Never Never - Colleen Hoover - E-Book
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Never Never E-Book

Colleen Hoover

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Beschreibung

Das Meisterwerk der Bestsellerautorinnen Colleen Hoover und Tarryn Fisher Charlize, genannt Charlie, und Silas, beste Freunde seit der Kindheit und heimliches Paar gegen den Willen ihrer Familien, wachen auf und erinnern sich an … nichts. Beider Erinnerungen sind wie weggewischt. Was steckt dahinter? Oder besser: wer? Beim Versuch herauszufinden, wer sie sind und was passiert ist, kommen sie einer Familienfehde auf die Spur, in die sich ihre Eltern verwickelt hatten und die sie und ihre Liebe auseinandergetrieben hatte. Doch was hat das mit ihrem gemeinsamen Gedächtnisverlust zu tun? Und dann geschieht es erneut: Genau 48 Stunden nach dem ersten Mal erwacht Silas ohne Erinnerung an all das, was zuvor war. Und ohne Charlie – denn die ist wie vom Erdboden verschwunden.

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Seitenzahl: 509

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Über das Buch

NIEMALS AUFHÖREN. NIEMALS VERGESSEN.

 

Charlize, genannt Charlie, und Silas, beste Freunde seit der Kindheit und heimliches Paar gegen den Willen ihrer Familien, wachen auf und erinnern sich an … nichts.

Beider Erinnerungen sind wie weggewischt. Was steckt dahinter? Oder besser: wer? Beim Versuch herauszufinden, wer sie sind und was passiert ist, kommen sie einer Familienfehde auf die Spur, in die sich ihre Eltern verwickelt hatten und die sie und ihre Liebe auseinandergetrieben hatte. Doch was hat das mit ihrem gemeinsamen Gedächtnisverlust zu tun? Und dann geschieht es erneut: Genau 48 Stunden nach dem ersten Mal erwacht Silas erneut ohne Erinnerung an all das, was zuvor war. Und ohne Charlie – denn die ist wie vom Erdboden verschwunden …

 

Von Colleen Hoover ist bei dtv außerdem lieferbar:

Weil ich Layken liebe | Weil ich Will liebe | Weil wir uns lieben

Hope Forever | Looking for Hope | Finding Cinderella

Finding Perfect

Love and Confess

Maybe Someday | Maybe not | Maybe Now

Zurück ins Leben geliebt – Ugly Love

Nächstes Jahr am selben Tag – November 9

Nur noch ein einziges Mal – It ends with us

It starts with us – Nur noch einmal und für immer

Die tausend Teile meines Herzens

Was perfekt war

Verity

All das Ungesagte zwischen uns

Layla

Für immer ein Teil von dir

Summer of Hearts and Souls

Too Late – Wenn Nein sagen zur tödlichen Gefahr wird

Colleen Hoover / Tarryn Fisher

NEVER NEVER

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Kattrin Stier

Teil 1

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die nicht Sundae Colletti sind.

1

Charlie

Ein Poltern. Bücher fallen auf den fleckigen Linoleumboden und schlittern ein Stück weiter, drehen sich im Kreis, bevor sie vor einem Paar Füße zum Stillstand kommen. Vor meinen Füßen. Ich erkenne weder die schwarzen Sandalen noch die roten Zehennägel, aber sie bewegen sich, wenn ich es ihnen befehle, also müssen es wohl meine sein. Oder?

Eine Glocke ertönt.

Schrill.

Ich zucke zusammen. Mein Herz rast. Meine Augen wandern von links nach rechts, während ich meine Umgebung erkunde und mich bemühe, mir nichts anmerken zu lassen.

Was war das für eine Glocke?

Wo bin ich?

Jugendliche mit Rucksäcken auf dem Rücken strömen in den Raum. Sie reden und lachen. Eine Schulglocke. Sie lassen sich an die Tische gleiten, eine Stimme übertönt die andere. Ich sehe eine Bewegung zu meinen Füßen und fahre überrascht zusammen. Jemand beugt sich hinab und hebt Bücher vom Boden auf; ein rotgesichtiges Mädchen mit Brille. Bevor sie sich aufrichtet und davoneilt, sieht sie zu mir hoch. In ihrem Blick liegt Angst. Ein paar Leute lachen. Ich schaue mich um und denke, sie lachen über mich, aber sie sehen nur das Mädchen mit der Brille an.

»Charlie!«, ruft jemand. »Hast du das nicht gesehen?« Und dann: »Charlie … was ist los mit dir … hallo …?«

Mein Herz schlägt schnell, so schnell.

Wo bin ich? Warum kann ich mich an nichts erinnern?

»Charlie!«, zischt jemand. Ich sehe mich um.

Wer ist Charlie? Wer heißt hier Charlie?

Es sind so viele hier. Lauter Jugendliche mit blonden, mit braunen, mit zotteligen Haaren, mit Brille, ohne Brille …

Ein Mann kommt herein. Er trägt eine Aktentasche, die er vor sich auf den Tisch legt.

Der Lehrer. Ich bin in einem Klassenzimmer und das hier ist der Lehrer. Highschool oder College?, frage ich mich.

Plötzlich stehe ich auf. Ich bin hier am falschen Platz. Alle sitzen, nur ich stehe … gehe.

»Und wo möchten Sie hin, Miss Wynwood?« Der Lehrer sieht mich über den Rand seiner Brille hinweg an, während er durch einen Stapel mit Papieren blättert. Er lässt ihn mit Schwung auf den Tisch fallen und ich erschrecke. Ich muss wohl Miss Wynwood sein.

»Bestimmt hat sie Bauchweh!«, ruft jemand. Ein paar lachen. Ich spüre, wie es mir kalt den Rücken hinaufsteigt und über meine Arme kriecht. Sie lachen mich aus, dabei weiß ich nicht einmal, wer diese Leute hier sind.

Ich höre die Stimme eines Mädchens: »Halt die Klappe, Michael.«

»Ich weiß nicht«, sage ich und höre zum ersten Mal meine Stimme. Sie ist zu hoch. Ich räuspere mich und probiere es noch einmal. »Ich weiß nicht. Ich sollte nicht hier sein.«

Mehr Gelächter. Ich betrachte die Poster an den Wänden, die Gesichter von Präsidenten, darunter die jeweiligen Daten. Geschichte? Das hier muss wohl eine Highschool sein.

Der Mann – der Lehrer – legt den Kopf schief, als hätte ich etwas sehr Dummes gesagt. »Und wo sonst solltest du sein, wenn wir einen Test schreiben?«

»Ich … ich weiß nicht.«

»Setz dich«, sagt er. Wenn ich jetzt gehen würde, wüsste ich nicht, wohin. Ich mache kehrt. Das Mädchen mit der Brille sieht zu mir hoch, als ich an ihr vorübergehe, wendet dann aber rasch den Blick ab.

Sobald ich sitze, teilt der Lehrer Blätter aus. Er geht zwischen den Tischen hin und her, während er uns mit eintöniger Stimme erklärt, zu wie viel Prozent dieser Test für unsere Endnote zählt. Als er bei meinem Tisch angekommen ist, bleibt er mit eine tiefen Falte zwischen den Augenbrauen stehen. »Ich weiß nicht, was du hier gerade für eine Nummer abziehst.« Er presst die Spitze eines fetten Zeigefingers auf meinen Tisch. »Was immer es ist, ich habe jedenfalls die Nase voll. Noch mehr von diesem Theater und ich schicke dich zum Direktor.« Damit klatscht er mir den Test vor die Nase und geht weiter.

Ich nicke nicht, ich mache gar nichts. Ich versuche zu entscheiden, was ich tun soll. Der ganzen Klasse verkünden, dass ich keine Ahnung habe, wer und wo ich bin – oder ihn beiseiteziehen und es ihm leise mitteilen. Er hat gesagt, ich solle mit dem Theater aufhören. Meine Augen wandern zu dem Blatt vor mir. Die anderen sind bereits über ihre Tests gebeugt. Bleistifte kratzen über Papier.

 

Vierte Stunde

Geschichte

Mr Dulcott

 

Da ist eine Leerzeile, auf der ich nun meinen Namen eintragen sollte, aber ich weiß nicht, wie ich heiße. Miss Wynwood hat er mich genannt.

Warum erkenne ich weder meinen eigenen Namen?

Noch wo ich bin?

Oder was ich bin?

Alle Köpfe sind über die Tests gebeugt, nur meiner nicht. Und so sitze ich da und starre vor mich hin. Mr Dulcott wirft mir vom Lehrerpult aus böse Blicke zu. Je länger ich so dasitze, desto röter wird sein Gesicht.

Die Zeit verrinnt und zugleich ist meine Welt stehen geblieben. Schließlich erhebt sich Mr Dulcott und macht gerade den Mund auf, um etwas zu mir zu sagen, als es klingelt. »Legt eure Blätter beim Rausgehen auf meinen Tisch«, sagt er, den Blick weiter auf mein Gesicht gerichtet. Alle gehen hintereinander zur Tür hinaus. Mit gesenktem Blick stehe ich auf und folge ihnen, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Ich kann seine Wut spüren, aber ich kapiere nicht, warum er so wütend auf mich ist. Jetzt stehe ich in einem Flur, der auf beiden Seiten von blauen Schließfächern gesäumt ist.

