Neuropsychologie des chronischen Schmerzes - Herta Flor - E-Book

Neuropsychologie des chronischen Schmerzes E-Book

Herta Flor

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Beschreibung

Bei der neuropsychologischen Diagnostik und Therapie ist die Thematik "Schmerz" oftmals nicht weit. So weisen eine ganze Reihe von ZNS-Erkrankungen auch wiederkehrende oder anhaltende Schmerzen als Begleitsymptom auf. Darüber hinaus führen chronische Schmerzen ab einer gewissen Dauer und Intensität auch ohne primäre Schädigungen des Gehirns zu neuropsychologischen und neuropsychiatrischen Auffälligkeiten, die schwere Probleme bei gutachterlichen Fragestellungen hervorrufen. Eine große Herausforderung in der Schmerzdiagnostik und -behandlung stellen zudem Schmerzen bei Personen mit Kommunikationsstörungen dar, die keine Auskunft über Intensität, Lokalisation, Affektstörung und Funktionsbeeinträchtigungen geben können. Menschen mit Demenz, geistiger Behinderung und Aphasie sind auf valide Fremdbeobachtungen angewiesen. Dieser Band vermittelt einerseits diagnostische und therapeutische Grundkenntnisse der psychologischen Schmerzbehandlung und anderseits das essenzielle neuropsychologische Anwendungswissen.

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Herta Flor

Stefan Lautenbacher

Miriam Kunz

Neuropsychologie des chronischen Schmerzes

Fortschritte der Neuropsychologie

Band 22

Neuropsychologie des chronischen Schmerzes

Prof. Dr. Dr. h. c. Dr. h. c. Herta Flor, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Prof. Dr. Miriam Kunz

Die Reihe wird herausgegeben von:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Hans-Otto Karnath, Dr. Hendrik Niemann, Prof. Dr. Boris Suchan

Die Reihe wurde begründet von:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Dr. Hendrik Niemann

Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Herta Flor, geb. 1954. 1984 Promotion, 1990 Habilitation. Seit 2000 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Neuropsychologie und Klinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg und wissenschaftliche Direktorin des gleichnamigen Instituts am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Psychobiologie und interdisziplinäre Therapie psychischer Störungen sowie Lernen und Hirnplastizität.

Prof. Dr. Dr. habil. Stefan Lautenbacher, geb. 1956. 1990 Promotion, 1997 Habilitation. Seit 2001 ist er Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bamberg. Arbeitsschwerpunkte: Schmerz, Alter, Demenz.

Prof. Dr. Miriam Kunz, geb. 1977. 2006 Promotion, 2012 Habilitation. Seit 2019 ist sie Professorin für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Schmerz, Mimik und Demenz.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2021

© 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2246-6; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2246-7)

