Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen - Karen Lidzba - E-Book

Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Karen Lidzba

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Beschreibung

Verfügt das junge Gehirn tatsächlich über eine erhöhte Plastizität – oder doch eher über eine erhöhte Vulnerabilität? Dieses Buch vermittelt einen Einblick in die Schlüsselthemen der Kinder- und Jugendneuropsychologie. Nach einer kurzen Präsentation der Grundlagen der Hirnentwicklung werden neurologische Pathologien des Kindes- und Jugendalters und deren Auswirkung auf die Kognition im Detail beschrieben. Anschließend wird das aktuelle evidenzbasierte Wissen zu den Faktoren, welche die kognitive Entwicklung und Erholung beeinflussen können, vorgestellt. Die Beschreibung von Forschungsergebnissen erfolgt stets mit dem Schwerpunkt auf die klinische neuropsychologische Praxis. Durch den ganzen Band hinweg wird im Speziellen dem dynamischen Aspekt der Hirnentwicklung Rechnung getragen. Die Präsentation der entwicklungsspezifischen Diagnostik kognitiver Funktionen sowie der Therapie kognitiver Probleme runden das Thema Kinder- und Jugendneuropsychologie ganzheitlich ab. Dieser Band schließt eine Lücke in der deutschsprachigen neuropsychologischen Literatur des Kindes- und Jugendalters.

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Karen Lidzba

Regula Everts

Gitta Reuner

Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen

Fortschritte der Neuropsychologie

Band 20

Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen

Prof. Dr. Karen Lidzba, Prof. Dr. Regula Everts, Prof. Dr. Gitta Reuner

Die Reihe wird herausgegeben von:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Hans-Otto Karnath, Dr. Hendrik Niemann, Prof. Dr. Boris Suchan

Die Reihe wurde begründet von:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Dr. Hendrik Niemann

Prof. Dr. Karen Lidzba, geb. 1975. 1995–2000 Studium der Psychologie in Tübingen. Anschließend klinische und wissenschaftliche Tätigkeit an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen. 2006 Promotion. 2014 Habilitation. Seit Dezember 2016 Leitung der pädiatrischen Neuropsychologie im Inselspital Bern, seit 2018 assoziierte Professorin an der medizinischen Fakultät der Universität Bern. Forschungsschwerpunkt: Plastizität des kindlichen Gehirns.

Prof. Dr. Regula Everts, geb. 1975. 1997–2003 Studium der Psychologie in Bern. Im Anschluss klinische und wissenschaftliche Tätigkeit als Neuropsychologin. 2006 Promotion. 2011 Habilitation. Seit 2001 Leiterin einer Forschungsgruppe am Inselspital in Bern, seit 2017 assoziierte Professorin an der medizinischen Fakultät der Universität Bern. Arbeitsschwerpunkt: Förderung der kognitiven Entwicklung und der Erholung des Gehirns bei vulnerablen Patientengruppen.

Prof. Dr. Gitta Reuner, geb. 1968. 1988–1997 Studium der Musiktherapie und Psychologie in Heidelberg und Mannheim. 2000–2018 klinische und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Heidelberg. 2005 Promotion. 2015 Habilitation. Seit 2018 außerplanmäßige Professorin am Institut für Bildungswissenschaft, Universität Heidelberg, Vertretung mehrerer Professuren. Seit 2018 eigene Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Verhaltenstherapie, Neuropsychologie). Arbeitsschwerpunkt: Kognitive Entwicklung und Psychotherapie bei chronischen somatischen Krankheiten.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Meike Cichos, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2019

© 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2835-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2835-3)

ISBN 978-3-8017-2835-9

http://doi.org/10.1026/02835-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Grundlagen der klinischen Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen: Gehirnentwicklung

