Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Im öffentlichen Personennahverkehr stoßen sensorisch eingeschränkte Menschen, insbesondere solche mit eingeschränktem oder nicht vorhandenem Sehvermögen, bei der Planung einer Reise auf diverse Schwierigkeiten. Viele der heutzutage üblichen Systeme zur Fahrgastinformation sind rein visuell konzipiert und für diese Gruppe von Fahrgästen praktisch nicht zu gebrauchen. Im Rahmen des Projekts Sinn² wurde eine Smartphone-App nach dem Zwei-Sinne-Prinzip entwickelt, welche unter Zuhilfenahme der von diesen Geräten standardmäßig angebotenen Vorlesefunktionen eine barrierefreie Fahrgastinformation ermöglicht. Der Forschungsbericht beinhaltet die Beschreibung des iterativen Entwicklungsprozesses, in dem die Bedienkonzepte und Menüstrukturen der App durch Einbeziehung einer projektbegleitenden Gruppe blinder und sehbehinderter Personen speziell auf deren Bedürfnisse ausgelegt, ständig verbessert und abschließend in einer Testphase durch Personen der Zielgruppe getestet wurden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Liebe Leserinnen und Leser,
im Bereich der Barrierefreiheit des ÖPNV standen in der Vergangenheit häufig die Belange von mobilitätseingeschränkten Fahrgästen im Vordergrund, während die Belange von Menschen mit Wahrnehmungseinschränkungen nicht voll zur Geltung kamen. Besonders betroffen sind dabei Sehbehinderte und Blinde, die nicht oder nur mit Hilfsmitteln in der Lage sind, z. B. Fahrplanaushänge oder Netzpläne zu erfassen.
Diese Kommunikationsbarrieren werden insbesondere bei der zunehmenden Verbreitung von Echtzeit-Fahrgastinformationen deutlich. Die Echtzeitinformationen werden auf den Anzeigern in Bahnhöfen und Haltestellen visuell dargestellt und sind im Internet oder per App abrufbar. Diese Darstellungsformen erschweren Sehbehinderten und Blinden die Nutzung und führen zu Zugangshemmnissen und Unsicherheiten bei der Benutzung des ÖPNV.
Ziel des Projektes Sinn2 war es daher, landesweit eine barrierefreie sowie echtzeitfähige Fahrgastinformation für blinde und sehbehinderte Personen zur Verfügung zu stellen, um für diese den ÖPNV zuverlässiger und attraktiver zu gestalten. Um dies zu ermöglichen, wurde im Projekt eine Fahrgastinformation in Form einer App für Smartphones realisiert, welche insbesondere hinsichtlich der Bedienung speziell auf die Bedürfnisse der genannten Zielgruppen abgestimmt ist.
Dadurch lassen sich zeit- und kostenintensive Maßnahmen an der Infrastruktur der Haltestellen (z. B. Ausstattung mit DFI-Anzeigern, die zusätzliche akustische Informationen zur Verfügung stellen) und eventuell auch in den Fahrzeugen vermeiden. In Folge dessen lässt sich die barrierefreie sowie echtzeitfähige Fahrgastinformation ohne nennenswerten Mehraufwand großflächig verbreiten – auch in ländlichen Regionen mit geringem Fahrgastaufkommen.