ISBN 978-3-8017-2246-3

https://doi.org/10.1026/02246-000

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Inhaltsverzeichnis

1 Definition und Erscheinungsbild chronischer Schmerzen

1.1 Definition

1.1.1 Definition chronischer Schmerzen

1.2 Klinisches Erscheinungsbild

1.2.1 Klassifikation chronischer Schmerzsyndrome

1.2.2 Beispiele chronischer Schmerzsyndrome

1.3 Epidemiologie

2 Ätiologie

2.1 Pathophysiologie

2.1.1 Periphere Reizverarbeitung – Nozizeptoren

2.1.2 Reizverarbeitung im Rückenmark

2.1.3 Reizverarbeitung im Gehirn

2.2 Psychologische Faktoren

2.2.1 Kognitive Faktoren: Schmerzbewertung

2.2.2 Emotionale Faktoren: Angst, Ärger, Depression

2.2.3 Lernmechanismen: Sensitivierung, Modelllernen, klassisches und operantes Konditionieren

2.2.4 Persönlichkeitsfaktoren: Neurotizismus, Hypervigilanz

2.2.5 Ein verhaltensmedizinisches Modell des chronischen Schmerzes

3 Neuropsychologische Folgen chronischer Schmerzen

3.1 Neuropsychologische Auffälligkeiten bei bestimmten chronischen Schmerzsyndromen

3.1.1 Chronischer Rückenschmerz

3.1.2 Kopfschmerzen

3.1.3 Fibromyalgie

3.1.4 Schleudertrauma

3.2 Neuropsychologische Wirkungen von Analgetika

3.3 Faktoren, die neuropsychologische Auffälligkeiten bei chronischen Schmerzen erklären können

3.3.1 Veränderungen im Gehirn

3.3.2 Intensität und Lokalisation des Schmerzes

3.3.3 Schlafprobleme/Stressreaktionen

3.3.4 Kognitive Interferenz

3.3.5 Kogniphobie

3.4 Besonderheiten neuropsychologischer Untersuchungen bei Schmerzpatienten

4 Spezielle Schmerzsyndrome bei neurologischen Erkrankungen des ZNS

4.1 Schmerz bei Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

4.2 Schmerz bei Multipler Sklerose (MS)

4.3 Schmerz bei altersassoziierten neurologischen Erkrankungen

4.3.1 Schmerz bei Schlaganfall

4.3.2 Morbus Parkinson (MP)

4.3.3 Schmerz bei Demenz

5 Schmerzdiagnostik und -messung

5.1 Interviews

5.2 Fragebögen und Skalen

5.2.1 Fragebögen – Erfassung des Schmerzerlebens

5.2.2 Fragebögen – Erfassung schmerzassoziierter Kognitionen und Bewältigungsstrategien

5.2.3 Fragebögen – Erfassung der allgemeinen emotionalen Befindlichkeit

5.2.4 Fragebögen – Erfassung der schmerzspezifischen emotionalen Befindlichkeit

5.2.5 Fragebögen – Erfassung der schmerzspezifischen Kognitionsstile

5.2.6 Skalen – Schmerzintensität

5.2.7 Skalen – Schmerzort

5.3 Verhaltensbeobachtungen und -analysen

5.4 Elektrophysiologische Methoden

5.5 Bildgebung

5.6 Quantitative sensorische Testung (QST)

5.7 Gutachten und Beschwerdevalidierung

5.7.1 Beschwerdevalidierung neuropsychologischer Einbußen

6 Psychologische Therapie von chronischen Schmerzen

6.1 Kognitive und operante Verhaltenstherapie

6.1.1 Operantes Training

6.1.2 Schmerzbewältigungstraining

6.2 Sonstige psychologische Ansätze

6.2.1 Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung

6.2.2 Extinktionstraining

6.3 Entspannungsverfahren

6.4 Biofeedback

6.5 Hypnose

6.6 Neurowissenschaftlich basierte Methoden

6.6.1 Sensorisches Diskriminationstraining

6.6.2 Imaginations- und Spiegeltherapie und Interventionen in der virtuellen Realität

6.7 Placebo

6.8 Probleme, Effektivität und Prognose der Schmerzpsychotherapie

7 Neuropsychologische Therapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen

8 Fallbeispiele chronischer Schmerzen mit neuropsychologischen Komplikationen

8.1 Fall 1

8.2 Fall 2

9 Weiterführende Literatur

10 Literatur

11 Anhang

11.1 Schmerzinterview

11.2 Strukturiertes Schmerzinterview für geriatrische Patienten

11.3 Schmerzerfassung bei kognitiv beeinträchtigten Patienten (PAIC-15)

12 Glossar

Karten

Schmerzassessment

Psychologische Schmerzbehandlung

