Neun Jahre Doris - Daniela Flemming - E-Book

Neun Jahre Doris E-Book

Daniela Flemming

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Beschreibung

Ein Anruf der Schwester stellt klar, dass die vielgeliebte Tante nicht mehr allein zurechtkommt – Altersdemenz. Und nichts liegt näher, als Daniela darum zu bitten, sich um sie zu kümmern. Daniela Flemming ist Sachbuchautorin und Dozentin für die Pflege Demenzerkrankter. Doch sie lebt die Hälfte des Jahres auf einer kanarischen Insel, hat eine eigene Familie und mit der Heimat der als Journalistin und Autorin bekannten Tante nichts zu tun: Saarbrücken ist für sie Hotel und Familienbesuch, lange Anreise, irgendwo an der französischen Grenze. Sie wird Betreuerin der Tante und mit der realen, alltäglichen Seite dessen konfrontiert, was sie sonst wissenschaftlich bearbeitet. Aus der Bitte der Schwester werden neun Jahre Betreuung und eine Achterbahnfahrt zwischen Momenten der Nähe, des Triumphs über Hindernisse und der Verzweiflung. Neun Jahre, die sie selbst an ihre Grenzen führen, während sie die Tante von der Diagnose bis zum Tod begleitet. Daniela Flemming schreibt präzise, fern von Kitsch und Pathos, nüchtern und zutiefst menschlich über diese Zeit. Über mündelsichere Anlagen, Aufenthaltsbestimmungsvollmachten, das Betrachten von Fotoalben in Endlosschleife und ein würdevolles Ende.

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Inhalt
Cover
Titelseite
Widmung
Motto
Das erste Jahr: 2006 – 2007
Das zweite Jahr: 2007 – 2008
Das dritte Jahr: 2008 – 2009
Das vierte Jahr: 2009 – 2010
Das fünfte Jahr: 2010 – 2011
Das sechste Jahr: 2011 – 2012
Das siebte Jahr: 2012 – 2013
Das achte Jahr: 2013 – 2014
Das neunte Jahr: 2015
Epilog
Danksagung
Doris Seck
Impressum

Für AdrianFür Andrea

Geduld-Geduld, es ist die Demenz, sie will mich nicht ärgern. Und ich ärgere mich doch, denn ich fühle mein Engagement nicht gewürdigt und wie so oft meinen guten Willen nicht wertgeschätzt.

1Das erste Jahr: 2006 – 2007Es ist soweit

Sie, die immer selbstbestimmt gehandelt hat, hätte ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen selber ordnen können. Anstatt alles uns, die wir im Grunde kopfschüttelnd vor dem Durcheinander ihres Lebens stehen, auch noch dieses Durcheinander zu überlassen.

Wann ist der richtige Moment für den einen Anruf? Für den Anruf, den man gar nicht bekommen will. Von dem man aber weiß, er wird kommen.

Es war Januar, als er kam. Und er war unmissverständlich: »Einer muss sich um unsere Tante kümmern. Ich. Kann. Nicht.«

Meine Schwester. Das war kein Notruf, es war eine Aufforderung. Moralisch zumindest. Ich hatte es vor Jahren fertiggebracht, unsere damals 94-jährige Großmutter in einem Pflegeheim unterzubringen. So etwas in der Art schwebte meiner Schwester jetzt wohl auch vor. Außerdem hatte ich, ihrer Meinung nach, im Gegensatz zu ihr jetzt Zeit. Gerade hatte ich mein Manuskript zu einem Ratgeber für Angehörige Demenzerkrankter abgeschlossen, schien mithin also doppelt geeignet, mich um die Tante zu kümmern. Denn die Tante, damals 82, hatte in den letzten Jahren immer deutlicher Anzeichen auffälliger Vergesslichkeit gezeigt.