»Charlie«, ruft jemand. »Warte auf mich, Charlie!« Eine Sekunde später hakt sich ein Arm bei mir ein. Ich rechne damit, dass es das Mädchen mit der Brille ist; keine Ahnung, warum. Aber das stimmt nicht. Und immerhin weiß ich jetzt, dass ich Charlie bin. Charlie Wynwood. »Du hast deine Sachen vergessen«, sagt sie und reicht mir einen weißen Rucksack. Ich nehme ihn ihr ab und überlege, ob sich da drin wohl ein Geldbeutel mit einem Ausweis befindet. Sie bleibt beim Gehen bei mir untergehakt. Sie ist kleiner als ich und auffallend schön – mit langen dunklen Haaren und glänzenden braunen Augen, die ihr halbes Gesicht einnehmen. »Was war denn eben los mit dir?«, fragt sie. »Du hast die Bücher von der Krabbe runtergeschmissen und ab da warst du wie weggetreten.«

Ich kann ihr Parfüm riechen. Es wirkt vertraut und zu süß, so als würden eine Million Blüten gleichzeitig ihren Duft verströmen. Ich denke an den Gesichtsausdruck des Mädchens mit der Brille, als sie sich nach den Büchern gebückt hat. Wenn ich das getan habe, warum weiß ich dann nichts mehr davon?

»Ich …«

»Wo willst du denn hin, jetzt ist doch Mittagspause.« Sie zieht mich in einen anderen Flur, vorbei an weiteren Schülern. Alle sehen mich mit verstohlenen Blicken an. Ich frage mich, ob sie wissen, wer ich bin und warum ich das nicht weiß. Ich weiß nicht, warum ich ihr oder Mr Dulcott nichts sage oder warum ich mir nicht jemand Zufälligen schnappe und zugebe, dass ich nicht weiß, wer oder wo ich bin. Aber gerade als ich genau das tun will, betreten wir durch eine Doppeltür die Cafeteria. Lärm und Farben; Körper mitsamt ihrem Eigengeruch, alles in ein grässlich grelles Neonlicht getaucht. Oh Gott. Ich kralle mich in meinem T-Shirt fest.

Das Mädchen an meinem Arm plappert weiter. Andrew hier, Marcy dort. Sie mag Andrew und hasst Marcy. Ich habe keine Ahnung, wer die beiden sind. Sie bugsiert mich in die Essensschlange. Wir holen uns Salat und eine Cola light. Dann stellen wir unsere Tabletts auf einem Tisch ab, an dem bereits ein paar Leute sitzen: vier Jungs, zwei Mädchen. Mir wird klar, dass wir beide damit eine Gruppe von Paaren vervollständigen. Alle Mädchen gehören zu einem Jungen. Alle blicken mich erwartungsvoll an, so als sollte ich etwas sagen oder tun. Der einzige freie Platz ist neben einem Jungen mit dunklen Haaren. Ich setze mich langsam, beide Hände flach auf den Tisch gestützt. Er wirft mir einen raschen Blick zu und beugt sich sogleich wieder über sein Tablett. Ich bemerke winzige Schweißperlen auf seiner Stirn direkt unter dem Haaransatz.

»Ihr zwei seid manchmal echt schräg drauf«, sagt ein blondes Mädchen mir gegenüber. Sie schaut zwischen mir und dem Typen neben mir hin und her. Er blickt von seinen Makkaroni auf, und ich stelle fest, dass er das Essen auf seinem Teller nur hin und her schiebt. Er hat nicht einen einzigen Bissen genommen, obwohl er so beschäftigt tut. Er sieht mich an und ich sehe ihn an, dann schauen wir beide zurück zu dem blonden Mädchen.

»Gibt es da irgendetwas, was wir wissen sollten?«, fragt sie.

»Nein«, sagen wir einstimmig.

Er ist mein Freund. Das merke ich an der Art, wie die anderen uns behandeln. Plötzlich lächelt er mich mit seinen strahlend weißen Zähnen an und streckt den Arm aus, um ihn mir um die Schultern zu legen.

»Alles bestens«, sagt er und drückt meinen Arm. Ich erstarre automatisch, aber als ich die sechs Augenpaare bemerke, die auf mein Gesicht gerichtet sind, lehne ich mich an ihn und spiele mit. Es ist beängstigend, nicht zu wissen, wer man ist – aber noch furchteinflößender ist der Gedanke, etwas völlig falsch zu machen. Inzwischen habe ich Angst, richtige Angst. Es ist zu spät. Wenn ich jetzt noch etwas sage, dann sieht es so aus, als wäre ich verrückt.

Seine Berührung scheint zu bewirken, dass alle sich entspannen. Alle – außer ihm selbst. Sie setzen ihre Unterhaltung fort, aber die Worte verschwimmen, es geht um Football, eine Party, noch mehr Football. Der Typ neben mir lacht und beteiligt sich am Gespräch, ohne dabei den Arm von meiner Schulter zu nehmen. Sie nennen ihn Silas. Mich nennen sie Charlie. Das dunkelhaarige Mädchen mit den großen Augen ist Annika. Die Namen der anderen gehen im Lärm unter.

Endlich ist die Mittagspause vorbei und alle stehen auf. Ich gehe neben Silas oder vielmehr: Er geht neben mir. Ich habe keine Ahnung, wohin ich unterwegs bin. Annika hakt sich auf der freien Seite bei mir ein und plappert über irgendein Cheerleader-Training. Ihre Nähe macht mir Beklemmungen. Als der Flur sich gabelt, beuge ich mich zu ihr und sage, sodass nur sie es hören kann: »Kannst du mich zu meinem nächsten Kurs begleiten?« Ihr Gesicht wird ernst. Sie löst sich von mir, um etwas zu ihrem Freund zu sagen, und dann sind unsere Arme wieder ineinander verschlungen.

Zu Silas gewandt, sage ich: »Annika begleitet mich zu meinem nächsten Kurs.«

»Okay«, sagt er und wirkt erleichtert. »Dann also bis … später.« Er geht in die entgegengesetzte Richtung.

Sobald er außer Sichtweite ist, dreht Annika sich zu mir. »Wo will der denn hin?«

Ich zucke die Schultern. »Zum Unterricht.«

Sie schüttelt den Kopf, als wäre sie verwirrt. »Ich versteh euch nicht. Den einen Tag könnt ihr überhaupt nicht voneinander lassen und am nächsten benehmt ihr euch, als hieltet ihr es nicht aus, im selben Raum zu sein. Du musst dich jetzt wirklich mal entscheiden, was mit ihm ist, Charlie.«

Sie bleibt vor einer Tür stehen.

»Hier muss ich …«, sage ich, um zu testen, ob sie protestiert. Das tut sie nicht.

»Ruf mich nachher an«, sagt sie. »Ich will wissen, was gestern Abend los war.«

Ich nicke. Nachdem sie in dem Meer von Gesichtern verschwunden ist, betrete ich das Klassenzimmer. Da ich nicht weiß, wo ich mich hinsetzen soll, gehe ich ganz nach hinten und lasse mich an einen Tisch am Fenster gleiten. Ich bin früh dran, also öffne ich meinen Rucksack. Zwischen ein paar Heften und einem Schminktäschchen steckt ein Geldbeutel. Ich ziehe ihn heraus und klappe ihn auf. Da steckt ein Führerschein mit dem Foto eines lächelnden dunkelhaarigen Mädchens. Ich.

CHARLIZEMARGARETWYNWOOD.

2417HOLCOURTWAY,

NEWORLEANS, LA.

Ich bin siebzehn und habe am 21. März Geburtstag. Ich wohne in Louisiana. Ich betrachte das Foto in der linken oberen Ecke und kann mich nicht an das Gesicht erinnern. Es ist mein Gesicht, aber ich habe es noch nie gesehen. Ich bin … hübsch. Und ich habe nur 28 Dollar.

Der Raum füllt sich. Der Platz neben mir bleibt leer, fast so, als hätten die anderen Angst, sich dorthin zu setzen. Wir haben Spanisch bei einer jungen, hübschen Lehrerin namens Mrs Cardona. Im Gegensatz zu vielen anderen hier sieht sie mich nicht an, als würde sie mich hassen. Wir beginnen mit den verschiedenen Zeiten.

Ich habe keine Vergangenheit.

Ich habe keine Vergangenheit.

Fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn geht die Tür auf und Silas kommt mit gesenktem Blick herein. Ich vermute, dass er gekommen ist, um mir etwas zu sagen oder zu bringen, und bereite mich innerlich darauf vor, den anderen etwas vorzuspielen, aber Mrs Cardona macht nur eine scherzhafte Bemerkung über sein Zuspätkommen. Er setzt sich auf den einzigen freien Platz, den neben mir, und blickt stur geradeaus. Ich starre ihn an. Ich starre ihn so lange an, bis er schließlich den Kopf dreht und mich ansieht. Schweißtropfen rinnen ihm seitlich übers Gesicht.

Er hat die Augen weit aufgerissen.

Genauso weit wie ich.

2

Silas

Drei Stunden.

Jetzt ist es schon fast drei Stunden her und mein Hirn ist noch immer wie benebelt.

