Newton-down - Gia Tietz - E-Book

Newton-down E-Book

Gia Tietz

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Beschreibung

In einer gespaltenen Welt, in der deine Gene darüber entscheiden, ob du in Wohlstand oder Armut lebst ... Nach dem Dritten Weltkrieg ist die Gesellschaft gespalten. Wer in den reichen Uptowns und wer in den verarmten Downtowns der Städte lebt, entscheidet der Status, der anhand bestimmter Gene festgelegt wird. Denn all jene, die über einen uncleanen Status verfügen, gelten als Menschen mit bösen Genen – als Abschaum der Gesellschaft. Feyn Davies, in Newton-down aufgewachsen, kämpft tagtäglich auf den Straßen um ihr Überleben. Mithilfe ihres Freundes Ryu infiltriert sie als Meisterdiebin Black Tear die glitzernde Uptown, um von den Privilegierten zu stehlen und den Bedürftigen beizustehen. Doch als ihr Detective McMillian immer näher kommt und droht, ihre wahre Identität zu enthüllen, beginnt für sie ein Spiel um Leben und Tod. Diesem kann sie nur entkommen, wenn sie sich als Undercoveragentin in seinen Dienst stellt und hilft, eine Verbrecherorganisation auszuschalten, die sowohl Newton-up als auch Newton-down bedroht. Kann sie das schaffen, ohne sich vom Charme des Detectives verleiten zu lassen, preiszugeben, wer sie wirklich ist? Ein fesselnder Roman über Gerechtigkeit, Freundschaft und die Suche nach der Wahrheit in einer Welt voller Lügen.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt
Contentwarnung
Playlist
Prolog
Pläne schmieden
Evelyn Fortner
In die Enge getrieben
Downtown Girls
Beschattet
Silva deMelo
Das Angebot
Entscheidungen
Bündnisse
Linda Greene
Familienverhältnisse
Hintermänner
Katherine Landon
Verfolgt
Verraten
Newton Police
Hochgenommen
Epilog
Danksagung
Contenthinweis
Über die Autorin

Inhalt

In einer gespaltenen Welt, in der deine Gene darüber entscheiden, ob du in Wohlstand oder Armut lebst ...

Nach dem Dritten Weltkrieg ist die Gesellschaft gespalten. Wer in den reichen Uptowns und wer in den verarmten Downtowns der Städte lebt, entscheidet der Status, der anhand bestimmter Gene festgelegt wird. Denn all jene, die über einen uncleanen Status verfügen, gelten als Menschen mit bösen Genen – als Abschaum der Gesellschaft.

Feyn Davies, in Newton-down aufgewachsen, kämpft tagtäglich auf den Straßen um ihr Überleben. Mithilfe ihres Freundes Ryu infiltriert sie als Meisterdiebin Black Tear die glitzernde Uptown, um von den Privilegierten zu stehlen und den Bedürftigen beizustehen.

Doch als ihr Detective McMillian immer näher kommt und droht, ihre wahre Identität zu enthüllen, beginnt für sie ein Spiel um Leben und Tod. Diesem kann sie nur entkommen, wenn sie sich als Undercoveragentin in seinen Dienst stellt und hilft, eine Verbrecherorganisation auszuschalten, die sowohl Newton-up als auch Newton-down bedroht. Kann sie das schaffen, ohne sich vom Charme des Detectives verleiten zu lassen, preiszugeben, wer sie wirklich ist?

Ein fesselnder Roman über Gerechtigkeit, Freundschaft und die Suche nach der Wahrheit in einer Welt voller Lügen.

An alle, die sich ungesehen und ungehört fühlen! Auch wenn es sich vielleicht derzeit noch nicht danach anfühlt, aber eure Stimmen und Geschichten sind wichtig. Erzählt sie!

Contentwarnung

Liebe Leser:in,

dieses Buch enthält Inhalte, die potenziell triggernd auf dich wirken könnten. Aus diesem Grund findest du am Ende des Buches eine Triggerbeschreibung. Diese kann möglicherweise Spoiler enthalten.

Bitte achte gut auf dich!

Deine Gia

Playlist

Detective Detective – Static-P

Cigarettes & Feelings – The Haunt

Life Might Take Us – Static-P

Punching Bag (Acoustic) – Set It Off

Dirty Hands (Gone Mad) – Kendra Dantes

Villain – Bella Poarch

The Chase – Static-P

DOMINO – Divide Music

Tool – Derivakat

Wolf in Sheep‘s Clothing – Cristina Vee

Smile Like You Mean It – PARANOiD DJ

Evil People – Set It Off

FUNERAL – Neoni

Pretty Lies – Soumix, Brad Arthur

TRUE – YOARI

Sugar Popped Sunshine – Static-P

Prolog

Mittwoch, 2. Juli 2098 – 11:30 Uhr Newton-up, Rathaus

Der kleine Saal war bis auf wenige Plätze voll besetzt. Die Reporter drängten sich eng aneinander, um kein Detail zu verpassen. An der Stirnseite des Raumes stand ein langer Tisch, der genügend Abstand für vier Männer und eine Frau bot – zwischen den einzelnen Personen jeweils eine Armlänge Platz. Die Namensschilder vor ihnen sagten jedem, der nicht im Bilde der derzeitigen Geschehnisse war, um wen es sich handelte. Von links nach rechts: Julius Turner, Chief of Police. Dr. Clarissa Wood, Kriminalpsychologin. Richard Augustus Liverston, stellvertretender zweiter Bürgermeister. Killian McMillian, Privatdetektiv.

Die Stimmung im Saal war angespannt. Ein leises Raunen ging durch die anwesenden Pressevertreter. Die Konferenz war in Verzug und hätte bereits vor fünfzehn Minuten starten sollen, doch noch immer waren die Kriminalpsychologin Dr. Wood und der stellvertretende zweite Bürgermeister Liverston in ein angeregtes Gespräch vertieft. Die erste Reihe an Presseleuten versuchte mit gespitzten Ohren, etwas von ihrer Unterhaltung aufzuschnappen, das sie verwerten konnten. Doch sie unterhielten sich so leise und schnell, dass man lediglich Wortfetzen aufnehmen konnte. Ein Black Tear hier, ein unerklärlich dort und ratlose Gesichter, wohin man schaute – bis auf eines: McMillian saß entspannt auf seinem Stuhl, einen Ellenbogen auf dem Tisch aufgestellt, sodass er seinen Kopf fast schon gelangweilt abstützte. Als würde ihn diese Veranstaltung wertvolle Lebenszeit rauben. Er trug als Einziger im Raum eine Sonnenbrille, obwohl es nicht sonderlich hell war, sein dunkelblondes Haar fiel ihm unordentlich in die Stirn.

Als sich schließlich auch Chief Turner in die angeregte Debatte zwischen Liverston und Wood einmischte, zog McMillian sein Mikrofon zu sich heran, drückte auf einen kleinen Knopf und pustete leicht dagegen. Sofort richtete sich alle Aufmerksamkeit im Raum auf ihn und das Flüstern erstarb augenblicklich.

»Können wir endlich beginnen?«, fragte er mit einer Stimme, die genauso gelangweilt klang, wie er schaute – wenn auch mit einer gewissen Ungeduld im Tonfall. Turner warf ihm einen wütenden Blick zu, den McMillian jedoch ignorierte. Ein leises Raunen war im Saal zu hören.

»Natürlich!«, begann Liverston und mit einem Mal war es im gesamten Raum so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Alle anwesenden Reporter richteten ihre Portable Discs nach vorn. »Guten Tag, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie herzlich zur heutigen Pressekonferenz der Polizei von Newton. Wir sind heute hier versammelt – wie Sie selbstverständlich alle wissen – um Ihnen Informationen zum letzten, kürzlich verübten Einbruch von Black Tear mitzuteilen, der gestern Abend in den Räumlichkeiten der Founder-Stiftung der Stadt verübt wurde. Wir verstehen Ihre Sorgen und Ängste, die in unserer Gemeinschaft angesichts der Aktivitäten von Black Tear aufgekommen sind. Ich versichere Ihnen, oberstes Ziel der Polizei von Newton ist es, die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Unsere Ermittlerinnen und Ermittler sowie zusätzliche externe Kräfte arbeiten hart daran, um diesen Fall voranzutreiben. Wir haben bereits wichtige Beweise gesammelt, die uns einen großen Schritt weitergebracht haben, und arbeiten rund um die Uhr daran, Black Tear endlich zur Strecke und wieder Frieden in unsere Stadt zu bringen.«

McMillian bemerkte, wie seine Gedanken abschweiften. Kein Wunder, bei dem Bullshit, den Liverston von sich gab. Denn sie waren auch heute noch genauso weit wie vor Wochen – wie vor Monaten, um genau zu sein. Sie hatten so gut wie keine Anhaltspunkte dafür, wie sich Black Tear erneut in einen voll besetzen Saal einschleichen konnte und vor den Augen aller Anwesenden, mehreren Einsatzkräften der Security, drei Ermittlern, die auf ihre Einbrüche geschult waren, sowie McMillian persönlich den sagenumwobenen Ring des Geradé stehlen konnte, der an diesem Abend versteigert werden sollte. Bis auf ein kurzes Zeitfenster, in dem das Schmuckstück ausgestellt war – und dabei nicht einen Moment aus den Augen gelassen wurde – war er fest im Tresor weggesperrt und von sieben Sicherheitskräften bewacht. Niemand hatte sich der Stahlkammer auch nur genähert.

