Vor dem Morgen - Jørn Riel - E-Book

Vor dem Morgen E-Book

Jørn Riel

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Beschreibung

Einen glücklichen Sommer verbringen die Inuit-Großmutter Ninioq und ihr Lieblingsenkel Manik auf einer kleinen, unbewohnten Insel vor der Küste Grönlands. Sie trocknen den reichen Fang des Frühjahrs, und während der hellen Nächte vertreiben sie sich die Zeit mit Geschichtenerzählen. Unter der Anleitung der weisen Ninioq macht Manik die ersten Schritte auf seinem Werdegang als tüchtiger Fänger. Als der Herbst kommt, freuen sich die beiden auf die Heimkehr in die Siedlung. Aber die Boote, die sie zurückholen sollten, bleiben aus. Ninioq hält immer wieder vergeblich Ausschau. Was wäre, wenn sie den unbarmherzigen arktischen Winter alleine überstehen müssten? Was, wenn sie gar die letzten Menschen auf dieser Welt wären?

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Seitenzahl: 201

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Einen glücklichen Sommer verbringen die Inuit-Großmutter und ihr Lieblingsenkel auf einer unbewohnten Insel vor der Küste Grönlands. Aber dann, im Herbst, bleiben die Boote, die sie zurückholen sollen, aus. Was wäre, wenn sie den unbarmherzigen arktischen Winter alleine überstehen müssten? Wenn sie gar die letzten Menschen auf dieser Welt wären?

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Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien.

Zur Webseite von Jørn Riel.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Jørn Riel

Vor dem Morgen

Roman

Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1975 unter dem Titel Før morgendagen im Lademann Forlag in Kopenhagen.

Originaltitel: Før morgendagen (1975)

© by Jørn Riel 1975

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Luciana Whitaker/Getty Images

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30442-0

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Version vom 27.05.2024, 20:14h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

VOR DEM MORGEN

Erster Teil1 – Oft wurde Ninioq von Unruhe ergriffen: ein sonderbares …2 – Der Aufbruch verlief freudig und ganz ohne Wehmut …3 – Es war ganz wunderbar, fand Ninioq, dass wieder …4 – An diesem Abend aßen sie den Proviant …5 – Die Tage vergingen, ohne dass es den beiden …6 – Das Jahr näherte sich rasch der dunklen Zeit …Zweiter Teil7 – Die Siedlung bot noch das gleiche Bild wie …8 – Es war schwer, sich auf den Winter einzurichten …9 – Sie hatten alles Fleisch in einer tiefen und …10 – Die Tage blieben jetzt nahezu vollkommen dunkel …11 – Ninioq reichte Manik den Eispickel und ließ ihn …12 – Ein Unwetter hatte um den gestrandeten Eisberg …Nachwort

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Erster Teil

1

Oft wurde Ninioq von Unruhe ergriffen: ein sonderbares, beklemmendes Gefühl, gegen das sie nichts machen konnte. In der Regel geschah es morgens, wenn sie wie gewöhnlich früher als alle anderen erwachte. Sie lag auf der Pritsche unter dem Schlaffell und spürte, wie die Unruhe einen unsichtbaren Knoten unter dem Brustbein bildete, von dem aus unangenehme, fast schmerzende Wellen sich bis hinunter zum Bauch ausbreiteten.

Und mit der Unruhe kamen die Gedanken. Dann war ihr, als stünde sie am Rand des Lebens und schaute in einen klaffenden Schlund der Leere. Und sie begriff, diese Leere war die Summe all dessen, was gewesen war, die verwischten Spuren des menschlichen Wandels.

Denn alles hatte sich verändert und veränderte sich immer weiter. Obgleich das Meer und der Himmel und die Welt der Berge sich gleich blieben, obwohl Menschen geboren wurden und starben, wurde sie von dem Gefühl beherrscht, dass sich alles in Auflösung befand, dass sie und ihr Stamm sich aus dem Leben, wie es stets von den Menschen gelebt worden war, hinausbewegten.

