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In Nordostgrönland stranden die Männer, die die Nase voll haben von Europa und seiner Zivilisation. Valfred, der bärbeißige, verschlafene Schlachter, Anton, der gerade sein Abitur in der Tasche hat, Fjordur, der raubeinige Isländer, der kultivierte Graf, der selbst im hohen Norden seinen Wein anbaut, und all die anderen Jäger und Fänger: Jeder ist auf seine Art eigensinnig und liebenswert. Mit Witz und Poesie erzählt Jørn Riel, wie man in diesem Land der atemberaubenden Naturschönheiten seinen ersten Eisbären fängt, in der Ödnis eine Funkstation errichtet, sich auf einem Eisberg durch die Fjorde treiben lässt oder sich eine Frau erträumt, »mit Wangen wie Äpfel und mit den richtigen Rundungen, vorn und hinten«.
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2015
In Nordostgrönland stranden die Männer, die die Nase voll haben von der Zivilisation. Mit Witz und Poesie erzählt Jørn Riel, wie man in diesem Land der atemberaubenden Naturschönheiten seinen ersten Eisbären fängt, in der Ödnis eine Funkstation errichtet, sich auf einem Eisberg durch die Fjorde treiben lässt oder sich eine Frau erträumt.
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Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien.
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Jørn Riel
Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf
Roman
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 1976 in zwei Bänden unter den Titeln En arktisk safari og andere skrøner (Eine arktische Safari und andere Flunkereien) und En ungerlig duel og andere skrøner (Ein seltsames Duell und andere Flunkereien) bei Lindhardt & Ringhof Publishers, Kopenhagen.
Originaltitel: En arktisk safari og andere skrøner
Published by agreement with Leonhardt & Høier Literary Agency, Copenhagen.
© by Lindhardt & Ringhof Publishers 1976
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30441-3
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
NICHT ALLE EISBÄREN HALTEN WINTERSCHLAF
Die SchneeammerDer FehlschussDer UmwegDie Sache mit EmmaEine arktische SafariDie RatteDie MannbarkeitsprobeDas KonzerthausEin seltsames DuellFjordurs heimliche LeidenschaftDas Erbe des GrafenNotwehrLabanJørn Riel über das Glück des SchreibensMehr über dieses Buch
Über Jørn Riel
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Jørn Riel: »Zwei Pferde, die gemeinsam eine Kutsche ziehen«
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Allein. Ganz allein an einer fast menschenleeren Küste, abgeschnitten von der übrigen Welt. Abhängig von der eigenen Tüchtigkeit und dem eigenen Willen, sein eigener Herr und eigener Diener; alles das hatte Anton Pedersen sich offenbar nicht klar gemacht, als er sich im Büro der Kompanie als Fänger bewarb. Denn Anton war gerade neunzehn Jahre alt, ihn beschäftigten ganz andere Gedanken. Seine arktische Welt war mit Polarhelden bevölkert, unbezwinglichen Männern, die unter Einsatz ihres Lebens die vielen weißen Flecke auf der Landkarte auszufüllen suchten. Sein Grönland – das waren lange Reisen mit kläffenden Hunden vor dem Schlitten, gewaltige Jagden auf Bären und Walrosse, herrliche Erlebnisse bei den ursprünglichen Eskimos und eine Kameradschaft, die die Expeditionsteilnehmer bis in den Tod verband. Solch ein Expeditionsmann zu werden, das war Antons heißer Wunsch.
Grönland war groß, und es gab immer noch unerforschte Gebiete. Doch die Zeit war knapp, so schien es Anton, und die weißen Flecke schrumpften schnell. Darum konnte es ihm nicht schnell genug gehen. Da er bis dato nichts anderes vorweisen konnte als ein vor kurzem bestandenes Abitur sowie zwei Silbermedaillen eines akademischen Schießclubs, wurde ihm bald klar, dass für ihn nur zwei Wege in die Arktis führten: entweder nach Westgrönland über den Königlich Grönländischen Handel oder als Fänger nach Ostgrönland. Westgrönland reizte ihn nicht so sehr. Hier könnte er als Handelsassistentenanwärter – mit wenig Aussicht auf Abenteuer – angestellt werden. Die Arbeit wäre sicher genauso langweilig wie der Titel und, so glaubte Anton, für einen philosophischen Bewerber auch entwürdigend. Darum wählte er den Weg über die Kompanie. Als Fänger würde er lange Fangreisen mit Hundeschlitten in der Schneewüste unternehmen, und auch sein Leben würde sich so gestalten wie einst das der alten Expeditionsleute, hatte ihm der Direktor der Kompanie zu verstehen gegeben. Anton Pedersen wurde Fänger. Er ging mutig durchs Leben, hatte einen klaren Kopf und war munter wie ein Fisch im Wasser.
Der Start in sein arktisches Abenteuer war denn auch verheißungsvoll. Die Schiffsreise auf dem Atlantik mit dem Robbenfänger Veslemari verlief genau so, wie er es sich in seinen ausschweifenden Träumen vorgestellt hatte. Die Besatzung bestand aus alten Polarfüchsen aus dem Westeis, und Skipper Olsen spann jeden Abend sein Seemannsgarn in der Messe, wenn der Schiffsjunge acht Glasen geschlagen hatte. Olsen hatte einen kolossalen Vorrat an Geschichten. Er fuhr seit seinem zwölften Lebensjahr im Eis und konnte angeblich einer Eisscholle ansehen, ob diese aus dem Polbecken, der Karasee, aus Ostgrönland oder wo auch immer herkam. Olsen konnte auch offenes Wasser regelrecht spüren, er konnte die Position seines Schiffes durch bloßes Schmecken des Meeres dort, wo man sich gerade befand, bestimmen – sagte Olsen.
Abends wurde am Messetisch zähflüssiger Rum aus schlanken, braunen Tonflaschen ausgeschenkt, dazu rauchte man schwarzen, starken Tabak aus Pfeifen mit abgenutzten Köpfen. Anton saß auf der Bank mit dem Rücken am dröhnenden Schott. Er lauschte und lachte, schlug mit der Faust auf den Tisch und fühlte sich wie ein rechter Mordskerl. Hin und wieder bekam er Rum und Rauch in den falschen Hals, dann musste ihm Olsen auf den Rücken schlagen, damit er seinen Husten los wurde. Wenn der Skipper außer diesen wenigen Stunden hereinkam, ging Anton hinaus an Deck und lehnte sich an die Reling. Er spürte den scharfen Geruch von Speck, der über dem Schiff hing, er würgte den Rum hoch und ließ ihn in der langen Dünung verschwinden.Wenn er so für die abendliche Abfüllung Luft geschaffen hatte, trocknete er den Schweiß von der Stirn und hockte sich, etwas müde, auf den nächsten Poller und blickte aufs Meer hinaus. Die nordische Nacht war hell und zauberhaft. Das Meer sah nachts noch unendlicher aus, so schien es ihm, und er bekam ein Gefühl, als ob ein Teil dieser ganzen Unendlichkeit sein Gemüt besetzte. Anton saß auf dem Poller und vergaß sich selbst. Er war ganz erfüllt von dem unermesslichen Meer, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, er drehte sich und schlingerte in der Dünung, ohne zu wissen, woher er kam oder wohin es ihn tragen würde.
