8,99 €
Um das Jahr 1000 n.Chr. machen sich die Inuit aus Kanada auf nach Grönland, ins Land der großen Erwartungen. Von Generation zu Generation wird die Geschichte der abenteuerlichen Entdeckung weitergegeben. Im zweiten Buch der Grönland-Saga wird erzählt, wie Arluk – Nachfahre des mächtigen Schamanen Heq – auf eine Reise rund um Grönland ging, die ein ganzes Leben dauern sollte und auf der er seiner großen Liebe begegnete, einem Wikingermädchen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 305
Veröffentlichungsjahr: 2015
Um das Jahr 1000 n.Chr. machen sich die Inuit aus Kanada auf nach Grönland, ins Land der großen Erwartungen. Im zweiten Buch der Grönland-Saga wird erzählt, wie Arluk – Nachfahre des mächtigen Schamanen Heq – auf eine Reise rund um Grönland ging und auf der er seiner großen Liebe begegnete, einem Wikingermädchen.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien.
Zur Webseite von Jørn Riel.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Jørn Riel
Arluks große Reise
Roman
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel
Die Grönland-Saga II
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente
Die Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel Arluk im Verlag Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.
Die deutsche Erstausgabe erschien in der Trilogie Gesang des Lebens. Die Grönland-Saga im Unionsverlag, Zürich.
Die Übersetzung aus dem Dänischen wurde unterstützt durch das Danish Arts Council Comitee for Literature.
Originaltitel: Sangen for livet (Kopenhagen, 1983–1985)
© by Jørn Riel, 1986
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30916-6
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 27.05.2024, 20:29h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
ARLUKS GROSSE REISE
VorbemerkungÜbersichtskarte1 – Es kam ein Jahr, in dem alle in …2 – Eines Tages hörte Kajaka auf, zu den Kindern …3 – Isserfik forderte ihren Bruder auf, sich eine Frau …4 – Bue Steinsson unternahm lange Fahrten nach Europa und …5 – Sie hielt die Augen geschlossen. Wollte sie nicht …6 – Am 9. Juli 1492 berief Papst Innozenz VIII …7 – Sie reisten langsam, denn sie hatten kein anderes …8 – Man machte am folgenden Tag viele Spiele mit …9 – Die ersten Tage nach dem Unglück fühlte Arluk …10 – Um Blutdunst im Haus zu vermeiden, baute Arluk …11 – Das Land, in dem sie sich niedergelassen hatten …12 – Als Svava im Jahr zuvor auf die Inuit …13 – Nungo hatte vernehmlich geseufzt, als Arluk Svava entführte …14 – Der Aufenthalt in diesen südlichen Landen wurde lang …15 – Wenn Arluk später in seinem Leben von den …16 – Zwei Frauenboote fuhren nach Igdloluarsuk. Eines ließ man …17 – In Ammassalik hatte man gute und schlechte Jahre …18 – Nach fünf Überwinterungen in den nordöstlichen Ländern meinte …19 – Arluk nahm sich keine Frau am Uummannaq …20 – Man erzählt sich, dass ein Mann, der sein …WorterklärungenDankMehr über dieses Buch
Über Jørn Riel
Jørn Riel: Weintrauben aus Grönland
Jørn Riel: »Zwei Pferde, die gemeinsam eine Kutsche ziehen«
Andere Bücher, die Sie interessieren könnten
Bücher von Jørn Riel
Zum Thema Arktis
Zum Thema Dänemark
Ungefähr gleichzeitig mit der Einwanderung der Inuit der Thule-Kultur aus dem arktischen Kanada in das nördlichste Grönland begann eine europäische Auswanderung von Island aus, die eine Ansiedlung in Südgrönland entstehen ließ.
In den ersten beiden Jahrhunderten lebten diese ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in relativ friedlicher Koexistenz. Die Entfernungen waren groß, die Transportmittel langsam, sodass Konfrontationen vermutlich selten waren.