Erst als der Ring zur Auktion geholt werden sollte – kurz vor zweiundzwanzig Uhr – wurde sein Fehlen bemerkt. Sofort wurden sämtliche Ausgänge verschlossen und jeder Anwesende gescannt, aber wahrscheinlich war Black Tear zu diesem Zeitpunkt schon über alle Berge – wie immer.

McMillian biss sich auf die Innenseite seiner Wange, um nicht ins Mikrofon zu knurren. Es war zum Haareraufen. Black Tear tanzte ihm seit fast zwei Jahren auf der Nase herum und er sah noch immer das höhnische Grinsen seines Vaters vor seinem inneren Auge, das ihm sagte, dass er eindeutig den falschen Beruf gewählt hätte und niemals etwas taugen würde – als hätte er die Wahl gehabt. Sein Blick glitt kurz zu Turner, der seine Contenance inzwischen wiedergefunden hatte, schaute dann jedoch schnell wieder weg.

Wie konnte eine profane Diebin so schwer zu fassen sein? Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie keine normale Kriminelle war, dass sie vielleicht doch innerhalb einer professionellen Organisation agierte, die mehr Macht hatte, als er ursprünglich vermutete. Doch seine Intuition sagte etwas anderes, auch wenn ihm das hier nicht weiterhalf.

Obwohl er in den vergangenen Jahren die gesamte Downtown auf den Kopf gestellt hatte, konnte er sie partout nicht ausfindig machen, als würde sie sich nach ihren Taten in Luft auflösen. Ihre Diebstähle glichen mehr einer Zaubershow als einem herkömmlichen Raub. Sie war wie ein Phantom. Sie hinterließ nicht eine einzige Spur: kein Haar, kein Fingerabdruck, keine DNA. Nicht einmal die Scanner konnten etwas finden – kein noch so kleiner Hinweis auf die Anwesenheit eines uncleanen Individuums. Aber genau das musste Black Tear sein. So viel stand für ihn fest. Nie im Leben handelte es sich bei dieser Person um eine Bürgerin aus Newton-up. Sie musste aus der Downtown stammen. Das war sicher! Und McMillian würde sie fassen. Auch das stand mehr als fest. Denn irgendwann – früher oder später – würde sie einen Fehler machen und er würde in genau diesem Moment bereit sein!

Pläne schmieden

Als ich in die Bar komme, umhüllt mich sofort der vertraute Geruch von abgestandener Luft und schalem Bier.

»Reiß mal die Fenster auf!«, rufe ich Gwyn zu, die mit leicht geöffnetem Mund auf den kleinen Bildschirm starrt, der in der oberen Ecke zwischen Buntglasfenster und lausiger Alkoholauswahl hängt.

Sie lehnt hinter dem Tresen und putzt abwesend an einem Glas herum, das dadurch mit Sicherheit auch nicht sauberer wird. Mein Blick huscht zum Fernseher, um zu erfahren, was die gesamte Aufmerksamkeit meiner Freundin fordert. Ah! Eine Wiederholung der Pressekonferenz von heute Vormittag.

»Zum wievielten Mal guckst du dir das jetzt an?«, frage ich schmunzelnd und lasse meine Jacke neben ihr auf den Tresen fallen, sodass sie zu mir schaut, als würde sie darüber nachdenken müssen, welches Jahr wir haben.

»Was?«

Ihre dunklen Haare hat sie zu einem Messy Bun hochgesteckt, das oversized T-Shirt hat mehrere kleine Löcher – was jedoch perfekt zu ihrer Netzstrumpfhose und den Lederstiefeletten passt. Ihre Augen sind wie immer dunkel umrandet und die Ringe in Augenbraue, Ohren und um ihre Handgelenke runden den Look wie gewohnt ab. Im Gegensatz zu anderen Downern wirkt ihr zerrissener Grunge Style authentisch und gewollt – nicht als bliebe ihr nichts anderes übrig, weil sie kein Geld für heile Kleidung hätte. Wie es leider nun mal ist.

»Wie oft du dir diese Pressekonferenz heute schon angeschaut hast?«, wiederhole ich und versuche, mir das neckische Grinsen dabei zu verkneifen – ohne Erfolg.

»Ich sehe sie zum ersten Mal, Klugscheißer. Heute Mittag hab ich noch geschlafen.« Sie wirft mir den Lappen ins Gesicht, mit dem sie eben das Glas geputzt hat, und stellt den Fernseher stumm – ein Indiz dafür, dass sie die Pressekonferenz doch mindestens schon einmal gesehen haben muss.

Ich lache leise und werfe den Lappen zurück in ihre Richtung. Sie fängt ihn auf und beginnt, ein weiteres Glas zu säubern.

»Du bist zu spät!«, grummelt sie, während ich mich auf einen der Barhocker schwinge und sie grinsend beobachte.

»Und du eine miserable Lügnerin.«

»Was kann ich dafür, dass du keinen vernünftigen Männergeschmack hast?«, versucht sie zu kontern, doch diese Anspielung zieht bei mir nicht – wie sie genau weiß. »Detective Killian McMillian ist–«, holt sie aus und ich unterbreche sie.

»Der Traum deiner schlaflosen Nächte, ja ja, ich weiß.« Gut, im Grunde kann ich das nicht mit Sicherheit sagen, da Gwyn grundsätzlich nichts mit irgendwelchen Männern anfängt. Bei McMillian ist mir in der Vergangenheit aber durchaus der ein oder andere Blick aus ihrer Richtung aufgefallen.

Wieder wirft sie mit dem Lappen nach mir, doch ich bin dieses Mal schneller und fange ihn in der Luft. Ich strecke ihr die Zunge raus, ehe ich ebenfalls eines der Gläser aus der Spülschüssel zu mir heranziehe und anfange, es zu trocknen.

»Er ist hot!«, sagt sie schlicht und zuckt mit den Schultern, als wäre es das Offensichtlichste der Welt. »Ganz objektiv betrachtet!«

Mein Blick schweift erneut zum Fernseher, wo man in diesem Moment beobachten kann, wie die Kamera zu McMillian schwenkt, der zum neuesten Einbruch von Black Tear befragt wird. Seine Miene wirkt gelangweilt. Ich hebe missbilligend meine Augenbrauen – als könnte er sich diese Scharade leisten. Seit etwas mehr als anderthalb Jahren ist er erfolglos hinter Black Tear her und hat keinen Hinweis darauf, wie sie vorgeht, geschweige denn wer sie ist. Und da sitzt er, als hätte er alles unter bester Kontrolle. Dass ich nicht lache!

Ich pruste, als ich meinen Kopf wieder zum Glas in meiner Hand drehe. Er mag ja vielleicht nicht schlecht aussehen, mit seinem selbstbewussten Auftreten, der überlegenen Ausstrahlung, den dunkelblonden Haaren, den maskulinen Zügen und den fast schon gruselig hellen Augen, die er die meiste Zeit hinter einer Sonnenbrille versteckt, aber im Grunde ist er einfach nur ein Blender – wie die meisten Bürger der Uptown, wenn wir mal ehrlich sind.

»Er ist ein Upper!« Ich versuche, so viel Verachtung in meine Worte zu legen, wie ich zustande bringe, ohne dabei auf das Glas in meiner Hand zu spucken.

»Ein hotter Upper!«, grinst Gwyn schelmisch. Seufzend verdrehe ich die Augen, kann mir aber ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. So ist Gwyn nun mal.

»So jemand wie er würde so jemanden wie dich nicht einmal eines Blickes würdigen, wenn du nackt und mit Schlagsahne beschmiert in ihn hineinlaufen würdest. Sie sehen auf uns herab. Wir sind nur Dreck unter ihren Schuhen für sie!«

»Denkst du, das weiß ich nicht?« Ich sehe hoch und begegne ihren dunklen Augen, die mich mit einem Hauch von Resignation mustern. Ich war mal wieder zu harsch.

»Tut mir leid, Gwyn. So meinte ich es nicht. Du weißt, dass ich dich liebe und jeder Mann könnte sich glücklich schätzen, dich–«

»Ach, halt die Klappe!«, unterbricht sie mich und winkt ab, aber ihr Mundwinkel zuckt. »Wie gesagt, ich finde ihn hot. Nicht mehr, nicht weniger. Traust du mir etwa zu, dass ich davon träume, wie der berühmteste Ermittler der Uptown nach Feierabend in meine Bar spaziert und mir dabei hilft, die Gläser zu spülen?«

Unweigerlich steigen die Bilder in meinem Kopf hoch und ich muss auflachen.