Stuttgart, im Juli 2018
Stefan Tritschler, Susanne Schäfer-Walkmann, Ullrich Martin, Stefan Schmidhäuser, Alessa Peitz und Carlo von Molo
Abbildungsverzeichnis
Ausgangslage und Motivation
1.1 Entwicklung des ÖPNV im Land
1.2 Zielstellung Barrierefreiheit
1.3 Berücksichtigung sensorischer Einschränkungen
1.4 Stand der Wissenschaft und Technik
1.5 Ziel des Projekts Sinn
2
1.6 Vorgehen und Struktur des Projekts Sinn
2
Stand der Technik
2.1 Barrierefreiheit durch mobile Anwendungen
2.2 Soester BusGuide / Ivanto App
2.3 DyFIS-Talk
2.4 easy.GO
2.5 aim4it
2.6 Blindeninformationssystem BLIS
2.7 Barrierefreie Nutzung von Smartphones
2.7.1 Bildschirmlupe
2.7.2 Screen-Reader
Zielgruppe und Anforderungen der Zielgruppe
3.1 Umwelt und Sehbehinderung: Die Welt des Nicht-Sehens
3.2 Blindheit: Begriffliche Klärung
3.3 Barrierefreiheit: Der gesetzliche Hintergrund
3.4 Mobilität im öffentlichen Raum bei Einschränkungen des Sehsinns
3.5 Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr bei Einschränkungen des Sehsinns
Gemeinsame Forschung mit der Zielgruppe
Entwicklungsphase
5.1 App Entwicklung
5.1.1 Betriebssystem
5.1.2 Entwicklungsumgebung
5.1.3 Programmiersprache
5.1.4 Unterstützte Geräte
5.2 App Distribution
Pilotversion
6.1 Design und Funktionen der App
6.2 Optimierung von Apps für Screen-Reader
6.2.1 Herausforderungen bei der Nutzung von Screen-Readern
6.2.2 Elemente, die den Aufbau der Anzeige verändern
6.2.3 Fragmentierung von Informationen durch Einzelelemente
6.2.4 Falsche Reihenfolge der Elemente
6.2.5 Schwer in akustische Informationen umwandelbare Elemente
6.2.6 Überflüssige Elemente ohne Informationsgehalt
6.3 Design und Struktur der Sinn
2
-App
6.3.1 Allgemeine Designentscheidungen
6.3.2 Hilfe-Menü in Textform auf Hauptseite
6.3.3 Navigationszeile für erweiterte Funktionen
6.3.4 Klar strukturierte Ansichten mit überschaubarer Elementdichte
6.3.5 Geführte Routenplanung mit Zwischenschritten
6.3.6 Auswahl der angebotenen Farbschemata
6.4 Funktionsgruppe Fahrgastinformation
6.4.1 Hauptmenü der Fahrgastinformation
6.4.2 Favoriten
6.4.3 Planung
6.4.4 Nächstgelegen
6.5 Weitere Funktionen
6.5.1 Kontakte
6.5.2 Optionen
Studiendesign und Projektverlauf
7.1 Partizipatives Forschungsdesign
7.2 Gruppendiskussionen
7.3 Telefoninterviews
7.4 Teilnehmende Beobachtungen
Auswertung der Ergebnisse
8.1 Auswertung Entwicklung
8.1.1 Umfang der Auswertung
8.1.2 Auswertung Telefoninterview t1-Entwicklungsphase
8.1.3 Auswertung Telefoninterview t2-Entwicklungsphase
8.2 Auswertung Testphase
8.2.1 Umfang der Auswertung
8.2.2 Teilnehmende Beobachtung
8.2.3 Auswertung Telefoninterview t3 Testphase
Fazit und Ausblick
9.1 Ergebnisse des Projekts
9.2 Resümee der Zielgruppe
9.3 Weiterer Entwicklungsbedarf
9.4 Überführung der App in den flächendeckenden Dauerbetrieb
Abbildung 1:
DFI-Anzeiger in Neuenstadt am Kocher
Abbildung 2:
Gleicher DFI-Anzeiger aus der Sicht eines Sehbehinderten mit 5% bis 10% Sehkraft
Abbildung 3:
DFI-Anzeiger mit Taster für akustische Ansage
Abbildung 4:
Soester BusGuide
Abbildung 5:
DyFIS-Talk
Abbildung 6:
easy.GO
Abbildung 7:
Zoom-Funktion mit Graustufen-Filter
Abbildung 8:
Braillezeile zur Verwendung am Computer