Die Siedlungen der Nordländer, die westliche Siedlung Vestribygd beim heutigen Godthåb (Nuuk) und die östliche Eystribygd bei Julianehåb (Qaqortoq), blühten auf. Zu ihren großen Zeiten gab es dort mehr als dreihundert Höfe, fünfzehn Pfarrkirchen und zwei Dome sowie Klöster für Mönche und auch Nonnen. Dies alles muss ein einzigartiger, aber auch beunruhigender Anblick für die Inuit gewesen sein, die ihre Jagdgebiete nach Süden ausdehnten.
Man weiß, dass die Nordländer zur Wikingerzeit von Grönland auch nach Amerika fuhren, ungefähr fünfhundert Jahre vor Kolumbus’ Geburt. Dass eine Ansiedlung großen Umfanges nie stattfand, ist vor allem auf die kriegerischen Inuit und Indianer zurückzuführen, die den Nordländern zahlenmäßig überlegen waren.
Im 14. Jahrhundert begann die westliche Ansiedlung zu verfallen. Sie lag weiter im Norden und war daher einem raueren Klima ausgesetzt als die Ostsiedlung. Auch wurde sie zuerst von den Inuit heimgesucht, die Richtung Süden zogen. Bereits um 1300 lagen alle Höfe verödet.
Es ist oft die Rede von der friedlichen Gesinnung der Inuit gewesen. Aber vermutlich sind sie weder friedlicher noch kriegerischer als andere Völker. Sie schlagen wie alle anderen zurück, wenn man ihre Jagdgebiete bedroht oder wenn sie angegriffen werden. Eine Bestätigung dieser Annahme findet man in den grönländischen Sagen, die von Zusammenstößen zwischen Grönländern und Inuit berichten, und man hört davon in Berichten aus Labrador aus dem 17. Jahrhundert, in denen von regelrechten Schlachten zwischen europäischen Schiffen und zahlreichen Angreifern der Inuit erzählt wird.
Die östliche Siedlung überlebte noch einige Jahrhunderte. Aber dann musste auch sie aufgegeben werden, vermutlich aus den gleichen Gründen wie die westliche Ansiedlung: Inuit, Veränderungen des Klimas, fehlende Verbindung mit Norwegen (wo sich der grönländische Bischof aufhielt) sowie zahllose Überfälle von Seeräubern.
Die Inuit drängten zur Südspitze Grönlands. Einige zogen weiter zur Ostküste, wo sie sich bis hinauf nach Ammassalik niederließen. Eine zweite Gruppe war früher schon im Norden um Grönland herumgereist und hatte sich längs der Nordostküste angesiedelt, wo die Jagd vorzüglich war. Es ist nur wenig wahrscheinlich, dass diese beiden Gruppen untereinander noch Verbindung hatten.
So verbreiteten sich die Inuit allmählich über die ganze Insel. Dort, wo andere Völker aufgeben mussten, passten sie sich dem Klima der hohen Arktis an und überlebten. Grönland gehörte den Inuit, und so wird es hoffentlich auch für alle Zukunft bleiben.
Mit dieser Erzählung will ich die Reise eines Menschen durch »alle schönen Länder dieser Erde«, das meint Grönland, beschreiben. Eine Reise, die seine Vorväter von ihm forderten und die er zu Beginn des 16. Jahrhunderts durchführte.
Es war keine schwierige Aufgabe, weil die Personen, die auf den folgenden Seiten zu finden sind, sich schon lange Zeit in meinen Gedanken befunden haben. Darum einen herzlichen Dank an die vielen Grönländer, mit denen ich Jahre gelebt und erlebt habe.