»Schatz, ich bin zu Hause!«, flöte ich grinsend und sie stimmt mit ein.

»Nein, nein, ganz sicher nicht. Denn dafür« – sie macht eine theatralische Pause und blinzelt mir neckisch mit ihren langen Wimpern zu – »hab ich schließlich dich.«

»Und was würdest du nur ohne mich tun?«, witzel ich und greife nach einem weiteren Glas. »Übrigens muss ich heute Nacht eine halbe Stunde früher Schluss machen. Sorry!«

Ich sehe den Lappen bereits auf mich zufliegen, sodass ich mit einer schlichten Kopfbewegung ausweichen kann.

»Feyn, ich bitte dich!«, seufzt Gwyn und schüttelt den Kopf. »Was ist so wichtig, dass du mich schon wieder mit diesen besoffenen Idioten alleine lassen musst?«

Mein Blick wird unmerklich ernster, als sich die falschen Worte schon in meinem Mund formen. Ich hasse es, Gwyn nicht einweihen zu dürfen. Aber ich habe dabei nur das Beste für meine Freundin im Sinn. Je weniger sie weiß, desto besser für sie.

»Ryu braucht meine Hilfe«, sage ich schulterzuckend, denn üblicherweise ist das als Antwort genug. Jetzt aber bemerke ich ihren misstrauischen Blick. Ahnt sie etwas?

»In letzter Zeit braucht Ryu ganz schön oft deine Hilfe, kann das sein?«

Ich sehe sie unschuldig an – das sollte sie auf eine falsche Spur bringen. Auch wenn mir diese Spur nicht gefällt. Und ihm mit Sicherheit auch nicht. Er wird durchdrehen, wenn er hört, dass Gwyn den Verdacht hegt, dass zwischen uns beiden etwas läuft.

»Er hat ja nun mal nicht viele, die ihm helfen können. Und du würdest deine Bar schließlich nicht einfach eine halbe Stunde früher schließen und dir wertvolle Einkünfte entgehen lassen.«

»Sehr richtig!«, sagt sie und sticht mir mit einem schwarz lackierten Fingernagel gegen die Brust. »Wertvolle Einkünfte, von denen ich dich bezahle. Und wofür? Dafür, dass du mir die wirklich gut zahlenden Kunden immer wieder vergraulst und früher Schluss machst und mich die Rausschmeißerin mimen lässt.«

Ich spüre das schlechte Gewissen in mir aufsteigen.

»Nächste Woche mache ich dafür alle Nachtschichten und schmeiße alle raus. Was sagst du?«

Sie verdreht die Augen und beginnt, die trockenen Gläser unter dem Tresen einzuräumen. »Eben nicht alle! Was war das vorgestern mit Johnny Dee? Marsha hat erzählt, dass du ihm die Nase gebrochen hast. Stimmt das?«

»Er hat mir zweimal an den Arsch gegriffen!«, stöhne ich entnervt auf. »Und wenn er so dumm ist, nach der ersten Ohrfeige noch einen weiteren Versuch zu starten, hat er nichts anderes verdient!«

»Er gibt gutes Trinkgeld, dafür, dass er dir an den Arsch greifen kann, und jetzt könnten wir uns freuen, wenn er überhaupt noch mal wieder kommt.«

»Er ist ein Schwein! Sein Geld brauchen wir nicht!«

»Wir brauchen jedes Geld, Feyn!«

»Wie wahr, wie wahr!«, unterbricht uns eine nasale Stimme und ich drehe mich erschrocken um, als ich realisiere, dass Trevor Bennet in der Tür steht, die in diesem Moment hinter ihm mit einem leisen Klacken ins Schloss fällt.

Er kommt mit langsamen Schritten näher und lässt den Blick überheblich durch die Bar schweifen. Wenn es jemanden gibt, der neben McMillian diesen gewollt-gelangweilten Ausdruck perfektioniert hat, dann Bennet.

»Wir haben noch geschlossen!«, sage ich automatisch, doch er schaut mich nicht einmal an, als er weiter auf uns zukommt.

»Diese Regeln gelten ja wohl nicht für mich, Schätzchen. Wo kämen wir denn da hin?«

Ich beiße mir auf die Zunge, um nichts zu erwidern. Mein Blick zuckt zu Gwyn, die mich ermahnend ansieht, und ich zucke kurz mit den Schultern und halte den Mund.

»Trev«, sagt Gwyn und klingt dabei über alle Maßen geschäftsmäßig. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Ach Gwynni, jedes Mal die gleiche Leier. Dass ich dir das noch erklären muss«, sagt er seufzend, aber in seinem Profil sehe ich, wie sein Kiefer dabei mahlt. »Ich hole mir Crimsons Anteil.«

»Du warst erst vor sieben Tagen hier, Trev«, erwidert Gwyn und ich sehe meiner Freundin an, dass ihr unbehaglich zumute ist – wen wundert es. Trevor Bennet ist nicht für seine Geduld bekannt. Oder für seine Güte oder seine Freundlichkeit oder für sonst irgendwas, das nichts mit Gewalt und Erpressung zu tun hat. Nicht umsonst erledigt er derlei Botengänge für seinen Boss.

»Da kann aber jemand den Kalender lesen«, lacht er witzlos. »Ich bin schwer begeistert. Fünfhundert, Gwynni. Jetzt!«

»Ich habe keine fünfhundert hier«, sagt sie mit fester Stimme, aber ich höre das leichte Zittern dennoch. »Übermorgen. Wie vereinbart.«

»Ich denke nicht, dass das so vereinbart war, Gwynni«, seufzt Trevor gelangweilt und streicht sich in einer langsamen Bewegung die dunklen, strähnigen Haare nach hinten, während seine andere Hand verdächtig an der Seite seiner Lederjacke zuckt.

»Ich hab noch was«, mische ich mich ein und Trevor scheint jetzt erst Notiz von mir zu nehmen.

»Feeeeyn«, grinst er mich schmierig an und am liebsten würde ich Galle auf ihn spucken. »Immer da, um deiner Freundin aus der Patsche zu helfen, nicht wahr, Schätzchen?«

Ich krame in meiner Jackentasche und ziehe ein Bündel Scheine hervor, die ich ihm unwirsch auf den Tresen knalle. Langsam zieht er das Geld zu sich heran und beginnt zu zählen, während Gwyn mit skeptischem Blick die Kasse öffnet.

»Zweihundertfünfzig. Ich hoffe, die hast du von niemandem geklaut, den ich kenne!«, lacht er und nimmt das Restgeld von Gwyn entgegen.

»Was geht es dich an?«, murre ich und würde mir am liebsten auf die Zunge beißen.

»Vielleicht hat Crimson doch noch einen Platz für dich, wenn du genug Talent besitzt. Dann wäre es in dieser Spelunke nicht vergeudet.«

»Vorher würde ich lieber–«

»Na na na«, unterbricht Trevor mich lachend und drückt mir seinen dreckigen Zeigefinger auf die Lippen, dass ich fast würgen muss. »Wenn du weißt, was gut für dich ist, beendest du diesen Satz lieber nicht, Schätzchen.«

In einer fließenden Bewegung steht er auf, steckt das Geld in die Innentasche seiner Jacke, sodass ich für einen flüchtigen Moment die Waffe darunter aufblitzen sehe, und begibt sich auf den Weg zurück zur Tür.

»In einer Woche sehen wir uns wieder und weil das hier heute so lange gedauert hat, werden siebenhundert fällig! Keinen Cent weniger, Gwynni!«

Gwyn und ich scheinen die Luft anzuhalten, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist.

⟣ ⬩ ✧ ⬩ ⟢

»Verrätst du mir, wo du das Geld her hast?«, fragt Gwyn, als ich vor dem Tresen lehne und auf die Bestellung für Tisch drei warte.

Eigentlich haben die Tische keine Nummern, aber ich habe es mir angewöhnt, so zu tun, als hätten sie welche – wie in einem schicken Restaurant in Newton-up. Nur dass ich mir nie merken kann, welchem Tisch ich welche Zahl gebe und es jeden Abend anders ist.

»Ich hatte noch etwas gespart. Nicht der Rede wert«, weiche ich aus und ernte sofort eine erhobene Augenbraue von ihr.

»Du hast was gespart?«, fragt sie skeptisch. Ich verdiene bei ihr so wenig, dass es oftmals gerade dazu reicht, mir ein Stück Brot am Tag zu kaufen. Davon kann man herzlich wenig sparen und das weiß sie. Ich zucke belanglos mit den Schultern und tippe ungeduldig auf dem Tresen als Zeichen, dass sie sich mit den Getränken beeilen soll.