Anton saß völlig gedankenverloren da, leicht berauscht von Skipper Olsens Rum und der hellen Nacht. In diesen Augenblicken war sich Anton näher, als er es jemals vorher gewesen war. Ohne jene Verkleidung, die ihm die Träume sonst gerne anlegten, war er außerhalb der eingebildeten Welt, die ihn umgab, und ganz nahe dem fast Unerreichbaren – seinem Bewusstsein. Er hatte alle Sinne auf sich selbst gerichtet und saß völlig unbeeinflusst von den ihn umgebenden Dingen. Aus diesem entrückten Zustand glitt er häufig in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
Als sich die Veslemari dem Treibeis näherte, fühlte sich Anton, als ob er den größten Teil seines Lebens auf einem Robbenfängerschiff zugebracht hätte. Er hatte so vielen Gesprächen über das Eis zugehört, dass er es wie einen alten Bekannten mit einem Nicken begrüßte, als er es sah. Skipper Olsen saß im Ausguck und witterte mit seiner langen, blau-roten Nase. Er dirigierte das Schiff in Rinnen offenen Wassers, suchte den Weg zu größeren eisfreien Wasserflächen, ließ die Maschine rückwärts gehen, drehte, lenkte und arbeitete sich sicher nachWesten. Anton hing in der eisernen Leiter einen Meter unterm Ausguck und erwarb sich einen gewaltigen Wortschatz durch die Flüche und Verwünschungen, die Skipper Olsen auf den Rudergänger herabprasseln ließ.
Der Höhepunkt der Reise war aber der Tag, als Land voraus ausgerufen wurde. Es geschah an einem frühen Morgen, als Anton in der Messe saß und Kaffee trank. Der Ruf kam vom Ausguck, wurde vom Rudergänger weitergegeben und landete durch die offene Kombüsentür bei Anton. Wie ein Blitz sauste dieser zur Tür hinaus, übers Deck und hoch zum Ausguck.
Dort lag das Land. Die gewaltigen Felsen reckten ihre gezackten Gipfel zum Himmel. Voraus lagen der gewaltige Teppich aus Eis, die tiefblauen Gletscher, die glänzenden Seen und die langen, schwarzen Fjorde. Jetzt nahm Anton einige der angelernten Sprüche zur Hilfe, um seine Bewegung, die Skipper Olsen leicht hätte falsch verstehen können, zu unterdrücken.
Alles ging gut mit Anton und der Fimbulhütte. Hier jedoch legte sich die Wirklichkeit wie eine schwere Decke auf seine Träume. Anton hatte sich natürlich viele Vorstellungen und Gedanken über eine Fangstation gemacht, hatte deutliche und schöne Bilder von Haus und Umgebung vor seinem inneren Auge gehabt. Aber hier in Fimbul entdeckte er manches, das er nicht bedacht hatte. Vor allem die Kälte. Dichter Nebel hing wie ein grauer Trauerflor zu beiden Seiten des Fimbulgebirges herunter, die raue und feuchte Luft drang bis auf die Knochen. Und dieser unglaubliche Schmutz und Dreck! Anton war immer davon ausgegangen, dass Land, Meer und Luft in der Polarregion rein und unberührt waren. Aber als er nun vom Strand zum Haus hinaufging, erblickte er zu seinem Entsetzen, dass das Terrain, so weit das Auge reichte, mit rostigen Blechdosen, zerbeulten Pappkartons, altem, grauem Hundedreck und Schlacken und Asche aus dem Herd übersät war.
Auch das Bild vom Leiter der Fangstation, das sich Anton vor seiner Abreise gemacht hatte, erwies sich als völlig falsch. Valfred war in Antons Augen kein richtiger Polarheld; er war eine alte, übel riechende Gestalt, schlurfte entweder quasselnd herum oder lag in der oberen Koje und schnarchte. Er war zwar freundlich und hilfsbereit, aber ihm fehlte völlig das Format, fand Anton. Es gab nicht die Spur von Festigkeit und Unverwüstlichkeit in Valfreds triefenden Augen, kein energisches Auftreten oder mitreißende Willensstärke. Dieser alte Mann tapste herum, ver- fallen und schmutzig wie die Hütte, in der er wohnte, er war ein Schandfleck für die Kompanie, fand Anton.
Anfangs glaubte Anton, dass Valfred und die Hütte bei Fimbul eine krasse Ausnahme an der Küste darstellten. Aber nur so lange, bis er andere Jäger und andere Fangstationen kennen gelernt hatte. Er glaubte immer noch an seine Träume und fand sich damit ab, dass der Aufenthalt in Fimbul wahrscheinlich eine lästige Pflicht war, die den meisten Polarhelden zuteil wurde. Er räumte mit Valfreds Segen um das Haus herum auf, baute die Fuchsfallen nach Anweisung zusammen und fing an, sich den Hunden zu nähern, die seine Helfer und Kameraden werden sollten, wenn er jetzt bald auf große Fahrt ging. Anton war guten Mutes. Er war in der Arktis, besaß einen Vertrag für zwei Jahre, war geduldig und meinte, dass schon alles seinen Weg gehen würde. Einige Monate nach seiner Ankunft jedoch begann er sich zu verändern, unmerklich für Valfred und auch für sich selbst. Er blieb nach wie vor der liebenswürdige junge Mann, der seine Arbeit anstandslos verrichtete. Aber er wurde ein wenig stiller, verschlossener, und allmählich war er für seinen Kollegen überhaupt keine ermunternde Gesellschaft mehr. Aber Valfred bemerkte nichts. Er schlief seinen Winterschlaf und hatte ein herrliches Leben. Solange sich der junge Mensch um die Geräte kümmerte, war er rundherum zufrieden. Anton war ein Neuling an der Küste und noch ohne Routine. Und Routine bekam man nur, wenn man tagein, tagaus die gleichen Tätigkeiten verrichtete. Dadurch dass er Anton alle Arbeiten mit den Fallen überließ, erwies sich Valfred als ein wertvoller Lehrmeister. Er hatte ihm alles gründlich erklärt, an den ersten Touren teilgenommen und darüber hinaus darum gebeten, geweckt zu werden, wenn etwas passieren sollte, mit dem Anton allein nicht fertig würde.
