Herkunft suchten einen höheren Lebensstandard im Deutschen Reich. Weil Österreich-Ungarn dessen Bündnispartner war, fiel eine Ausweisung dieser Zuwanderer aus Deutschland schwer. Die (noch) ärmeren russisch-polnischen Juden hingegen konnten leichter abgeschoben werden bzw. suchten im Sinne einer subsistencemigration ohnehin viel eher die Weiterwanderung in Richtung Übersee.

Die antisemitische Agitation verstand die sich durch die Zuwanderung aus dem Osten verändernde Lage auszunutzen. Der bereits seit dem »Gründerkrach« aufschwemmenden, sozioökonomisch motivierten antijüdischen Polemik lagerte sich nun eine zunehmend auch völkisch und rassistisch agierende Strömung an, die in der ostjüdischen Zuwanderung eine Störung des deutsch-völkischen Gefüges durch vermeintlich fremdartige und minderwertige Eindringlinge zu erkennen meinte. Beide Strömungen wirkten zu jenem antisemitischen Bodensatz zusammen, der über die Jahrzehnte des Kaiserreichs hinweg die Mehrheitsgesellschaft zunehmend durchdrang. Auch jüdisch-binnenperspektivisch stellte die Migration seit den 1880er Jahren eine Herausforderung dar. Nicht nur die politischen Fraktionierungen innerhalb des deutschen Judentums veränderten sich durch die Entstehung volks-jüdischer und zionistischer Gruppierungen (wie der Jüdischen Volkspartei oder der Zionistischen Vereinigung für Deutschland); auch in ihrer Identifikation als Juden sahen sich die Bürgerlichen herausgefordert durch ihre ärmeren »Brüder und Schwestern« aus dem Osten, denen sie oftmals mit Unverständnis, ja Ablehnung gegenübertraten.62 Mochte ein Großteil der bürgerlichen Juden gedacht haben, das »ostjüdische Problem« auf philanthropische Spendentätigkeit zur Begünstigung der Durchwanderung reduzieren zu können, war doch über kurz oder lang nicht von der Hand zu weisen, dass dieses Problem katalysatorisch für zentrale Themen der Debatte um das »Wesen« der deutschen Juden wirkte: Bedeutete Judentum »nur« religiöses Bekenntnis oder stand es für einen kulturellen Habitus, waren deutsche Juden »Deutsche jüdischen Glaubens« oder gehörten sie als Juden einem eigenen Volk oder einer eigenen Nation an; wenn ja, mit welchen Konsequenzen? War die Zeit reif für eine »jüdische Renaissance« oder nicht? War das zionistische Programm Gebot der Stunde oder nicht? War die »deutsch-jüdische Symbiose«63 gelungen oder gescheitert, und wie verhielt sich diese Frage zu derjenigen nach dem Wesen des Antisemitismus: konnte Antisemitismus aus der deutschen (und europäischen) Gesellschaft verschwinden oder war Judenfeindlichkeit ein nicht zu überwindendes Grundfaktum, dem die Juden nur durch eine neue, bewusste Migration entgehen konnten, nämlich durch eine Art nationaler, selbstbestimmter Wanderung in einen jüdischen Staat?