»Und? Für schlechte Zeiten«, sage ich schulterzuckend, als wäre es das Natürlichste der Welt. Im Grunde gibt es in Newton-down nur schlechte Zeiten. Aber das gilt eigentlich für alle Downtowns auf der Welt, nicht nur für Newton.

»Du drehst doch nicht wirklich krumme Dinger, oder?«

Ich schaue auf. Sie sieht mich mit ihrem vorwurfsvoll-besorgten Große-Schwester-Blick an – auch wenn sie nicht meine richtige Schwester ist. Es fühlt sich zwar so an, aber Gwyn ist nicht mit mir verwandt, sondern schlichtweg meine beste Freundin. Auch wenn sie bereits vor zehn Jahren die Verantwortung für mich übernommen hat – seit ich vierzehn war und sie nicht viel älter. Ohne sie wäre ich nicht hier. Ohne sie wäre ich vermutlich nicht mal mehr am Leben.

»Hältst du mich für so dumm?«, frage ich seufzend und schüttle den Kopf, als würde ich sie für verrückt halten, und im Inneren zerreißen mich diese Worte fast.

»Ist es das, wobei du Ryu immer hilfst? Ich dachte, ihr macht nur ein wenig miteinander rum, aber stattdessen heckt ihr krumme Dinger aus, stimmt’s?«

Sie senkt ihre Stimme. Die meisten der Anwesenden sind zwar schon so sturzbesoffen, dass sie nur noch das Schwarz hinter ihren Augenlidern bestaunen können, aber sicher ist sicher, denn hier wird jeder für eine kleine Belohnung zum Verräter der eigenen Großmutter – wenn man denn hier so was wie Großeltern hätte. »Wenn er seine illegalen Erfindungen im Dark-Net vertickt, ist das seine Sache. Und wenn du ihn ab und an begleitest und eine Kleinigkeit für dich dabei abfällt, weil du ihm beim Tragen hilfst, okay, das kann ich wohl nicht verhindern. Aber ich will nicht, dass du von den Cops geschnappt und hingerichtet wirst, weil du irgendeine unüberlegte Scheiße abziehst.«

Sie sieht mich wütend an, doch ich weiß, dass sie nur um mich besorgt ist.

»Keine Bange«, sage ich schmunzelnd. »Dir kommt deine beste und einzige Bedienung schon nicht abhanden.«

»Feyn!«, ermahnt sie mich, als ich mir die fertigen Drinks auf ein ramponiertes Tablett stelle. »Ich meine es ernst. In letzter Zeit haben sie die Kontrollen verstärkt. Auch in der Downtown fahren immer mehr Cops umher und ziehen wahllos Downer heraus und bezichtigen sie der absurdesten Verbrechen. Nur, um hier aufzuräumen.«

Ich kneife meine Lippen zu einem schmalen Lächeln zusammen. Sie erzählt mir hier nichts Neues. Seit einigen Monaten scheinen die Upper eine neue Taktik zu fahren: Sie mischen sich immer mehr in das Leben von Newton-down ein, obwohl unsere Bezirke nichts miteinander zu schaffen haben. Wir sind ihnen ein Dorn im Auge – waren wir zwar schon immer, aber jetzt scheinen sie es ernst mit dem Aufräumen zu meinen.

Während in Newton-up die Privilegierten leben, wurde der Abschaum der Gesellschaft in die äußeren Randbezirke verbannt – nach Newton-down. Ich kenne es nicht anders, denn so ist es bereits seit über vierzig Jahren, seit vor meiner Geburt und nach Ende des dritten Weltkriegs. Diese Gesellschaftsordnung wurde mit Erfindung der Scanner auf der ganzen Welt eingeführt, um einen weiteren Krieg zu verhindern, wie sie versuchen, uns weiszumachen.

Jetzt sitzen nur noch die Guten in den Vorständen der Welt und alle Schlechten leben ohne Macht und Reichtum in den heruntergekommenen Downtowns und dürfen schauen, wie sie überleben.

Ziel ist es schon immer gewesen, die Bürger der Downtowns langfristig aussterben zu lassen – auch wenn das natürlich niemals offen kommuniziert wurde. Nicht ohne Grund gibt es die Regel, dass bei uns keine Nachkommen gezeugt werden dürfen, die die schlechten Gene erben würden, die uns angeblich ausmachen. Seit einigen Jahren steht die Todesstrafe auch auf einfachste Vergehen, die von Downern verübt werden. Ein wenig Essen stehen zum Beispiel, weil man schlichtweg am Verhungern ist.

»Ich passe schon auf mich auf, Gwyn«, sage ich schmal lächelnd und bringe die Bestellung an den Tisch.

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»Gwyn denkt, zwischen uns läuft was!«, sage ich als Begrüßung, während ich meine Tasche auf den Sessel fallen lasse, der bestimmt schon so hässlich auf die Welt gekommen ist.

»Was?«, höre ich die perplexe Stimme, die durch den Vorhang gedämpft wird. Ich werfe meine Jacke ab, lasse sie auf meine Tasche fallen und mich daneben, während ich meinen Blick durch das Kellergewölbe schweifen lasse.

Hier ist es zwar kalt und feucht wie immer, aber die Speicher der solarbetriebenen Lämpchen funktionieren endlich zuverlässig und es ist nicht mehr so düster hier unten.

»Wieso?«, fragt Ryu noch einmal mit Nachdruck, als er hinter dem Vorhang hervortritt und sich sein dunkles Shirt zurechtzieht, als hätte er es sich eben erst übergezogen. Seine dunklen, welligen Haare sind zerzaust, was ihn noch jünger erscheinen lässt, als er ohnehin schon ist.

»Ich musste mir was ausdenken, warum ich schon wieder früher los bin.«

»Und da sagst du ausgerechnet Gwyn, dass zwischen uns was läuft?«

Sein Augenwinkel zuckt verdächtig und ich ziehe belanglos die Schultern hoch, kann mir aber ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen, als ich in meine Tasche greife.

»Hab ich doch gar nicht. Ich sagte, ich müsste dir helfen und sie denkt, wir würden rummachen.«

»Feyn!«, entrüstet sich Ryu und verschränkt die Arme vor seiner Brust.

»Wenn du ihr endlich sagen würdest, was du für sie empfindest, würde sie keine falschen Schlüsse ziehen!«, grinse ich und werfe ihm das kleine Päckchen zu, das er mit einer Hand fängt – nicht ohne mich dabei wütend anzustarren, den Mund zu öffnen und ihn wieder zu schließen, ehe er sich wortlos umdreht und hinter dem Vorhang verschwindet.

Seufzend stehe ich auf und folge ihm. Ich weiß, wie empfindlich er bei dem Thema ist, dennoch kann ich einfach nicht aufhören, ihn damit zu ärgern. So ist es wohl unter Geschwistern. Oder so müsste es zumindest sein. Ich kenne niemanden, der Geschwister hat. Aber Ryu ist wohl das, was einem kleinen Bruder am nächsten kommt. Und leider sieht Gwyn das ganz genau so – zu seinem Leidwesen.

»Ich stelle es beim nächsten Mal richtig, okay?«, sage ich mit der einfühlsamsten Stimme, die ich zu bieten habe.

Er steht mit dem Rücken zu mir an seinem Labortisch und packt den Inhalt des Päckchens aus. Dieser Raum ist deutlich wärmer als der andere, was an den Bunsenbrennern und diversen anderen Apparaturen liegt. Allein seine Computer strahlen eine ungeheure Wärme ab, weshalb ich mich frage, wieso er nicht viel eher hier schläft als nebenan. Wobei ich die Antwort natürlich kenne: Gwyn.

Nur ich kenne sein Labor – wie er es nennt. Die Kellergewölbe befinden sich unter einem versteckten Zugang unterhalb der Bar, aber Gwyn kennt lediglich den vorderen Raum. Der Vorhang ist normalerweise von einer sperrigen Stahlplatte versperrt, die so schwer aussieht, als könne man sie nur mit heftigem Gerät verschieben – was ein Trugschluss ist, da das Material in Wirklichkeit federleicht ist.

Ryu ist nicht registriert. Seine bloße Existenz ist illegal, weshalb er sich die meiste Zeit seines Lebens verstecken muss. Das tut er am liebsten in seinem Labor. Von hier aus hat er seine Kontakte im Dark-Net geknüpft und kommt so ganz gut über die Runden.

»Es sah zwischenzeitlich eng aus«, wechselt er das Thema. Er schaut sich den kleinen filigranen Ring, den ich ihm eben gegeben habe, eingehend an. Um genau zu sein, den großen, durchsichtigen Diamanten, der darin eingearbeitet ist, während ihm seine dunklen Locken in die Augen fallen.

»Das sah nur so aus«, erwidere ich. Es war schon mal knapper als gestern, was nicht heißt, dass er nicht recht hat.