Der Winter verging einigermaßen erträglich für Anton. Er kümmerte sich um seine Fallen und wurde nur einmal zwischendurch, als er zur Fimbulhütte zurückkehrte, von Niedergeschlagenheit befallen. Er unternahm mit Valfred mehrere Besuchsreisen zu den Leuten in Bjørkenborg und zu Herbert in Guess Grave, und diese Reisen ließen ihn mehrere Wochen lang aufleben. Aber dann begann sich der erste Lichtstreifen im Süden zu zeigen, und es geschah, dass er Sehnsucht bekam. Zuerst nach Frauen, das war natürlich, und dann nach den Träumen, die er nicht mehr richtig träumen konnte. Ein Tag war wie der andere, immer dieselbe Arbeit: die Falle aus dem Schnee graben und aufstellen, den Köder anbringen, den Fuchs in den Rucksack stopfen und weiter zur nächsten Falle. Eiskalte Nächte im Zelt oder in Fanghütten, Kaffee und Reisfladen, heraus aus dem Schlafsack im Dunkeln, Fahrt durch einen halbdunklen Tag, Zelten im Dunkeln, einschlafen im Dunkeln, diese ewige Dunkelheit.
Erst als das Licht zurückkehrte, wurde Anton die dunkle Zeit bewusst. Daheim in Fimbul war es unerfreulicher denn je. Valfreds störendes Schnarchen, das Enthäuten der Füchse, das Spannen der Felle draußen auf den Brettern und das Trocknen über dem Herd, Essenkochen, Reparieren der Hundeleinen und Schlafen. Antons Traum vom Polarhelden wurde immer vager. Er konnte stundenlang dasitzen, auf die leeren, schwarzen Scheiben starren und sich dabei einsam und elend fühlen, am liebsten hätte er geweint. Es war eine schwere Zeit für ihn, denn er dachte nicht im Traum daran, ohne seine Illusionen zu leben. Er konnte nicht begreifen, dass das Leben in der Arktis so auf der Stelle trat, im Gegensatz zu dem Leben, das er früher geführt hatte. Natürlich hatte er Fangen gelernt, Felle abziehen, Hunde führen und Reisfladen machen. Alles Dinge, die einfach und anspruchslos waren, wenn man sie sich erst einmal angeeignet hatte. Aber er hatte nicht begriffen, dass er mit diesen Verrichtungen schon Vollmatrose geworden war – er wollte mehr. Er konnte nicht wie Valfred von einem Tag zum anderen leben, bis sich der Kreis des Jahres schloss. Anton hatte Bücher gelesen, er wusste, dass das Leben in der Arktis nicht das Leben war, das er jetzt führte – nein, das war ein aktives Leben, ein mannhaftes und dramatisches Dasein, aus dem man als ein erfahrener und geläuterter Polarheld hervorging.
Diese einfachen Dinge waren allzu einfach. Es genügte ihm nicht, sich warm zu halten und satt zu essen. Diese beiden Dinge mochten das Leben anderer Fänger ausmachen, Anton ging dabei langsam zu Grunde. Ihm war klar, dass er auf Fang musste, zwischen den Schlittenkufen laufen und sich in verschneite Täler wühlen, sich durch übereinander geschobenes Polareis arbeiten, den Schlitten zerren, schieben und reißen, sich über die Hunde heiser schreien und fluchen, sich die Lunge aus dem Hals laufen, um angeschossene Ochsen zu verfolgen und das Fleisch selbst zum Lager zurückschleppen. Ihm war klar, dass dies alles Wärme und Essen gab und eine richtige Arbeit war. Und er wusste auch, dass dies eine Arbeit für andere war, aber eben nicht für ihn.
Es war schwer, sich von seinen Träumen zu trennen. Obgleich die Arbeit, die er ausführte, noch mit der Leistung früherer Polarhelden verglichen werden und sich Anton zu den etwas kleineren Polarhelden zählen konnte, munterte ihn diese Gewissheit nicht auf – er wollte gesehen, gehört und bewundert werden. Doch weder Valfred noch die anderen Fänger, die ihm begegnet waren, abgesehen von Herbert in Guess Grave, meinten, dass er etwas Besonderes wäre. Sie blickten ihn verlegen an, wenn er erklärte, wie er einen Schneesturm überstanden hatte, indem er zwei Tage ohne anderen Proviant als eine Tafel Schokolade unterm Schlitten liegen musste, und sie räusperten sich beklommen, als er von dem Bären erzählte, den er draußen bei Kap Inter mit einem Schuss aus dem Kleinkalibergewehr erlegt hatte. Sie saßen da mit einem bedauernden Ausdruck in ihren großen, roten und dummen Gesichtern und machten den Eindruck, als ob sie sich gewaltig langweilten, wenn er erzählte. Auch darum hielt Anton seinen Mund. Denselben Beschluss fasste er für den Fall, dass er nach Glostrup heimkehren würde, wo er hingehörte. Denn wie hätte er erwarten können, dass irgendjemand zu Hause, der ja nichts vom Leben nördlich von Skagen wusste, verstand, wovon er sprach. Wenn er überhaupt versuchte, den Mund aufzumachen, würden sie ihn entweder für einen Idioten oder bestenfalls für ein gewaltiges Lügenmaul halten. Valfred versuchte einmal, ihm die mangelnde Lust der Kameraden, ihm zuzuhören, begreiflich zu machen. »Sieh mal, mein lieber Anton«, sagte er, »mit dem Erzählen der eigenen Taten ist es genau so, als wenn man einen Winterabend richtig kaputt macht. Dass du mich richtig verstehst, man soll also am besten etwas erzählen, was die anderen nicht erlebt haben. Und das dauert seine Zeit, das musst du verstehen. Denn die Leute hier oben, die haben schon sehr viel erlebt, das kann ich dir sagen.«
Zum Glück traf Anton Herbert. Es war auf einer Besuchsreise zur Fangstation Guess Grave; Valfred und Anton waren dorthin gefahren, um den zahmen Hahn zu sehen, der bei Herbert lebte. Diese Reise war später von großer Bedeutung für Anton. Bei Herbert stieß er auf Verständnis. Auch fand er einen Intellekt, der durchaus mit seinem eigenen korrespondierte. Herbert hatte sich sein Wissen selbst angeeignet, er dachte über das Alltägliche hinaus auch über anderes nach. Er war der erste Mensch in der Arktis, der Anton das Gefühl vermittelte, dass er jemand war, etwas ganz Besonderes. Es vergingen deshalb nicht allzu viele Monate nach dem Besuch, und Anton zog zu Herbert.
Diese Partnerschaft lief eine Zeit lang richtig gut. Die beiden konnten sich Fragen stellen und Antworten geben. Anton hatte die Gelegenheit, mit seinem akademischen Wissen zu glänzen, und Herbert tat sich mit seinen in vielen Jahren des Selbststudiums erworbenen Kenntnissen hervor. Lange Zeit bewunderten sie sich gegenseitig, Antons Träume nahmen wieder Gestalt an und wurden greifbarer. Herbert war ein Mensch, der wirklich bemerkte und anerkannte, was der Student Anton Pedersen in Nordostgrönland tat. Er war ein Mensch, der sich von einer frostgepeinigten Nase oder einem geschwollenen Daumen beeindrucken ließ, aber auch mitlitt, ein Mensch, der vorbehaltlos loben konnte, bereit war zuzuhören und immer eine verständige Antwort zur Hand hatte. Ja, Anton fand wieder zu sich selbst und seinen Träumen. Eine Zeit lang.