Abbildung 9:
Entwicklungsumgebung XCODE
Abbildung 10:
Einsatz von Containern zur Gruppierung von Elementen
Abbildung 11:
Umgang mit überflüssigen oder nicht übersetzbaren Elementen
Abbildung 12:
Hauptseite des Leitfadens
Abbildung 13:
Funktionsbeschreibung - Routenplanung
Abbildung 14:
Angebotene Farbschemata
Abbildung 15:
Hauptmenü der Fahrgastinformation
Abbildung 16:
Favoriten Menü
Abbildung 17:
Untermenü - Routen Favoriten, Normal- und Bearbeitungsmodus
Abbildung 18:
Untermenü – Haltestellen Favoriten, Normal- und Bearbeitungsmodus
Abbildung 19:
Planung-Menü
Abbildung 20:
Ablauf Routenplanung Start-Ziel
Abbildung 21:
Angabe des Abfahrtsorts
Abbildung 22:
Vorgeschlagene Orte bei mehrdeutiger Eingabe (Eingabe: Oper)
Abbildung 23:
Auswahl ob weiterer Zwischenhalt gewünscht ist
Abbildung 24:
Auswahl ob Abfahrts- oder Ankunftszeit verwendet wird
Abbildung 25:
Eingabemaske Datum
Abbildung 26:
Kompaktmodus – Angabe Abfahrts- und Zielort
Abbildung 27:
Kompaktmodus – Angabe Abfahrts- oder Ankunftszeit
Abbildung 28:
Liste der Zusammenfassungen der ermittelten Routen
Abbildung 29:
Detailansicht einer Verbindung
Abbildung 30:
Ablauf Routenplanung Schnellplanung
Abbildung 31:
Angabe einer Haltestelle zur Abfrage der Abfahrstafel
Abbildung 32:
Auswahl zwischen Live oder Plan Abfahrtstafel
Abbildung 33:
Live Abfahrtstafel
Abbildung 34:
Live Abfahrtstafel als Ersatz für Haltestellenanzeiger
Abbildung 35:
Fahrplan Abfahrtstafel
Abbildung 36:
Übersicht über Haltestellen in der Umgebung
Abbildung 37:
Live Abfahrtstafel einer nahegelegenen Haltestelle
Abbildung 38:
Navigationshilfe mit Richtungsanzeige
Abbildung 39:
Kontaktmenü
Abbildung 40:
Optionsmenü
Abbildung 41
Terminübersicht Datengewinnung
Abbildung 42:
Ablaufplanung des Praxistests
Abbildung 43:
Genutzte Routenplanungs-Anwendungsfälle während der teilnehmenden Beobachtungen
Abbildung 44:
Genutzte „Nächstgelegen“-Anwendungsfälle während der teilnehmenden Beobachtungen
Abbildung 45:
Genutzte „Live-Fahrplan“-Anwendungsfälle während der teilnehmenden Beobachtungen
Abbildung 46:
Nutzungshäufigkeit der Sinn
2
-App
Abbildung 47:
Anwendungssicherheit und Routine im Umgang mit der Sinn
2
-App
Abbildung 48:
Einschätzung der Aufgabenangemessenheit der Sinn
2
-App
Abbildung 49:
Einschätzung der Selbstbeschreibungsfähigkeit der Sinn
2
-App
Abbildung 50:
Einschätzung der Steuerbarkeit der Sinn
2
-App
Abbildung 51:
Einschätzung der Erwartungskonformität der Sinn
2
-App
Abbildung 52:
Einschätzung der Fehlertoleranz der Sinn
2
-App
Abbildung 53:
Einschätzung der Individualisierbarkeit der Sinn
2
-App
Abbildung 54:
Einschätzung der Lernförderlichkeit der Sinn
2
-App
Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Baden-Württemberg wird von den Bürgerinnen und Bürgern rege genutzt, insbesondere in den Ballungsräumen konnte durch die Investitionen der letzten Jahrzehnte in den schienengebundenen ÖPNV die Zahl der Fahrgäste deutlich gesteigert werden. Ein weiterer Anstieg des Anteils des ÖPNV zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs ist ein wichtiges landespolitisches Ziel, um zusätzlich auch die CO2-Emissionen des Verkehrs zu verringern und die Verkehrssicherheit zu erhöhen.