»Auf der Pressekonferenz hieß es, sie hätten einen wichtigen Hinweis gefunden. Black Tear würde unachtsam werden.«

Ich lache auf. »Das sagen sie nicht zum ersten Mal. Das weißt du. Denn das ist hausgemachter Schwachsinn. Die haben rein gar nichts!«

Ryu dreht sich zu mir und lässt die Hand mit dem Ring sinken.

»McMillian sagte, er hätte eine Spur in die Downtown und wäre nah dran.«

»Auch das sagt der Schnösel bereits seit Jahren. Sein Ruf leidet, er muss was sagen. Das heißt nicht, dass was Wahres dran ist.«

»Feyn«, sagt Ryu seufzend. »Du musst vorsichtiger sein. Du wärst letzte Nacht fast einem Wachmann in die Arme gelaufen.«

Ich mustere ihn einen Moment. Seine grünen Augen blitzen einmal verdächtig auf, als wolle er noch etwas ergänzen, verkneift es sich jedoch. Ich wiederum verkneife mir, richtigzustellen, dass ich letzte Nacht einem Wachmann in die Arme gelaufen bin. Doch dieser hat keinerlei Verdacht geschöpft. Im Gegenteil, er war äußerst redselig und hat mir im Grunde sogar dabei geholfen, den Ring in die Finger zu bekommen – auch wenn ihm das nicht klar war. Ich frage mich, ob er inzwischen eins und eins zusammengezählt und jetzt seinen Job verloren hat.

»Ich glaube, wir könnten hierfür drei- oder viertausend bekommen«, sagt er und widmet sich wieder dem Schmuckstück in seiner Hand.

»Ich brauche siebenhundert«, sage ich schnell. »Mach mit dem Rest, was du willst.«

Er sieht nur kurz auf und nickt.

»Was ist mit morgen?«, frage ich, dränge mich durch eine Lücke zwischen Tisch und hohem Regal, in dem unzählige Discs mit Raubkopien verschiedenster Filme aus der Vorkriegszeit stehen, und trete näher an den Tisch heran, auf dem sich einige Kolben mit verschiedenen Flüssigkeiten befinden. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass Gwyn mir freigegeben hat und ich trotzdem dauernd schwänze.«

»Ist ja nicht so, als würdest du nicht arbeiten«, witzelt Ryu geistesabwesend und verpackt den Ring wieder, bevor er ihn in einer Schublade verschwinden lässt.

»Die Juwelen von Namara?«, hake ich nach und wippe ungeduldig auf meinen Fußballen.

Ryu nickt und wirkt mit einem Mal geschäftig, als er an einen seiner Monitore tritt und auf einen Bauplan deutet.

»Du kennst den Plan. Es hat sich nichts geändert. Die Feier steigt am späten Nachmittag. Du gelangst mit der Einladung ganz formell durch den Vordereingang hinein.« Er hält eine schwarze Karte mit goldener Schrift empor, die er gefälscht hat. »Du bist Miss Evelyn Fortner aus Kenneth-up. Reiches Töchterchen der Fortners, Governeursfamilie aus Kenneth, die ihr kleines Prinzesschen aus der Presse heraushalten, sodass niemand sagen kann, wie sie aussieht.«

Ich nicke. Ich kenne den Plan. Aber es ist gut, ihn vorher noch einmal sorgfältig durchzugehen.

»Die Juwelen werden genau um siebzehn Uhr für fünfzehn Minuten in Saal D ausgestellt.« Er deutet auf den Plan. »Dort werden alle Gäste einen Blick darauf werfen, bevor der Ring wieder eingeschlossen und bis zur Auktion zwei Stunden später bewacht wird. Es wird von Wachleuten und Security nur so wimmeln.«

Ich nicke. Ein großes Publikum ist nicht unbedingt ein Nachteil für meinen Auftritt.

»Vor der Auktion musst du wieder verschwunden sein. Sobald sie merken, dass die echten Juwelen weg sind, fallen zentnerschwere Sicherheitstüren ins Schloss und sperren alle Anwesenden ein – Entkommen ausgeschlossen.«

»Verstanden«, sage ich, nicke und drehe mich langsam um. »Ich sollte noch ein paar Stunden Schlaf bekommen, ehe ich mich fertig mache. Schließlich muss sich Miss Evelyn Fortner morgen angemessen aufbretzeln, wenn Daddy sie schon mal nach draußen auf ein solch piekfeines Fest gehen lässt.«

»Hast du noch genug Serum?«, fragt Ryu, während er auf der Tastatur vor sich herumtippt und sich die Monitore verändern.

»Ja, ich hab alles«, sage ich zuversichtlich und ernte ein einzelnes Nicken als Antwort.

Evelyn Fortner

In den Stunden, bevor es ernst wird, bin ich entspannt. Es ist eine Art Ritual geworden. Ich sitze in meiner heruntergekommenen Bude vor einem gesprungenen Spiegel und lege meine Maske an. Diese habe ich erst vor wenigen Tagen fertiggestellt. Die Materialien besorgt Ryu mir im Dark-Net oder fertigt sie teilweise selbst in seinem Labor an. Den künstlerischen Aspekt habe ich mir beigebracht.

In den seltenen Momenten, in denen wir einfach mal die Ungerechtigkeit der heutigen Welt ausklammern und vor der Tür lassen können, sitzen Gwyn, Ryu und ich gern bei ihm auf der Couch und gucken alte Filme. Filme ohne diese maßlos übertriebenen computergenerierten Special Effects. Ein bisschen Special ist ja noch ganz cool, aber das, was heute produziert wird, ist im Vergleich einfach nur für die Tonne. Damals haben die Maskenbildner beim Film noch wahre Wunder gewirkt. Keine CGI-Scheiße. So etwas wollte ich auch machen, seit ich es zum ersten Mal gesehen habe. Anders als meine Grandma, die stattdessen lieber vor der Kamera stand. Wenn ich vor dem Krieg gelebt hätte, wäre ich gern Maskenbildnerin gewesen. Heute gibt es so was leider nicht mehr. Warum auch, wenn die reichen Schniesel der Uptowns auf ihre Computer zugreifen können?

Ich trage eine dünne Schicht Spezialkleber an meinem Haaransatz auf und fixiere anschließend die Perücke. Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ich bin nicht mehr Feyn, ich bin Black Tear, die Meisterdiebin, die immer anders aussieht, deren wahres Gesicht niemand kennt – oder genauer gesagt bin ich heute Miss Evelyn Fortner. Zumindest für diese eine Nacht. Und diese ist nicht blond und schmächtig wie ich, sondern trägt einen brünetten Longbob, hat dunkelbraune Augen – Kontaktlinsen – und unter dem goldschimmernden Paillettenkleid einen speziell angefertigten Suit. Der trägt nicht nur an meinen Hüften auf, sondern bietet hier zusätzlich die Möglichkeit, Dinge verschwinden zu lassen – durch einen unauffälligen Schlitz und nicht aufspürbar für Scanner, strahlenresistent und eines von Ryus Werken.

Zusätzlich trage ich eine Silikonschicht, die meine Nase und meine Lippen voller wirken lässt und meine Wangenknochen anhebt. Künstliche Wimpern, Make-up, das ich so niemals tragen würde, und nicht zu vergessen Ryus wichtigstes Meisterwerk: Handschuhe, die aussehen, als wäre es meine eigene Haut – dieses Mal nur etwas dunkler. Damit hinterlasse ich keine Fingerabdrücke und trotzdem können die Scanner meinen Status anhand meiner Schweißpartikel registrieren.

Noch einmal werfe ich einen prüfenden Blick in die kleine Handtasche. Neben der gefälschten Eintrittskarte befindet sich hier auch das Serum – ebenfalls eine Erfindung von Ryu. Und der einzige Grund, weshalb ich ungesehen in der Uptown ein- und ausgehen kann, wie es mir passt. Wie bei einem herkömmlichen Epipen kann ich mir hiermit das Serum kurz vor meinem Auftritt injizieren. Es gaukelt den Scannern vor, dass ich clean bin – so wie alle anderen Upper. Die Wirkung verfliegt nach einiger Zeit. Bevor das passiert, muss ich verschwunden sein. Ich will weder wissen, was sie mit einem Downer machen würden, der sich uneingeladen Eintritt zu einer Upper-Gala verschafft – gut, vermutlich würde ich direkt ins Gefängnis wandern – aber noch viel weniger will ich wissen, was sie mit mir machen würden, wenn sie wüssten, dass ich über dieses Serum verfüge.

Downer, die sich als Upper ausgeben können? Darauf steht mit Sicherheit mehr als die Todesstrafe! Vorher noch ein wenig Folter beim sogenannten Verhör, um herauszufinden, wo ich das Zeug herhabe. Nur zum Wohle der Gesellschaft versteht sich. Nein danke, kein Bedarf!

Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel und streiche das Kleid an meinen ungewohnten Rundungen glatt. Die Schuhe, die ich trage, haben einen kleinen Absatz, so minimal, dass ich darin bequem rennen kann. Ich schließe die alte Holztruhe neben meinem Kosmetiktisch und streiche über die Risse und abgeplatzten Kanten und werfe schließlich den dunklen Trenchcoat über, bevor ich mich auf den Weg in die Uptown mache.

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Da ist er, der gläserne Palast, wie ich ihn gerne nenne. In diesem Gebäude, das der Stadt gehört, werden oft Galen abgehalten und wichtige Personen aus dem ganzen Land geladen. Ich war bislang noch nie im Inneren. Es verfügt über modernste Sicherheitsstandards, sodass Ryu und ich uns nicht herangetraut haben. Aber in letzter Zeit haben sich sowohl sein Equipment als auch meine Skills deutlich verbessert. Ich bin fast gar nicht nervös – fast. Ein wenig Nervosität gehört angeblich zu jedem Auftritt dazu. Es wird schon glattgehen.

Ich verstecke den Trenchcoat hinter einem Müllcontainer, ziehe das Serum aus meiner Clutch und ramme mir die winzige Nadel schnell und schmerzlos in den Oberarm. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Dann ziehe ich den Pen wieder heraus und werfe ihn in den Container. Ich hänge mir die Handtasche an ihrer langen Metallkette über die Schulter und bewege mich unauffällig im Schatten, bis ich in der Nähe des Eingangs bin. Würde ich normal über die Straße herbeischlendern, würde sich der Concierge mit Sicherheit fragen, weshalb sich die Tochter eines bedeutenden Was-auch-immer zu Fuß aus Kenneth hierher begibt. So tauche ich wie aus dem Nichts vor ihm auf und werfe ihm ein strahlendes Lächeln zu. Zwischen all den High-Society-Celebrities, die hier versammelt sind, falle ich gar nicht weiter auf. Mein golden-schimmerndes Kleid wirkt fast schon underdressed bei all diesen hochkarätigen Fummeln um mich herum. Wahnsinn! Wie können Menschen ihr Geld nur für solche Klamotten ausgeben, während die Bürger in den Downtowns um jedes Stück Brot betteln müssen?

»Ihre Einladung, Miss?«, fragt ein Mann im schwarzen Anzug, der an der Tür steht. Förmlich und mit einer fast schon übertrieben ausschweifenden Bewegung halte ich ihm die schwarze Karte unter die Nase. Ryu hat seinen Job wie immer ausgezeichnet gemacht, der Mann schöpft keinen Verdacht.

»Ihre Hand, Miss?«, fordert er.

Normalerweise komme ich der Aufforderung, ohne zu zögern nach, doch in der Rollenbeschreibung, die ich mir selbst gegeben habe, ist Miss Evelyn Fortner leider eine kleine verwöhnte Göre, die zu pikiertem Verhalten neigt.

»Ist das wirklich vonnöten?«, frage ich eingebildet und mit näselndem Tonfall, während ich die Augenbrauen arrogant in die Höhe ziehe. »Wissen Sie denn etwa nicht, wer ich bin?«

»Es handelt sich um eine Standard-Sicherheitsmaßnahme, damit sich keine Unbefugten Zugang verschaffen können, Miss«, erklärt der Concierge geduldig und mit einem genervten Seufzen halte ich ihm meine rechte Hand hin.

Der Mann fährt in einer fließenden Bewegung mit dem kleinen schmalen Metallstück, dem Scanner, über meine Handinnenfläche. Ein leises Piepen ertönt und ich sehe, wie eine kleine Platine grün aufleuchtet. Kurz darauf erscheint die dunkle Schrift auf dem Display, das fast unsichtbar in dem Metallstück eingearbeitet ist.

»Miss Evelyn Fortner. Ich darf Sie herzlich im Major Castle in Newton willkommen heißen. Bitte treten Sie ein!«

Macht er allen Ernstes eine kleine Verbeugung vor mir? Wer ist diese Evelyn, dass sie solch einen Aufriss erwarten darf? Ich bin so verwundert über sein Verhalten, dass ich kaum darüber nachdenken kann, dass Ryu sich damit mal wieder selbst übertroffen hat. Er hat über die Sensoren in meinen Handschuhen den Code von Evelyn – den er aus ihrer Krankenakte kopiert hat – ins System gehackt und ich kann mit einem fast schon spöttischen Geräusch an dem Mann vorbei ins Major Castle treten – nur Upper würden einem Gebäude einen solch eingebildeten Namen geben! Doch in Newton-up ist das hier nicht das Einzige.

Neben Evelyns Code hat der Scanner meine DNA-Zusammensetzung für clean oder unclean ausgelesen, die über winzige Schweißpartikel an meiner Handfläche haften. Durch das von Ryu entwickelte Serum gehe ich mit einer cleanen DNA als Upper durch. Bei einem umfangreichen DNA-Test, wie ihn die Polizei mittels Blutuntersuchung durchführt, würde ich natürlich nicht als Evelyn durchgehen, aber für die Scanner auf solchen Veranstaltungen reicht es. Noch immer bin ich fasziniert davon, was Ryu geschaffen hat. Er könnte Milliarden mit dem Serum machen. Aber ich bin die Einzige, die weiß, dass es überhaupt existiert. Und so soll es auch bleiben. Ryu meint, dass es schlichtweg zu gefährlich wäre, wenn es in die falschen Hände geraten würde oder jemand von der Existenz erführe.

»Champagner, Miss?«, bietet mir ein junger Mann mit gestriegelten Haaren und Pinguinfrack an.

»Hmpf«, gebe ich von mir, hebe mein Kinn ein wenig höher und nehme eines der langstieligen Gläser entgegen. Ich darf heute keinen Alkohol trinken, wenn ich nicht unvorsichtig und erwischt werden will, aber ich sollte zumindest den Schein wahren.

»Evelyn Fortner?«, werde ich aus meinen Gedanken gerissen und erstarre innerlich. Diese Stimme kommt mir leider viel zu vertraut vor. Langsam drehe ich mich um und stehe keinem Geringeren als Detective Killian McMillian gegenüber, diesem eingebildeten Schnösel, der mir immer das Leben schwer machen muss.

»Hm?«, frage ich gelangweilt – was er kann, kann ich schon lange –, während ich so tue, als würde ich an meinem Champagner nippen. Was zum Teufel macht ausgerechnet dieser Typ heute hier? Er kann doch nicht ahnen, dass ich bereits zwei Nächte nach meinem letzten Coup wieder zuschlage und dann auch noch hier.

»Dann habe ich mich an der Tür also doch nicht verhört«, lächelt er charmant und hält mir seine Hand hin. An der Tür? War ich allen Ernstes so abgelenkt, dass ich ihn nicht gesehen habe? Ganz kurz erwäge ich, seine Hand nicht zu nehmen, mich umzudrehen und zu gehen, aber dazu habe ich leider keinen Grund und es wäre zu auffällig. Ich reiche ihm stattdessen meine Hand, doch anstatt sie zu schütteln, wie ich erwarte, hebt er sie an seine Lippen und haucht mir einen Kuss auf den Handrücken. What the ... »Ich freue mich, dir endlich mal persönlich gegenüberstehen zu dürfen. Ich wusste nicht, dass du heute hier sein wirst.«

Er hält meine Hand noch immer in seiner, sodass ich seine Worte warm auf meiner Haut spüren kann, während er mich durch volle Wimpern von unten herauf mustert und ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel umspielt. So nah war ich ihm in den ganzen letzten Jahren nie gekommen. ›Ein hotter Upper‹ schießen mir Gwyns Worte durch den Kopf und sofort entziehe ich ihm meine Hand und finde zurück in meine Rolle.

»Und du bist?« Ich hebe meine Augenbrauen und mustere ihn abfällig.

Er greift sich gespielt theatralisch ans Herz, als hätte ich es ihm gebrochen. »So schnell bin ich also vergessen, Eve?«

Mein Herz setzt einen Schlag bei der Bedeutung seiner Worte aus. Die beiden kennen sich? Ich schlucke. Das hätte Ryu bei seiner Backgroundrecherche herausfinden müssen. Ungünstig! Zumindest scheint er nicht zu wissen, wie sie aussieht, sonst wäre ich jetzt geliefert. Ich lege meine Stirn in Falten. Kenneth ist nicht sonderlich weit von Newton entfernt. Höchstwahrscheinlich ist Newtons bekanntester Ermittler auch dort kein unbeschriebenes Blatt.

»Wie könnte ich dich vergessen, werter Detective?«, säusle ich und wechsle so schnell vom eingebildeten Prinzesschen zur flirtenden Diva, dass man es wirklich für einen Scherz von mir gehalten haben könnte, ihn nicht sofort erkannt zu haben. Blitzschnell schreibe ich meine Rolle im Kopf um – wahrscheinlich hätte ich die arrogante Zicke ohnehin nicht den ganzen Abend mimen können.