Anton hatte nun einen Winter bei Valfred und einen weiteren bei Herbert zugebracht. Er hatte aus freien Stücken den Vertrag mit Skipper Olsen verlängert und ging also in seinen dritten Winter. Er spielte die Rolle des Polarhelden vor sich selbst und Herbert, und dieser bewunderte ihn angemessen, denn Anton bedeutete ja eine interessante Gesellschaft und war ein toller Kamerad. Seitdem sein Hahn Alexander tot war, hatte sich Herbert nicht so recht mit der Einsamkeit abfinden können.
Die dritte Überwinterung wird von erfahrenen Leuten als die kritischste bezeichnet. Die erste geht normalerweise schnell vorüber, weil alles neu ist und vieles gelernt werden muss. Die zweite Überwinterung ähnelt der ersten in mancher Hinsicht, weil es immer noch neue Dinge zu entdecken gibt, neues Land in Besitz zu nehmen gilt und fremde Fänger zu besuchen sind. Aber die dritte kann schon etwas kritisch werden. Man hat bereits so viel Erfahrung, dass man eigentlich für mündig an seinem Platz erklärt wird, und man steht, so glaubt man, fest und sicher auf den Beinen, selbst auf schwankendem Neueis. Die Tage, Wochen und Monate werden länger, weil sich die Erlebnisse zum Teil wiederholen, und man bekommt eine Ahnung vom schweren und sehr langsamen Pulsschlag der Winternacht. Die ruhigen Tage während der Fahrten, die beschwerlichen Tage in der Hütte bei schlechtem Wetter bringen eine nahezu unwiderstehliche Unruhe mit sich; einen Hunger nach etwas anderem.
Dieser Hunger machte sich bei Anton früh bemerkbar. Er spürte von Tag zu Tag, wie das einfache und unkomplizierte Dasein sich seiner wieder bemächtigte, er wurde von derselben Hoffnungslosigkeit befallen, unter der er schon bei Valfred gelitten hatte. Es fiel ihm immer schwerer, sich den Polarhelden Anton vorzustellen, ohne dass der ganz gewöhnliche Abiturient Pedersen gleichzeitig sichtbar wurde. Herberts philosophische Darlegungen gingen ihm auf die Nerven, und er bemerkte, wie hohl seine eigenen Argumente klangen. Antons Laune verschlechterte sich, er wurde spitz und aufsässig, oft tagelang.
Für Herbert war dies alles nichts Neues. Er hatte schon öfter mit »Dreijährigen« zu tun gehabt und war der Meinung, dass bei Anton nur etwas Aufmunterung nötig war. Darum schlug er eine spontane kleine Fahrt zu Fjordur dem Isländer vor, der in Hauna wohnte; aber Anton wollte nicht mit. Er reagierte gereizt und meinte, dass aus dieser Reise nichts würde: Fjordur wäre ein Narr wie alle übrigen Fänger an der Küste auch, und er hätte wirklich anderes vor, als eine Besuchstour zu einer Horde von Idioten zu machen.
Die dritte dunkle Zeit wurde schwer für Anton. Und als er seine Polarhelden nicht mehr finden konnte, wandten sich seine Gedanken dem Vaterland zu. Schließlich empfand er alles, was die Arktis und Ostgrönland anging, als teuflisch, und alles, was mit Dänemark zu tun hatte, als das reine Paradies. Sein Heimatland teilte er in drei Bereiche ein: das grandiose Jütland, die prächtigen Inseln und das ganz wunderbare Glostrup. Er redete und träumte von Dänemark, er dachte an nichts anderes. Das Heimweh wurde zur Besessenheit; um sich ständig in wehmütigen Erinnerungen ergehen zu können, begann Anton Zeitungsreste zu sammeln, die als Verpackung gedient hatten, sie glatt zu streichen und abends bei Lampenlicht zu studieren. Er las diese Fragmente aus vergangenen Tagen mit leidenschaftlicher Freude. Er vergnügte sich an Börsennotierungen, daran, was man vor anderthalb Jahren in Assens im Kino gespielt hatte, und eignete sich eine sechsundzwanzig Zeilen lange Chronik über etruskisches Steinwerkzeug an. Über alles informierte er eifrig seinen Kameraden, und Herbert bewies große Seelenkraft, indem er nur freundlich nickte und alles riesig interessant fand.
Als das Zeitungspapier zu Ende ging, fing Anton mit dem Studieren von Etiketten an: auf Dosen, Ketchupflaschen, Kaffeetüten, Gurkengläsern, Schnapsflaschen, Rote-Bete-Gläsern und ähnlichem. Er stellte eine bestimmte Anzahl dieser Gegenstände auf den Tisch in der Stube und las Herbert laut vor. Namen wie Ålborg, Horsens und Vejen beschwingten ihn, und wenn er auf Städtenamen wie Kopenhagen, Roskilde und Hillerød stieß, strahlte er vor Glück. Ein einziges Mal begegnete ihm der Name Glostrup, und da brach seine Stimme vor Bewegung, seine Augen füllten sich mit Tränen.
Herbert litt still mit. Er hatte wie gesagt schon einige Fälle von Dreijahreskoller erlebt, allerdings noch keinen wie diesen. Er begann den Tag herbeizusehnen, an dem Antons Zustand seinen Höhepunkt erreichte. Das geschah im Februar.
Anton hatte einige Stunden unbeweglich auf einem Stuhl am Fenster gesessen und wie ein Blinder auf die schwarzen Scheiben gestarrt. Plötzlich stand er auf und wandte sich Herbert zu, der am Herd stand und Teig knetete.
»Herbert«, sagte er leise, »ich muss dir etwas sagen.«
»Nur zu, mein Junge«, entgegnete Herbert. Er nahm seine Hände aus dem Mehl und sah seinen Kameraden an.
»Ja«, begann Anton. Er räusperte sich einige Male. »Ja, ich habe mich entschlossen, dem ganzen ein Ende zu machen, Herbert. Das Leben hier ist so unerträglich geworden, dass ich es nicht länger aushalten kann.«
Herbert fingerte verlegen in seinem Kinnbart und bekam Mehl in den Mund. Dies war nun die ganz große Finsternis, was sollte man damit anfangen. Jeder Mensch besaß das Recht, über sein eigenes Leben und seinen Tod zu bestimmen. Das ist etwas, was keinen anderen etwas angeht. Diese Meinung hatte Herbert immer vertreten.
»Na, so schlimm, wie du sagst, ist es sicher nicht«, murmelte er zurückhaltend.