Gegen meine Eignung als Kümmerin sprach allerdings viel mehr: in erster Linie die Entfernung. Ich lebe große Teile des Jahres bei meinem Lebensgefährten auf der kleinen Insel La Palma, knappe 4000 Kilometer entfernt von der Tante und nur mit Flugzeug oder Schiff zu verlassen; ich befinde mich in einem Lebensabschnitt, der ein verantwortungsvolles Kümmern nahezu ausschließt; ich habe überhaupt keine Lust auf eine Aufgabe, die mir so zwingend in Moral und Ohr gelegt wird.

Ich bin im Gegenteil empört: Wieso »ich kann nicht«? Ich kann auch nicht. Wie soll das gehen? Auch ich habe mein Leben so eingerichtet, dass ich nicht abkömmlich bin. Nicht abkömmlich sein möchte, auch das muss zählen. Auch ich habe eine Familie, die Ansprüche an mich hat, selbst wenn diese im Moment lediglich aus zwei Personen besteht. Auch ich habe jeden Tag genug zu tun, so dass ich am Abend erschöpft bin. Auch ich möchte mir nicht meinen Lebensentwurf durch Aufgaben zerstören lassen, die andere mir aufdrücken. Wieso also soll ich denn können? Ich. Kann. Auch. Nicht!

Und ich will nicht. Ich will absolut nicht. Ich will mein Leben, das bis dahin schwierig genug war und jetzt endlich im Gleichgewicht ist, nicht erneut durcheinanderbringen. Das zu verlangen hat niemand das Recht.

*

Unsere Familie ist klein geworden. Aus der älteren Generation gibt es nur noch diese eine unverheiratete, kinderlose Tante. Sie lebte damals in Saarbrücken, in einer sehr schönen, über einhundert Quadratmeter großen Wohnung im achten Stock eines Hochhauses. Das Hochhaus befindet sich in einem Anfang der Sechzigerjahre neu konzipierten Stadtteil, und die Tante war, zusammen mit ihrer Mutter – unserer Großmutter – Ersteigentümerin dieser Wohnung. Von daher galt sie als eine Art Urgestein, fast jeder kannte sie. Insbesondere aber das Hausmeisterehepaar, denn dieses wurde häufig zum Hilfeeinsatz für alles Mögliche gebeten. Und so war es die Frau des Hausmeisters, die meine Schwester telefonisch darüber informierte, dass es »schwierig« mit der Tante geworden sei.

Natürlich wussten wir das. Auch unsere Großmutter hatte eine leichte Altersdemenz, mit der sie allerdings 95 Jahre alt wurde. Die Tante war gerade 82, hatte aber schon seit einiger Zeit begonnen, sich zu verändern. Noch komme sie zurecht, wie sie gerne betonte, doch, um ehrlich zu sein, Gedanken mache sie sich schon. Wann es denn »ernst« werde, wollte sie wenige Jahre vorher von mir wissen. Und wie sie das denn merke, dass sie nichts mehr merke. Und sie wolle unbedingt, dass ihr das jemand dann sage. Am besten ich, denn ich sei ja »vom Fach«.

Das war ein wirklich ernstes Gespräch über ihre Sorgen, das wir da führten, und es gelang mir, ihr eine für sie gut zu akzeptierende Strategie nahezulegen: Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Geburtstagsdaten ihrer zwei Nichten, des Neffen und der drei Großneffen im Kopf. Zuverlässig kamen Glückwünsche, Geschenke und Anrufe. »Und wenn du diese Daten oder auch nur eins davon nicht mehr weißt, dann musst du Bescheid sagen.« Sie war ungeheuer erleichtert nach diesem Gespräch, endlich hatte sie etwas, woran sie ihre geistige Frische festmachen konnte. Und tatsächlich vergaß sie mindestens zwei Jahre lang keinen einzigen Geburtstag, doch mir war klar, kaum war sie zuhause, hatte sie alle Geburtstage der Reihe nach aufgeschrieben und las diese dann vom Kalender ab.