Er lacht und innerlich atme ich auf. Mir fällt auf, dass ich ihn noch nie habe lachen sehen.

»Ist dein Vater auch anwesend?«, fragt er und lässt seinen Blick durch die Menge schweifen.

»Er lässt sich entschuldigen«, sage ich, lasse meine Stimme nach wie vor höher klingen als normal und nippe nun doch ein wenig an meinem Champagner. »Ich schätze, die Juwelen von Namara sind nicht ganz nach seinem Geschmack.«

»Dafür umso mehr nach deinem, nehme ich an?« Der Blick seiner unheimlich hellen Augen trifft meinen und ich spüre ein unangenehmes Kribbeln in meinem Magen. Nein, so nah war ich ihm bislang wirklich noch nie, als dass mich etwas auf diese Augen aus der Nähe hätte vorbereiten können. Ich habe ihn immer nur aus einer gewissen Distanz gesehen – oder im Fernsehen. Aus der Nähe sind seine Augen weniger gruselig, mehr faszinierend. Sie sind weder blau noch grau, sie scheinen eher weiß zu sein, mit einem dunkelgrauen Rand herum. Viel wichtiger ist in diesem Moment für mich jedoch: Woher kennen die beiden sich? Und wie kann ich das unauffällig herausfinden, ohne mich zu verraten?

»Welches Mädchen liebt denn bitte keine Juwelen?«, kichere ich.

Sein Blick wird weicher und er legt seine Hand an meinen unteren Rücken, als er mich durch den Raum führt. Ich versteife unmerklich.

»Da du ohne Gesellschaft hier bist, sollte ich mich dir anschließen. Nicht, dass dir noch etwas passiert.« Fuck! Wie werde ich den jetzt wieder los? Das war so nicht geplant!

»Mein werter Detective«, kichere ich weiterhin mädchenhaft, während ich mich von ihm leiten lasse. »Was soll mir hier schon geschehen? Handelt es sich etwa nicht um eine geschlossene Gesellschaft?«

Er sieht zu mir und schenkt mir ein versöhnliches Lächeln, das so ganz anders ist als sein ständig gelangweilter Gesichtsausdruck, den ich aus der Presse kenne.

»Ich will mich dir natürlich nicht aufdrängen, aber wo wir uns schon mal zufällig über den Weg laufen ... Außerdem kann man sich heutzutage leider nie ganz sicher sein, ob eine Gesellschaft wirklich hundertprozentig geschlossen ist oder ob sich nicht doch unbemerkt Kriminelle Zutritt verschaffen.«

Ich atme erschrocken ein und sofort bleibt er stehen. Als hätte er mich erwischt, mustert er mich skeptisch.

»Meinst du etwa, hier befindet sich heute eine gemeine Verbrecherbande, die die Juwelen von Namara stehlen will? Bist du deshalb hier? Willst du die Bösewichte schnappen?«, frage ich schockiert und einen Tick zu hysterisch, sodass er sich sofort aufmerksam umschaut, ob jemand meinen Ausbruch bemerkt hat.

»Keine Sorge, Eve«, sagt er und sein Tonfall wird fast unheimlich sanft. »Wie gesagt, ich sorge schon dafür, dass dir nichts geschieht und lasse dich keine Sekunde aus den Augen. Und ich rechne nicht mit einer Verbrecherbande – viel mehr mit einer einzelnen Person.«

Ich schlucke erneut. Hat er einen Verdacht? Das kann unmöglich sein! Dann hätte er mich doch direkt am Eingang festgenommen.

»Eine einzelne Person?«, frage ich misstrauisch. »Wie soll eine einzelne Person hier eindringen, die Juwelen stehlen und wieder verschwinden? So dumm kann doch niemand sein. Mein Vater sagte, in diesem Gebäude herrschen die höchsten Sicherheitsstandards in ganz Newton.«

»Das stimmt«, nickt McMillian und führt mich weiter durch den Raum bis vor eine große Flügeltür – Saal D. »Nun ja, zumindest fast. Und die Juwelen werden nur fünfzehn Minuten ausgestellt und bis zur Auktion wieder fest verschlossen weggesperrt und bewacht. Dennoch rechne ich damit, dass Black Tear sich diesen Schatz nicht entgehen lassen will.«

»Black Tear?«, frage ich langsam. »Diese diebische Elster, hinter der du schon so lange erfolglos her bist?«

Er nickt und ich nehme innerlich grinsend ein verräterisches Zucken an seiner Augenbraue wahr, bevor er erneut die Menschen im Raum mit ernstem Blick scannt. Seine Augen sind wachsam. In diesem Moment fällt mir auf, dass ich ihn zuvor noch nie so gekleidet gesehen habe. Normalerweise trägt er schlichte Kleidung. Dunkle Hosen, einfache Hemden in gedeckten Farben und meist ein schlichtes Sakko und bequeme Schuhe dazu. Heute trägt er, wie alle anwesenden Herren, einen dunklen Anzug und Krawatte. Seine dunkelblonden Haare sind nach hinten gekämmt, doch fallen in leichten Wellen immer wieder in sein Gesicht, was ihm einen jugendlichen Ausdruck verleiht.

Aus den Nachrichten weiß ich, dass er mit seinen sechsundzwanzig Jahren zu den erfolgreichesten Nachwuchsermittlern bei der Newton Police zählte, bis er sich vor einigen Jahren selbstständig machte. Er hat schon viele Fälle gelöst – nur an Black Tear beißt er sich seit zwei Jahren die Zähne aus. Nun, nicht ganz seit zwei Jahren, denn er wurde erst später zur Special Force dazu geholt – als Unterstützung zur Newton Police, die nicht weiter wusste und ihn als externen Ermittler hinzugezogen hat.

»Du denkst, sie ist heute hier?«, frage ich leise und versuche, dabei erschrocken und entsetzt zu klingen.

Sein Blick gleitet wieder zu mir und für einen viel zu langen Moment mustert er mich, sodass sich mein Magen erneut zusammenzieht.

»Ja, das denke ich. Und ich werde sie schnappen. Sei dir dessen bewusst!«

»Du hast also einen Plan«, flüstere ich. Doch mehr als ein überhebliches Lächeln bekomme ich nicht als Antwort.

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Er lässt mich nicht aus den Augen. Innerlich fluche ich wie eine Furie und bin froh, dass noch keine Gedankenscanner erfunden wurden. Wie soll ich so bitte unbemerkt an die Juwelen kommen und rechtzeitig vor der Auktion wieder verschwinden, wenn er den ganzen Abend wie an meine Seite geklebt bei mir bleibt?

»Du musst dich wirklich nicht damit bemühen, mir Gesellschaft zu leisten«, lächle ich ihn unschuldig an. »Ich bin schon ein großes Mädchen und du bist schwer beschäftigt. Ich will dich auf keinen Fall von deiner Verbrecherjagd abhalten.«

Zum wiederholten Mal an diesem Abend mustert er mich für meinen Geschmack ein wenig zu lang.

»Du hältst mich nicht ab, Eve.« Ein kurzes Grinsen huscht über seine Züge – was seltsam ist, denn aus den zahlreichen Presseinterviews kenne ich nur eine sehr ernsthafte und überhebliche Version dieses Mannes. Dieser Anblick hier und heute ist geradezu verstörend. »Um ehrlich zu sein, hilfst du mir sogar dabei.«

Diese aufmerksamen Blicke, das Lächeln und immer wieder seine Hand in meinem Rücken machen mich zunehmend nervös. Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass er Verdacht geschöpft hat? Vielleicht sollte ich den Abend einfach verstreichen lassen, ohne den Coup durchzuziehen. Ich wäre dumm, wenn ich direkt vor seiner Nase meinen Auftritt wie geplant durchziehe. Aber vielleicht denkt er das auch und gerade deshalb stehen meine Chancen gut. Ich muss nur für das perfekte Ablenkungsmanöver sorgen und mich danach schnell aus dem Staub machen, bevor er überhaupt realisiert, dass etwas geschehen ist.

»Ach ja?«, kichere ich. »Und wie das?«

»Das wirst du später sehen«, zwinkert er mir fast schon verschwörerisch zu und mir zieht sich der Hals zusammen. Er führt doch etwas im Schilde und ich werde den Verdacht nicht los, dass ich geradewegs in seine Falle laufe. »Möchtest du noch einen Drink?«

Ich nippe noch immer an meinem Champagner herum und schüttle lächelnd den Kopf, als die großen Flügeltüren von Saal D von einem Mann geöffnet werden und ein weiterer Herr in Pinguinfrack ausladend gestikuliert. »Meine werten Damen und Herren, die Juwelen von Namara stehen nun eine Viertelstunde zur Begutachtung bereit. Bitte wahren sie einen Sicherheitsabstand von dreißig Zentimetern zum Sicherheitsglas, damit nicht versehentlich der Alarm ausgelöst wird.«

Ich spüre, wie sich die Atmosphäre im Raum auf einen Schlag verändert. Alle sind gespannt auf diesen Schatz – so wie ich auch. Es herrscht eine fast schon greifbare Spannung im Raum und mir ist klar, dass ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen darf, allein weil ich das Geld für Gwyn brauche, damit sie Bennet bezahlen kann. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich mir auch nicht entgehenlassen, dem eingebildeten Detective die Juwelen direkt vor der Nase zu stibitzen, ohne dass er etwas davon mitbekommt.