Es kam ein Jahr, in dem alle in Kullorssuaq unter dem Hunger litten. Es gab weder Fleisch noch Speck, und die Lampen verlöschten, eine nach der anderen, bis es schließlich überhaupt kein Licht mehr in den Häusern gab. In der ersten Zeit lag man im Dunkeln und erzählte. Von guten Zeiten mit reichlichem Fang und von den langen, warmen Tagen des Sommers. Dann aber verstummten alle und wollten keine Gedanken mehr austauschen, weil diese entmutigend waren. Die Kinder weinten häufig zu Beginn der Hungerperiode, aber nach und nach wurden auch sie still.
In diesem Winter wurden zwei Mädchen geboren. Sie wurden sofort nach der Geburt erwürgt und außerhalb der Siedlung ausgesetzt. Die Wölfe holten sie, und der Lärm ihres Kampfes um die beiden kleinen Körper war bis zu den Häusern zu hören.
Die meisten Hunde wurden geschlachtet und verzehrt, aber ihr Fleisch füllte die vielen leeren Mägen nur wenig, weil sie noch ausgehungerter waren als die Menschen. Man teilte sich in diesem Winter den Hunger, wie man sich sonst den Fang geteilt hatte.
Es lebte dort ein Mann mit Namen Kajaka. Er war alt und unnütz und lebte nur, weil seine Enkel ihn brauchten. Am liebsten hätte er sich aufs Pritschenlager gelegt und dem Leben den Rücken zugewendet, aber er konnte es nicht über sich bringen, die Kinder zu verlassen. Diese waren elternlos, weil sein Sohn und seine Schwiegertochter in einem Herbst durch eine Schneebrücke auf dem Inlandeis gestürzt waren und deshalb für tot gehalten wurden.
Als man alle Hunde aufgegessen hatte, kamen zwei Männer zu Kajakas Haus, um nachzusehen, ob der Alte lebte. Einer war Tutigaq, der andere sein Sohn Urukase. Sie brachten für die Kinder den Schenkel eines Fuchses mit, den Urukase in einer Falle gefangen hatte, und während Arluk und Isserfik das zähe, rohe Fleisch vom Knochen lösten, sprachen Vater und Sohn mit Kajaka. Es war ihre Absicht gewesen, ihn zu bitten, einen Geisterflug zu Arnaqarssak, der Mutter des Meeres, zu unternehmen und sie zu bewegen, die Seetiere freizugeben, die sie auf Grund der Unvernunft der Menschen zurückhielt. Jeder wusste, dass die Sünden der Menschen sich wie Schmutz in das lange Haar der Frau setzten und nur ein tüchtiger Geisterbeschwörer sie aufspüren und ihr Haar sauberkämmen konnte. Aber als sie sahen, wie entkräftet Kajaka war, begriffen sie, dass er nicht in der Verfassung für eine anstrengende Beschwörung war, und deshalb erwähnten sie ihr Vorhaben erst gar nicht. Sie redeten nur über Allgemeines, übers Wetter vor allem und dann über die Toten und die, die im Sterben lagen. Nach einiger Zeit verließen sie das Haus.
Dass es Kajaka gelang, Arluk und Isserfik am Leben zu erhalten, lag nicht daran, dass er mehr Essbares als andere besaß, sondern weil er mit ihnen auf eine Art und Weise sprach, die sie den Hunger beinahe vergessen ließ. Der alte Mann lag auf dem Lager und hatte an jeder Seite eines der Kinder, und die Wärme ihrer Körper hielt seine Gedanken am Leben. Er sprach viel von den Eltern. Isserfik lauschte aufmerksam, während sie dalag und auf einem Stück Kamiksohle kaute. Arluk schloss die Augen, denn hinter geschlossenen Lidern konnte er sich die Erzählungen des Großvaters besser vorstellen.
Kajaka wusste, dass er diesen Winter nicht überleben würde. Darum kam es darauf an, die Kinder auf ein Leben ohne Familie vorzubereiten. Und darum sprach er viel über die Vorväter, denn in diesen Worten über die Alten war eine Kraft, die jenseits der des Fleisches und der Wärme lag. Es war eine Kraft, die ein Geschenk der Geister war; Worte, so stark, dass die Kinder Nahrung aus ihnen saugen konnten, wenn er selbst fortgegangen war.