Für eine weitere Steigerung der Attraktivität des ÖPNV sind unterschiedliche Faktoren von Bedeutung. Dabei spielen neben den tariflichen Konditionen insbesondere die Reisezeit der Fahrgäste sowie die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit des ÖPNV eine wichtige Rolle. Dazu kommt ein stetig steigendes Kundenbedürfnis an aktuellen Informationen über den ÖPNV, welches sich im Wunsch nach einer verstärkten Ausstattung von Haltestellen mit Dynamischen Fahrgastinformationsanzeigern (DFI) sowie in der stark ansteigenden Nutzung von Fahrplanauskunftsdiensten im Internet und über mobile Endgeräte zeigt.
Die Gewährleistung einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft und die Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung ist ein wichtiges gesellschaftspolitisches Ziel. Die wichtigsten Aussagen dazu sind im Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG) gebündelt, welches eine Beseitigung aller räumlichen Barrieren und Kommunikationsbarrieren im Sinne der Barrierefreiheit anstrebt.
Dabei wird auch explizit auf den ÖPNV verwiesen und das Ziel vorgegeben, dass dieser auch für Menschen mit Behinderung möglichst ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar ist. Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) konkretisiert diese Vorgabe des BGG und macht den Aufgabenträgern des ÖPNV in § 8 Abs. 3 die Vorgabe, die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des ÖPNV bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. Detaillierte Informationen dazu finden sich in Kapitel 3.3.
Um diesem Ziel gerecht zu werden, wurden im ÖPNV in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um eine möglichst weitreichende Barrierefreiheit zu erreichen. Bei diesen Anstrengungen stehen meist mobilitätseingeschränkte Personen im Vordergrund, da die Maßnahmen (z. B. barrierefreier Zugang zum Bahnsteig mittels Aufzügen und Rampen oder Angleichung der Bahnsteighöhe an die Einstiegshöhe der Fahrzeuge) auch vielen weiteren Fahrgästen (z. B. mit Kinderwagen, Fahrrädern oder Gepäck) zu Gute kommen.
Durch den Fokus auf mobilitätseingeschränkte Personen kommen bei der Schaffung eines barrierefreien und attraktiven ÖPNV die Belange von Menschen mit Wahrnehmungseinschränkungen nicht voll zur Geltung. Besonders betroffen sind dabei Sehbehinderte und Blinde, die nicht oder nur mit Hilfsmitteln in der Lage sind, z. B. Fahrplanaushänge oder Netzpläne zu erfassen.
Diese Kommunikationsbarrieren werden insbesondere bei der zunehmenden Ausstattung von Bahnhöfen und Haltestellen mit Dynamischen Fahrgastinformationsmedien deutlich. Die Echtzeitinformationen werden auf den Anzeigern visuell dargestellt und schließen damit die Gruppe der Sehbehinderten und Blinden von der Nutzung aus. Die Folgen hiervon sind Zugangshemmnisse und Unsicherheiten bei der Benutzung des ÖPNV.
Um zu verdeutlichen, wie eine Einschränkung der Sehkraft Personen von der Nutzung der DFIs ausschließen, da sie den angezeigten Inhalt nicht lesen können, zeigen die beiden folgenden Abbildungen einen DFI-Anzeiger – einmal ohne und einmal mit Einschränkung der Sehkraft.