Auch ihre kleinen und größeren Reisen wurden schwierig. Einmal war sie mit ihrer Reisegruppe in den arabischen Emiraten zu einer Rundreise unterwegs und hatte bei der Abreise aus einem der Sultanate vergessen, ihren Pass bei der Hotel-Rezeption abzuholen. Daraufhin musste die gesamte Gruppe, vereint in einem Überlandbus, vor der nächsten Grenze wieder zurückfahren, denn erst dort bemerkte die Tante das Fehlen des Dokuments. Dies zu erleben war ihr absolut peinlich, so schrecklich, dass sie danach nie wieder eine größere Reise unternahm. Sie empfand sich für die Mitreisenden als Störfaktor und wollte auf keinen Fall den Anderen zur Last fallen. Und sich selbst, die sie niemals ein Nicht-Wissen, ein Nicht-auf-der-Höhe-Sein zugeben konnte, wollte sie weitere Demütigungen dieser Art ersparen.

Die kurzen Fahrten zu meiner Schwester, früher selbstverständlich mit dem Auto zurückgelegt, machte sie jetzt mit dem Zug, immer unter dem Vorwand, es könne ja plötzlich einen Wetterwechsel geben. Längere bzw. weitere Ausflüge innerhalb Deutschlands unternahm sie dann mit mir oder meinem Bruder. Sich an uns zu hängen war ihr ein Muss, alleine bekam sie es nicht mehr hin. Uns kam sie damals schon sehr unselbständig, fast abhängig von unserer Führung vor. Wir amüsierten uns darüber. Wie sie mit fast kindlicher Freude und Dankbarkeit Vorschläge jedweder Art annahm. Wie geschickt sie kleine Defizite kompensierte. Wie sie offensichtliche Fehlleistungen einfach wegwischte. Wie sie niemals ein Nicht-Verstehen zugab. Wie sie darauf beharrte, dass ihr dieses und jenes »einleuchte«. Und wie ihre angeborene Ungeschicklichkeit sich zu unfreiwilligem Slapstick wandelte.

Noch etwas Anderes war neu: Sie wurde anstrengend. In zweierlei Hinsicht. Weil sie erstens nichts mehr verstand, aber auf ein Verstehen beharrte, was seinen Höhepunkt in der Anschaffung eines wahnsinnsteuren Notebooks fand, den sie, die immer nur auf ihrer alten Schreibmaschine geschrieben hatte, mittels »der Gebrauchsanleitung« bedienen lernen wollte. Und weil sie zweitens, war sie zu Besuch, einfach da saß und auf ein möglichst lückenloses Entertainment wartete. Zu keiner Eigeninitiative mehr fähig war. Kein Zeitunglesen mehr, kein Gespräch mehr, alles musste von mir kommen, und das am liebsten ohne Pause. Sie saß einfach da, mitten in meinem normalen All- und Arbeitstag, und fragte: »Was machen wir jetzt?« Und dann musste etwas kommen. Ausruhen galt nicht, sie war nicht müde. Nie wurde sie müde, auch abends nicht. Und Fernsehen war nur schön, wenn etwas vom Saarländischen Rundfunk oder über ihre Heimatstadt Saarbrücken kam.

In dieser Zeit lud ich die Tante nicht mehr ein. Sie verbrauchte meine ganze Energie, meine ganze Kraft, meine ganze Zeit. Ab und zu besuchte ich sie für einen halben Tag in Saarbrücken, doch diese Besuche überforderten umgekehrt sie. Darüber, wie es weitergehen sollte mit ihr, mochte ich nicht nachdenken. Hielt es auch für nicht erforderlich, denn sie hatte sich schon viele Jahre vorher im nahegelegenen Altenwohnstift zum Stiftswohnen, ähnlich dem betreuten Wohnen, angemeldet. Und uns allen immer wieder versichert, dass sie da auch hingehe. Wenn es denn nicht mehr gehe.

*

Nun also, im Januar 2006, sollte es so weit sein. Es geht nicht mehr, das Altenwohnstift ist dran. Und »einer« soll, nein, muss das initiieren. Ich, wie meine Schwester meint.