|1|1 Definition und Erscheinungsbild chronischer Schmerzen

1.1 Definition

Obwohl die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Schmerz eine lange Tradition in der Menschheitsgeschichte hat, hat sich eine genaue begriffliche Klärung als schwierig erwiesen. In einem Versuch, eine gemeinsame Sprachregelung zu finden, charakterisierte die 1973 gegründete International Association for the Study of Pain (IASP) Schmerz als „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder der damit verbundenen Erfahrung ähnlich ist“ (Raja et al., im Druck, S. 2). Diese Definition bringt zum Ausdruck, dass – obwohl eine Gewebeschädigung oft ein wesentlicher Teil der Schmerzerfahrung ist – Schmerz nicht notwendigerweise darauf beruht. Tatsächlich treten vor allem chronische Schmerzen oft in Abwesenheit einer identifizierbaren Pathologie auf. Zudem weist diese Definition darauf hin, dass die emotionale Komponente ein integraler Bestandteil der Schmerzerfahrung ist („Schmerz ist ein unangenehmes (…) Gefühlserlebnis“). Jedoch berücksichtigt diese Definition nicht die Verhaltenskomponente, die ein wichtiger Bestandteil der Schmerzerfahrung ist. Schmerz wird heute als komplexe Reaktion verstanden, die auf verbal-subjektiver, motorisch-verhaltensbezogener und organisch-physiologischer Ebene beschrieben werden kann (Flor, 1991). Und obwohl Schmerz nicht unmittelbar mit nozizeptivem Input einhergehen muss, hat er dennoch immer physiologische Antezedenzien und Konsequenzen (Flor, Birbaumer & Turk, 1990). Obwohl Schmerz sich immer auf allen drei Reaktionsebenen manifestiert, besteht je nach Art des Schmerzes und Kontext ein unterschiedliches Ausmaß an Kohärenz zwischen diesen Reaktionsebenen.

Ein bedeutsamer Wechsel in der traditionellen Sicht von Schmerz ergab sich durch die 1965 von Melzack und Wall postulierte Tor-Kontroll-Theorie („gate control theory“) des Schmerzes, die davon ausgeht, dass der nozizeptive Einstrom schon auf der Ebene des Rückenmarks von aufsteigenden und absteigenden Bahnen moduliert wird (Melzack & Wall, 1965). Wichtiger als physiologische Aspekte der Theorie war das neue Konzept von Schmerz: Schmerz wurde als ein multidimensionales Phänomen gesehen, das von afferenten und efferenten Nervenimpulsen auf der Ebene des Rückenmarks |2|moduliert wird und neben der sensorisch-diskriminativen auch eine motivational-affektive und eine kognitiv-bewertende Komponente hat. So erhielten psychologische Faktoren bei der Schmerzerklärung eine ebenso wichtige Rolle wie physiologische Variablen. Die Tor-Kontroll-Theorie hat somit auch die Unterscheidung von somatogenen und psychogenen Schmerzen obsolet gemacht, weil psychologische und somatische Faktoren in der Schmerzentstehung immer interagieren und nicht sich gegenseitig ausschließende Schmerzursachen sind.

1.1.1 Definition chronischer Schmerzen

Die Unterscheidung chronischer und akuter Schmerzen ist wichtig und sinnvoll, weil chronischer Schmerz keine Warnfunktion mehr hat, sondern selbst zu erheblichen Einschränkungen für das Individuum führt und besonderer Behandlung bedarf. So sind chronische Schmerzen im Vergleich zu akuten Schmerzen oft nicht gut lokalisierbar, können trotz Intervention andauern und lassen sich nicht immer durch eine Organpathologie erklären. Auch führen sie meist weniger zu Angstzuständen, sondern vielmehr zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Depression und Irritabilität (Banks & Kerns 1996; Gatchel & Turk 1999); als Folgen treten oft Inaktivität, Medikamentenmissbrauch und schließlich Invalidität auf. Obwohl die Unterscheidung von akuten und chronischen Schmerzen wichtig ist, ist die klare Abgrenzung oftmals schwierig.