1.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt

1.1.1 Hirnfehlbildungen

1.2 Die ersten beiden Lebensjahre

1.3 Kindheit

1.4 Adoleszenz

1.5 Plastizität und Vulnerabilität

1.5.1 Plastizität

1.5.2 Vulnerabilität

1.5.3 Growing into Deficit

2 Diagnostische Strategien bei Kindern und Jugendlichen

2.1 Alters- und entwicklungsspezifische Besonderheiten

2.2 Diagnostik bei Kindern mit umschriebenen kognitiven, sensorischen oder motorischen Beeinträchtigungen

2.3 Diagnostische Instrumente für Kinder und Jugendliche

2.4 Neuropsychologische Verlaufsdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen

3 Neuropsychologische Therapiestrategien bei Kindern und Jugendlichen

3.1 Neuropsychologische Therapie bei Kindern und Jugendlichen

3.2 Wirksamkeit kognitiver Trainings

3.3 Einflussfaktoren auf den Erfolg kognitiver Trainings

4 Neurologische Pathologien bei Kindern und Jugendlichen

4.1 Frühgeborene

4.1.1 Definition, Häufigkeit und Ätiologie

4.1.2 Neuropsychologische Folgen

4.1.3 Einflussfaktoren

4.2 Schlaganfall

4.2.1 Definition, Häufigkeit und Ätiologie

4.2.2 Neuropsychologische Folgen

4.2.3 Einflussfaktoren

4.3 Schädel-Hirn-Trauma

4.3.1 Definition, Häufigkeit und Ätiologie

4.3.2 Neuropsychologische Folgen

4.3.3 Einflussfaktoren

4.4 Zerebrale Entzündungen

4.4.1 Definition, Häufigkeit und Ätiologie

4.4.2 Neuropsychologische Folgen

4.4.3 Einflussfaktoren

4.5 ZNS-Tumore

4.5.1 Definition, Häufigkeit und Ätiologie

4.5.2 Neuropsychologische Folgen

4.5.3 Einflussfaktoren

4.6 Epilepsien

4.6.1 Definition, Häufigkeit und Ätiologie

4.6.2 Neuropsychologische Folgen

4.6.3 Einflussfaktoren

4.7 Seltenere neurologische Erkrankungen

4.7.1 Neurokutane Syndrome

4.7.2 Neurometabolische Erkrankungen

5 Neuropsychologische Funktionsstörungen

5.1 Intelligenz

5.1.1 Entwicklung

5.1.2 Intelligenzminderung

5.1.3 Diagnostische Verfahren für Kinder und Jugendliche

5.1.4 Differenzialdiagnostische Abgrenzung von Teilleistungsstörungen

5.2 Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen

5.2.1 Taxonomie von Aufmerksamkeit und Exekutivunktionen

5.2.2 Neuroanatomische Korrelate

5.2.3 Entwicklung von Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen

5.2.4 Störungen von Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen

5.2.5 Diagnostik

5.2.6 Therapie

5.3 Gedächtnis

5.3.1 Taxonomie des Gedächtnisses

5.3.2 Neuroanatomische Korrelate

5.3.3 Entwicklung des Gedächtnisses

5.3.4 Störungen der Gedächtnisentwicklung

5.3.5 Auswirkungen von Gedächtnisproblemen

5.3.6 Diagnostische Verfahren zur Untersuchung von Gedächtnisleistungen für Kinder und Jugendliche

5.3.7 Therapie bei Gedächtnisproblemen

5.4 Visuo-räumlich-konstruktive Fähigkeiten

5.4.1 Taxonomie visuo-räumlich-konstruktiver Fähigkeiten

5.4.2 Neuroanatomische Korrelate der visuo-räumlichen Verarbeitung

5.4.3 Entwicklung der visuo-räumlichen Verarbeitung

5.4.4 Störungen der visuo-räumlichen Wahrnehmungsverarbeitung

5.4.5 Prävalenz und Klassifikation von visuellen Wahrnehmungsstörungen

5.4.6 Auswirkungen von Funktionsstörungen auf Lernen und die emotionale Entwicklung

5.4.7 Diagnostik visuo-räumlich-konstruktiver Leistungen

5.4.8 Therapie visueller Wahrnehmungsstörungen

5.5 Sprache

5.5.1 Taxonomie der Sprachfunktionen

5.5.2 Neuroanatomische Korrelate

5.5.2 Sprachentwicklung

5.5.3 Störungen und ihr Zusammenhang zu neurologischen Erkrankungen

5.5.4 Auswirkungen auf Verhalten und sozio-emotionale Entwicklung

5.5.5 Diagnostik

5.5.6 Therapie

6 Fallvignetten

6.1 Sehr schwere kombinierte Lernstörung vor dem Hintergrund einer schweren Arbeitsgedächtnisstörung und Epilepsie

6.2 Stärken in der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung trotz starker Sehbehinderung und neuropsychologische Probleme im Rahmen einer Tumorerkrankung