Ein Telefonat mit der Tante führt erwartungsgemäß zu nichts. Wir telefonieren regelmäßig miteinander und das, was sie mir heute erzählt, unterscheidet sich inhaltlich kaum von dem von letzter Woche. Nichts deutet auf schwere Defizite hin. Im Gegenteil, sie sagt, sie esse regelmäßig zu Mittag (sie kann überhaupt nicht kochen, sich noch nicht einmal ein Spiegelei zubereiten), sie steige zweimal täglich zu Fuß alle acht Stockwerke runter, um zuerst die Zeitung und später die Post zu holen, sie gehe einkaufen und, ganz wichtig »unter die Leute«, alles gut und alles wie immer.

Dennoch, trotz aller Versicherungen, will ich wenigstens nachsehen, das bin ich der Tante schuldig. Mir ein eigenes Bild machen, dass bin ich mir selber als »Fachfrau« schuldig, und so buche ich ein Ticket und fliege nach Frankfurt. Spätabends komme ich an, übernachte so gut es geht auf einer Bank im Flughafengebäude und nehme den ersten Zug nach Saarbrücken. Es ist Januar, es weht ein schneidender Wind, winzige, gefrorene Schneeflocken treiben in der Luft. Ich mag Saarbrücken nicht, die in meinen Augen nichtssagendste Stadt des Universums, und ausgerechnet dort muss ich jetzt bei diesem Wetter umherirren. Mein Vorteil ist: Ich weiß, was zu tun ist. Mein Buchprojekt, der Ratgeber zu allen Lagen der Demenzerkrankung, hat mich selber schlau gemacht und mich dahin geführt, wo ich auf Anhieb richtig bin: Zum Bürgerbüro, zu dem ich mich, direkt vom Bahnhof kommend, allerdings durchfragen muss. Beim Buchstaben »S« hatte ich mich bereits per E-Mail angemeldet und werde erwartet. Alles geht sehr schnell. Ich gebe hochoffiziell zur Kenntnis, dass die Bürgerin des Stadtteils X, Doris S., hilfebedürftig ist. Und damit bin ich – meine Erleichterung ist unermesslich – die Verantwortung zunächst einmal los.

Mit dem Bus fahre ich durch das Schneetreiben zur Wohnung der Tante, die, mich schon freudig erwartend, in der Tür steht. Alles ist wie immer, außer, dass sie sichtlich dünner geworden ist. Nein, nein, krank sei sie nicht, essen tue sie auch reichlich, ganz bestimmt, doch als ich mir unter dem Vorwand des Interesses ihre Essensvorräte zeigen lasse, sehe ich sehr schnell, warum sie so abgenommen hat: Im Schrank häufen sich eingeschweißte Fertiggerichte übereinander, die man in heißes Wasser legen muss und danach hat man Gulasch mit Nudeln oder Hühnchen mit Reis mit ca. 387 Kilokalorien pro Mahlzeit. Eine ganze Portion ist ihr allerdings viel zu viel und eine reicht mindestens zweimal. Wenn sie überhaupt daran denkt. Sie weiß, dass, wenn es dunkel wird, Zeit zum Abendessen ist. Aber Zeit zum Mittagessen? Das vergisst sie, vermute ich. Genauso wie die Dinge, die im Kühlschrank vor sich hin dümpeln. Angeschimmelter Käse, vergammelte Wurst. Brot? Keins da. Was also isst sie wirklich? Und natürlich fährt sie mit dem Fahrstuhl und geht nicht zu Fuß die Post holen, und selbstverständlich beantwortet sie keine Briefe mehr und logisch vergisst sie Rechnungen zu bezahlen. Stapel von Papieren liegen in vielen ordentlichen kleinen Türmchen in ihrem Zimmer herum. Auf dem Sofa, dem Fußboden, dem Arbeitstisch, einfach überall, weil: die sortiert sie gerade. Und Wäsche wäscht sie von Hand, jedoch, sie hat ja so feine Seidenwäsche, die muss im Grunde gar nicht gewaschen werden, und Pullover und Hosen, na, die gibt sie in die Reinigung. Die Reinigung ist umgezogen, das weiß ich noch vom letzten Mal, aber die Tante weiß das nicht mehr, und genauso riechen die Kleidungsstücke auch. Die Hausmeisterin hat, aus ihrer Sicht, recht: Es ist »schwierig« geworden mit der Tante. Anders gesagt: Die Welt ist schwierig gewordenfür die Tante. Einer muss sich kümmern.