Abbildung 1: DFI-Anzeiger in Neuenstadt am Kocher
Abbildung 2: Gleicher DFI-Anzeiger aus der Sicht eines Sehbehinderten mit 5% bis 10% Sehkraft
Diese Problematik führte bereits zur Kritik der Blinden- und Sehbehindertenverbände und der daraus abgeleiteten Forderung, auch bei der Fahrgastinformation das sogenannte Zwei-Sinne-Prinzip zu berücksichtigen. Dieses Prinzip hat die Zielstellung, dass mindestens zwei der drei Sinne „Hören“, „Sehen“ und „Tasten“ angesprochen werden, so dass auch Menschen mit einer sensorischen Einschränkung die Informationen aufnehmen können.
Zur Gewährleistung einer barrierefreien und echtzeitfähigen Fahrgastinformation für blinde und sehbehinderte Menschen werden derzeit zwei unterschiedliche Lösungskonzepte verfolgt.
An Haltestellen des ÖV, die mit DFI-Anzeigern ausgestattet sind bzw. werden, können Anzeiger eingesetzt werden, die neben der optischen Anzeige auch eine akustische Ansage der Abfahrten anbieten. Derartige Anzeiger sind am Markt erhältlich und werden bereits von einigen Verkehrsunternehmen eingesetzt. In Baden-Württemberg sind solche Anzeiger allerdings noch nicht sehr verbreitet. Ein Beispiel für den Einsatz bietet die kürzlich ausgebaute Münstertalbahn, an deren Haltestellen Anzeiger mit akustischer Ansage aufgestellt wurden (siehe Abbildung 3). Bei einem Druck auf den Taster am Mast des DFI-Anzeigers werden alle Informationen vorgelesen, die auf dem Anzeiger dargestellt werden.
Abbildung 3: DFI-Anzeiger mit Taster für akustische Ansage
Beim zweiten Lösungskonzept wird auf ortsfeste Anlagen zur Information verzichtet und stattdessen eine von sehbehinderten und blinden Personen nutzbare Smartphone-App angeboten. Smartphone-Apps stellen eine günstige Alternative zu stationären Anzeigern dar. Zwischenzeitlich bietet in Deutschland nahezu jedes größere Verkehrsunternehmen oder jeder größere Verkehrsverbund eine für Smartphones optimierte Fahrgastinformation an, sei es in Form von Apps oder einer mobilen Website. Darüber hinaus bietet die App der Deutschen Bahn neben den eigenen Fahrplandaten auch die vieler anderer Betreiber in Deutschland an.
Bislang gibt es aber noch kaum spezialisierte Apps für die Zielgruppe der Blinden und Sehbehinderten. Ansonsten sind sehbehinderte und blinde Personen darauf angewiesen, sich die Inhalte der App mittels der Sprachausgabe-Funktion ihres Smartphones vorlesen zu lassen. Da die Apps meist nicht im Hinblick auf die Anforderungen der Barrierefreiheit entwickelt wurden, werden häufig nicht alle relevanten Informationen auf der Oberfläche der App angezeigt. So sind z. B. Angaben zu Zeiten, Linien oder Gleisen lediglich als Zahlen ohne Kontext dargestellt, so dass die Sprachausgabe -Funktion nur eine Zahlenreihe ohne Zusammenhang vorlesen kann. Der Stand der Technik in diesem Bereich ist in Kapitel 2 beschrieben.
Um landesweit eine barrierefreie und echtzeitfähige Fahrgastinformation für blinde und sehbehinderte Personen zu ermöglichen, wurde im Projekt „Sinn2 – Die barrierefreie Zwei-Sinne-Fahrgastinformation“ eine Fahrgastinformation in Form einer App für Smartphones realisiert, welche insbesondere hinsichtlich der Bedienung speziell auf die Bedürfnisse der Zielgruppen blinder und sehbehinderter Personen abgestimmt ist. Darüber hinaus sollen von der Realisierung des Zwei-Sinne-Prinzips auch weitere Nutzergruppen profitieren, vor allem Seniorinnen und Senioren aber auch Analphabeten sowie Personen, welche aufgrund einer geistigen Behinderung die herkömmlichen Fahrgastinformationsmedien (wie zum Beispiel Apps, Aushangfahrpläne und Dynamische Fahrgastinformationsanzeiger) nicht nutzen können.