Zuerst verschwand das Rentier, und das war ein großes Unglück. Denn seiner Spur folgten viele der Stämme, die bisher das Land bewohnt hatten. Dann kamen lange Perioden, in denen sich die Seetiere von der Küste fern hielten, das führte zu schlechtem Fang und zu Hungersnöten. Es waren wohl die schweren Zeiten, die die Natur der Menschen veränderten. Man teilte sich in kleinere Stämme auf, war sesshafter als früher und begann Blutfehden, die sich über mehrere Generationen hinzogen. Vor langer Zeit, schon in ihrer Kindheit, hatten die Veränderungen angefangen. Sie kamen langsam, schleichend wie die Lungenpest, so langsam, dass sich die meisten Menschen an sie gewöhnten und sie ohne weitere Erklärung hinnahmen.

Wenn Ninioq morgens auf der Pritsche lag und den Schlafgeräuschen ihrer Verwandten lauschte, erfüllte sie die Unruhe mit einer freudlosen Müdigkeit. Das Leben hatte für sie keinen rechten Wert mehr, sie fühlte sich einsam und fremd. Die Müdigkeit durchströmte sie wie eine lange, träge Dünung und hinterließ einen Missmut, den sie früher nie gekannt hatte. Dieser Missmut war geprägt von all dem, was sie in ihrem langen Leben gefürchtet hatte, und von etwas Neuem und noch Unbekanntem.

Ninioqs Leben neigte sich dem Ende zu, und sie wusste es. Aber sie würde in ihren Kindern und Enkelkindern weiterleben. Sie anzuschauen war, wie sein eigenes Gesicht in einem sommerstillen Fjord gespiegelt zu sehen. Ein überraschendes Bild, das sie stets mit Verwunderung erfüllte, aber auch ein Bild, das ihre Unruhe schürte, weil ein Windhauch, ein Steinwurf oder eine Handbewegung es auslöschen konnte.

Ninioq hatte sich nie ein anderes Leben gewünscht. Sie hoffte inständig, dass alles wieder so werden würde, wie es früher war: dass die Rentiere zurückkehrten, dass die Menschen aufhörten, sich zu befehden, und dass Sila, der in allem wohnte, ihnen wieder freundlicher gesinnt wäre. Sie ersehnte zutiefst die vielen Verwandten zurück, die verschwunden waren; das Land sollte wie früher bewohnt sein, sodass man wieder lange, festliche Besuchsreisen unternehmen könnte.

Aber alles blieb so. Die Rentiere waren für immer verschwunden, die Seetiere kamen und zogen fort, und die Menschen töteten sich weiterhin gegenseitig.

Dieser Frühling und der Beginn des Sommers waren eine frohe Zeit gewesen, mit gutem Fang und viel Unterhaltung. Es war ein Sommer, wie ihn Ninioq aus ihrer Jugend in Erinnerung hatte.

Das Eis lag lange an den Küsten, länger als in vielen anderen Jahren, und die Fänger konnten täglich mit den Kajaks hinausfahren und Robben zwischen den treibenden Eisschollen fangen.

Man wohnte weiterhin in der Wintersiedlung, weil der Fang gut war, und erst, als unerwartet Kokouk mit seiner Familie zu Besuch kam, fing man an, über ein Weiterziehen zu reden.

Ninioq hatte mit den anderen zum Willkommensgruß am Strand gestanden. Sie hatte sich beim Anblick der Kajaks gefreut, die wie die Rücken von Narwalen über den blitzenden Fjord schossen. Und sie hatte undeutliche Stimmen vom Frauenboot gehört, das sich schwer beladen zur Küste mühte. Mit einem Anflug von Schadenfreude hatte sie festgestellt, dass es schwer zu rudern war, denn die Fellhaut war schlaff und nachlässig vernäht.

Als die Boote so nahe waren, dass sie jeden darauf erkennen konnte, hörte sie die erwartungsvollen Rufe der Frauen, und sie hörte das Lachen der älteren Frauen, wenn die jungen Mädchen vor Anstrengung, schnell an Land zu kommen, furzten. Ja, es würde ein herrlicher Sommer werden. Sie hatten Gäste, und sie hatten reichlich Fleisch anzubieten.

Kokouk wird alt, stellte Ninioq fest. Er brauchte Hilfe, um aus dem Kajak zu kommen, weil eines seiner Beine ohne Kraft war. Im vorigen Winter war er von bösartigen Geistern besessen gewesen. So schlimm, erzählte seine älteste Frau, dass er lange Zeit außerstande gewesen war, die linke Körperhälfte zu bewegen. Allmählich war das Böse jedoch gebannt worden und hatte sich in diesem einen Bein gesammelt.