Nein, kein Nebel. Nicht einmal eine undurchdringliche Nebelwand. Es fühlt sich an, als würde ich in einem pechschwarzen Raum herumirren und nach dem Lichtschalter suchen.

»Alles okay mit dir?«, fragt Charlie, nachdem ich sie gerade mehrere Sekunden lang angestarrt und dabei versucht habe, wenigstens einen Hauch von Vertrautheit in diesem Gesicht zu erkennen, das mir ja offenbar mehr als vertraut sein sollte.

Da ist nichts.

Sie blickt auf den Tisch hinab, wobei ihr dichtes schwarzes Haar wie Scheuklappen zwischen uns fällt. Ich möchte sie genauer betrachten. Ich brauche etwas, das mich packt, etwas Vertrautes. Ich möchte ein Muttermal oder eine Sommersprosse voraussagen, bevor ich sie an ihr sehe, denn ich brauche irgendetwas mit Wiedererkennungswert. Ich würde mich an jedes noch so kleine Detail von ihr klammern, das mich davon überzeugen könnte, dass ich nicht langsam den Verstand verliere.

Endlich streckt sie die Hand aus und streicht sich die Haare hinters Ohr. Aus zwei weit aufgerissenen und vollkommen unvertrauten Augen blickt sie zu mir auf. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen vertieft sich und sie fängt an, an ihrem Handballen herumzunagen.

Sie macht sich Sorgen um mich. Um uns vielleicht.

Uns.

Ich würde sie gerne fragen, ob sie weiß, was mit mir passiert sein könnte, aber ich will ihr keine Angst machen. Wie soll ich ihr erklären, dass ich sie nicht kenne? Wie soll ich es überhaupt jemandem erklären? Ich bemühe mich nun schon seit drei Stunden darum, mir nichts anmerken zu lassen. Zunächst war ich überzeugt, ich hätte irgendein illegales Zeug genommen, das diesen Blackout bei mir hervorgerufen hat, aber das hier ist etwas anderes als ein Blackout. Es fühlt sich ganz anders an, wenn man bekifft oder besoffen ist. Obwohl ich nicht mal eine Ahnung habe, woher ich das eigentlich wissen will. Ich kann mich nämlich an nichts erinnern, was mehr als drei Stunden zurückliegt.

»Hey.« Charlie streckt die Hand aus, als wolle sie mich berühren, zieht sie aber gleich wieder zurück. »Alles okay mit dir?«

Ich packe den Ärmel meines Shirts und wische mir den Feuchtigkeitsfilm von der Stirn. Als sie mich wieder ansieht, erkenne ich noch immer die Besorgnis in ihrem Blick. Ich zwinge meine Lippen zu einem Lächeln.

»Alles bestens«, murmele ich. »Langer Abend.«

Sobald ich das gesagt habe, zucke ich innerlich zusammen. Ich habe keine Ahnung, was ich für einen Abend hatte, und falls dieses Mädchen neben mir wirklich meine Freundin ist, dann hätte ein solcher Satz vermutlich etwas Beunruhigendes.

Ich bemerke ein kleines Zucken in ihrem Auge und sie legt den Kopf zur Seite. »Warum war es ein langer Abend?«

Shit.

»Silas«, ertönt eine Stimme von vorne. Ich blicke auf. »Keine Privatgespräche«, mahnt die Lehrerin, fährt aber gleich weiter mit ihren Erläuterungen fort und kümmert sich nicht um meine Reaktion. Ich werfe einen kurzen Blick zu Charlie und starre sogleich wieder auf den Tisch vor mir. Meine Finger gleiten über die Namen, die in das Holz eingeschnitzt sind. Charlie schaut mich weiter unverwandt an, aber ich würdige sie keines Blickes. Stattdessen drehe ich meine Hand um und fahre mit zwei Fingern über die Schwielen auf der Innenseite.

Habe ich einen Job? Rasenmähen zum Beispiel?

Vielleicht kommt es auch vom Football. Während der Mittagspause habe ich die Zeit genutzt, um die anderen um mich herum genau zu beobachten, und erfahren, dass ich heute Nachmittag wohl Footballtraining habe. Keine Ahnung, um welche Uhrzeit oder wo, aber schließlich bin ich ja auch durch die letzten paar Stunden gekommen, ohne zu wissen, wann ich wo sein sollte. Zwar habe ich momentan keinerlei Erinnerung, aber ich scheine das ziemlich gut überspielen zu können. Vielleicht zu gut.

Ich drehe auch die andere Hand um und bemerke dieselben rauen Schwielen auf dieser Handfläche.

Vielleicht lebe ich auf einem Bauernhof.

Nein. Das sicher nicht.

Keine Ahnung, woher ich das weiß, aber auch ohne jede Erinnerung habe ich anscheinend ein Gefühl dafür, welche meiner Annahmen zutreffen und welche nicht. Allerdings kann es auch sein, dass ich es einfach ausschließe, ohne dass es etwas mit Intuition oder Erinnerung zu tun hat. Beispielsweise würde jemand, der auf einem Bauernhof lebt, wohl kaum die Kleidung tragen, die ich jetzt anhabe. Teure Klamotten. Trendig? Wenn ich mir meine Schuhe betrachte, würde ich die Frage, ob ich reiche Eltern habe, ganz klar mit »Ja« beantworten. Ohne das Geringste darüber zu wissen, da ich mich nicht an meine Eltern erinnern kann.

Ich weiß nicht, wo ich wohne, mit wem ich zusammenwohne oder ob ich eher meiner Mutter oder meinem Vater ähnlich sehe.

Ich weiß nicht einmal, wie ich aussehe.

Ich stehe abrupt auf und schiebe den Tisch dabei mit einem lauten Geräusch nach vorn. Die ganze Klasse dreht sich zu mir um, mit Ausnahme von Charlie, die mich ohnehin schon die ganze Zeit anstarrt. Ihr Blick ist dabei keineswegs fragend oder freundlich.

Ihr Blick ist vorwurfsvoll.

Die Lehrerin wirft mir einen warnenden Blick zu, scheint aber keineswegs überrascht zu sein, dass die allgemeine Aufmerksamkeit jetzt nur noch mir gilt. Sie steht einfach ruhig da und wartet auf meine Erklärung für diese plötzliche Unterbrechung.

Ich schlucke. »Ich muss mal.« Meine Lippen sind klebrig, mein Mund ist trocken, mein Hirn hat ausgesetzt. Ich warte nicht auf eine Erlaubnis, sondern marschiere einfach los. Als ich zur Tür hinausgehe, spüre ich, dass mich alle anstarren.

Ich wende mich nach rechts und laufe bis zum Ende des Flurs. Dort mache ich kehrt und gehe an der Tür meines Klassenzimmers vorbei und weiter um die Ecke, wo ich schließlich die Toilette finde. Ich schiebe die Tür auf und hoffe, dass keiner sonst da ist, aber jemand steht mit dem Rücken zu mir am Urinal. Ohne in den Spiegel zu schauen, drehe ich mich zum Waschbecken. Mit beiden Händen halte ich den Rand des Beckens fest umklammert, starre hinein und atme tief durch.

Wenn ich mich überwinden könnte, in den Spiegel zu sehen, würde mein Anblick vielleicht eine Erinnerung wachrufen oder mir zumindest ein kleines Gefühl des Wiedererkennens geben. Wenigstens irgendetwas. Der Typ, der gerade noch am Urinal stand, lehnt jetzt mit verschränkten Armen neben mir am Waschbecken. Ein Blick zur Seite zeigt mir, dass er mich unverwandt anstarrt. Seine Haare sind hellblond, beinahe weiß. Seine blasse Haut erinnert mich an eine Qualle, sie ist fast durchscheinend.

Ich kann mich erinnern, wie Quallen aussehen, aber ich habe keine Ahnung, was mich beim Blick in den Spiegel erwartet.

»Du siehst beschissen aus, Nash«, sagt er und verzieht das Gesicht.

Nash?

Alle anderen haben mich Silas genannt. Nash muss wohl mein Nachname sein. Ich würde ja in meinem Geldbeutel nachsehen, aber in meiner Hosentasche ist keiner. Nur ein Bündel Scheine. Mein Geldbeutel war so ziemlich das Erste, wonach ich gesucht habe, nachdem … nun ja, nachdem es passiert war.

»Geht grad nicht so«, nuschele ich als Antwort.

Für ein paar Sekunden reagiert der Typ nicht. Er starrt mich nur weiter so an, wie auch Charlie mich im Unterricht angestarrt hat, allerdings weniger besorgt, sondern eher verächtlich. Der Typ grinst schief und stößt sich vom Waschbecken ab. Er steht jetzt aufrecht da, ist aber immer noch ein paar Zentimeter kleiner als ich. Er macht einen Schritt nach vorn, und sein Blick sagt mir, dass er nicht näher kommt, weil er sich um meine Gesundheit Sorgen macht.

»Die Sache vom Freitag ist noch nicht aus der Welt«, sagt er zu mir und bläht dabei die Nasenflügel. »Bist du deswegen jetzt hier?« Er lässt die Hände zur Seite sinken, ballt sie zweimal zur Faust und öffnet sie wieder.