Durch das Projekt Sinn2 lassen sich zeitintensive sowie kostspielige Maßnahmen an der Infrastruktur der Haltestellen (z. B. Ausstattung mit DFI-Anzeigern, die zusätzliche akustische Informationen zur Verfügung stellen) und ggf. auch in den Fahrzeugen vermeiden. Im Gegensatz zu infrastrukturbasierten Lösungen lässt sich durch Sinn2 die barrierefreie sowie echtzeitfähige Fahrgastinformation ohne nennenswerten Mehraufwand großflächig verbreiten – auch in ländlichen Regionen mit geringem Fahrgastaufkommen.
Im Projekt arbeiteten drei profilierte Partner mit vielfältigen Erfahrungen auf dem Gebiet des Verkehrswesens und der Sozialwissenschaft zusammen. Das Projektkonsortium besteht aus der VWI Verkehrswissenschaftliches Institut Stuttgart GmbH (VWI), dem Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen (IEV) der Universität Stuttgart sowie dem Institut für angewandte Sozialwissenschaften, Zentrum für kooperative Forschung der DHBW Stuttgart. VWI und IEV übernehmen dabei den verkehrswissenschaftlichen Part und das Institut für angewandte Sozialwissenschaften die sozialwissenschaftliche Begleitung des Projekts. Die Federführung des Konsortiums lag bei der VWI Stuttgart GmbH.
Die Entwicklung der Smartphone-App erfolgte zweistufig. Zunächst wurde ein Prototyp der App spezifiziert und programmiert, der bereits alle wesentlichen Funktionen beinhaltete, aber noch nicht mit Echtzeitdaten arbeitete. In Kleingruppen-Treffen mit Testpersonen der Zielgruppe wurde der Prototyp vorgestellt und von den Teilnehmern getestet. Die aus diesen Nutzbarkeitstests resultierenden Rückmeldungen, Anregungen und Erkenntnisse flossen in die Weiterentwicklung der App ein. Dadurch konnte in der zweiten Stufe der App-Entwicklung die Pilotversion der App erstellt werden. Diese berücksichtigt die Ergebnisse der Nutzbarkeitstests und wird mit Echtzeitdaten des VVS versorgt, so dass sie voll funktionsfähig ist. Dies wurde im Rahmen einer halbjährigen Pilotphase nachgewiesen, in der Anwender aus der Zielgruppe die App im täglichen Leben nutzten. Daraus resultierende Rückmeldungen wurden iterativ in die Weiterentwickelung der App eingespeist, so dass während der Pilotphase überarbeitete Versionen der App entstanden und evtl. noch vorhandene Defizite der App behoben wurden. Entwicklung, Design und Funktionen der App werden in den Kapiteln 5 und 6 beschrieben.
Die Umsetzung des Projekts erfolgte durch eine gemischte Arbeitsgruppe aus Ingenieuren, Technikern und Sozialwissenschaftler/innen. Das Forschungsdesign war hermeneutisch und formativ angelegt, wodurch im Prozess systematisch Erkenntnisse generiert wurden, die bei Bedarf in das Projekt eingespeist werden konnten. Forschungsmethodologisch wurde dabei ein Ansatz der „Triangulation Between Methods“ (vgl. Denzin/Lincoln 2011) verfolgt, um das Vorhaben in seiner Tiefe und Breite zu erfassen und bereits während der Entwicklungsphase möglichst generalisierbare Aussagen zu erhalten.