Chronische Schmerzen werden im wissenschaftlichen und klinischen Bereich immer noch häufig über die Zeit definiert, so dass der kritische Wert der Schmerzdauer von 6 (oder auch von 3) Monaten in „akut“ oder „chronisch“ einteilt. Da Zeit das alleinige Kriterium darstellt, wird die Multidimensionalität des Schmerzgeschehens dabei jedoch nicht berücksichtigt. Auch folgende bekannte Definition von Bonica (1953, S. 1533) „Chronischer Schmerz wird definiert als der Schmerz, der über den normalen Heilungsprozess hinaus persistiert“ (Übersetzung der Autoren) ist wenig brauchbar, da es keine Normen für das sogenannte normale Heilen gibt und sich chronische Schmerzen nicht immer aus einem akuten Problem entwickeln. Allein zeitliche Kriterien für die Definition chronischer Schmerzen heranzuziehen, scheint problematisch, weil es eigentlich um die in bestimmten Zeitintervallen ablaufenden pathophysiologischen Prozesse geht, wofür auch immer die individuelle Vulnerabilität zu berücksichtigen ist. Bei Kindern können schon wenige, relativ schwache Noxen, die bei Erwachsenen ohne Konsequenz blieben, zu dauerhaften Veränderungen im Schmerzsystem führen. Posttraumatische Zustände, z. B. bei Schädel-Hirn-Trauma, können hingegen zu einer solchen Häufung und Intensivierung nozizeptiver Prozesse führen, dass es auch bei Erwachsenen schon in kurzer Zeit zu langfristigen Veränderungen kommen kann. Bestimmte Schmerzen wie Migräne treten attackenartig auf und halten nie dau|3|erhaft für 6 Monate an und werden dann lediglich aufgrund ihres rekurrierenden Charakters als „chronisch“ bezeichnet. Dies sind nur einige Beispiele, die die alleinige Verwendung eines Zeitkriteriums problematisch erscheinen lassen. Man kann auf dieses Definitionsproblem wie die schon genannte IASP (Merskey & Bogduk, 1994, S. XII) reagieren: „Berücksichtigt man die vielen Unterschiede in dem Zustand, der chronischer Schmerz genannt werden kann, scheint es das Beste zu sein, Flexibilität bei der Einstufung von Patienten zu erlauben und sich auf die Diagnosen in der jeweils spezifischen Situation zu beziehen“ (Übersetzung der Autoren). Man kann aber auch noch weiter nach etwaigen Gemeinsamkeiten von Patienten mit langen Schmerzkarrieren fahnden. Chronifizierung bedeutet immer eine Ausweitung der Symptomatik auf den verschiedenen Reaktionsebenen von Schmerz. So treten zumeist weitere körperliche Beschwerden auf (organisch-physiologische Ebene), die psychische Belastung nimmt zu (verbal-subjektive Ebene), das Verhalten engt sich immer mehr auf Schmerzbewältigungsversuche ein, und die soziale Umwelt verarmt (motorisch-verhaltensbezogene Ebene). Solchen Entwicklungen Rechnung tragend haben Von Korff et al. (1992) mit einem Schmerzgraduierungsmodell einen Chronifizierungsfaktor durch die stufenweise Berücksichtigung der Schmerzintensität und der schmerzbedingten Behinderungen zu operationalisieren versucht (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Schweregrad-Stufen nach Von Korff et al. (1992)

0

Kein Schmerz

1

Geringe Schmerzintensität, geringe schmerzbedingte Beeinträchtigung

2

Hohe Schmerzintensität, geringe schmerzbedingte Beeinträchtigung

3

Hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung, mäßig limitierend

4

Hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung, stark limitierend

Dieses Modell stellt aber eher einen Schmerzschwereindex als einen Chronifizierungsindex zur Verfügung. Gerbershagen und Schmitt (1995) versuchten mit den Dimensionen der zeitlichen (Häufigkeit, Dauer, Wechsel) und räumlichen (Anzahl der Schmerzorte) Schmerzausbreitung, der Medikamenteneinnahme (Häufigkeit, ggf. Abhängigkeit) und der Patientenkarriere (Arztwechsel, Krankenhausaufenthalte, Operationen, Rehabilitationsmaßnahmen) Chronifizierung zu charakterisieren. Obwohl hier eine Vielzahl von relevanten Dimensionen Berücksichtigung findet, sieht man auf den ersten Blick, dass das psychologische Chronifizierungsgeschehen fehlt. Dies muss an Beispielen genügen, um zu zeigen, dass man die Frage nach „akut“ oder „chronisch“ nicht einfach Chronos, dem Gott der Zeit, stellen darf; sondern neben der Dauer des Schmerzes zumindest noch die Intensität, räumliche Schmerzausbreitung und die schmerzbedingte Beeinträchtigung miteinbeziehen sollte.