Ich überlege, was ich tun soll. Mir ist klar, dass ich als Feigling dastehe, wenn ich jetzt zurückweiche, doch mit einem Schritt nach vorne würde ich ihn zu etwas herausfordern, dem ich mich gerade nicht gewachsen fühle. Er hat ganz offensichtlich ein Problem mit mir und mit dem, was immer ich am Freitagabend getan habe und was ihn so sauer auf mich macht.

Ich entscheide mich für etwas dazwischen und zeige einfach keinerlei Reaktion. Versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

Lässig wende ich meine Aufmerksamkeit dem Waschbecken zu und drehe einen der Knäufe, bis ein Wasserstrahl aus dem Hahn strömt. »Lass uns das auf dem Spielfeld ausmachen«, sage ich und würde den Satz am liebsten sofort zurücknehmen. Die Möglichkeit, dass er gar nicht Football spielt, habe ich aufgrund seiner Statur nicht in Erwägung gezogen, aber falls nicht, ist mein Kommentar vollkommen wirr. Ich halte die Luft an und warte darauf, dass er mich korrigiert oder zur Rede stellt.

Keins von beidem passiert.

Er starrt mich noch ein Weilchen an, bevor er sich an mir vorbeidrängt, wobei er mich auf dem Weg zur Tür absichtlich anrempelt. Ich halte die Hände unter den Wasserstrahl und trinke einen Schluck. Dann wische ich mir mit dem Handrücken über den Mund und blicke auf. Sehe mich an.

Silas Nash.

Was zum Teufel ist das überhaupt für ein Name?

Gleichgültig blicke ich in ein Paar fremder, dunkler Augen. Es fühlt sich an, als würde ich ein Augenpaar anstarren, das ich noch nie zuvor gesehen habe, obwohl ich es höchstwahrscheinlich jeden einzelnen Tag betrachtet habe, seitdem ich alt genug war, an einen Spiegel heranzureichen.

Der Kerl im Spiegel ist mir ebenso wenig vertraut wie diese Charlie, die ich – nach Aussage eines gewissen Andrew – schon seit zwei Jahren »poppe«.

Alles andere als vertraut.

»Wer bist du?«, flüstere ich ihm zu.

Die Tür zum Flur geht langsam auf und mein Blick wandert von meinem Spiegelbild zum Spiegelbild der Tür. Eine Hand erscheint, umklammert die Tür. Ich erkenne sie an den gepflegten, rot lackierten Fingernägeln. Das Mädchen, das ich seit zwei Jahren »poppe«.

»Silas?«

Ich richte mich auf und drehe mich ganz zur Tür, als sie den Kopf hereinsteckt. Unsere Blicke treffen sich, aber nur für zwei Sekunden, dann schaut sie weg und sieht sich um.

»Außer mir ist hier keiner«, sage ich. Sie nickt und schlüpft nun ganz zur Tür herein, wenngleich äußerst zögernd. Ich wünschte, ich wäre in der Lage, ihr zu vermitteln, dass alles in Ordnung ist, damit sie keinen Verdacht schöpft. Außerdem wünschte ich, ich könnte mich an sie oder an irgendwelche Details unserer Beziehung erinnern, weil ich es ihr erzählen möchte. Ich muss es ihr erzählen. Ich muss einen Mitwisser haben, damit ich Fragen stellen kann.

Aber wie soll man seiner Freundin erklären, dass man keine Ahnung hat, wer sie ist? Wer man selbst ist?

Man sagt nichts, sondern spielt weiter die Rolle, die man auch allen anderen gegenüber spielt.

Hundert unausgesprochene Fragen sind in ihren Augen zu lesen, und ich versuche instinktiv, ihnen auszuweichen. »Es ist alles okay, Charlie.« Ich lächele ihr zu, weil es sich so anfühlt, als sollte ich das tun. »Mir geht’s nur nicht so gut. Geh zurück in den Unterricht.«

Sie rührt sich nicht.

Sie lächelt nicht.

Ungeachtet meiner Aufforderung bleibt sie, wo sie ist. Sie erinnert mich an eines dieser Schaukeltiere auf Federn, die es auf Spielplätzen gibt. Man schubst sie an und sie wippen sofort wieder zurück. Solle ihr jemand einen Stoß gegen die Schulter verpassen, würde sie sich einfach rückwärts lehnen, die Füße fest im Boden verankert, und sich sofort wieder aufrichten.

Ich habe keine Ahnung, wie man die Dinger nennt, aber ich mache mir eine geistige Notiz, dass ich mich irgendwie an sie erinnern kann. In den vergangenen drei Stunden habe ich jede Menge solcher Notizen gemacht.

Ich bin in der Oberstufe einer Highschool.

Ich heiße Silas.

Vermutlich ist mein Nachname Nash.

Meine Freundin heißt Charlie.

Ich spiele Football.

Ich weiß, wie Quallen aussehen.

Charlie legt den Kopf schief und ihr Mundwinkel zuckt ein wenig. Ihre Lippen öffnen sich und ich höre einen Augenblick lang nur ihre nervösen Atemzüge. Als sie schließlich etwas sagt, würde ich mich am liebsten vor ihren Worten verstecken.

»Wie heiße ich mit Nachnamen, Silas?«

Ihre Stimme ist wie Rauch. Weich und hauchig und gleich wieder verschwunden.

Ich kann nicht sagen, ob sie einfach nur über ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen verfügt oder ob es mir so wenig gelingt, die Tatsache zu verbergen, dass ich einfach gar nichts weiß. Ich schwanke kurz, ob ich ihr alles erzählen soll oder nicht. Wenn sie mir glaubt, kann sie mir möglicherweise jede Menge Fragen beantworten. Aber wenn ich es ihr erzähle und sie mir nicht glaubt …

»Was ist das denn für eine Frage, Baby?«, bemerke ich mit einem betont lässigen Lachen. Sage ich wirklich Baby zu ihr?

Sie hebt den Fuß, der zuvor wie an den Boden geklebt schien, und macht einen Schritt auf mich zu. Dann noch einen. Sie kommt immer näher, bis sie direkt vor mir steht, so nah, dass ich sie riechen kann.

Lilien.

Sie riecht nach Lilien, und ich habe keine Ahnung, warum ich weiß, wie Lilien riechen, mich aber gleichzeitig nicht an die Person erinnern kann, die hier vor mir steht und nach Lilien riecht.

Sie wendet nicht den Blick von mir, nicht ein einziges Mal.

»Silas«, mahnt sie. »Wie heiße ich mit Nachnamen?«

Ich malme mit dem Kiefer, drehe mich wieder zum Waschbecken um und klammere mich mit beiden Händen daran fest. Langsam hebe ich den Kopf, bis ich ihrem Blick im Spiegel begegne.

»Dein Nachname?« Mein Mund ist wieder trocken und die Worte klingen heiser.

Sie wartet.

Ich wende den Blick von ihr ab und betrachte wieder den unbekannten Kerl im Spiegel. »Ich … ich kann mich nicht erinnern.«

Sie verschwindet aus dem Spiegelbild, gefolgt von einem lauten Klatschen. Es klingt wie das Geräusch der Fische auf dem Pike Place Market in Seattle, wenn die Händler sie sich in Wachspapier gewickelt zuwerfen.

Klatsch!

Ich fahre herum und sie liegt mit geschlossenen Augen auf dem Fliesenboden, die Arme weit von sich gestreckt. Schnell knie ich mich neben sie und hebe ihren Kopf an, doch sobald sie ein wenig erhöht liegt, fangen ihre Augenlider an zu flattern.

»Charlie?«

Sie holt tief Luft und setzt sich auf. Dann löst sie sich aus meinen Armen und schiebt mich von sich, fast so, als hätte sie Angst vor mir. Ich halte die Hände weiter neben ihr, falls sie versuchen will aufzustehen, doch das tut sie nicht. Sie bleibt auf dem Boden sitzen und stützt sich mit den Handflächen auf den Fliesen ab.

»Du bist umgekippt«, erkläre ich.

Sie sieht mich stirnrunzelnd an. »Das ist mir auch klar.«

Ich sage nichts mehr. Vermutlich sollte ich wissen, wie ihr Mienenspiel zu deuten ist, aber ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob sie Angst hat oder wütend ist oder …

»Ich bin verwirrt«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Ich … kannst du …« Sie hält inne und versucht dann aufzustehen. Ich richte mich ebenfalls auf, aber ich merke, dass ihr das nicht gefällt, so wie sie meine Hände ansieht, die ich leicht angehoben habe, um sie auffangen zu können, falls sie erneut umkippen sollte.

Sie macht zwei Schritte rückwärts und fängt wieder an, an ihrem Handballen herumzunagen. Einen Augenblick lang mustert sie mich schweigend, bevor sie den Daumen vom Mund nimmt und eine Faust macht. »Du wusstest nicht, dass wir nach der Mittagspause beide denselben Kurs hatten.« Ihre Worte haben einen anklagenden Unterton. »Du weißt nicht, wie ich mit Nachnamen heiße.«

Ich schüttele den Kopf, da mir nichts anderes übrig bleibt, als beides einzugestehen.

»Und an was kannst du dich erinnern?«, fragt sie.