»Es ist schlimmer«, sagte Anton und blickte seinen Hausgenossen deprimiert an. »Es ist viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst. Und jetzt muss auch Schluss sein. Meine Entscheidung steht fest.«
Herbert zuckte mit der Achsel und knetete seinen Teig weiter. »Jaja«, sagte er. »Mach, was du willst, Anton. Ich kann dir wirklich weder abraten noch gut zureden. Das ist eigentlich nichts, was mich etwas angeht.«
Sie schwiegen lange. Herbert knetete den Teig fertig, stellte die Brote zum Aufgehen auf den Kohlenkasten und wusch seine Hände. Anton hatte sich wieder auf den Stuhl gesetzt und starrte auf die Scheiben. Erst als er die Brote in den Ofen schob, sagte Herbert: »Jetzt, wo du dich also zu dem großen Schritt entschlossen hast, möchte ich dich gleich darum bitten, etwas Rücksicht auf die zu nehmen, die zurückbleiben.« Er zog seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie.
Anton wandte sich ihm zu und nickte. »Wie meinst du das?«, fragte er.
»Also – machs reinlich, dann bist du ein patenter Kerl; so, dass man anschließend nicht so viel sauber machen muss. Valfred hatte mal einen Kollegen, der hängte sich am Deckenbalken auf. Er war ein feiner und verständiger Mensch. Und die Eskimos, die setzen sich draußen aufs Eis, das halte ich für mordsrücksichtsvoll, um gar nicht davon zu reden, dass man auch in eine Gezeitenrinne springen kann. Letzteres ist nahezu perfekt, aus der Sicht der Zurückbleibenden.«
Anton nickte immer noch. Es sah aus, als ob er überhaupt nicht zuhörte, was Herbert sagte. Er war wohl schon sehr weit mit seinem Vorhaben, und Herbert blickte den jungen Mann mitfühlend an. So jung und schon fertig mit allem. So kann es gehen, wenn man in jungem Alter schon den Kopf mit Ideen voll gestopft bekommt. Sie kommen hierher mit zu viel Ballast und können leicht versinken. Weisheit ist ein Segen, aber in kleinen Portionen und besser in reifem Alter verabreicht. Die Jugendjahre sollte man lieber für Schlägereien verwenden, denn es gab so viele Herausforderungen und manches zu überwinden. Ein kluger Mann wagt sich erst aufs Eis, wenn er fühlt, dass es fest genug ist und ihn tragen kann. Herbert schüttelte den Kopf. Er verstand sich nicht auf solche jungen Menschen wie Anton.
»Sag mal«, fragte er, »wann hast du gedacht, soll es passieren? Ich muss ja auf den Fang Rücksicht nehmen, jetzt, wenn ich allein losgehen muss, und ich muss dich darauf aufmerksam machen, dass es im Sommer, wenn es überall aufgetaut ist, leichter ist, dich loszuwerden, als jetzt im Winter.«
Anton richtete sich auf. Er presste die gefalteten Hände, dass die Knöchel weiß wurden. »Wenn das erste Schiff ankommt«, flüsterte er.
»Prima. Das passt ausgezeichnet.« Herbert atmete erleichtert auf. Wenn der Bursche bis zur Ankunft des ersten Schiffes mit seiner Himmelfahrt warten konnte, war das ganze eine Kleinigkeit.
So konnten sie noch einen ordentlichen Winterfang machen, und die Veslemari würde seine Überreste dann mit nach Kopenhagen zurücknehmen. Ganz erleichtert rieb sich Herbert die Hände. »Das ist ein guter und auch rücksichtsvoller Zeitpunkt, den du dir da ausgesucht hast, Anton. Und ich bin froh, dass du so lange warten kannst. Ich muss dir nämlich gestehen, dass ich mir ein bisschen Sorgen gemacht habe, wie ich deine Leiche loswerden sollte.«
»Meine Leiche?« Anton schaute ihn bestürzt an.
»Ja, du hast ja wohl nicht daran gedacht, dich selbst zu verbrennen?«, lachte Herbert. Er stand auf und holte die Schnapsflasche. »Zu solch einem Anlass ist es mehr als recht und billig, sich ein Gläschen zu genehmigen«, meinte er vergnügt. Er schenkte freigiebig ein und erhob sein Glas. »Prost, Herr Kandidat. Man soll trinken, solange man lebt, haha.«
Anton schaute düster vor sich hin. »In diesem Falle sollte ich nicht trinken«, meinte er, »denn ich fühle mich wie ein Toter.« Er nahm das Glas und kippte den Schnaps aus. »Aber wenn ich erst wieder zu Hause in Glostrup bin, wird es anders, dann werde ich wieder leben.«
»Wie bitte?« Herberts Hand erstarrte auf ihrem Weg zur Schnapsflasche. »Nach Glostrup, sagst du?«
Anton nickte. »Genau. Der einzige Ort, in dem es wert ist zu leben. Wenn das Schiff kommt, Herbert, dann mache ich mich aus dem Staub.«
»Ach so.« Herbert nahm die Flasche und verkorkte sie. »Ja, dann gibt es allerdings nichts mehr zu feiern«, murmelte er. »Zum Teufel mit dem Missverständnis.« Er stellte die Flasche in den Schrank zurück. »Ich bin im Glauben, du willst dir das Leben nehmen, dabei willst du nur nach Dänemark.« Er schüttelte den Kopf. »Aber es kann auch auf dasselbe hinauslaufen.«
Dieses Gespräch fand im Februar statt, als es noch dunkel und kalt war. Obgleich die Veslemari erst Anfang August zu erwarten war, begann Anton schon allmählich seinen Rückzug vorzubereiten. Er wusch gründlich sein Zeug, kratzte sich seinen Vollbart ab und holte seine Koffer vom Dachboden. Herbert sagte nichts. Er kümmerte sich um seine Sachen und achtete kaum darauf, womit Anton sich beschäftigte.
Zeitig im Frühjahr bekamen sie Besuch von den Leuten aus Bjørkenborg und Blaesedal. Die Gäste begafften überrascht die voll gepackten Koffer, die vor Antons Koje aufgebaut standen, und blickten verwundert auf Antons glatt rasiertes Gesicht. Anton gab selbst keine Erklärung, sie blickten fragend auf Herbert, dessen Antwort darin bestand, dass er mit seinem Zeigefinger an die Stirn tippte und ein Auge zukniff. Da waren sie im Bilde.
Bjørken ließ wissen, dass alle in Bjørkenborg zum Feiern willkommen wären, sollte das Gespräch auf ein Abschiedsfest kommen. Dort würde die Veslemari auf jeden Fall anlegen, um den Proviant für die Stationen der Südküste zu löschen. Sylte erwähnte einige Briefe, die Anton in Kopenhagen aufgeben könnte – wenn er es schaffte, diese bis zum Abgang des Schiffes zu schreiben. Lause bot seinen Tropenhelm an. Er nahm an, dass die Sonne dort in den warmen Ländern für den Heimkehrer nach Jahren in der Arktis störend sein würde. Er wollte eine gefütterte Bettkiste anfertigen und diese bei nächster Gelegenheit nach Guess Grave schicken. Siverts nahm Anton das Versprechen ab, in den nächsten Jahren ein halbes Hundert Rollen Toilettenpapier der ganz weichen Sorte zu schicken.