»Wollen wir?«, fragt er in diesem Moment und mit einem verführerischen Lächeln lege ich meine Hand auf seinen Unterarm, den er mir wie ein Gentleman hinhält, und folge ihm in Saal D.

Jede Person muss einzeln durch die breite Tür treten und ich sehe auch sofort warum: Sehr unauffällig in den Türrahmen eingelassen befinden sich mehrere Scanner, die ich an den schimmernden Metallstreben im hellen Holz erkenne. Solch aufwendige Sicherheitsmaßnahmen habe ich noch nicht erlebt. Ich atme entspannt ein und aus, als ich hindurchtrete, denn ich kann nicht sicher sein, dass die Scanner nicht auch meine Herzfrequenz aufzeichnen, und Nervosität wäre ein auffälliges Zeichen. Als ich die Schwelle passiere, registriere ich im Augenwinkel ein grünes Aufleuchten auf dem kleinen Display in der Hand eines Wachmanns, der direkt neben der Tür steht und mir ein kurzes Nicken zuwirft, sodass ich weitergehe. Keine Sekunde später spüre ich McMillians Hand erneut warm in meinem Rücken.

»Die haben ja ganz schön was aufgefahren«, lache ich amüsiert.

»Dieser Sicherheitsscanner sorgt dafür, dass niemand etwas aus diesem Raum befördert, was lieber hier drin bleiben sollte«, zwinkert er mir zu und jetzt bemerke ich auch wieder seine selbstzufriedene Ausstrahlung – wenn auch nicht so ausgeprägt wie üblich. Der Scanner macht mir nichts aus. Die Mulde in meinen ausgepolsterten Hüften ist extra dafür konzipiert, Dinge davor zu verbergen.

Mein Blick schweift durch den Raum und ich lasse absichtlich übertriebene Ahs und Ohs vernehmen. McMillian führt mich durch den Raum, der sich immer weiter mit Menschen füllt. Es handelt sich um einen eindrucksvollen Festsaal, dessen Decke mindestens vier oder fünf Meter hoch und mit Stuck und Malereien verziert ist. Eindrucksvoll, aber auch reichlich übertrieben, wenn man mich fragt. An der rechten Seite des Raumes befindet sich eine ausschweifende Fensterfront. Ein Blick genügt, um festzustellen, dass diese ebenfalls gut gesichert ist. Neben jedem der Fenster stehen zwei Securitys und von außen erkenne ich Gitterstreben, die ein Eindringen verhindern sollen.

In diesem Raum gibt es nur eine Tür – durch die wir eben reingekommen sind. Das wusste ich dank der Baupläne von Ryu allerdings schon vorher. Ich kenne jeden Winkel dieses Gebäudes, und wenn ich die Augen schließe, habe ich jeden noch so kleinen Gang vor meinem inneren Auge – für den Fall der Fälle.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, höre ich McMillian fast schon ehrfürchtig neben mir. Jetzt ist es an mir, eine gelangweilte Miene aufzusetzen.

»Ich war im vergangenen Jahr mit meinem Vater in Cubertown«, sauge ich mir meine Impro aus den Fingern. »Dort waren wir in einem Kongressgebäude, das vor Urzeiten von einem König bewohnt wurde – so heißt es zumindest. Ich muss sagen«, ich zucke lässig mit den Schultern und lasse dann ein leises Kichern hören, »dort war es noch um einiges eindrucksvoller. Nichts für ungut.«

Ich sehe zu meinem Anhängsel und bemerke, dass er mich erneut zu lange mustert, doch sein Blick ist weicher als vorhin und ich erahne ein verräterisches Zucken an seinem Mundwinkel. Amüsiere ich ihn etwa mit meinem Geschwafel? Ganz kurz frage ich mich, ob er vielleicht sogar auf solche eingebildeten Püppchen steht. Gleich und gleich gesellt sich bekanntlich gern. Doch den Gedanken verwerfe ich schnell wieder. Was interessiert es mich, auf wen oder was er steht?

»Dann wird es Zeit, dass du dir etwas wirklich Beeindruckendes anschaust, oder?«, fragt er und senkt dabei seine Stimme, sodass es fast schon verschwörerisch klingt – wenn er mir nur nicht so tief in die Augen schauen würde.

Am liebsten würde ich ihm frei heraus sagen, dass seine Augen gruselig sind, und er mich gefälligst nicht ständig so anstarren soll, beiße mir aber rechtzeitig auf die Zunge. Stattdessen nicke ich nur und folge ihm weiter durch den Raum und entdecke die große Champagner-Pyramide. Bingo! In meinem Kopf formt sich ein passendes Ablenkungsmanöver für die Anwesenden und meinen Schatten.

Langsam passieren wir das Aufgebot an funkelnden Gläsern, die übereinandergestapelt auf einem hüfthohen Tisch stehen, ein Kellner reicht vereinzelt Gläser an Gäste. Unauffällig stelle ich mein eigenes Glas dazu, damit mein geplantes Ablenkungsmanöver sämtliche DNA von mir zerstören kann, die ich durch mein Nippen am Getränk hinterlassen habe. Und Action!

Schritt eins: Ich greife mit der zu McMillian abgewandten Hand unauffällig in den Schlitz meines Kleides und in die Ausbuchtung meiner Hüftpolster, um die Laufleine hervorzuziehen, die ich fast immer bei mir trage. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine Erfindung von Ryu. Es ist eine lange, feine, jedoch stabile Schnur. So dünn wie ein Haar und mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Nur in Verbindung mit Flüssigkeiten löst sie sich in nichts auf. An ihrem Ende befindet sich eine Druckmarke.

Schritt zwei: Im Vorbeigehen befestige ich die Druckmarke mit einer schnellen und unauffälligen Bewegung am Fuß eines der Gläser. Wir gehen noch ein paar Schritte, während derer ich die Schnur locker in der Hand halte, sodass sie sich ausrollen kann.

Schritt drei: »Oh, Moment, bitte«, sage ich damenhaft zu McMillian und bücke mich kurz, um so zu tun, als müsste ich meinen Schuh richten. Dabei befestige ich eine weitere – diesmal jedoch leichte – Druckmarke auf dem Boden und lasse die Laufleine durch den Absatz meines Schuhs laufen. So verläuft sie entlang des Bodens und nicht mitten durch den Raum, wo sie durch andere Menschen versehentlich zerstört werden könnte.

Geschafft. Als ich mich wieder aufrichte, McMillian ein liebenswertes Lächeln zuwerfe und schließlich mit ihm zum Mittelpunkt der Menschenmasse gehe. Dort sind sie. Auf einem kleinen Podest an der Stirnseite des Raumes unter Sicherheitsglas mit zwei Securitymännern als Wache. Diese sorgen dafür, dass die Menschen ausreichend Abstand einhalten und zügig weitergehen, sodass jeder nur einen kurzen Blick auf diesen kostbaren Schatz werfen kann.

Jetzt sind McMillian und ich an der Reihe.

»Wunderschön, nicht wahr?«, höre ich ihn zu nah an meinem Ohr, da er sich den Schmuckstücken entgegen lehnt, um sie aus der Nähe zu betrachten.

»Atemberaubend!«, stimme ich leise zu, als ich die beiden grün-schimmernden Juwelen auf dem roten Samtkissen in ihrer Vitrine bestaune. Es heißt, sie waren vor langer Zeit in Zepter und Krone eines Herrschers eingelassen, doch er musste sie verkaufen, weil sein Volk Hunger litt und er nicht genügend Reichtümer besaß, um ihnen zu helfen. Er tauschte die Juwelen gegen Replikate aus, doch nur wenige Jahre später fanden sie auf wundersame Weise ihren Weg zurück zu ihm, weil die Menschen auf dem ganzen Kontinent so gerührt von seinem Wohlwollen waren. Ich bin mir sicher, dass diese Geschichte erstunken und gelogen ist, denn es gibt keine wohlwollenden Herrscher. Gab es auch nie und wird es niemals geben. Aber die Idee mit den Replikaten hatte mich inspiriert.

Jetzt muss alles schnell gehen. Wir sind in einer Traube von sich aneinanderdrängenden Menschen. Ich habe maximal fünf Sekunden!

Einundzwanzig.