Der Stamm war klein; er bestand zum größten Teil aus Älteren und ganz Jungen. Vor vielen Jahren noch war er groß und lebenstüchtig gewesen, aber das war, bevor sich viele auf den Weg machten und den Rentieren hinterherwanderten, lange vor den Jahren des großen Hungers. Drei der Söhne Kokouks waren unter denen gewesen, die fortzogen. Nur der zweitjüngste Sohn war bei seinem Vater geblieben.

Man nannte ihn Pfeil, weil er mehr lief als ging und dabei tief unten in der Kehle brummte. Pfeil war ein kräftiger und gut aussehender Mann, der zweimal bei dem mächtigen helfenden Geist Tornarssuk gewesen war. So hatte er trotz seiner Jugend bereits die Fähigkeit erwerben können, bestimmte Krankheiten zu heilen. Als seinem Onkel im Kajak schwindelig wurde, vermochte er den Schwindel zu bannen, und er hatte die zweite Frau seines Vaters zurückgeholt, als ihre Seele eines Winters geraubt worden war. Ebenso war es sein Verdienst, dass Kokouk aus eigener Kraft wieder gehen konnte. Immer wieder hatte er den gelähmten Körper beschworen, bis es ihm schließlich glückte, das Böse hinunter ins Knie zu drängen.

Es war Pfeils Wunsch, zu reisen und andere Menschen zu treffen. Er begehrte schon lange ein Mädchen von anderem Blut und war deshalb sehr zufrieden, als sie auf Katingaks Stamm stießen.

Es dauerte darum auch nur wenige Tage, bis er sich entschloss, Isserfik zur Frau zu nehmen. Das wurde natürlich für alle zu einem festlichen Erlebnis. Es war schon außerordentlich lange her, dass ein fremder Mann ein Mädchen aus dem Stamm geholt hatte, und alle begrüßten dieses Ereignis mit Freuden. Zweimal besuchte er Isserfiks Familie im Gemeinschaftshaus. Nicht so sehr, um sich das Mädchen anzusehen, sondern eher, um ihre Brüder einzuschätzen.

In der Nacht, als er sie aus dem Hause zerrte, war die ganze Siedlung wach. Kokouk, der keinem eine solch interessante Sache vorenthalten wollte, hatte seine älteste Frau die Botschaft schon am Abend verbreiten lassen.

Isserfik schrie laut und gellend. Sie trat um sich, kratzte und biss ihren Entführer und führte sich überhaupt so auf, wie man es von einem jungen und gut erzogenen Mädchen in einem solchen Falle erwartete. Ihre beiden Brüder versuchten, wie es Brauch und Sitte war, ihr zu Hilfe zu kommen, aber sie stellten sich ungeschickt an und handelten sich nur zerbeulte Gesichter und blutige Nasen ein.

Pfeil schleppte Isserfik hinunter zum Strand, wo sein Kajak lag. Er setzte sie aufs hintere Deck, nahm seinen Platz ein und band sich mit einem breiten Riemen an ihr fest. Und dann paddelten sie Rücken an Rücken hinaus in die helle Nacht. Nach einigen Tagen kehrten sie von der kleinen Insel, auf der sie sich aufgehalten hatten, zurück zur Siedlung. Isserfik humpelte stolz herum und zeigte ihre Fußballen, die Pfeil mit seinem Messer gründlich eingeritzt hatte, um ihr jede Lust zur Flucht zu nehmen. Sie brachte ihre Habseligkeiten aus dem Gemeinschaftshaus in Kokouks großes Zelt und war somit Pfeils Frau.

Besuch war etwas Unterhaltendes, fand Ninioq. Obwohl Kokouks Stamm klein war, gab es doch mit vielen etwas auszutauschen und viel Neues zu hören. Kokouk selbst war ein großer Erzähler, und er berichtete ausführlich von der langen Reise, die sie aus dem Land südlich von Tunnudliorfik unternommen hatten, und von den riesigen Bergen hinter dem Rentierland, dem Land, das er die Außenkante der Welt nannte.

Ninioq hatte diese Berge nie gesehen. Aber ihr Mann Attungak war, bevor ihn das Eis nahm, viel gereist und auf einer seiner Reisen mit dem Schlitten in den Schatten dieser Berge gefahren. Die Berge waren so hoch, hatte er erzählt, dass man sich auf dem Eis auf den Rücken legen musste, um ihre Spitzen zu sehen. Sie waren so mächtig und steil, hatte er gesagt, dass kein Mensch ihre Größe ermessen konnte, und man fühlte sich unsäglich klein, fast wie ein Nichts, wenn man vor ihnen stand.