*

Auf dem Rückweg zum Bahnhof gehe ich nochmals im Bürgerbüro vorbei. Die Sozialarbeiterin ist erfahren in solcher Art Problemen und hat einen Plan: Sie will jetzt jede Woche bei der Tante vorbeischauen, sie regelmäßig besuchen, sich mit ihr vertraut machen. Und ihr dabei in einfühlsamen Gesprächen den Umzug ins Altenwohnstift ans Herz legen.

Es wird nicht funktionieren. Ich kenne meine Tante. Auch meine diesbezüglichen Anregungen hat sie brüsk in den Wind geschlagen. Sie wird jede Woche aufs Neue behaupten, sie habe alles im Griff. Sie wird jede Woche die Notwendigkeit des betreuten Wohnens weit von sich weisen. Und sie wird mir und allen anderen gegenüber mit aller Selbstverständlichkeit behaupten, dass sie sicher umziehen werde, wenn »es nicht mehr geht«.

Dennoch fühle ich mich entlastet. Zwar bleibt meine Skepsis, doch überwiegt das Gefühl, eine schwierige Mission erfolgreich hinter mich gebracht zu haben. Zumindest bin ich jetzt die Verantwortung los, habe sie weitergereicht an offizielle Stelle. Ich weiß nun, dass sich »qua Amt« gekümmert wird, die Stadt Saarbrücken lässt ihre Bürger nicht im Stich, auch für alte und hilfsbedürftige Einwohner ist das Bürgerbüro mit seinen ausgebildeten Sozialarbeiterinnen zuständig. Wir tauschen Telefonnummern aus und ich trete erleichtert die Rückreise an.

Was ich hätte wissen können, nein, müssen, woran ich aber im entscheidenden Moment nicht gedacht habe: Das mit der Telefonnummer war ein Fehler! Nun gelte ich, ebenfalls »qua Amt«, als Ansprechpartnerin seitens des Saarbrücker Bürgerbüros. Und damit bin ich erste Wahl. Zumindest in deren Augen. Was mir aber, wieder auf La Palma angekommen, zunächst nicht bewusst ist. Ich wähne mich im Gegenteil auf der Seite derer, die glauben, alles richtig gemacht zu haben und sich nun zurücklehnen können: Die Tante steht »unter Beobachtung«, der Platz im Betreuten Wohnen des Altenwohnstiftes ist sicher, irgendwann wird die Sozialarbeiterin sie vom Umzug überzeugen und dann ist alles ist gut.

Wenn da nicht die Demenz wäre.

*

Viele Jahre lang hatte ich mich zuerst als Altenpflegerin, dann als Lehrerin für Pflege auf die Begleitung Demenzerkrankter spezialisiert. Ebenso viele Gesprächskreise für betroffene Angehörige hatte ich geleitet, einschlägige Fortbildungsveranstaltungen moderiert, Einzelpersonen angehört, zwei Ratgeber zur Pflege Demenzerkrankter verfasst und Lesungen durchgeführt. Zu einigen Mitgliedern der Alzheimer Angehörigen Initiative, die bei meinem Buch mitgewirkten hatten, unterhielt ich engen E-Mail-Kontakt. All diese pflegenden Angehörigen, jeder Einzelne und alle zusammen, berichteten ausnahmslos leid- und sorgenvoll von betroffenen Erkrankten, die gerade noch alleine zurechtkamen, bei genauerer Betrachtung eher nicht mehr. Wie schwierig es für die Angehörigen war, dem Betroffenen auch nur ein winzig kleines Fünkchen Krankheitseinsicht zu vermitteln. Dass die Erkrankten fest und »stur« beharren und in nichts, was sie selber betrifft, ein Einsehen haben. Und dass erst etwas passieren muss, bevor etwas passiert.