Sie hat Angst. Ist verunsichert. Misstrauisch. Unsere Gefühle spiegeln die des jeweils anderen wider. Und da kommt mir die Erkenntnis.

Sie ist mir nicht vertraut. Ich bin mir nicht vertraut. Doch unser Verhalten – wie wir uns nach außen hin geben – ist exakt dasselbe.

»An was ich mich erinnern kann?«, wiederhole ich ihre Frage, um ein wenig Zeit zu gewinnen und meinen Verdacht zu erhärten.

Sie wartet auf meine Antwort.

»An Geschichte«, sage ich und reiche so weit wie möglich zurück in meiner Erinnerung. »Bücher. Ich habe gesehen, wie einem Mädchen die Bücher aus der Hand gefallen sind.« Ich umklammere wieder meinen Nacken und massiere ihn.

»Oh Gott.« Sie macht einen schnellen Schritt auf mich zu. »Das … das ist auch das Erste, an das ich mich erinnere.«

Mein Herz macht einen Satz.

Sie schüttelt langsam den Kopf. »Das gefällt mir nicht. Es ergibt überhaupt keinen Sinn.« Sie wirkt ganz ruhig – jedenfalls ruhiger, als ich mich fühle. Ihre Stimme ist fest. Das einzige Zeichen von Angst sehe ich in dem Weiß ihrer weit aufgerissenen Augen. Ohne weiter nachzudenken, ziehe ich sie an mich, aber ich glaube, das tut vor allem mir gut und tröstet sie nicht wirklich. Sie lässt es geschehen, und ich überlege, ob das hier ganz normal für uns ist. Ich frage mich, ob wir wirklich ein Liebespaar sind.

Ich ziehe sie noch fester an mich, bis ich spüre, wie sie sich dagegen sträubt. »Wir müssen rausfinden, was hier abgeht«, sagt sie und löst sich von mir.

Meinem ersten Impuls folgend möchte ich ihr sagen, dass alles gut ist und ich herausfinden werde, was passiert ist. Ich verspüre das überwältigende Bedürfnis, sie zu beschützen – allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, wenn wir beide dasselbe Problem haben.

Das Läuten der Schulglocke verkündet das Ende der Spanischstunde. In wenigen Sekunden wird die Tür zur Toilette aufgehen, Schließfächer werden zugeknallt werden und wir werden zunächst einmal herausfinden müssen, in welchen Klassenzimmern wir als Nächstes sein sollen. Ich nehme ihre Hand und ziehe sie hinter mir her, während ich die Tür zum Flur aufstoße.

»Wohin gehen wir?«, fragt sie.

Ich werfe ihr einen Blick zu und zucke die Schultern. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich hier wegwill.«

3

Charlie

Dieser Typ – also dieser Silas – ergreift meine Hand, als würde er mich gut kennen, und zerrt mich wie ein kleines Kind hinter sich her. Und genau so komme ich mir vor – wie ein kleines Kind in der großen, weiten Welt. Ich verstehe gar nichts und vor allem erkenne ich nichts wieder. Während er mich durch die schmucklosen Flure irgendeiner unbekannten Highschool zerrt, kann ich immer nur daran denken, dass ich umgekippt bin wie ein hilfloses Püppchen. Und das ausgerechnet im Jungsklo. Eklig. Ich denke gerade darüber nach, wo ich meine Prioritäten setze und wie mein Hirn dazu kommt, sich über Krankheitskeime Gedanken zu machen, während ich doch ganz offensichtlich ein weit größeres Problem habe, als wir plötzlich in die pralle Sonne hinausstolpern. Ich halte mir die freie Hand vor die Augen, während dieser Silas einen Schlüsselbund aus der Hosentasche zieht. Er hält ihn über seinen Kopf, dreht sich im Kreis und drückt immer wieder auf den Alarmknopf seines Autoschlüssels. Irgendwo aus einer Ecke des Parkplatzes hören wir das Schrillen einer Alarmanlage.

Wir rennen in die Richtung, wobei unsere Füße so schnell über den Asphalt trommeln, als würden wir gejagt. Und das stimmt ja vielleicht auch. Wie sich herausstellt, handelt es sich um einen Geländewagen. Einen Land Rover. Wie der Wagen da über den anderen Autos thront, lässt er diese klein und unbedeutend erscheinen. Entweder fährt Silas das Auto von seinem Dad oder er schwimmt im Geld von seinem Dad. Vielleicht hat er aber auch gar keinen Vater. Er könnte es mir jedenfalls nicht sagen. Und woher weiß ich überhaupt, dass so ein Auto teuer ist? Ich kann mich an vieles erinnern: daran, wie ein Auto funktioniert, oder an die Verkehrsregeln oder an die Namen der Präsidenten der Vereinigten Staaten, aber nicht daran, wer ich bin.

Silas hält mir die Tür auf und blickt dabei über die Schulter in Richtung der Schule zurück. Es fühlt sich an, als würde mir jemand einen Streich spielen. Silas könnte selbst hinter dieser ganzen Geschichte stecken. Vielleicht hat er mir etwas gegeben, was einen temporären Gedächtnisverlust bei mir ausgelöst hat, und jetzt spielt er mir etwas vor?

»Stimmt es wirklich?«, frage ich beim Hinsetzen. »Weißt du wirklich nicht, wer du bist?«

»Nein«, sagt er. »Ich weiß es nicht.«

Ich glaube ihm. Irgendwie. Und lasse mich auf den Sitz hinabsinken.

Er blickt mich ernst an, bevor er die Tür zuschlägt und auf die Fahrerseite hinüberrennt. Mir ist schlecht, so als hätte ich gestern zu viel getrunken. Trinke ich Alkohol? Meinem Führerschein entnehme ich, dass ich erst siebzehn bin. Ich kaue an meinem Daumen herum, während er in den Wagen steigt und den Motor mit einem Druck auf einen Knopf anlässt.

»Woher wusstest du, wie das geht?«, frage ich.

»Wie was geht?«

»Den Wagen ohne Schlüssel anzulassen.«

»Ich … ich weiß es nicht.«

Beim Ausparken beobachte ich sein Gesicht. Er blinzelt oft, schaut noch öfter zu mir herüber und fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe. Während wir an einer roten Ampel stehen, sucht er den HOME-Knopf auf dem Navi und drückt darauf. Ich bin beeindruckt, dass er auf diese Idee gekommen ist.

»Die Route wird neu berechnet«, sagt eine Frauenstimme. Ich bin kurz davor, die Nerven zu verlieren, und würde am liebsten aus dem fahrenden Auto springen und wie ein verschrecktes Reh davonlaufen. Ich habe solche Angst.

 

Er wohnt in einem großen Haus. In der Einfahrt stehen keine Autos, wie wir von der Straße aus erkennen können, wo wir mit leise schnurrendem Motor halten.

»Bist du sicher, dass du hier wohnst?«, frage ich.

Er zuckt die Schultern.

»Scheint keiner zu Hause zu sein«, sagt er. »Sollen wir?«

Ich nicke. Ich müsste eigentlich satt sein, aber ich bin hungrig. Ich will dort hineingehen, etwas essen und dann vielleicht nach unseren Symptomen googeln und herausfinden, ob wir etwa mit irgendwelchen das Hirn zersetzenden Bakterien in Berührung gekommen sind, die unser Gedächtnis zerstört haben. In einem Haus wie diesem stehen bestimmt ein paar Laptops herum. Silas biegt in die Einfahrt ein und stellt den Wagen ab. Zaghaft steigen wir aus und blicken uns um, als könnten die Bäume und Sträucher plötzlich zum Leben erwachen. Silas findet einen Schlüssel an seinem Schlüsselbund, mit dem sich die Haustür öffnen lässt. Während ich wartend hinter ihm stehe, betrachte ich ihn genauer. Seine Klamotten und seine Frisur vermitteln den Eindruck eines coolen, total relaxten Typen, aber die Haltung seiner Schultern wirkt alles andere als entspannt. Außerdem riecht er nach draußen: nach Gras und Tannennadeln und schwerer dunkler Erde.

»Warte!«

Trotz der Dringlichkeit in meiner Stimme dreht er sich nur langsam nach mir um.

»Was ist, wenn jemand zu Hause ist?«

Er grinst oder womöglich verzieht er auch nur das Gesicht. »Vielleicht kann der uns dann sagen, was hier eigentlich abgeht …«

Dann sind wir drinnen. Einen Augenblick lang stehen wir ganz still da und sehen uns um. Ich ducke mich wie ein Feigling hinter Silas. Hier ist es nicht kalt, aber ich zittere. Alles hier ist schwer und drückend – die Einrichtung, die Luft, mein Rucksack, der wie ein nasser Sack von meiner Schulter hängt. Silas setzt sich in Bewegung. Ich klammere mich rücklings an sein Shirt, während wir uns quer durch den Eingangsbereich in Richtung Wohnzimmer bewegen. Wir gehen von Zimmer zu Zimmer und bleiben stehen, um die Fotos an der Wand zu betrachten. Zwei sonnengebräunte Eltern, die lächelnd die Arme um zwei lächelnde, dunkelhaarige Jungen gelegt haben, im Hintergrund das Meer.