6.3 Aufmerksamkeitsdefizit vor dem Hintergrund eines Schädel-Hirn-Traumas

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang

Glossar

Bibliographische Angaben für Einsteckkarte 2

Karten

|1|Vorwort

Die klinisch-neuropsychologische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stellt für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung dar. Die meisten klinischen Neuropsychologen arbeiten mit Patienten im Erwachsenen- bzw. Seniorenalter. Dementsprechend fokussieren Ausbildung und Fachliteratur mehrheitlich auf diese Altersbereiche. Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen müssen über das grundlegende neuroanatomische und neuropsychologische Wissen hinaus die dynamischen Aspekte der Hirnentwicklung und der entwicklungsangemessenen Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden. Häufig haben wir es bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen Störungsbildern zu tun, die so im Erwachsenenalter nicht mehr (neu) auftreten.

Mit diesem Band versuchen wir eine Lücke zu schließen zwischen der deutschsprachigen klinisch-neuropsychologischen und klinisch-kinderpsychologischen Literatur. Vor allem möchten wir den Lesern einen Überblick über das Feld der klinischen Neuropsychologie im Kindes- und Jugendalter bieten. Der Umfang von 100 Seiten für einen Band Fortschritte der Neuropsychologie wird zwangsläufig für ein solch großes Feld viele Fragen offenlassen. Grundsätzliche Theorien und Modelle werden nur berührt, ebenso wird nur jeweils eine kleine Auswahl an klassischen Testverfahren genannt. Für ausführlichere Darstellungen verweisen wir auf die einschlägigen Lehrbücher der klinischen Neuropsychologie, Kinderpsychologie und -psychiatrie sowie auf die aktuellen Handbücher psychologischer oder neuropsychologischer Testverfahren (Schelling et al., 2018). Das Gebiet der Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten haben wir ausgespart, da hierzu bereits ein Band in der Reihe Fortschritte der Neuropsychologie vorliegt (Heine et al., 2012).

Klinisch-neuropsychologische Arbeit ist durch eine hohe Interdisziplinarität gekennzeichnet. Wir möchten daher unseren ärztlichen Kollegen danken, die freundlicherweise die Kapitel zu neurologischen Pathologien des Kindes- und Jugendalters kritisch gegengelesen haben (in alphabetischer Reihenfolge): Heidi Bächli, Thomas Bast, Karin Haas-Lude, Stefan Kölker, Inge Krägeloh-Mann, Mathias Nelle, Martin Staudt, Maja Steinlin und Steffen Syrbe.

Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Buch vorwiegend von Frauen gelesen wird ist aufgrund der Geschlechterverteilung in unserem Berufsfeld hoch. Dennoch haben wir uns der Lesbarkeit zuliebe entschieden, durchgängig die männliche Schreibweise zu verwenden.

Karen Lidzba, Regula Everts und Gitta Reuner, im Sommer 2019

|3|1 Grundlagen der klinischen Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen: Gehirnentwicklung

Die Gehirnentwicklung verläuft zunächst in genetisch vorgegebenen Phasen und wird ab der späten Schwangerschaft durch Umwelteinflüsse und Erfahrungen beeinflusst. Strukturelle und funktionelle Veränderungen sind bis zum Lebensende nachweisbar. Im Folgenden wird die Gehirnentwicklung vor der Geburt, in der Kindheit und in der Adoleszenz beschrieben.

1.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt

Etwa in der dritten Woche nach Befruchtung der Eizelle beginnt die Neurulation: Aus der Neuralleiste bildet sich das Neuralrohr (die Uranlage des zentralen Nervensystems), daraus bilden sich nach sieben Wochen die drei Primärbläschen. In der zehnten Woche ist mit den fünf Sekundärbläschen die Anlage der wichtigsten Hirnstrukturen gegeben: Großhirn, Thalamus und Hypothalamus, Mittelhirn, Kleinhirn und Pons, sowie die Medulla oblongata.