Warum also sollte es bei uns anders sein? Ist es nicht.

Bereits zehn Tage, nachdem ich meine Telefonnummer im Bürgeramt hinterlassen habe, bekomme ich einen Anruf von der Sozialarbeiterin. Die Tante sei auf dem Weg zu einer Karnevalsveranstaltung gestürzt und habe sich den Mittelfuß gebrochen. Eine Nacht habe sie es im Krankenhaus ausgehalten, doch danach habe sie auf Entlassung bestanden. Dem mussten die Ärzte, obwohl sie der Meinung waren, sie könne nicht alleine zuhause sein, nachgeben, alles andere sei Freiheitsberaubung und nicht zulässig. Nun sitze sie also allein in ihrer Wohnung und ließe niemanden herein, auch sie, die Sozialarbeiterin nicht, die vom Krankenhaus informiert worden war. Der Kontakt zwischen ihr und der Tante war auch noch gar nicht zustande gekommen, die Tante kenne sie von daher gar nicht. Aber nun wisse ja ich Bescheid und nun liege es an mir, was geschehen soll.

Die Tante mit gebrochenem Fuß ganz allein in ihrer Wohnung! In der Tat, einer muss sich kümmern. Und nun habe ich auch für das wirkliche Leben, ihr Leben, die Aufgabe erhalten: Kümmerin. Ob ich will oder nicht. Und wieder bin ich 4000 Kilometer entfernt.

Ich gehe systematisch vor. Ein Telefonat nach dem andern. Zuerst die Tante. Sie ist kleinlaut und wirkt armselig. Ich verspreche Hilfe und schwöre sie darauf ein, der nächsten Person, die bei ihr klingelt und sich als Hilfsperson ausgibt, zu öffnen. Dann beauftrage ich den ambulanten Pflegedienst des Altenwohnstifts, dreihundert Meter Luftlinie vom Hochhaus der Tante entfernt, sie möglichst sofort mit Mahlzeiten und Getränken zu versorgen und, wenn nötig, auch bei der Körperpflege und allem, wozu sie derzeit nicht in der Lage ist, behilflich zu sein. Schlussendlich buche ich erneut ein Flugticket nach Frankfurt mit anschließender Bahnfahrt nach Saarbrücken.

Zwei Tage später komme ich an. Wieder die ungemütliche Nacht im Flughafengebäude, wieder scheußliches Wetter, wieder ewig langes Warten, zuerst auf den Zug, dann auf den Stadtbus. Doch als ich endlich vor ihr stehe, sie ganz klein und ganz zerknittert, ich entschlossen und voller Tatendrang, da packt sie mit einer spontanen Bewegung mit beiden Händen rechts und links meine Wangen und drückt mich an sich. Die Erleichterung steht ihr ins Gesicht geschrieben, alle Sorge fällt von ihr ab, humpelnd folgt sie mir mit ihrem eingeschalten Fuß auf Schritt und Tritt, tut, mit der Zuversicht eines Kindes, zum ersten Mal im Leben alles, was ich sage und ist einfach nur unendlich froh, nicht mehr allein zu sein. So müssen sich Retter fühlen.

Der herbeigerufene Hausarzt kommt, sie erkennt ihn nicht, ihr ist es egal, ich bin ja da und jetzt wird alles gut. Nur so kann ich mir erklären, dass sie selbstverständlich, fast freudig in eine Klinikeinweisung einwilligt, ja, das »leuchtet ihr ein«, dass sie da jetzt hinmuss, und ja, ich, ihre Nichte, komme ja mit.