Sie lagen auf dem Pritschenlager, Tag für Tag, Nacht für Nacht, und sie waren ganz aus der Zeit. Der endlose Winter drang ins Haus mit Kälte und Dunkelheit, und nicht einmal die grauen Lichtwechsel des Mittags erreichten sie.
Kajaka erzählte von Menschen, die aus dem mystischen Land im Westen gekommen waren. Er nannte dieses Land Akilineq. Das Land an der äußersten Grenze der Welt, das Land mit dem größten aller Flüsse, das Land, in dem die furchtbaren Itqiliit wohnten. Er nannte die Namen dieser Menschen früherer Zeiten, denn die Berichte von ihnen waren von Geschlecht zu Geschlecht ohne Veränderungen weitergegeben worden. Am häufigsten erwähnte er den Geisterbeschwörer Heq und dessen Frau mit dem fremdartigen Namen Tewee-soo.
»Ihr beide seid von ihrem Blut«, sagte er, »und es ist ein Blut, das länger als das anderer fließen wird. In unserer Familie wird man alt, wenn kein Unglück eintrifft, wie es eure Eltern getroffen hat. Auch Heq starb früh, weil die Geister ihn bei sich haben wollten. Sein Tod kam in der Gestalt eines Bären, der sowohl weiß als auch schwarz war. Er wusste um seinen Tod, bevor ihn dieser traf, und er war wohlvorbereitet.«
Kajaka seufzte tief. Er dachte an die große Bucht, in der Heq umgekommen war, und seine Gedanken gingen nach Sardlia, der kleinen Insel vor Kullorssuaq, wo er so oft gesessen und nach Walen Ausschau gehalten hatte. Es waren lichterfüllte, glückliche Tage gewesen. Er sehnte sich nach der Erregung, die ihn jedes Mal ergriff, wenn er eine Schule Weißwale gesichtet hatte, und er sehnte sich danach, wieder den Träumen nachzuhängen, die ihn aus diesem Leben erlösen konnten. Aber als sich die Kinder ungeduldig bewegten und Fragen stellten, fuhr er fort.
»Tewee-soo lebte lange, wie ihr großer Geist Manito es befohlen hatte. Von ihr will ich euch erzählen, was ich gehört habe. So weit geht diese Erzählung in der Zeit zurück, dass sich keiner mehr erinnert, wer diese Worte zuerst im Munde hatte.« Kajaka lachte ein wenig. Er atmete tief und angestrengt ein und blickte mit seinen halb blinden Augen hinauf ins Dunkle.
»Heq war Angakoq, Geisterbeschwörer, und Kalaaluch, Häuptling, für die Menschen am Uummannaq. Vielleicht der größte, den man kennt. Angakoq pulik war er, unser Vorvater, der oberste Geisterbeschwörer. Und sein Tornaq war der schwarze Bär, der schließlich kam und ihn holte. Seine Frau Tewee-soo besaß ihren eigenen Tornaq, einen großen, weißen Wolf, den sie Manito nannte. Durch den Wolf konnte sie verschwundene Seelen finden, gutes Wetter und guten Fang herbeischaffen. Erst jetzt fängt meine Erzählung an.«
Kajakas müde, schwache Stimme wurde auf einmal kräftig und volltönend. So, als spräche plötzlich ein junger Mensch durch seinen Mund. Arluk und Isserfik wussten, dass das, was er jetzt berichtete, Okalugtuaq war, eine wortgetreue Wiedergabe der Überlieferung von den Vorvätern. Vielleicht war die Stimme seine eigene, vielleicht die der Vorväter. Sie wussten es nicht.