Die Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung bestand somit zum einen daraus, den Entwicklungs- und Ausgestaltungsprozess der barrierefreien Fahrgastinformation Sinn2 zu flankieren und durch die generierten inhaltlichen sowie organisatorischen Erkenntnisse den Prozess und auch das Endergebnis zu verbessern und zu stabilisieren. Dabei beteiligte das Institut für angewandte Sozialwissenschaften Stuttgart die Zielgruppe der Blinden- und Sehbehinderten konsequent im Sinne einer partizipativen Aktionsforschung. Die Zielgruppe und ihre Anforderungen sowie die gemeinsame Forschung mit der Zielgruppe werden in den Kapiteln 3 und 4 beschrieben. Die Integration der Zielgruppe in die Entwicklung sowie die Einschätzung der Ergebnisse durch die Zielgruppe werden in den Kapiteln 7 und 8 beschrieben.
Der Bedarf nach Methoden zur Einbindung von Personen mit Einschränkungen in den ÖPNV wurde bereits in der Vergangenheit erkannt. Dabei wurden früh Maßnahmen zur Erweiterung der vorhandenen Infrastruktur entwickelt, um Barrierefreiheit herzustellen. Während diese bei neu angelegten Haltestellen schon in der Planungsphase mitberücksichtigt werden können, gestaltet sich die Nachrüstung bestehender Infrastrukturen hierbei jedoch deutlich schwieriger. Zudem benötigt die Mehrheit dieser infrastrukturgebundenen Lösungen eine Anbindung an das Stromnetz, damit beispielsweise Anzeiger mit Vorlesefunktion überhaupt betrieben werden können. Dies kann insbesondere in ländlichen und abgelegenen Gebieten zu nicht zu vernachlässigendem Aufwand bei der Aus- beziehungsweise Umrüstung von Haltestellen führen.
Die schnelle Verbreitung und Akzeptanz von Smartphones, gepaart mit der sich stets verbessernden Leistungsfähigkeit dieser Geräte zeigte schnell, dass im Bereich mobiler Geräte ein hohes Potential vorhanden ist. Mithilfe von Anwendungen (Apps), die speziell für Smartphones entwickelt wurden, können ohne Anschaffung zusätzlicher Ausrüstung oder Durchführung kostspieliger Baumaßnahmen breitflächig Lösungen zur Fahrgastinformation implementiert werden. Da diese Geräte aufgrund neuartiger, durch den für Smartphones typischen Touchscreen möglich gewordene Bedienformen auch unter sehbehinderten Personen weite Verbreitung finden, liegt der Gedanke nahe, diese in Ansätze zur Verbesserung der Barrierefreiheit mit einzubinden.
Im Folgenden werden diesbezüglich einige Projekte vorgestellt, deren Ziel es ist unter Verwendung von mobilen Geräten die Barrierefreiheit im ÖPNV zu verbessern.
Das Ziel des Soester BusGuide bzw. der Ivanto App der GeoMobile GmbH (vgl. Ivanto 2017) besteht darin, den Benutzer über seine gesamte Fahrt zu begleiten und ihn dabei mit einer Vielzahl von Informationen und Funktionen zu unterstützen.
Um dies zu realisieren, werden von der GeoMobile GmbH eigens entwickelte Bluetooth Module eingesetzt, die an Infrastruktur und in Fahrzeugen verbaut werden. Dadurch ist es der Ivanto App möglich eine direkte Verbindung zwischen Infrastruktur, Fahrzeug und Smartphone herzustellen und über diese Informationen auszutauschen, woraus sich neue Einsatzmöglichkeiten ergeben.
Abbildung 4: Soester BusGuide (Bildquelle: GeoMobile GmbH, www.ivanto.de)
Neben der Übertragung der üblichen Informationen zu Linienverläufen, Verspätungen und weiteren Informationen ist es beispielsweise einem einfahrenden Fahrzeug möglich, sich direkt gegenüber den Fahrgästen an einer Haltestelle zu identifizieren und auf dessen Linie und Fahrtrichtung hinzuweisen. Fahrgäste werden im Fahrzeug stets über den aktuellen Fahrtverlauf informiert und können so von der Ivanto App rechtzeitig darauf hingewiesen werden, wenn eine Haltestelle angefahren wird, an der der Fahrgast aussteigen muss. Da die Verbindung in beide Richtungen funktioniert, können zudem Funktionen wie das Anmelden eines Haltewunsches, direkt über das Smartphone erfolgen.