Die Klinik ist eine Geriatrie und auf Langzeitpatienten eingestellt, das heißt, die Tante wird eine Zeitlang bleiben müssen. Auch das ist ihr recht, mir ohnehin und es erscheint mir wie eine Verschnaufpause im ganzen Geschehen. Sie selbst ist jetzt sehr verständig und tut alles, was von ihr verlangt und erwartet wird. Ich kehre zunächst zurück in ihre Wohnung, besuche sie täglich, doch als sie sich nach ein paar Tagen in der Geriatrie eingelebt und auch emotional stabilisiert hat, fahre ich mit dem Zug nach Göttingen, in meine eigene Wohnung. Ich brauche dringend Abstand.

Ich fühle mich ausgelaugt und erschöpft. Solange ich sachlich handeln kann, solange ich weiß, was zu tun ist und auch wie, bin ich Herrin des Geschehens. Doch dem immer kläglicher werdenden Zustand meiner immer kleiner werdenden Tante zusehen zu müssen, lässt mich leiden: wie die ehemals mitten im Leben stehende Frau selbstzweifelnd hinter mir, ihrer jüngsten Nichte, ehemals »das Kleine«, herläuft; wie sie immer wieder unsicher meinen Blick sucht; wie sie bei allem und jedem fragt, ob das richtig sei oder was sie jetzt tun soll; wie sie so vollständig auf gutmeinende Menschen angewiesen ist. Wie ich inständig hoffe, dass sie ausschließlich von gutmeinenden Menschen umgeben sein möge.

Nach ungefähr drei Wochen bekomme ich einen Anruf aus der Klinik. Der Psychologe ist dran. Alle Tests seien abgeschlossen und die Demenz leider bestätigt und besiegelt. Die Tante habe zum Teil einfachste Dinge nicht erinnert. Zum Beispiel habe er ihr Tierbilder vorgelegt und sie habe den Biber nicht mehr erkannt. Ich muss lächeln. Was der Psychologe nicht weiß: Meine Tante hat noch nie einen Biber erkannt. Sie ist eine hochgebildete Frau mit einem enormen Wissensschatz, weiß alles, wirklich alles über Politik, Gesellschaft, Geschichte, Geografie, Wirtschaft. Aber Tiere und Pflanzen kennt sie nicht. Sie kann Rosen nicht von Tulpen unterscheiden und einen Storch nicht von einem Uhu. Sie wüsste noch nicht einmal, wie ein Uhu aussieht. Und ein Biber? Ein so kleines Tier? Sie kennt wirklich keinen Biber, nicht jetzt und nicht früher, doch das behalte ich für mich, mir ist auch ohne den Biberbeweis klar, dass es sich um Demenz handelt.

Als nächstes Indiz führt er ihre Promotionsschrift an. Sie habe sich nicht mehr an das Thema dieser so wichtigen Arbeit erinnert. Wieder muss ich lächeln. Denn auch das weiß der Psychologe nicht: Die Tante, Journalistin von Beruf, hat immer geschrieben. Seit sie 17 ist. Sie hat für Zeitungen und Zeitschriften kurze Artikel und lange Serien verfasst, schriftliche Auftragsarbeiten für bestimmte Handwerkszweige übernommen und zeitweilig vollkommen alleine die komplette Sonntagsbeilage der Tageszeitung geschrieben. Sie hat Sachbücher und Biografien erstellt und Bildbände mit Untertiteln versehen. Sie hat in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes gemacht als Schreiben. Eins nach dem Anderen, jeden und jeden Tag. Und, auch das muss gesagt werden, alles ohne jede Emotion. Reine Berichterstattung. Da war die Promotion nur ein Teil davon, etwas, was sie sich, genau wie alle anderen schriftlichen Tätigkeiten, erarbeitet hat und wofür sie vor fast 60 Jahren den Doktortitel erhielt. Ende der Geschichte. Doch auch das behalte ich für mich. Wir wissen alle, dass sie eine Demenz hat und es bedarf keines einzigen weiteren fragwürdigen Beweises. Für den jungen Psychologen aber mag genau dieser Punkt der Promotion stichhaltig sein. Ich stelle mir vor, wie er vor noch nicht allzu langer Zeit unter Mühen seine Diplomarbeit geschrieben haben mag. Wie diese ihn für lange Zeit an den Schreibtisch fesselte und das Thema ihn vollständig ausfüllte. Er zu nichts mehr anderem Zeit und Gedanken hatte und kurz vor dem Ende vielleicht aufgeben wollte. Und die Arbeit dann doch geschafft hat. Das hat sich eingegraben in ihn und er kann sich nicht vorstellen, diese Arbeit, das Thema, jemals im Leben zu vergessen. Wer das vergisst, der muss doch eine Demenz haben.