Und schön waren sie gewesen. So schön, dass er, als er sie zum ersten Mal sah, von der Lust zu weinen überwältigt wurde. Das war ein wenig verrückt, aber er konnte es nicht unterdrücken. Es war dieselbe seltsame Lust zu weinen gewesen, die ihn ergriffen hatte, als er in das Gesicht seines Erstgeborenen schaute. Eine ganz unerklärliche Schönheit, hatte er Ninioq gesagt, die in einem Menschen etwas bewegt, das man nicht beschreiben kann. Ninioq hatte ihn ausgelacht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Schönheit dieser Berge mit dem Anblick eines Erstgeborenen messen konnte.

Attungak hatte oft von den Bergen gesprochen, genau wie jetzt auch Kokouk. Kokouk sagte, sie ruhten so schwer auf der Erde, dass das Land unter ihrem Gewicht weggedrückt werde. Er sagte das, weil er selbst überzeugt war, dass es so war. Das war nicht etwas, das er gehört hatte, nicht etwas, das von einer Generation zur anderen weitererzählt wurde. Nein, er hatte diese Berge selbst gesehen, hatte gesehen, wie das Land unter ihnen hervorquoll wie der Inhalt eines Darms, den man zwischen den Fingern ausdrückt.

Ninioq hatte immer eine mit Furcht vermischte Neugierde verspürt, diese Berge zu sehen. Aber sie wusste, dass sie nie mehr so weit in den Süden kommen würde, und in ihrem Inneren war sie damit auch zufrieden. Die Berge waren wohl zu überwältigend, waren von einer Kraft, auf die sie sich nicht verstand. Vielleicht waren sie so gewaltig, dass sie das Himmelsgewölbe selbst trugen, ein Gedanke, der sie fast schwindeln ließ.

Als die Mücken zu lästig wurden, entschloss man sich, eine Sommersiedlung zu suchen, die Platz für alle bot. Man war plötzlich zahlreich und musste deshalb einen großen Wintervorrat sammeln.

Vier Kajaks verließen die Siedlung. Sie fuhren dicht an der Küste entlang nach Norden, um eine Stelle zu suchen, wo man die Zelte aufbauen konnte und wo es reichlich Wild gab. Ninioqs Sohn Katingak und Pfeil waren unter den Männern in den Kajaks. Die übrigen Fänger blieben zurück, um weiterhin auf dem Eis an der Küste zu jagen, und es war ein schönes und glückliches Jahr, denn sie kehrten täglich mit vielen Robben zurück. Die Frauen waren deshalb sehr beschäftigt. Sie speckten die Robben am Strand ab und schnitten das Fleisch in lange Seiten, die sie zum Trocknen auf die Gestelle bei den Häusern und am Strand legten.

Ninioq und mehrere andere der älteren Frauen nahmen sich der Felle an. Sie schabten sie sorgfältig sauber, wuschen sie und spannten sie auf Rahmen aus Treibholz. Waren die Felle vollständig trocken, wurden sie erneut gewaschen, getrocknet und dann über einem flachen Stock mit einer Knochenkante weich geklopft. Schließlich wurden sie sorgfältig durchgekaut, um sie so weich wie nur möglich zu machen. Ninioqs Felle wurden immer sehr gut und hatten keine Löcher. Ihre Backenzähne waren bis aufs Zahnfleisch abgewetzt und konnten deshalb die Felle nicht beschädigen. Nur manchmal, wenn besonders viele Robben gefangen wurden, half sie beim Abspecken. Sie war geschickt mit ihrem Ulo, dem scharfen, sichelförmigen Messer, und konnte immer noch schneller eine Robbe abspecken als jede der jungen Frauen.

Obgleich die Tage voller Unternehmungen waren und sie abends sehr müde war, wenn sie sich hinlegte, fiel es ihr doch schwer einzuschlafen. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf und ließen sie erst in der Nacht los.

Ninioq! Manchmal klang das Wort in ihr. Ninioq! Die alte Frau, die Älteste des Hauses, wurde sie nun genannt.