Alle diese Aufträge schrieb Anton in ein Heft. Er lebte während der Besuche richtig auf und war froh und unbekümmert wie eine Lerche. Aber als er wieder mit Herbert allein war, senkte sich Wehmut auf den Abiturienten Pedersen, er verließ die Wirklichkeit erneut und kehrte zu seinen Träumen zurück.
Inzwischen war es Mai geworden, Anton war reisefertiger als je zuvor. Vier Monate lang hatte er zwischen seinen gepackten Koffern gelebt. Er war hohlwangig geworden, unter seinen traurigen Augen lagen schwarze Ränder.
Die Sonne begann ihre Wanderung am Himmel, Tag und Nacht, und Anton ging häufig hinauf zum Felshügel über der Station, Svenssons Buckel genannt, um nach dem Schiff Ausschau zu halten. Er saß dann dort oben und malte sich seine Gefühle aus, wenn er zum ersten Mal einen dünnen Streifen Rauch über dem Horizont sehen würde. Dieser Augenblick nahm in seinen Gedanken so viel Raum ein, dass ihn ein Schwindel ergriff. Er dachte so intensiv an den Anblick dieser dünnen Rauchfahne, dass er sie fast sehen konnte, und er saugte das Bild in sich hinein und nahm es mit nach Guess Grave, wo er sich dann in seine Koje legte und das Bild vor Augen hatte. Er lief umher wie ein Schlafwandler, schien es Herbert, und offensichtlich konnte ihn nichts wecken. Anton war aus dem wirklichen Leben herausgetreten und trieb in einer Welt von Illusionen dahin. Bis die Schneeammer erschien.
Sie war früh munter. Ein kleiner eifriger Kerl, der vor seinen Rivalen zur Stelle sein wollte. Sie hatte sich von Island übers offene Meer nach Nordwesten vorgekämpft, durch Schnee, Sturm und Kälte. Sie ließ sich müde und erschöpft vor Antons Stiefeln nieder. Als sie wieder etwas zu sich gekommen war, begann sie leise zu singen. Anton, der auf Svenssons Buckel saß, löste seinen Blick widerwillig vom Horizont und schaute hinunter. Er räusperte sich, und der Vogel hüpfte erschrocken hoch, plusterte sich auf und schüttelte sich kräftig. Mit seinem Schnabel ordnete er einige widerspenstige Federn und nahm dann seinen unbekümmerten Gesang wieder auf. Seine frohen Triller hatten etwas, das Anton berührte. Er wurde an die Nächte an Bord der Veslemari erinnert, diese eigenartigen Stunden, in denen er wie außer seiner selbst war und eins mit dem unendlichen Meer. Er hörte den Frühling im Gesang der Schneeammer. Den Frühling, den er nun dreimal gesehen, aber nie gefühlt hatte. Er fühlte sein Herz heftiger schlagen, und als er den Mund öffnete, als wollte er etwas sagen, hörte er seinen eigenen Pulsschlag.
Der arktische Frühling. Anton fuhr sich verwirrt durchs Haar und blickte um sich. Sein Blick fiel auf die Fußspur der Ammer. Kleine schwarze Tritte, ein Filigran, ein zufälliges Muster. Er starrte auf die Spuren und las in ihnen sein eigenes Leben. Er erinnerte sich an seine Träume: den Traum vom Polarhelden, den Traum von der Flucht. Den Traum vom Traum. In den Spuren entdeckte er eine Art Zusammenhang. Diese kleinen, jämmerlichen Striche ohne jede andere Bedeutung als die, dass sie von der Schneeammer stammten. Die Ammer, die hunderte, vielleicht tausende Kilometer geflogen war, um ihre Tritte gerade hier in den Schnee vor seine Füße zu setzen.
Anton begann zu verstehen, was den Vogel hierher geführt hatte. Er ahnte auf einmal die fantastische Anziehung, die diese Einöde besaß. Er wandte den Rücken zum eisbedeckten Meer und blickte landeinwärts. Noch einmal wurde sein Gemüt von der Unendlichkeit erfasst. Die Berge füllten sein Blickfeld aus. Am Fuß waren sie von gewaltigen Schneewehen bedeckt, mit runden, einladenden, fast weiblichen Formen. Lange braune Girlanden verliefen an den Berghängen, wo der Schnee weggeschmolzen war, und ganz oben reckten sich die hohen Zacken wie Kirchtürme zum leuchtenden Himmel. Sein Blick wurde abwesend, er ging auf Reisen. Zum ersten Mal in seinem Leben reiste Anton außer seiner selbst, er war an einem Ort außerhalb seines Körpers, an einem Ort zwischen dem Talgrund und dem unendlichen Himmelsgewölbe. Und er sah, hörte und erinnerte nichts. Er empfand die Freiheit intensiv, diese Freiheit, von der er geträumt und die er sich in seinen Träumen herbeigesehnt hatte. Die Freiheit, die das gewaltige Polarland ihm geduldig über drei Jahre hingehalten und angeboten hatte.
Die Schneeammer fühlte sich bei Anton sicher. Sie hüpfte unbefangen näher und pickte an seiner Stiefelspitze. Aber Anton achtete nicht darauf, er starrte auf das Land, als ob er es nie zuvor gesehen hätte.
Weiter unter sich konnte er die Guess-Grave-Hütte sehen. Er sah Herbert neben den langen Trockenschnüren stehen, an denen die Fuchsbälge desWinterfanges hingen. Hinter der Hütte lag das trichterförmige Tal, das oben beim Lachssee endete. Hier hatte er gekämpft, gewütet und geträumt. In tiefem Schnee, im Sturm und mit widerborstigen Hunden. Er hatte geflucht und geschrien und sich selbst bemitleidet. Die Fahrten waren wieböse Träume gewesen, genauso böse, wie er sie selbst gemacht hatte.
Anton atmete schwer. Er fühlte sich von den Bergen beschirmt, während er sich vorher eingesperrt gefühlt hatte; und wo er früher von dem Unerreichbaren geträumt hatte, hatte er jetzt das Gefühl, dass er mit dem Erreichbaren glücklich war und heimisch in der Welt, die ihn umgab.
Lange saß Anton auf dem Felsen. Als er schließlich aufstand, waren seine Glieder steif vor Kälte. Er nickte der Schneeammer zu, die sich einige Meter entfernt auf einen Stein gesetzt hatte, um zu schlafen.
»Danke für den Gesang«, murmelte er.
Als er den Felsen verließ, schlug sein Herz noch heftig. Ihm war, als sei er bei einem Stelldichein gewesen und habe das »Ja« der Auserkorenen bekommen. Er blinzelte Herbert zu, der in einer Wolke von Kartoffelmehl stand und die weißen Fuchsfelle puderte. Dann ging er ins Haus, um seine Koffer auszupacken.
Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf, und nicht alle halten den langen Winterschlaf bis zum Ende durch. Selbst im dunkelsten und kältesten Teil des Jahres kann man auf diese einsamen Wanderer stoßen, die denWinterschlaf ausgelassen haben oder aus irgendeinem Grund vor der Rückkehr des Lichts geweckt wurden.