In all diesen Debatten übertönte – von den erklärt orthodoxen Strömungen vielleicht abgesehen – ein neues kulturell-völkisch-nationales Bewusstsein die religiösen Motive. Gerade auch die erregten binnenjüdischen Diskurse über Sinn und Ziel zionistischer Migration zeigten sich von innerweltlichen Heilserwartungen viel stärker bewegt als von transzendentalen.64 Religiosität bleibt unter den Push-und Pull-Faktoren der Großmigration seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einer unter mehreren und bei Weitem nicht der bestimmende. Insgesamt fiel die Abwanderung von Juden aus Deutschland, wie überhaupt aus Mitteleuropa, nach Palästina quantitativ gering aus. Die jüdischen Einwanderer nach Palästina kamen während der ersten vier Alija- Wellen zwischen 1882 und 1931 im Wesentlichen aus Russland (Polen), während die Quote der Mitteleuropäer lediglich zwischen zwei und sechs Prozent lag.65 Während der Jahre der NS-Diktatur bis 1941 konnten etwa 55 000 Juden aus Deutschland (mit österreichischen Juden nach 1938 70 000–80 000) nach Palästina auswandern,66 die meisten vor Beginn des Weltkriegs über das zwischen Reichswirtschaftsministerium, Zionistischer Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und Jewish Agency geschlossene sogenannte ha-avara (= Transfer)-Abkommen vom August 1933.67 Diese trieb freilich in den wenigsten Fällen zionistische Gesinnung, sondern die blanke Not der lebensbedrohenden Verfolgung durch NS-Deutschland.68 Insgesamt verließen bis Mai 1939 etwas mehr als die Hälfte der jüdischen Gesamtbevölkerung des Jahres 1933, bis 1941 dann insgesamt ca. 60 Prozent, Deutschland (250.000-270.000).69 Um die 30.000 entkamen trotzdem der nationalsozialistischen Mordmaschinerie nicht, denn sie wurden nach Kriegsbeginn in den von Deutschland besetzten Staaten wieder aufgegriffen.70

Auch die bipolare Ära endete nicht ohne eine neuerliche jüdische Migrationswelle. Der Zerfall der Sowjetunion, die gewonnene Freiheit einerseits (Push-Faktor), die Möglichkeiten ökonomischer, sozialer und kultureller Entfaltung in den Ländern des Westens andererseits und – was Deutschland betraf – die erklärte politische Bereitschaft, diese Gruppe von Zuwanderern aufzunehmen (Pull-Faktoren), bewegte zwischen 1990 und 2005 fast eineinhalb Millionen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zur Aussiedlung. Von ihnen kamen als sogenannte »Kontingentflüchtlinge« etwas mehr als 200 000 in das wiedervereinigte Deutschland.71 »Jude«/»jüdisch« bedeutete für viele von ihnen nicht mehr als den Eintrag eines Nationalitätenkennzeichens im Pass, so dass sich die Frage der identitären Selbstverortung dieser »Juden« stellte. Ein Großteil der russischsprachigen jüdischen Kontingentflüchtlinge verfügte beispielsweise über keinerlei, bestenfalls rudimentäre Kenntnisse von den Grundinhalten jüdischer Religiosität.72 Gleichwohl entschied sich etwa die Hälfte dieser Gruppe für den Eintritt in die bestehenden oder in neugegründete jüdische Gemeinden Deutschlands.73 Diese Gemeinden neigen, sofern im Schlepptau ihrer sozialen Beherbergungsfunktion schließlich auch Religiosität wieder an Bedeutung gewinnt, eher zu orthodoxen denn liberalen Denominationen des Judentums.74

Durch die russisch-jüdische Zuwanderung seit 1990 veränderte sich die Zusammensetzung der Gruppe der deutschen Juden ein weiteres Mal. Die Zahl der seit 1949 in den beiden deutschen Staaten verbliebenen oder in sie aus dem Exil zurückgekehrten Juden war gering, in der DDR marginal.75 Mental waren diese Juden geprägt von der Erinnerung an das bedeutende deutsch-jüdische Erbe des 19. Jahrhunderts und der Zeit bis 1933 einerseits, an die ostjüdische Herkunft und das DP-Schicksal andererseits. Beide Gruppen lebten in Deutschland mit dem Trauma der Shoah, oftmals dem Vorwurf von Juden aus Israel und den USA ausgesetzt, sich trotz allem für das »Land der Täter« entschieden zu haben. Erst in den 1970er und 80er Jahren wuchs eine neue, aber sehr kleine Generation im Nachkriegsdeutschland geborener Juden heran, die sich mit dem neuen Deutschland, zumal der demokratischen Bundesrepublik, selbstbewusst identifizierten.76 Die »Kontingentflüchtlinge« setzten demgegenüber, allein schon quantitativ, völlig neue Akzente, gaben neue Impulse. Ihre Inklusion in die sich marginalisierende deutsch-jüdische Gemeinschaft – die vielfach deren Transformation bedeutete – aber auch in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft verlief nicht problemlos. Allem Anschein nach scheint sie jedoch besser zu gelingen bzw. bereits gelungen zu sein als seinerzeit diejenige der in Deutschland verbliebenen osteuropäischen Juden der Migrationswellen seit 1881. – Mit der post-kommunistischen Abwanderung von Juden aus der zerbrechenden Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten kommt die Migrationsgeschichte der europäischen Juden (vorläufig?) zu einem Ende.