Kurz und gut, die Diagnose ist gefunden. Es handelt sich um eine sogenannte vaskuläre Demenz, bei der die Hirndurchblutung dauerhaft gestört ist. Oder bei der durch kleine Hirninfarkte nach und nach ganze Hirnareale zerstört werden, was in beiden Fällen die Demenz nach sich zieht. Dies also ist bestätigt, die richtigen Medikamente sind bereitgestellt und nun müsse man überlegen, wie es weitergeht. Fest steht, sie kann nicht mehr alleine zuhause leben. Fest steht auch, sie braucht eine Betreuung. Ich möge doch bitte zu einem Gespräch kommen.

*

Also ich. Ich soll zu einem Gespräch kommen. Das letzte Mal, als ich zu einem Gespräch zitiert wurde, ist 15 Jahre her und da ging es um meinen Sohn. Er hatte wieder irgendetwas angestellt und die Lehrerin bestellte mich zum wiederholten Male ein, um mir zu berichten, wie vollkommen unangemessen dieses und jenes Verhalten des Knaben doch sei. Nach seinem Schulabschluss war ich heilfroh, dass diese Demütigungen endlich ein Ende haben sollten. Und jetzt, der Junge ist längst erwachsen und selbständig, habe ich ein Déjà-vu: ich werde »zum Gespräch« einbestellt.

Entsprechend unwillig fahre ich von Göttingen zurück nach Saarbrücken und nehme mir dieses Mal gleich am Bahnhof einen Leihwagen, mit dem ich an unzähligen Baustellen und Umleitungen vorbeiirre, bevor ich das Krankenhaus finde. Die Tante weiß Bescheid und ist überglücklich, dass ich komme. Sofort ändert sich meine Stimmung: ich freue mich, sie zu sehen. So zu sehen. Sie hat sich augenscheinlich erholt, hat zugenommen, die Wangen sind rosig und ihr Gesichtsausdruck offen und freundlich. Welch’ ein Unterschied. Wir umarmen uns herzlich und freuen uns aneinander.

Jetzt stehen die angekündigten wichtigen Gespräche an. Dafür ist die Kliniksozialarbeiterin zuständig. Sie berichtet, dass sie mit dem Altenwohnstift Kontakt aufgenommen habe und die Tante damit einverstanden sei, dort einzuziehen. Und zwar direkt und unmittelbar nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Schnurstracks und geradenwegs sozusagen. Sie nämlich hätten die Erfahrung gemacht, dass die anstehende Veränderung für die Patienten besser zu verkraften ist, wenn sie gar nicht mehr in ihre Wohnung zurückgehen. Auch damit sei die Tante einverstanden.

Ich bin erstaunt. Mehr als erstaunt, ich kann es kaum glauben. So leicht geht das? Da reden wir Wochen und Monate und liegen ihr genau mit diesem Vorschlag in den Ohren, nichts. Kaum aber tritt eine Autorität im weißen Kittel auf den Plan, ist alles möglich.

Egal, jetzt zählt das Beste für sie und das sei gefunden, sagt die Sozialarbeiterin, was jetzt noch fehlt, sei eine Betreuung. Ob ich das nicht übernehme wolle?