Wenn sie so zwischen den Schlaffellen lag, die sie von Katingak bekommen hatte, formten ihre Lippen manchmal lautlos das Wort Ninioq. Mitunter kam dann ein wunderbares Gefühl der Geborgenheit über sie, mitunter auch ein Anflug von Furcht. Ninioq!

Als junges Mädchen wurde sie Saqaq, die Sonnenseite, genannt. Damals dachte sie noch nicht ans Älterwerden. Andere trugen den Namen Ninioq, Menschen, die nun schon lange verschwunden waren. Damals hatte die Süße der Jugend ihre runden Wangen erfüllt, und sie hatte ein frohes und sorgenfreies Leben mit ihrem Mann Attungak geführt. Die Jugend hatte ihre ranke Rückenlinie und die Geschmeidigkeit ihrer schlanken Glieder bestimmt, so wie das Alter jetzt ihren Körper beugte und die Beine steif machte.

Erst als ihr Bauch sich mit Attungaks Kind wölbte, bekam sie ein Gefühl für das Wort Ninioq. Dieses sonderbare Wort, das wie etwas Frohes erschien, wie eine Wärme, ein Schutz um das noch Ungeborene. Damals konnte sie lächeln, wenn sie ihre gespannten Brüste befühlte, lächeln, weil sie auf der Schwelle zur Reife stand. Und sie konnte das Wort Ninioq belächeln, weil es ihr ebenso fern war wie die Vorstellung, dass ihre runden Brüste ein Paar schlaffe Hautfalten wären.

Jetzt, als Ninioq, kehrte sie in Gedanken immer wieder zurück zu Saqaq. Das war ganz natürlich und machte Freude. Sie erinnerte sich nicht, irgendwann den Wunsch gehabt zu haben, anders zu sein, weder als junger noch als alter Mensch. Sie hatte sich das Leben zu keiner Zeit anders erträumt, sondern stets ein stilles Glück empfunden, zu leben und gelebt zu haben. Und in vieler Hinsicht kam ihr das Leben im Alter ebenso heiter vor wie damals, als sie jung war. Bisweilen vergnüglicher, weil sie jetzt nicht mehr nach all dem strebte, was für einen Menschen unmöglich zu erreichen war.

Solche Gedanken bewegten Ninioq, wenn sie auf der Schlafpritsche lag und auf den Schlaf wartete.

Sie dachte oft an die Liebe, die einen großen Teil ihres Lebens erfüllt hatte. Die Liebe war in ihrem Herzen gewesen, noch bevor Attungak sie genommen hatte, und sie wuchs noch, als sie ihr erstes Kind gebar. Aber damals hatte sie noch nicht das innere Wesen der Liebe gekannt, weil sie zu jung war und andere Dinge sie zu sehr in Anspruch nahmen. Erst als sie nach vielen Jahren der Unfruchtbarkeit das fünfte und letzte Kind, Katingak, zur Welt brachte, fühlte sie die hinreißende Schönheit der Liebe. Und da liebte sie ihren Versorger mit einer Innigkeit, die sie nie für möglich gehalten hatte, und sie liebte ihre Kinder, die älteren und das neugeborene, mit einer Heftigkeit, die ihr fast den Atem nahm. Sie war ihnen über alle Maßen zugetan und ließ alle, die es wünschten, an ihrem Reichtum teilhaben.

Ja, sie war wirklich eine glückliche alte Frau. Sie hatte Kinder bekommen und ein langes Leben ganz ohne Krankheit gelebt. Die ein oder andere Beschwerde hatte sie natürlich gehabt, aber sie war nie richtig krank gewesen. Nur ein einziges Mal hatte sie gespürt, dass die Seele den Körper verlassen wollte. Das war, als sie ihr zweites Kind gebar. Ein kleiner Schwächling war es gewesen, der überhaupt nichts vom Überfluss ihrer Brüste haben wollte. Weil das Kind die Brüste nicht leeren konnte, wurde ihr Körper brennend heiß und entsetzlich schwach, und sie musste auf der Schlafpritsche liegen, außerstande zu arbeiten.