Ebenfalls in der dritten Schwangerschaftswoche beginnt die Proliferation: Dies ist der Prozess der Zellteilung, wobei sich zunächst jeweils ein Neuroblast (Nerven-Vorläuferzelle) in zwei weitere Neuroblasten teilt (symmetrische Zellteilung). Ab der siebten Schwangerschaftswoche entstehen bei jeder Zellteilung ein weiterer Neuroblast und eine Nervenzelle (asymmetrische Zellteilung), wobei die Nervenzelle sich nicht weiter teilen kann. Die meisten Nervenzellen des Kortex entstehen bis zur 16. Schwangerschaftswoche.

Hauptort der Zellteilung ist die Germinale Matrix, welche am Rand der Seitenventrikel anliegt. Von hier aus wandern die Neuroblasten und Nervenzellen ab der achten Schwangerschaftswoche zum Kortex; die Haupt-Wanderzeit liegt jedoch zwischen der 16. und 22. Schwangerschaftswoche. Während der Migration bilden die radialen Gliazellen ein Gerüst, an dem die Nervenzellen von der Mitte des Gehirns hinaus zum Kortex wandern. Im Kortex erhalten die Nervenzellen über einen molekularen Botenstoff das Signal zum Anhalten. So durchwandert jede neue Welle von Nervenzellen die bisherigen Kortex-Schichten und fügt sich zu einer weiter außenliegenden Schicht zusammen.

|4|An ihrem Zielort angekommen bilden die Nervenzellen Axone aus, die sich, gesteuert von Wachstumsfaktoren, durch das Gehirn strecken und dabei teilweise die Mittellinie kreuzen. So entstehen die ersten, primitiven Netzwerke. Die Signalübertragung durch die jungen Axone ist noch ineffizient und langsam – erst kurz vor dem dritten Schwangerschaftsdrittel werden die ersten Axone mit einer Myelinschicht ummantelt, wodurch die Reizweiterleitung durch das Axon um ein Vielfaches beschleunigt wird. Die Myelinisierung geschieht vor allem im letzten Schwangerschaftsdrittel und während der ersten beiden Lebensjahre, sie endet jedoch erst lange nach der Geburt und wird lebenslang erfahrungsabhängig moduliert.

Im letzten Schwangerschaftsdrittel findet innerhalb der Kortex-Schichten die Organisation der Neurone statt. Gesteuert von chemischen Botenstoffen differenzieren sich die Neurone zu spezifischen Zelltypen aus und verknüpfen sich innerhalb der Schichten. Zunächst regional, dann zunehmend über das ganze Gehirn hinweg, folgt schließlich der Prozess der Synaptogenese, der noch bis in die Kindheit anhält. Die Nervenzellen bilden Verbindungen untereinander aus, die dann erfahrungsabhängig moduliert werden. Bis zur Geburt hat das Gehirn etwa 25 % der Gehirngröße eines Erwachsenen erreicht (siehe Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1: Zeitlicher Ablauf der Phasen der Hirnentwicklung

1.1.1 Hirnfehlbildungen

Die komplexen Prozesse der Gehirnentwicklung, die vor allem in den ersten beiden Schwangerschaftsdritteln ablaufen, sind anfällig für Störfaktoren. Besonders genetische Störungen (95 % aller Hirnfehlbildungen), aber auch Infektionen (z. B. Cytomegalie- oder Röteln-Virus) oder Intoxikationen der Mutter können zu Abweichungen vom eigentlichen „Bauplan“ des Gehirns führen. Durch die Fortschritte in Genanalyse und Bildgebung konnten in den vergangenen Jahren immer mehr genetische Syndrome und hunderte von Genen identifiziert werden, die mit bestimmten Mustern an neuroanatomischen Auf|5|fälligkeiten einhergehen. Aus der großen Zahl an Hirnaufbaustörungen und Hirnfehlbildungen kann hier nur eine kleine Auswahl vorgestellt werden. Den schweren Hirnfehlbildungen ist gemein, dass sie häufig mit einem frühen Auftreten epileptischer Anfälle einhergehen. Abhängig von der Ausdehnung der Fehlbildung (fokal über unilateral bis bilateral) ist die kognitive Entwicklung unterschiedlich schwer gestört. Wenn die Fehlbildung den sensomotorischen Kortex oder die darunterliegenden Pyramidenbahnen betrifft, ist die Entwicklung einer motorischen Behinderung wahrscheinlich.