Solch ein Bär überfiel Siverts einige Kilometer von der Fanghütte Villa Abhang entfernt. Das war schon eine bemerkenswerte Tatsache, denn es ist in Grönland nicht üblich, dass Bären Menschen jagen. Sie halten sich eigentlich fast immer verborgen, und wenn sie Pech haben und von Hunden aufgespürt werden, versuchen sie Reißaus zu nehmen. Aber dieser Bär war anders. Vielleicht hatte er nach einigen Monaten Winterschlaf seine Fettreserven verbraucht und war von einem nagenden Hunger aufgewacht, oder er kam ganz allein vom Baring-Land, wo Bären nicht so verbreitet sind und mit dem größten Vergnügen ihre zweibeinigen Feinde angreifen, töten und auffressen.
Der Bär war Siverts auf der Spur und witterte Fleisch. Das war vermutlich lange Zeit in dieser erstarrten Landschaft nicht der Fall gewesen. Siverts roch ansprechend, und der Bär legte sich auf die Lauer und wartete geduldig.
Siverts kam in den aufgetürmten Eisschollen entlang der Walsoeküste angefahren. Er saß auf dem Schlitten, die Pfeife im Mund, und freute sich darauf, nach Hause zu kommen. Die Hütte mit dem Namen Villa Abhang war schon fast herrschaftlich: ein quadratischer Kasten von drei mal zwei Metern und voller Stehhöhe, die Einrichtung bestand aus einem kurzbeinigen Herd, einem Klapptisch und einer Koje aus Fassdauben; dazu Zeitungsausschnitte an den Wänden, Kohlenkasten und Wassertonne.
Die Hunde trabten vergnügt im knirschenden Februarfrost, und das Mondlicht war stark genug, dass sich Siverts ohne Schwierigkeiten orientieren konnte. Das mondbeschienene Eis lag blank und fast schneefrei, und die Schatten standen scharf und pechschwarz zwischen den treibenden Eisschollen.
Der Bär hielt sich hoch über der Schlittenspur zwischen zwei Stücken gezackten Eises verborgen, er hockte zusammengekrümmt wie eine Feder, bis Siverts Schlitten vorbeikam. In diesem Augenblick richtete er sich auf und fiel über den nichts ahnenden Fänger her.
Zu behaupten, dass Siverts erschrak, ist durchaus nicht übertrieben. Eben glitt er noch in aller Ruhe zu den Herrlichkeiten der Villa Abhang hin, und im nächsten Augenblick saß er da mit einem vierhundert Pfund schweren Bären auf dem Schoß. Der Schlitten krachte in seinen Verbänden durch die schwere Belastung auseinander, die Kufen streckten sich auf die Seite.
Siverts brüllte vor Entsetzen. Und der Bär brüllte vor Raserei noch lauter; er drehte Siverts seine Schnauze zu und blies ihm seinen warmen Atem bis unter die Anorakkapuze. Es entstand augenblicklich große Verwirrung. Die Hunde gingen zum Angriff über, dadurch wurde die Situation noch wesentlich verschlimmert. Sie sprangen jaulend und kläffend um den Bären herum und hatten bald ihren Feind, Siverts und sich selbst in die langen Hundeleinen verwickelt. Der Bär knurrte, polterte böse und schlug mit seinen gewaltigen Pranken große Löcher in die Luft.
Eines seiner Hinterbeine war in die Vorleine des Schlittens verwickelt, und Siverts Führhund Whiskey benutzte diese Gelegenheit, sich in der schwarzen Fußsohle festzubeißen. Die Luft bebte von Gebrüll, Geschrei und Geknurre. Die dicke Leine, die die Hunde schnell aus ihren einzelnen Leinen gedreht hatten, verband sie zu einem Knäuel, und dieses Knäuel wälzte sich über Schlitten, Bär und Siverts.
Als sich der erste Schrecken etwas gelegt hatte, gewann Siverts so viel Überblick, dass er seine Beine an sich zog. Er stellte fest, dass nichts gebrochen war, schob den Bären weg, zu den Hunden hin, und rollte sich vom Schlitten weg. Und dann rannte er, so schnell er konnte, zur Villa Abhang.
Der Bär sah seinen Braten verschwinden und zerriss mit seiner enormen Kraft die Zugleinen, in die er eingeschnürt war, biss Whiskey ein halbes Ohr ab, schüttelte die anderen Hundeviecher ab und setzte dem Entkommenden nach.
Nie zuvor war Siverts so schnell gelaufen. Die Sohlen seiner Robbenfellstiefel berührten kaum das Eis, hinter ihm wehte ein feiner Rauch aus Pulverschnee.
Doch der Bär war schneller. Er bewegte sich in einem ausdauernden und raumgreifenden Galopp und rückte dem unglücklichen Fänger immer näher. Den beiden folgte der platt gedrückte Schlitten, gezogen von denjenigen Hunden, die nicht durch die Hundeleinen behindert wurden und immer noch alle vier Beine gebrauchen konnten. Siverts Gewehr schleifte mit dem zerbrochenen Schlitten auf dem Eis und war von keinerlei Nutzen.
Siverts rannte, als säße ihm der Teufel im Nacken. Sein Brustkorb arbeitete wie ein Ziehharmonikabalg, er stöhnte und pfiff und spürte den Geschmack von Blut im Mund. Als er den Bär hinter sich hören konnte, tat er, was schon viele brave Männer vor ihm getan hatten: Mit einer schnellen Bewegung zog er seinen mit Speck eingefetteten Anorak über den Kopf und schleuderte ihn zur Seite. Das brachte einen kleinen Vorsprung. Der Bär setzte seine Klauen ins Eis und bremste scharf; er warf sich eifrig über den Anorak und fing an, einen Ärmel aufzufressen. Der Geschmack hielt jedoch nicht, was der Geruch versprach. Dieser Teil des Mannes war weder lebendig noch mit Blut gefüllt. Wütend riss er den Anorak in kleine Fetzen; der Flüchtende wäre ihm liebe gewesen.
Siverts verlor keine Zeit. Er sauste nur so dahin und zog sich das Hemd über den Kopf, damit er es zur Hand hatte, wenn der Bär ihm wieder näher kommen sollte. Und das geschah schon bald. Nachdem dieser die Stoffreste des Anoraks in den Schnee gestampft hatte, nahm er die Verfolgung wieder auf. Siverts ließ das Hemd fahren, und der Bär, der sich nichts entgehen ließ, beschnupperte es, probierte es und riss es schließlich in lange Streifen.
Auf diese Weise hatte sich Siverts von den meisten seiner Kleidungsstücke getrennt, noch bevor die Villa Abhang in Sicht kam. Trotz des scharfen Frostes und des rasanten Fahrtwindes glänzte sein nackter Oberkörper vor Schweiß, als er den Hügel hinauf lief, zum Haus und durch die Tür. Er verriegelte die Tür sorgfältig und lehnte sich an den Türpfosten, schnaufend wie eine Dampflokomotive.