Attungak ließ deshalb Komak, den Vetter seines Schwagers, holen. Dieser war ein alter, zahnloser Mann, der von den Gnadengaben seiner Familie lebte. Er war ein großes, unverbesserliches Schleckermaul, und er leerte begierig nach jedem Säugen ihre Brüste. Als er sie einige Tage auf diese Weise erleichtert hatte, verschwanden Hitze und auch Müdigkeit, und weil sie dem alten Mann dankbar war, ließ sie ihn weiterhin Milch saugen. Er blieb die beiden Jahre, die das Kind lebte, und bis sie merkte, dass sie nichts mehr zu geben hatte.

Immer noch konnte sie das kalte, knochige Gesicht des Greises auf ihrer Haut spüren. Immer noch sah sie die Freude, die in seinen Augen stand, wenn er, satt und wohlig, seinen Anteil bekommen hatte. Lange mussten ihm seine Schwiegertöchter das Fleisch vorkauen, bevor er es in den Mund nahm, und er war für den Stamm zu nichts mehr in der Welt nütze. Jeder andere Greis hätte sich längst draußen aufs Eis gesetzt, so wie es Brauch war. Aber Komak war außerordentlich neugierig und konnte einfach nicht genug vom Leben bekommen. Und weil er so neugierig war, unendlich viele Dinge wusste und die Erinnerung an vieles in seinem Kopf bewahrt hatte, war er in der Siedlung beliebt. Er war ein großer Erzähler, der sie im Winter viele Tage hintereinander unterhalten konnte, wenn Sturm und Unwetter die Menschen in den Häusern hielten. Er war einer der Letzten, der große Rentierherden gesehen hatte. Und er berichtete von diesen Herden, denen er in seiner Jugend gefolgt war, so mächtige Herden, dass die Tiere mehrere Tage brauchten, um über den Pass bei Pamiut zu wandern. Er erzählte von Jagden, auf denen so viele Rentiere erlegt wurden, dass die toten Körper wie ein Berg aus dampfendem Fleisch lagen, als man sie zusammengeholt hatte. Ja, solche Zeiten hatte dieser alte Mann erlebt. Es waren die Zeiten, die sich Ninioq so heiß zurückwünschte, wenn sie am Morgen schlaflos und unruhig lag.

Wie oft das Licht das Dunkel in ihrem Leben abgelöst hatte, wusste Ninioq nicht. Es war zu oft geschehen, als dass ein Mensch sich daran erinnern konnte. Natürlich gab es gewisse Anhaltspunkte, nach denen sie in etwa die Zeit einteilen konnte: der Tod ihrer Eltern, ihre Heirat mit Attungak, die Geburt der Kinder, die Jahre der Wanderung, die Hungerjahre und der Tod der Kinder und Enkel.

Ihr Erstgeborenes war ein Mädchen. Ein ganz ungewöhnliches Kind, es wurde mit zwei Zähnen geboren. Es verheiratete sich früh mit einem Fänger aus Illussat, einem Mann, der später von bösen Mächten ergriffen wurde und viele Menschen tötete, bis er selbst von seinen Stammesverwandten umgebracht wurde. Diese Tochter war bei dem Stamm ihres Mannes geblieben. Aber weil man von ihr viele Jahre nichts gehört hatte, glaubten viele, dass sie das Land verlassen hatte oder umgekommen war.

Das Nächstgeborene war ein Junge. Ein kleiner Kerl, der nie so richtig gedieh. Seine Seele verließ ihn nach zwei Jahren, das war vielleicht ganz gut, weil ein solcher Schwächling bei einem Tod im Erwachsenenalter nie in die Unterwelt gekommen wäre.

Die beiden nächsten waren Mädchen. Sie gediehen und wurden tüchtig und begehrenswert. Weil sie sich sehr mochten und nur ungern getrennt werden wollten, verheirateten sie sich mit zwei Brüdern aus Kutdleq, die genauso fühlten. Keiner von ihnen wurde alt: Sie starben in einem Hungerjahr auf der Reise in den Süden. Man fand die vier in einem Schneehaus, in dem sie verhungert waren. Sie hatten alles gegessen. Zuerst die Hunde, dann die Riemen und Hundegeschirre, Zurrringe und Peitschen. Schließlich hatten sie von einem der Mädchen gegessen, aber die Scham war wohl zu groß, und sie hatten schließlich den Tod vorgezogen.

Ninioq erfuhr von ihrem Schicksal von den Leuten, die sie gefunden hatten. Sie weinte lange, weil der Tod allem Anschein nach schwer gewesen war und die Umgekommenen noch im glücklichsten Alter gewesen waren.