Bei Störungen der Proliferation werden entweder zu wenige oder zu viele Neuroblasten bzw. Nervenzellen ausgebildet. Bei der schweren primären Mikrozephalie liegt der Kopfumfang unter der dritten Perzentile. Neben der immer vorliegenden Intelligenzminderung besteht häufig auch eine Epilepsie. Bei der Makrozephalie entstehen dagegen in einer oder beiden Hemisphären zu viele Nervenzellen, und die weiteren Prozesse (Migration und Organisation) sind gestört. Das Resultat ist eine vergrößerte Hemisphäre mit strukturellen Auffälligkeiten, welche in vielen Aspekten dysfunktional ist. Auch diese Kinder sind in aller Regel von einer Intelligenzminderung und einer Epilepsie betroffen (Aicardi, 2009).

Störungen der Migration äußern sich vor allem im Lissenzephaliekomplex, bei dem eine Fehlorganisation des Kortex vorliegt. Diese kommt häufig durch einen fehlerhaften Aufbau des Gliazellen-Gerüsts zustande. Bei der Lissenzephalie bildet ein verdickter Kortex keinerlei Hirnwindungen, während bei der Pachigyrie nur wenige verdickte Gyri entstehen. Eine Besonderheit in diesem Komplex bildet die Bandheterotopie, mit einer zusätzlichen Schicht an Nervenzellkörpern unterhalb des eigentlichen Kortex. Von dieser Störung sind vor allem Mädchen betroffen. Menschen mit einer Lissenzephalie, Pachigyrie oder Bandheterotopie sind in der Regel von mehr oder weniger schweren kognitiven Entwicklungsstörungen betroffen. Fokale Varianten der Migrationsstörungen sind der Tuberöse Sklerose Komplex (TSC; siehe Kapitel 4.7) und die fokalen kortikalen Dysplasien. In allen Varianten des Lissenzephaliekomplexes besteht ein hohes Risiko für Epilepsien (Aicardi, 2009).

Nach dem Abschluss der Migrationsphase tritt das heterogene Störungsspektrum der Polymikrogyrien auf. Sie sind gekennzeichnet durch die Bildung sehr kleiner Gyri und atypischer Schichtung im Kortex. Die Auffälligkeiten im Rahmen von Polymikrogyrien können motorische und globale oder spezifische kognitive Einbußen umfassen, abhängig vom Ausmaß der Fehlbildung. Sie kommen oft im Rahmen genetischer Syndrome vor. Am häufigsten ist das angeborene bilaterale perisylvische Syndrom, bei dem meist eine schwere Sprachentwicklungsstörung besteht. Neben genetischen Ursachen können auch vaskuläre, infektiöse oder metabolische Erkrankungen eine Polymikrogyrie auslösen, die dann eine fehlerhafte „Reparatur“ der Läsion darstellen (Aicardi, 2009).

|6|1.2 Die ersten beiden Lebensjahre

In den ersten beiden Lebensjahren einer normalen Entwicklung steht der Aufbau von Netzwerken im Vordergrund. In regional unterschiedlichem Zeitverlauf werden Synapsen im Überfluss produziert (wie in der Gartenkunde spricht man hier von Blooming). Dies führt dazu, dass im frontalen Kortex im Alter von ein bis zwei Jahren etwa die 1,5-fache Zahl an Synapsen zur Verfügung steht als im Erwachsenenalter. Erfahrungsabhängig werden diejenigen Verknüpfungen gestärkt, die häufig verwendet werden, und solche Verknüpfungen wieder abgebaut, die nicht gebraucht werden (auch hier wird wieder die Gartenkunde bemüht: man spricht von Pruning). Die Axone erhalten eine Myelinschicht, wodurch die Kommunikation zwischen entfernteren Hirnregionen effizienter wird. Während die Projektionsfasern und das Corpus callosum schon beim Neugeborenen stark myelinisiert sind, geschieht dies bei den Assoziationsfasern deutlich langsamer. Vermutlich durch den Zuwachs an Myelin wächst das kindliche Gehirn in den ersten beiden Jahren nochmals rasant, so dass mit dem zweiten Geburtstag bereits 75 % des maximalen Volumens erreicht sind (Courchesne et al., 2000).