|4|Merke

Die gebräuchlichen Definitionen des chronischen Schmerzes orientieren sich an Zeitkriterien (meist 3 oder 6 Monate). Dieses Vorgehen berücksichtigt nicht die eigentlichen Chronifizierungsprozesse, die aber oft noch unbekannt und schwer zu erfassen sind.

1.2 Klinisches Erscheinungsbild

1.2.1 Klassifikation chronischer Schmerzsyndrome

Neben den Schwierigkeiten bei der Definition chronischer Schmerzen über die Zeit gestaltet sich auch die Beschreibung des klinischen Erscheinungsbildes aufgrund der Vielfalt chronischer Schmerzsyndrome schwierig. Man kann versuchen, mit Hilfe von syndrombeschreibenden Klassifikationen wesentliche Aspekte chronischer Schmerzsyndrome zu erfassen. Die IASP publizierte eine Klassifikation, die auf 5 Achsen basiert: der betroffene Körperteil, das betroffene System (z. B. Muskel), zeitliche Charakteristika des Schmerzes, Schmerzintensität und vermutete Ätiologie. Die IASP-Klassifikation weist über 300 multiaxiale Codes auf, mit denen man Schmerzen charakterisieren kann. Jedoch sind einzelne Aspekte (v. a. ätiologische Faktoren) wenig reliabel, viele Kategorien (z. B. „dysfunktional“) auch wenig aussagekräftig. Die IASP-Klassifikation enthält eine Kategorie „psychogener Schmerz“ mit den Untergruppen „Muskelspannungsschmerz“, „paranoider oder halluzinierter Schmerz“ und „hysterischer oder hypochondrischer Schmerz“. Diese Definition ist problematisch, da sie der Multidimensionalität des Schmerzes nicht entspricht und die Rolle psychologischer Faktoren auf ein „Entweder-oder“ reduziert. Gängige Klassifikationssysteme tragen diesem Umstand zunehmend Rechnung. So wurde im ICD-10 (International Classification of Diseases) die Kategorie der „anhaltenden Schmerzstörungen“ (F45.40; Dilling, Mombour & Schmidt, 1991) definiert. Zusätzlich wurde 2009 die Diagnose F45.41 „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ in der ICD-10-GM-Version eingeführt. Diese ist charakterisiert durch andauernde und beeinträchtigende Schmerzen, die den emotionalen Zustand und die funktionellen Möglichkeiten einer Person beeinflussen (Rief et al., 2009). Eine erweiterte Definition ist für ICD-11 unter dem Arbeitstitel „primärer chronischer Schmerz“ geplant. Im DSM 5 (Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders; American Psychiatric Association, 2013) wurden unter der Kategorie „Somatische Belastungsstörungen und Verwandte Störungen“ auch Schmerzstörungen subsumiert, die zuvor unter dem Begriff der „somatoformen Störungen“ klassifiziert waren. Diese Störungen sind |5|durch somatische Symptome gekennzeichnet, die mit deutlichem Leid und Beeinträchtigungen einhergehen. Damit wurde eine Positivsymptomatik eingeführt, die die Abwesenheit einer medizinischen Erklärung ersetzt. Die Diagnostik basiert auf positiven Zeichen und Symptomen auf der Grundlage belastender körperlicher Symptome sowie gestörter Gedanken, Gefühle und Verhalten als Reaktion auf die Symptome. Durch die Berücksichtigung affektiver, kognitiver und verhaltensbezogener Komponenten in den diagnostischen Kriterien nähert sich die Klassifikation verhaltensmedizinischen Zielvorstellungen an.