Da über Bluetooth außerdem eine Positionsbestimmung über kurze Distanzen möglich ist, ermöglichen die verbauten Bluetooth Module eine Führung des Benutzers mithilfe der Ivanto App. So können beispielsweise an Haltebuchten oder Gleisen einer Haltestelle jeweils individuelle Module angebracht werden, die anschließend vom Mobilgerät angesteuert werden können. Aufgrund der direkten Verbindung zwischen Modulen und Mobilgerät, ist diese Art der Navigation auch problemlos an unterirdischen Haltestellen oder in Gebäuden realisierbar. Fahrzeugseitig bietet die Ivanto App ein Tür-Finde-Signal an, über welches dem Benutzer die genaue Position der Ein- bzw. Ausstiege angegeben wird.
Die Ivanto App bietet eine Vielzahl nützlicher Zusatzfunktionen für sehbehinderte und blinde Menschen an. Dabei können viele dieser Funktionen jedoch lediglich mithilfe der zusätzlich verbauten externen Bluetooth Module umgesetzt werden.
Die DyFIS-Talk-App (vgl. LUMINO 2017) der Firma LUMINO Licht Elektronik GmbH aus Krefeld soll die von den in der Infrastruktur verbauten dynamischen Informationsanzeigern angebotenen Informationen auch barrierefrei über das Smartphone zur Verfügung stellen.
Zu den angebotenen Funktionen gehören insbesondere die Anzeige von Abfahrtszeiten an Haltestellen und der dazugehörigen Linienverläufe. Um Barrierefreiheit zu erreichen, kann in der App ein eigener Vorlesemodus aktiviert werden, der die auf dem Bildschirm angezeigten Informationen akustisch wiedergibt. Um Konflikte zu vermeiden, wird der Vorlesemodus automatisch deaktiviert, wenn eine vergleichbare Bedienungshilfe des Betriebssystems aktiviert ist.
Abbildung 5: DyFIS-Talk (Bildquelle: LUMINO Licht Elektronik GmbH, www.lumino.de)
Ähnlich zum Ansatz der Ivanto App unterstützt auch LUMINO die Verwendung eigener Bluetooth Beacons (kleine Sender oder Empfänger, die auf der Bluetooth Low Energy (BLE) oder auch Bluetooth Smart Technologie basieren). Bewegt sich ein Mobilgerät in Reichweite eines solchen Beacons, kann über DyFIS-Talk eine vordefinierte automatische Ansage ausgelöst werden. Hierdurch können beispielsweise Zugänge zu verschiedenen Gleisen für Sehbehinderte und Blinde markiert werden. Solange sich ein Mobilgerät in Reichweite eines Beacons befindet, können zudem dynamisch Infotexte vorgelesen werden, die den Benutzer über Veränderungen an der lokalen Situation informieren.
Die Benutzung der Zusatzfunktionen in Form dynamischer lokaler Ansagen benötigt hierbei ebenfalls die Nachrüstung der Infrastruktur mit externer Hardware. Eine Navigation über die Bluetooth Beacons ist hier nicht vorgesehen.
Die easy.GO App des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes GmbH (vgl. MDV 2017) bietet umfangreiche Funktionen zur Fahrgastinformation und zum online Ticketkauf an. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass sie im Vergleich zu Apps anderer Verkehrsunternehmen über eine spezielle Sehbehindertenansicht verfügt, die über das Optionsmenü aktiviert werden kann.
Abbildung 6: easy.GO (Bildquelle: Mitteldeutscher Verkehrsverbund GmbH, www.mdv.de)