Sepharden – Aschkenasen – »Ostjuden«

Die für das deutsche Judentum prägende Gruppe ist diejenige der »Aschkenasen«, also der im »Aschkenas« (hebr. »Deutschland«) Siedelnden. Der Begriff verweist auf mehr als Geographie, denn im »Aschkenas« prägten die Juden eine spezifische religiöse und kulturelle Form des Judentums aus. Das aschkenasische Judentum entstand, wie das sephardische, aus Migrationsbewegungen, die den eben geschilderten lange voraus gingen. An deren Beginn standen Ansiedelungen von Juden über die Gebiete des römischen Imperiums hinweg, insbesondere seit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70, auch in Richtung der Iberischen Halbinsel sowie im Gefolge der römischen Expansion nach Norden in Richtung Zentraleuropa. Mit der Tempelzerstörung während des »Jüdischen Krieges« (66–74), der Ermordung, Versklavung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung Judäas, die sich nach den blutig niedergeschlagenen Aufständen der Jahre 115–117 (»Diaspora-Aufstand«) und 132–135 (»Bar-Kochba-Aufstand«) fortsetzte, wurden zusammenhängende jüdische Großsiedlungsgebiete, zumal mit Anspruch auf Eigenstaatlichkeit, durch die Römer zerschlagen, entstand die – nach dem »babylonischen Exil« zweite – Diaspora-Phase (hebr. galut) der jüdischen Geschichte.77 »In der Zerstreuung« lebten Juden fortan fast zwei Jahrtausende, bis zur Gründung des jüdischen Staates Israel 1948.78

Sephardische Juden

Sephardische und aschkenasische Juden entwickelten über die Jahrhunderte hinweg unterschiedliche Kulturbestände. Identitätsprägend ist auf beiden Seiten die jeweilige Begegnung mit den Mehrheitsreligionen Christentum und Islam (für die Juden der iberischen Halbinsel schon während der Jahrhunderte der arabisch-muslimischen Herrschaft und danach für die ins Osmanische Reich abwandernden Sepharden). Sephardische Juden in Gemeinden des östlichen Mittelmeers, der Levante und Nordafrikas spielten eine wichtige Rolle in der Ausbildung der kabbalistischen jüdischen Mystik und bestimmter Formen des jüdischen Messianismus.79 Auf der anderen Seite brachten die aus dem »Sefarad« (von der iberischen Halbinsel) nach Nordwesteuropa wandernden conversos und Marranen unterschiedlichste »hybride Identitäten«, Mischformen aus Judentum und Christentum mit. Sie waren mit der Erfahrung der Zwangstaufe belastet und wussten als »Kryptojuden« eine christliche Oberfläche und eine jüdische Tiefenschicht zu verbinden.

Die kritische Auseinandersetzung mit jüdischer und christlicher Tradition wurde auch für Baruch de Spinoza (Bento de Espinosa, 1632-1677) entscheidend. Dieser für die Moderne wegweisende Religionsphilosoph, ein Vorläufer der Aufklärung und Inspirator Moses Mendelssohns, entstammte der Amsterdamer sephardischen Gemeinschaft mit ihren portugiesischen Wurzeln. In seinem Theologisch-politischen Traktat (1670) beharrte er in Anlehnung an Descartes auf der Freiheit, über Gott nachzudenken, ohne sich dogmatischen Setzungen zu fügen. Bereits 1656 war Spinoza aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurden, nachdem er wegen dissidenter religiöser Positionen mit den Gemeindeoberen in Konflikt geraten war.80

Sephardisches Judentum ist, ausgehend von Spanien und Portugal, west- und südosteuropäisch, »mittelmeerisch«,81