Insbesondere mit dem Ziel der Integration somatischer und psychosozialer Aspekte wurde Ende der 80er Jahre von Arbeitsgruppen innerhalb der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. eine multiaxiale Schmerzklassifikation entwickelt (MASK; Hildebrandt et al., 1992). Das MASK umfasst eine somatische Dimension (MASK-S) sowie eine psychosoziale Dimension (MASK-P). Unter weitgehendem Verzicht auf Kausalzuordnungen beinhaltet die MASK-S einen deskriptiv gestalteten Diagnosekatalog für die in Schmerzambulanzen häufig vorkommenden Schmerzsyndrome und ein Achsensystem zur Kodierung zusätzlicher schmerzrelevanter medizinischer Informationen. Eine MASK-S-Diagnose umfasst zunächst einen 5-ziffrigen Kode (Ziffer 1: Zugehörigkeit zu einer Schmerzgruppe (z. B. Rückenschmerzen, Kopfschmerzen etc.); Ziffer 2: Differentialdiagnose (z. B. Migräne vs. Spannungskopfschmerz); Ziffer 3: mögliche organische Ursache (z. B. spinale Stenose); Ziffer 4 und 5: Ätiologie und Genese), wobei prinzipiell die Möglichkeit besteht, bei fehlenden Informationen oder Unklarheit die entsprechenden Ziffern mit einer Null zu kodieren. Zusätzlich können auf weiteren 6 Beschreibungsachsen quantitative und qualitative Angaben gemacht werden. Das Achsensystem der MASK-S dient zur Beschreibung der Schmerzlokalisation und -topographie, der zeitlichen Charakteristik, der Qualität des Schmerzes sowie der allgemeinen Genese und ermöglicht außerdem, relevante neurologische Zusatzbefunde zu berücksichtigen. Die MASK-P (Klinger, Hasenbring & Pfingsten, 2016) setzt sich aus einer phänomenologischen Beschreibung auf 10 Achsenebenen (motorisch-verhaltensbezogen, emotional, kognitiv, Metakognitionen, Stressoren, Trauma, Personenmerkmale, Stressverarbeitung, psychophysiologische Dysregulation, Konfliktverarbeitungsstil) und zwei Zusatzebenen (funktionale Zusammenhänge; ICD- bzw. DSM-Diagnose) zusammen. Für die Erfassung der einzelnen Variablen werden entsprechende Fragebogenverfahren vorgeschlagen. Diese Klassifikation schließt zwar somatische und psychologische Faktoren ein, jedoch wäre eine noch stärkere Orientierung an Mechanismen wünschenswert.

|6|1.2.2 Beispiele chronischer Schmerzsyndrome

Bei den chronischen Schmerzsyndromen lassen sich unterschiedliche Typen differenzieren (vgl. Schmidt, Lang & Heckmann, 2011). So gibt es persistierende „gutartige“ (keine Lebensbedrohung) Schmerzsyndrome mit wenig Fluktuation wie zum Beispiel manche Arten von chronischen Rückenschmerzen, die nicht auf eine fortschreitende Erkrankung zurückgehen. Chronischer Schmerz kann aber auch als Begleiterscheinung einer fortschreitenden Erkrankung bösartigen (z. B. Tumoren) oder gutartigen (z. B. Polyarthritis) Charakters auftreten. Diese Schmerzen können auch fluktuierend sein. Davon werden im Allgemeinen intermittierende Schmerzsyndrome abgegrenzt, die episodisch-regelmäßig (z. B. Menstruationsbeschwerden) oder episodisch-unregelmäßig (z. B. Migräneanfälle) auftreten. Die Unterscheidung „gutartiger“ und „bösartiger“ Schmerzen ist kritisiert worden, da alle chronischen Schmerzen mit Einschränkungen einhergehen und die Unterscheidung nichts über die Mechanismen aussagt. Erlaubt die Vielfalt auch nicht, das Erscheinungsbild aller chronischer Schmerzen vertieft zu beschreiben, sollen doch die häufigsten chronischen Schmerzformen, nämlich der chronische Rücken- und Kopfschmerz, zumindest etwas näher beschrieben werden.