1.3 Kindheit

In der Kindheit nimmt das Kortexvolumen in den verschiedenen Hirnregionen bis zu einem bestimmten Alter weiter zu und dann wieder ab. In Bildgebungsstudien wird das Alter mit dem größten Kortexvolumen, gerne als Marker für die Hirnreifung verwendet. Die kortikale Reifung folgt der funktionellen, d. h. der primäre somatosensorische Kortex und die frontalen und okzipitalen Pole reifen zuerst (in der frühen Kindheit) und bis zur Pubertät folgt der parietale Kortex (Gogtay et al., 2004). Die Abnahme des Kortexvolumens ist vermutlich vor allem durch Pruning bedingt, welches die Informationsverarbeitung vereinfacht: Je weniger Alternativen für die Reizweiterleitung zur Auswahl stehen, umso schneller kann diese stattfinden. Das Volumen der weißen Substanz nimmt während der Kindheit massiv zu (Courchesne et al., 2000). Teile des Corpus callosum und der inferiore longitudinale Fasciculus sind mit 11 Jahren ausgreift (Lebel et al., 2008). Mit etwa 12 bis 15 Jahren erreicht das Gehirn das maximale Volumen (Courchesne et al., 2000).

1.4 Adoleszenz

Obwohl das Gehirn seine maximale Größe im Alter von 12 bis 15 Jahren erreicht hat, entwickelt es sich während der Adoleszenz deutlich weiter: Vom Parietallappen ausgehend reift der Kortex in frontaler Richtung aus, wobei |7|der hintere Gyrus temporalis superior und der dorsolaterale präfrontale Kortex erst in der zweiten Lebensdekade „erwachsen“ werden. Die Funktionen dieser Regionen, Integrationsprozesse und die kognitive Kontrolle, kommen entsprechend erst im jungen Erwachsenenalter voll zum Ausdruck (Anderson, 2002). Die weiße Substanz nimmt bis weit ins Erwachsenenalter linear zu, vermutlich aufgrund einer zunehmenden Myelinisierung (Courchesne et al., 2000). Die Entwicklung der wichtigsten Assoziationsfasern (v. a. der superiore longitudinale Fasciculus) findet während der Adoleszenz statt. Die „Schaltstationen“ in der Tiefe des Gehirns, d. h., Thalamus und Basalganglien, sowie die „Kontrollzentrale“ im Gyrus cinguli, erlangen erst im jungen Erwachsenenalter ihre volle Reife (Lebel et al., 2008).

1.5 Plastizität und Vulnerabilität

Inzwischen ist anerkannt, dass das junge und das ausgereifte Gehirn mit negativen Einflüssen verschieden umgehen. Ob jedoch die Unreife des Gehirns für die Erholung nach einer frühen Hirnschädigung eher günstig oder eher ungünstig ist, war in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand heftiger Diskussionen zwischen Vertretern der Plastizität und der Vulnerabilität. In diesem Kapitel soll verdeutlicht werden, dass beide Konzepte nicht unvereinbar, sondern in jeweils bestimmten Situationen plausibel sind.

1.5.1 Plastizität

In den ersten beiden Lebensjahren steht dem sich entwickelnden Gehirn eine große Auswahl möglicher Synapsen zur Verfügung, von denen erfahrungsabhängig die nützlichsten ausgewählt und beibehalten werden. Dies ist die Erklärung für die enorme Lernfähigkeit junger Kinder und gleichzeitig die Grundlage für Kompensationsmöglichkeiten bei Hirnschädigungen, die im erwachsenen Gehirn nicht mehr vorhanden sind.