»Du hast einen kleinen Bruder«, sage ich. »Wusstest du, dass du einen kleinen Bruder hast?«

Er schüttelt den Kopf. Nein. Das Lächeln auf den Fotos wird seltener, während Silas und seine Miniversion alias kleiner Bruder älter werden. Da gibt es jede Menge Pickel und Zahnspangen, Fotos von Eltern, die sich alle Mühe geben, fröhlich zu wirken, während sie widerstrebende Jungen an sich ziehen. Wir gehen weiter zu den Schlafzimmern … den Badezimmern. Wir nehmen Bücher in die Hand, lesen die Etiketten auf braunen Arzneimittel-Flaschen, die wir in den Medizinschränkchen finden. Seine Mutter hat im ganzen Haus getrocknete Blumen verteilt, in den Büchern auf ihrem Nachttisch, in ihrer Schminkschublade und auf den Regalen im Schlafzimmer. Ich berühre jede einzelne und flüstere unhörbar ihren Namen. Ich kann mich an alle Namen der Blumen erinnern. Aus unerfindlichen Gründen bringt mich das zum Lachen. Silas bleibt wie angewurzelt stehen, als er in das Bad seiner Eltern kommt und sieht, wie ich mich vor Lachen krümme.

»Sorry«, sage ich, »aber das haut mich einfach um.«

»Was denn genau?«

»Mir ist eben klar geworden, dass ich alles auf der Welt vergessen habe, was mit mir selbst zu tun hat, aber ich weiß, was eine Hyazinthe ist.«

Er nickt. »Tja.« Er blickt auf seine Hände hinab und legt die Stirn in Falten. »Meinst du, wir sollten es jemandem erzählen? Oder vielleicht in ein Krankenhaus gehen?«

»Meinst du, die würden uns glauben?«, frage ich. Daraufhin starren wir uns beide an. Und ich muss wieder die Frage unterdrücken, ob das Ganze nicht doch nur ein Scherz auf meine Kosten ist. Aber das hier ist kein Scherz. Dafür ist es viel zu real.

Als Nächstes gehen wir ins Arbeitszimmer seines Vaters, wo wir Unterlagen überfliegen und in Schubladen schauen. Keine Hinweise, die Rückschlüsse auf unseren Zustand geben, nichts Außergewöhnliches. Aus den Augenwinkeln behalte ich Silas ständig im Blick. Falls das alles hier ein Streich sein sollte, ist er ein sehr guter Schauspieler. Vielleicht ist es auch ein Experiment, denke ich. Ich bin Teil irgendeines psychologischen Experiments der Regierung und werde in einem Forschungslabor wieder aufwachen. Auch Silas beobachtet mich. Ich sehe, wie seine Blicke über mich hinweghuschen, fragend … prüfend. Wir reden nicht viel. Nur: Schau mal da. Oder: Glaubst du, das hat was zu bedeuten?

Wir sind Fremde und wir haben uns nicht viel zu sagen.

Silas’ eigenes Zimmer ist das letzte, in das wir kommen. Er hält meine Hand umklammert, als wir hineingehen, und ich lasse es zu, weil mir wieder ein wenig schwindelig wird. Das Erste, was mir auffällt, ist ein Foto von uns beiden auf seinem Schreibtisch. Ich trage ein Kostüm – ein zu kurzes Tutu mit Leopardenmuster und schwarze Engelsflügel, die sich elegant hinter mir ausbreiten. Dicke, glitzernde Wimpern umrahmen meine Augen. Silas ist ganz in Weiß gekleidet mit weißen Engelsflügeln. Er sieht gut aus. Gut und Böse, denke ich. Sind das auch die Rollen, die wir im wahren Leben gespielt haben? Er sieht mich an und zieht die Augenbrauen in die Höhe.

»Echtes Fashion-Desaster«, bemerke ich schulterzuckend. Er grinst schief und dann gehen wir im Zimmer umher.

Ich betrachte die Wände, an denen gerahmte Fotos hängen: ein Obdachloser, der zusammengesackt und in eine Decke gehüllt an einer Wand kauert; eine Frau, die auf einer Bank sitzt und weinend die Hände vors Gesicht geschlagen hat. Eine Sinti, die mit einer Hand an ihren Hals fasst, während sie mit leeren Augen in die Kamera blickt. Die Fotos haben etwas Düsteres an sich. Am liebsten würde ich mich vor Scham abwenden. Ich kann nicht verstehen, warum jemand derart tieftraurige Szenen fotografiert, geschweige denn sie sich an die Wand hängt, wo er sie Tag für Tag sieht.

Und dann drehe ich mich um und bemerke die teure Kamera, die auf dem Schreibtisch liegt. Sie hat einen Ehrenplatz ganz oben auf einem Stapel von Hochglanz-Bildbänden. Ich schaue zu Silas hinüber, der ebenfalls die Fotos betrachtet. Ein Künstler. Sind das seine Arbeiten? Versucht er gerade, sie wiederzuerkennen? Es hat keinen Sinn, ihn danach zu fragen. Ich laufe weiter, sehe mir seine Klamotten an und schaue in die Schubladen des edlen Mahagoni-Schreibtischs.

Ich bin so müde und will mich gerade auf dem Schreibtischstuhl niederlassen, als er mich plötzlich ganz aufgeregt zu sich winkt.

»Sieh dir das an«, sagt er. Langsam erhebe ich mich und stelle mich neben ihn. Er starrt auf sein ungemachtes Bett hinab. Seine Augen sind weit aufgerissen und, wie soll ich sagen … schockiert? Ich folge seinem Blick zu den Laken. Und dann durchfährt es mich eiskalt.

»Oh mein Gott.«

4

Silas

Ich ziehe die Decke beiseite, um das Chaos am Fußende des Bettes besser sehen zu können. Das Laken ist mit getrocknetem Matsch verschmiert. Als ich es glatt ziehe, brechen kleine Stückchen ab und rollen davon.

»Ist das …« Charlie spricht nicht weiter, während sie mir die Ecke des oberen Lakens aus der Hand nimmt und es zurückschlägt, um das Spannbetttuch darunter besser sehen zu können. »Ist das Blut?«

Ich folge ihrem Blick das Betttuch entlang bis zum Kopfende. Neben dem Kissen ist der leichte Abdruck einer Hand zu erkennen. Sofort blicke ich auf meine Hände.

Nichts. Keinerlei Spur von Blut oder Dreck.

Ich knie mich neben das Bett und lege meine rechte Hand auf den Abdruck auf der Matratze. Es passt genau. Auch wenn mir das eigentlich gar nicht passt. Ich schaue zu Charlie hinüber, die den Blick abwendet, als wollte sie am liebsten gar nicht wissen, ob das meine Hand ist oder nicht. Die Tatsache, dass es meine ist, wirft nur weitere Fragen auf. Es haben sich inzwischen so viele Fragen aufgetürmt, dass es sich anfühlt, als könnte dieser Turm jederzeit in sich zusammenstürzen und uns ohne jede Antwort unter sich begraben.

»Vermutlich stammt das Blut von mir«, sage ich zu ihr. Oder vielleicht sage ich es auch zu mir selbst. Ich versuche die Gedanken beiseitezuschieben, die ihr jetzt sicherlich in den Sinn kommen. »Kann doch sein, dass ich gestern Abend draußen gestürzt bin.«

Ich habe das Gefühl, Ausflüchte für einen anderen zu erfinden, nicht für mich. Es fühlt sich an wie Ausflüchte für einen meiner Freunde. Für diesen Silas. Für jemanden, der definitiv nicht ich bin.

»Wo warst du wohl gestern Abend?«

Das ist keine richtige Frage, sondern nur das, was wir jetzt beide denken. Ich zerre an dem oberen Laken und an der Wolldecke, um beide über das Bett zu ziehen und das Chaos zu verdecken. Die Hinweise. Die Beweise. Was immer es ist, ich möchte es einfach nur zudecken.

»Was hat das hier zu bedeuten?«, fragt sie und dreht sich zu mir um. Sie hält ein Blatt Papier in die Höhe. Ich nehme es ihr aus den Händen. Es sieht aus, als wäre es viele Male gefaltet und wieder aufgefaltet worden, sodass sich ein kleines, durchgescheuertes Loch in der Mitte gebildet hat. Auf der Seite stehen folgende Worte geschrieben:

Niemals aufhören. Niemals vergessen. Never Never.

Ich lasse das Blatt auf den Tisch fallen, weil ich es nicht länger in den Händen halten möchte. Auch dieses Blatt scheint ein Beweismittel zu sein. Ich möchte es gar nicht berühren. »Keine Ahnung, was das bedeutet.«

Ich brauche Wasser. Es ist das Einzige, an dessen Geschmack ich mich erinnern kann. Vielleicht weil Wasser keinen Geschmack hat.

»Hast du das geschrieben?«, fragt sie.

»Woher soll ich das wissen?« Der Ton meiner Stimme gefällt mir nicht. Ich klinge genervt. Ich will nicht, dass sie glaubt, ich wäre ihretwegen genervt.

Sie geht zu ihrem Rucksack, kramt darin herum und zieht schließlich einen Stift heraus, den sie mir in die Hand drückt. »Schreib das ab.«

Das klingt wie ein Befehl. Ich schaue den Stift an und rolle ihn zwischen meinen Fingern hin und her. Dann fahre ich mit dem Daumen über die eingravierten Worte auf der Seite.