»Oha, da hätte er mich beinahe erwischt«, stöhnte er außer Atem. »Das war zum Schluss ja das reinste Oben-ohne-Ballett, verdammt.« Er bewegte sich tastend in der Hütte, bis er die Streichhölzer auf dem Herd fand. Er zündete die Lampe an und sah sich um. Es waren Kohlen im Herd, und auf dem Trockenständer lag eine halbe Rinderkeule. Er guckte in den Wassereimer und konstatierte zufrieden, dass dieser voll Eis war. Dann setzte er sich und ruhte sich auf der Koje aus.
»Was zum Teufel machen die Hunde«, murmelte er. »Die hängen bestimmt noch im Packeis am Strand fest.«
Siverts hatte Recht. Die Hunde waren mit ihren Leinen in den aufgetürmten Eisschollen am Strand hängen geblieben. Keiner hatte so viel Verstand, die Leinen durchzubeißen, und nachdem sie sich eine Weile angeknurrt und nacheinander geschnappt hatten, legten sie sich resigniert hin und warteten, dass Siverts kam und sie befreite.
Aber Siverts hatte nicht die geringste Lust, in die Dunkelheit hinauszugehen. Er konnte hören, wie der Bär draußen herumschnüffelte, und er vermisste seine Büchse sehr.
»Wenn er sich nur draußen hält, kann man schon eine längere Belagerung aushalten«, meinte er zufrieden zu sich selbst. »Hier ist es warm, genug zu trinken und zu essen, mehr, als der Kamerad da draußen hat.«
Er stand auf und machte Feuer im Herd. Die Kohlen waren vom Fänger, der die Hütte zuletzt benutzt hatte, aufgefüllt, und die Petroleumflasche zum Feuermachen stand griffbereit beim Herd. Schon bald breitete sich eine belebende Wärme in der kleine Bude aus, und Siverts stellte den Stuhl des Hauses vor den Herd und streckte seine bloßen Füße in den Ofen. Er dachte, was für ein Glück es doch war, dass er Fellstiefel und Fellhosen getragen hatte. Diese beiden Sachen hatten den Bären viel besser aufgehalten als europäische Kleidung.
Wenn ich nur mein Gewehr hätte, dachte er, dann wäre alles gut. Er bückte sich und nahm die Axt, die an der Wassertonne stand. Die konnte man gebrauchen, aber nur im äußersten Notfall, zum Beispiel wenn der Bär ins Haus eindringen würde, um es auch warm zu haben. Das Gewehr war nötig, um den Burschen zu erledigen. Siverts zog die Füße aus dem Ofen und setzte sich aufs Messinggeländer des Herdes. Er begann zu rechnen: Es waren rund hundert Meter bis zum Strand, wo die Hunde vermutlich festhingen. Diese Strecke konnte bestenfalls in zwölf Sekunden bewältigt werden, wenn man olympische Rekordzahlen zu Grunde legte. Also zwölf Sekunden. Dazu mussten fünf Sekunden gezählt werden, um die Büchse mit der Axt freizuhacken, zwei Sekunden zum Durchladen und Anlegen sowie zwei Sekunden für Unvorhersehbares. Alles in allem also einundzwanzig Sekunden. Für den Bären ergab sich eine bessere Zeitrechnung: Er lief doppelt so schnell wie Siverts, musste sich nicht um Gewehr, Durchladen und Anlegen kümmern, und selbst wenn sich Siverts auf Grund des Überraschungsmoments, wenn er aus der Tür sprang, drei Sekunden zugute hielt, würde er in jedem Fall mit ungefähr zwölf Sekunden im Minus bleiben.
Siverts rechnete die Aufgabe mehrmals durch. Obgleich er von Mal zu Mal die Geschwindigkeit des Bären etwas herabsetzte und die Überraschung höher bewertete, blieb das Ergebnis doch unverändert günstig für den Bären. Er verwarf daher vorübergehend diese Möglichkeit, schüttete Kohlen auf den Herd und streckte den bloßen Hintern über die glühenden Ringe. Jetzt konnte er abwarten und die Dinge sich in aller Ruhe entwickeln lassen.
Der Bär polterte draußen im Frost herum. Er schnüffelte hungrig am Türpfosten, trottete einige Male ums Haus und untersuchte überhaupt sehr genau Siverts Festung auf Schwachstellen. Siverts wärmte seinen Hintern und genoss die Sicherheit im Hause.
»Ich finde, du solltest gehen und dich irgendwo aufs Eis legen«, rief er durch die dünne Bretterwand zum Bären. »So ein trüber alter Teufel sollte erst aufstehen, wenn er sich ausgeruht hat.« Der Bär knurrte böse zurück, und dieser Laut verursachte bei Siverts kräftiges Frösteln, obgleich es in der Hütte mächtig warm geworden war. »Na, na«, rief er, »es war ja nur ein guter Rat in aller Freundschaft.« Er starrte zur Tür, wo der Bär kräftig an den Ritzen schnüffelte und mit seinen langen Krallen am Rahmen kratzte.
Siverts ergriff die Axt. »Nun werd mal nicht zu empfindlich, Kamerad«, sagte er, »denn hier drinnen ist nur für einen von uns Platz, damit dus weißt.« Die Bilder von zerstörten Fanghütten standen ihm vor Augen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Bären in Hütten eindrangen und sie verwüsteten. Sie brachen Türen auf, zerquetschten Konservendosen, um an den Inhalt zu kommen, warfen Herde um, Tische und Stühle, rissen Kojen aus den Wänden und verließen die Hütten oft durchs Fenster, wobei sie in der Regel den ganzen Rahmen mitnahmen. Es gab keinen Zweifel, dass auch dieser Bär spielend leicht zu Siverts hereinkommen konnte, wenn er wollte. Und Siverts hatte das deutliche Gefühl, dass dies genau einer der sehnlichsten Wünsche des Bären war. Er stand lange neben der Tür, die Axt hoch erhoben. Er stand so lange, dass er fast lahme Arme bekam, und war sehr erleichtert, als er hörte, wie der Bär seine Rundgänge ums Haus wieder aufnahm.
Die folgende Stunde war ganz friedlich. Siverts nahm an, dass die Belagerung begonnen hatte, und machte sich daran, Essen zu kochen. Er hackte mit der Axt ein paar gefrorene Steaks aus der Rinderkeule und warf sie auf die Herdringe.
Bald war das Haus vom lieblichsten Bratenduft erfüllt, und der Bär draußen begann wieder energisch an den Türritzen zu schnuppern. Siverts verspeiste seine Steaks. Als er fertig war, schaufelte er mehr Kohle auf den Herd, um Eis für Teewasser zu schmelzen. Gerade als er so dastand und in der Glut stocherte, kam ihm die Idee. Natürlich! Er guckte sich den Feuerhaken an, der fast weiß glühte, und begann wieder zu rechnen. Diese kleine Überraschung würde seinen Nachteil mehr als ausgleichen. Und wenn man unterwegs dem Burschen noch eins mit der Axt verpassen könnte, dann war das Gewehr so gut wie im Hause.
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