Funktionelle Bildgebungsstudien haben gezeigt, dass das Gehirn im Verlauf von Kindheit und Jugend zunehmend effizienter arbeiten kann: Beobachtet man während einer Sprachaufgabe bei jungen Kindern weit über das Gehirn verteilte, bilaterale Aktivierung, zeigen Jugendliche und Erwachsene ein unilaterales, meist deutlich fokussierteres Aktivierungsmuster (Everts et al., 2009). Mit zunehmender Effizienz fallen jedoch auch die Kompensationsmöglichkeiten eines diffuseren Netzwerkes weg.

Margaret Kennards Forschungsergebnisse bei Rhesusaffen wurde von der wissenschaftlichen Gemeinde auf das „Kennard Prinzip“ reduziert: „If you have a brain lesion, have it early, …“. Zu ihrer Ehrenrettung muss angeführt werden, dass sie selbst ihre Befunde nie so vereinfacht interpretiert hat. Sie |8|zeigte sogar, dass sich auch sehr frühe Verletzungen negativ auf bestimmte Funktionsbereiche auswirken können (Dennis, 2010).

Bei Erwachsenen führt ein linksseitiger Schlaganfall der mittleren Hirnarterie (Media-Infarkt) mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer rechtsseitigen motorischen Behinderung und einer Sprachstörung (Aphasie). Selbst bei intensiver Rehabilitation ist eine vollständige Wiederherstellung der motorischen und sprachlichen Funktionen nur bei ungefähr einem Drittel der Betroffenen zu erwarten. Ganz anders stellt sich die Situation bei einem Säugling dar, der perinatal einen linksseitigen Media-Infarkt erleidet. Die genauen Umstände dieser Erkrankung werden in Kapitel 4.2 erläutert. Hier sei lediglich vermerkt, dass die anatomischen Auswirkungen perinataler Schlaganfälle vom Ausmaß her von Schlaganfällen im Erwachsenenalter kaum zu unterscheiden sind. Anders als beim Erwachsenen hat der Säugling aber eine vergleichsweise gute Prognose: Er wird zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit eine einseitige spastische Zerebralparese entwickeln, also eine Halbseitenlähmung. Verblüffend ist jedoch die sprachliche Prognose: Kinder mit perinatalem linksseitigem Media-Infarkt sind zunächst im Spracherwerb verzögert, im Schulalter zeigen sie jedoch nur bei komplexen sprachlichen Anforderungen Schwierigkeiten (Bates & Roe, 2001). Als Erklärung für diese unerwartete Entwicklung wird die besondere Fähigkeit des jungen Gehirns angenommen, bestimmte Funktionen in anderen als den ursprünglich vorgesehenen Arealen anzulegen. Reorganisation wurde besonders gut im Bereich der Sprache untersucht. Bei Kindern mit perinatalem linksseitigem Media-Infarkt ist die interhemisphärische Reorganisation der Sprache, also die Reorganisation in die nicht-geschädigte, rechte Hemisphäre häufig. In diesem Fall wird ein Netzwerk rekrutiert, das ein Spiegelbild des eigentlichen linksseitigen Sprachnetzwerks ist. Diese Kinder weisen die oben beschriebene relativ gute Funktionalität auf (Staudt et al., 2002). Die Grundlage für diesen besonderen Kompensationsmechanismus ist in der Sprachrepräsentation im Gehirn zu suchen: Zwar scheint die linke Hemisphäre für die Verarbeitung von Sprache klar genetisch vorbestimmt zu sein. Allerdings ist die rechte Hemisphäre anfangs mit beteiligt und die Lateralisierung verstärkt sich erst im Verlauf der Kindheit und Jugend (Everts et al., 2009). Stört eine frühe linksseitige Hirnschädigung diesen normalen Prozess, kann sich die Sprache nach einem verzögerten Beginn ausnahmsweise im rechten Teil dieses ursprünglich bilateralen Netzwerks etablieren. Sprach-Reorganisation kann jedoch auch innerhalb der geschädigten Hemisphäre stattfinden, dann werden periläsionelle Regionen rekrutiert, die ursprünglich zum Sprachnetzwerk gehörten, oder diesem direkt benachbart sind. Dieser Mechanismus wird in der Regel bei älteren Kindern und Erwachsenen beobachtet.