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»Mal sehen, ob das deine Handschrift ist«, sagt sie. Sie dreht das Blatt um und schiebt mir die leere Rückseite zu. Einen Moment lang verliere mich in ihrem Blick, doch dann steigt Ärger in mir auf.

Es wurmt mich, dass sie als Erste auf solche Ideen kommt. Ich halte den Stift in der rechten Hand. Es fühlt sich nicht angenehm an. Dann wechsele ich ihn in die linke und es passt besser. Ich bin Linkshänder.

Ich schreibe die Worte aus dem Gedächtnis, und nachdem sie meine Handschrift ausgiebig betrachtet hat, drehe ich das Blatt um.

Die Handschriften sind verschieden. Meine ist scharf und exakt, die andere ist locker und eher schlampig. Sie nimmt den Stift und schreibt die Worte ab.

Es passt genau. Schweigend starren wir beide auf das Blatt, unsicher, ob es überhaupt etwas zu bedeuten hat. Es könnte alles oder nichts bedeuten. Der Dreck auf meinen Bettlaken könnte alles bedeuten. Der blutverschmierte Handabdruck könnte alles bedeuten. Die Tatsache, dass wir uns an grundlegende Dinge, aber nicht an Menschen erinnern, könnte alles bedeuten. Die Kleidung, die ich trage, die Farbe ihres Nagellacks, die Kamera auf meinem Schreibtisch, die Fotos an der Wand, die Uhr über der Tür, das halb leere Glas mit Wasser auf dem Schreibtisch. Ich drehe mich im Kreis und nehme all das in mich auf. All das könnte alles bedeuten.

Oder es könnte ebenso gut absolut nichts bedeuten.

Ich weiß nicht, was ich mir merken und was ich ignorieren soll. Vielleicht könnte ich auch ganz einfach einschlafen, und wenn ich morgen früh aufwache, ist alles wieder normal.

»Ich habe Hunger«, sagt sie.

Sie sieht mich an; ein paar Haarsträhnen versperren mir den vollen Blick auf ihr Gesicht. Sie ist schön, aber auf eine irgendwie verschämte Weise. Die ich vielleicht gar nicht so wahrnehmen soll. Alles an ihr ist faszinierend – so wie die Auswirkungen einer Naturkatastrophe, an denen die Menschen sich nicht erfreuen sollen, doch sie gaffen trotzdem. Charlie ist die Schneise der Zerstörung, die ein Tornado hinter sich lässt.

Woher weiß ich das?

Im Augenblick sieht sie mich an, als würde sie etwas abwägen. Am liebsten möchte ich meine Kamera nehmen und ein Bild von ihr machen. In meinem Bauch flattert etwas wie Bänder im Wind, und ich bin nicht sicher, ob es nun Nervosität ist oder Hunger oder meine Reaktion auf das Mädchen neben mir.

»Lass uns nach unten gehen«, sage ich zu ihr. Ich reiche ihr den Rucksack und greife nach meiner Kamera. »Dann können wir was essen, während wir unsere Sachen durchsuchen.«

Während sie vor mir hergeht, bleibt sie bei allen Fotos stehen, die im Flur hängen, und fährt mit dem Finger über mein Gesicht. Immer nur über meines. Ich sehe, wie sie im Stillen versucht, mich durch die Serie von Fotos besser kennenzulernen. Ich würde ihr am liebsten sagen, dass sie damit nur ihre Zeit verschwendet. Wer immer auf diesen Bildern zu sehen ist, ich bin es nicht.

Unten angekommen, dringt ein kurzer Aufschrei an unsere Ohren. Charlie bleibt wie angewurzelt stehen und ich pralle auf ihren Rücken. Der Schrei gehört zu einer Frau, die im Durchgang zur Küche steht.

Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie zwischen Charlie und mir hin und her, legt die Hände aufs Herz und seufzt erleichtert auf.

Die Frau ist auf keinem der Fotos zu sehen. Sie ist mollig und schon etwas älter, vielleicht Mitte sechzig, und sie trägt eine Schürze, auf der steht:

Liebe geht durch den Magen

Ihre Haare sind zurückgebunden, aber sie streicht sich ein paar lose graue Strähnen aus dem Gesicht, während sie langsam ausatmet, um sich zu beruhigen. »Mein Gott, Silas! Du hast mich zu Tode erschreckt!« Sie macht auf dem Absatz kehrt und geht in Richtung Küche. »Ihr zwei solltet lieber zusehen, dass ihr zurück in die Schule kommt, bevor dein Vater es mitkriegt. Ich werde nicht für euch lügen.«

Da Charlie noch immer wie erstarrt vor mir steht, lege ich meine Hand auf ihren Rücken und schiebe sie sanft vorwärts. Sie wirft mir einen Blick über die Schulter zu. »Weißt du, wer …«

Mit einem Kopfschütteln unterbreche ich ihre Frage. Sie will wissen, ob ich die Frau in der Küche kenne. Die Antwort lautet Nein. Ich kenne sie nicht, ich kenne Charlie nicht und ich kenne auch die Familie auf den Fotos nicht.

Das Einzige, was mir bekannt vorkommt, ist die Kamera in meiner Hand. Ich betrachte sie und frage mich, wie es sein kann, dass ich alles über die Bedienung dieser Kamera weiß, ohne mich daran zu erinnern, wann und wie ich das gelernt habe. Ich weiß, wie man den ISO-Wert einstellt. Ich kann die Verschlusszeit anpassen, damit ein Wasserfall wie ein sanfter Strom wirkt oder man jeden Wassertropfen einzeln wahrnehmen kann. Diese Kamera vermag die kleinsten Motive scharf abzubilden, wie etwa die Rundung von Charlies Hand oder die Wimpern um ihre Augen, während alles andere darum herum verschwimmt. Ich weiß, dass ich mich mit den kleinsten Details dieser Kamera auskenne, wohingegen ich nicht einmal mehr weiß, wie sich die Stimme meines kleinen Bruders anhören sollte.

Ich lege mir den Gurt um den Hals und lasse die Kamera an meiner Brust baumeln, während ich Charlie folge, die schnurstracks in Richtung Küche marschiert. Bislang erscheint mir alles, was sie tut, stets zielgerichtet zu sein. Bei ihr ist nichts überflüssig. Es scheint, als plane sie jeden Schritt, bevor sie ihn tut. Jedes Wort, das sie sagt, erfüllt einen Zweck. Sobald sie den Blick auf etwas richtet, konzentriert sie sich mit all ihren Sinnen darauf, so als könnte sie mit Blicken allein bestimmen, wie etwas schmeckt, riecht, klingt oder sich anfühlt. Und sie beachtet Dinge nur, wenn es einen Grund dafür gibt. Vergiss die Böden, Vorhänge oder die Fotos im Flur, auf denen mein Gesicht nicht zu sehen ist. Sie verschwendet keine Zeit auf Dinge, die ihr nicht nützlich sein können.

Und deswegen gehe ich nun hinter ihr her in die Küche. Mir ist nicht ganz klar, was sie damit bezweckt, ob sie der Haushälterin weitere Informationen entlocken will oder auf der Jagd nach etwas Essbarem ist.

Charlie nimmt an der ausladenden Theke Platz, zieht den Hocker neben sich heraus und klopft darauf, ohne dabei zu mir aufzusehen. Ich setze mich hin und lege meine Kamera vor mir ab. Sie lässt ihren Rucksack auf die Arbeitsplatte fallen und zieht den Reißverschluss auf. »Ich bin am Verhungern, Ezra. Gibt es irgendwas zu essen?«

Mein Körper dreht sich mitsamt dem Hocker zu Charlie, aber es fühlt sich an, als würde mein Magen irgendwo auf dem Boden unter mir liegen. Woher kennt sie den Namen der Frau?

Charlie wirft mir einen Blick zu und schüttelt rasch den Kopf. »Beruhige dich«, zischt sie. »Das steht hier.« Sie deutet auf einen Zettel – einen Einkaufszettel –, der vor uns liegt. Es ist ein rosafarbener, personalisierter Schreibblock. Auf dem unteren Ende der Blätter tummeln sich kleine Kätzchen, während oben auf der Seite »Heute braucht Ezra fürs Miautagsessen:« steht.

Die Frau klappt eine Schranktür zu und sieht Charlie an. »Habt ihr euch da oben so verausgabt? Falls ihr es noch nicht wusstet: Es gibt so was wie Mittagessen in der Schule, in der ihr euch eigentlich gerade aufhalten solltet.«

»Du meinst wohl Miautagsessen«, sage ich, ohne nachzudenken. Charlie prustet los und dann lache auch ich. Und es fühlt sich an, als hätte jemand endlich etwas frische Luft in den Raum gelassen. Ezra ist weniger begeistert und verdreht die Augen. Ob ich wohl öfter solche Witze gerissen habe? Aber mein Lächeln gilt auch der Tatsache, dass es sie nicht verwirrt hat, von Charlie als Ezra angesprochen zu werden, und Charlie somit recht hatte.

Ich strecke die Hand aus und streichele über Charlies Nacken. Sie zuckt unter meiner Berührung zusammen, entspannt sich aber gleich wieder, als ihr klar wird, dass dies Teil der Rolle ist, die wir spielen. Wir lieben uns, Charlie. Schon vergessen?

»Charlie ging es nicht so gut. Ich hab sie hergebracht, damit sie sich ein bisschen hinlegen kann, aber sie hat heute noch gar nichts gegessen.« Mit einem Lächeln wende ich mich an Ezra. »Hast du irgendwas, um meiner Süßen auf die Beine zu helfen? Suppe vielleicht oder ein paar Cracker?«

Ezras Miene entspannt sich, als sie merkt, wie fürsorglich ich mit Charlie umgehe. Sie nimmt ein Handtuch und wirft es sich über die Schulter. »Weißt du was, Charlie? Wie wäre es mit einem überbackenen Käsesandwich? Das mochtest du früher so gerne, als du noch öfter zu Besuch gekommen bist.«

Meine Hand erstarrt an Charlies Hals. Als du noch öfter zu Besuch gekommen bist? Wir sehen uns an und neue Fragen verdüstern unsere Blicke. Charlie nickt. »Danke, Ezra«, sagt sie.

Ezra schließt die Kühlschranktür mit einem Schubs ihrer Hüfte und lässt die Zutaten auf die Arbeitsplatte fallen. Butter. Mayo. Brot. Käse. Noch mehr Käse. Parmesan. Sie stellt eine Pfanne auf den Herd und entzündet die Flamme. »Ich mach dir auch eins, Silas«, sagt Ezra. »Du scheinst dir dasselbe eingefangen zu haben wie Charlie, denn seitdem du in die Pubertät gekommen bist, hast du nicht mehr so viel mit mir geredet.« Sie kichert leise nach diesem Kommentar.

»Und warum rede ich nicht mit dir?«

Charlie verpasst mir einen Tritt und kneift die Augen zusammen. Ich hätte das nicht fragen sollen.

Ezra lässt das Messer in die Butter gleiten und nimmt ein Stück davon, um es aufs Brot zu schmieren. »Ach, weißt du«, sagt sie mit einem Schulterzucken. »Kleine Jungs werden irgendwann groß und werden Männer. Haushälterinnen sind dann nicht mehr Tante Ezra, sondern einfach nur noch Haushälterinnen.« Ihre Stimme klingt jetzt traurig.

Ich verziehe das Gesicht. Diese Seite an mir gefällt mir nicht. Und dass Charlie diese Seite entdeckt, will ich schon gar nicht.

Mein Blick fällt auf die Kamera vor mir. Ich schalte sie ein. Charlie fängt an, ihren Rucksack zu durchsuchen, und inspiziert einen Gegenstand nach dem anderen.

»O-oh«, sagt sie.

Sie hält ein Handy in die Höhe. Ich beuge mich über ihre Schulter und schaue mit ihr gemeinsam auf das Display, während sie es einschaltet. Es zeigt sieben verpasste Anrufe und noch mehr SMS – allesamt von »Mom«.

Sie öffnet die letzte SMS, die vor gerade einmal drei Minuten verschickt wurde.

Du hast noch drei Minuten, mich zurückzurufen.

Ich habe wohl nicht an die Konsequenzen gedacht, die es hat, wenn wir beide die Schule schwänzen. Konsequenzen mit Eltern, an die wir uns nicht einmal erinnern. »Wir sollten jetzt gehen«, sage ich zu ihr.

Wir stehen beide gleichzeitig auf. Sie wirft sich den Rucksack über die Schulter und ich nehme meine Kamera.

»Wartet«, sagt Ezra. »Das erste Sandwich ist fast fertig.« Sie geht an den Kühlschrank und holt zwei Dosen Sprite heraus. »Das wird ihrem Magen guttun.« Sie reicht mir die beiden Dosen und wickelt das Sandwich in ein Stück Küchenrolle. Charlie wartet bereits an der Haustür auf mich. Als ich mich gerade von Ezra entfernen will, drückt sie mein Handgelenk. Ich wende mich noch einmal zu ihr und ihre Blicke wandern von Charlie zu mir. »Es ist gut, sie wieder einmal hier zu sehen«, sagt Ezra sanft. »Ich hatte Sorge, wie sich die ganze Geschichte zwischen euren Vätern auf euch beide auswirken würde. Dabei hast du dieses Mädchen doch schon geliebt, als du noch nicht einmal laufen konntest.«

Ich starre sie an. Unsicher, wie ich die eben erhaltene Informationsflut verarbeiten soll. »Noch bevor ich laufen konnte, ja?«

Sie lächelt, als wäre sie die Hüterin eines meiner Geheimnisse. Ich will es zurückhaben.

»Silas«, sagt Charlie.

Ich werfe Ezra noch einen kurzen Blick zu und gehe dann zu Charlie. Als ich die Haustür erreiche, schreckt sie beim schrillen Klingeln ihres Handys auf, sodass es ihr aus der Hand rutscht und zu Boden fällt. Sie kniet sich hin, um es aufzuheben. »Das ist sie«, sagt sie. »Was soll ich tun?«

Ich öffne die Tür und schiebe sie am Ellenbogen nach draußen. Sobald die Tür hinter uns ins Schloss gefallen ist, sehe ich sie an. Das Handy klingelt zum dritten Mal. »Du solltest drangehen.«

Sie starrt das Handy an, das sie fest umklammert hält. Da sie keine Anstalten macht, dranzugehen, strecke ich die Hand aus und wische nach rechts, um den Anruf anzunehmen. Sie zieht die Nase kraus und wirft mir einen bösen Blick zu, während sie das Handy ans Ohr hält. »Hallo?«

Wir gehen in Richtung Auto, ich lausche schweigend den abgehackten Sätzen, die aus ihrem Telefon dringen. »Das solltest du wissen« und »Schule schwänzen« und »Wie kannst du nur?« Die Worte tönen immer weiter aus dem Handy, bis wir beide im Auto sitzen und die Türen geschlossen sind. Ich lasse den Wagen an und die Stimme der Frau verstummt für einige Sekunden, bevor sie plötzlich durch die Lautsprecher meines Autos tönt. Bluetooth. Ich kann mich erinnern, was Bluetooth ist.

Ich lege die Getränke und das Sandwich auf der Mittelkonsole ab und setze rückwärts aus der Einfahrt. Charlie hatte noch immer keine Chance, ihrer Mutter zu antworten, sie verdreht die Augen, als ich sie ansehe.

»Mom«, versucht Charlie, sie ruhig zu unterbrechen. »Ich bin auf dem Weg nach Hause, Mom. Silas bringt mich zu meinem Auto.«

Auf Charlies Worte folgt ein langes Schweigen, und irgendwie wirkt ihre Mutter noch viel einschüchternder, wenn keine Worte durchs Telefon gebrüllt werden. Als sie schließlich wieder etwas sagt, spricht sie betont langsam und überdeutlich. »Bitte sag mir, dass du dir nicht von dieser Familie ein Auto hast kaufen lassen.«

Unsere Blicke treffen sich und Charlie formt die Lippen zu einem stummen Scheiße. »Ich … nein. Nein, ich wollte sagen, dass Silas mich nach Hause bringt. Bin in ein paar Minuten da.« Charlie fummelt an dem Handy herum und versucht, auf die Seite des Displays zu kommen, auf der sie den Anruf beenden kann. Ich erledige das für sie, indem ich den Auflegen-Knopf am Lenkrad drücke.

Sie holt langsam Luft und dreht sich zum Fenster. Als sie wieder ausatmet, erscheint ein kleiner Nebelkreis auf dem Fenster neben ihrem Mund. »Silas?« Sie dreht sich zu mir und zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Ich glaube, es könnte sein, dass meine Mutter ein ziemlicher Drachen ist.«

Ich lache, ohne ihr irgendeinen Trost anzubieten. Ich stimme ihr zu.

Wir fahren ein paar Kilometer schweigend dahin. Im Stillen gehe ich wieder und wieder meine Unterhaltung mit Ezra durch. Mir geht die Szene einfach nicht mehr aus dem Kopf und dabei ist sie noch nicht einmal meine Mutter. Ich kann mir nicht vorstellen, was Charlie jetzt gerade empfinden muss, nachdem sie direkt mit ihrer Mutter gesprochen hat. Ich glaube, wir hatten beide im Hinterkopf die beruhigende Vorstellung, dass unser Gedächtnis wieder einsetzen würde, sobald wir mit Menschen in Berührung kommen, die uns so nahestehen wie unsere Eltern. An Charlies Reaktion merke ich, dass sie nichts an der Frau wiedererkannt hat, mit der sie soeben telefoniert hat.

»Ich habe kein Auto«, sagt sie leise. Ich schaue zu ihr hinüber und sie zeichnet ein Kreuz auf die beschlagene Stelle am Fenster. »Ich bin siebzehn. Ich frage mich, warum ich kein Auto habe.«

Sobald sie das Auto erwähnt, wird mir plötzlich bewusst, dass ich immer noch in Richtung Schule fahre anstatt dorthin, wo ich sie hinbringen soll. »Weißt du zufällig, wo du wohnst, Charlie?«