»Es ist oft von Tewee-soo gesprochen worden, deren Name ›die immer wandert‹ bedeutet, und deshalb lebt sie immer weiter unter uns. Weil sie sehr alt wurde, geschah es bei verschiedenen Gelegenheiten, dass ihre Seele geraubt und ins Totenreich entführt wurde. Aber weil sie auf den Tod nicht vorbereitet war, zwang sie jedes Mal die Seele wieder in ihren Körper. So eine große Geisterbeschwörerin war sie. Sie brach vom Uummannaq auf und zog mit ihrem Sohn Taq, der selbst ein alter Mann geworden war, seiner Frau Saawi, die Inlandbewohnerin war, Simutaq und den Enkeln zu der Insel, von der man die große Bucht sehen kann. Diese Insel wird Savissivik genannt.
Ihr Sohn Taq hatte mehrere Kinder. Von einigen weiß man noch die Namen, unter anderem von einem Mädchen, das unverheiratet blieb und Itiva genannt wurde. Dieses Mädchen, Taqs jüngste Tochter, war eigensinnig und ähnelte ihrer Großmutter sowohl im Wesen als auch im Aussehen. Sie war groß und rank und hatte große, fremdartige Augen, die die Männer dazu bringen konnten, sich töricht zu benehmen. Aber sie war Tewee-soos Schülerin gewesen, hatte bei Geisterbeschwörungen auf ihrem Schoß gesessen und auf diese Weise Einsicht in die heimliche Welt gewonnen, die den meisten unbekannt war. Vielleicht weil sie mehr als andere wusste und dadurch Macht besaß, wurde ihr Lager nie aufgesucht. Denn bekanntlich mögen Männer keine Frauen, die ihnen überlegen sind.
In einem Lager bei der großen Bucht wurde Tewee-soo wieder krank. Itiva verließ ihre Pritsche nicht und pflegte sie geduldig. Ab und zu sprachen die Geister durch Tewee-soo, und dann lauschte das Mädchen aufmerksam. Es glückte der alten Geisterbeschwörerin noch einmal, ihre Seele dem Tod zu entwinden, und während sie nach der Krankheit Kräfte sammelte, erzählte sie ihrer Enkelin von den vielen Begebenheiten, die ihr Leben ausmachten. Sie fasste die lange Erzählung mit wenigen Worten zusammen. ›Nichts‹, sagte sie, ›wissen wir. Nur die Ungeborenen und die Toten besitzen Wissen, denn so will es Manito.‹ Manito war ihr großer Geist, ein Geist, den wir nicht kennen, der aber von den Hundemenschen verehrt und gefürchtet wird.
Es konnte geschehen, dass die alte Frau in die Sprache ihrer Kindheit zurückfiel, und dann verstand Itiva sie nicht. Aber sie blieb immer geduldig am Lager sitzen, bis die Alte wieder wie ein Mensch redete. Eines Tages brach es aus Tewee-soo heraus: ›Es geschieht, dass die alles Bestimmenden einzelnen Menschen ein wenig Einsicht gewähren. Hin und wieder hat man selbst ein gewisses Verständnis erlebt, durch die vielen Geheimnisse gesehen. Aber jetzt, wo man alt geworden ist, ist diese Einsicht fort. Manito hat sie entfernt. Denn gerade jetzt, wo der Tod mich umfängt, kann es gefährlich werden. Ob ich gerne dieses Verständnis an meine Lieben weitergeben würde, damit sie besser aufs Leben vorbereitet wären? O ja. Leicht sollten sie mit diesem Verständnis leben, so leicht, dass alles zum Stillstand kommen würde. Denn welcher Jäger würde wohl auf die Jagd gehen, wenn er die innersten Geheimnisse des Lebens kennte? Welche Frau würde Felle gerben oder das Feuer behüten, wenn sie allwissend wäre?‹
Itiva nahm die Worte der Alten in sich auf. Es gab vieles, was sie nicht verstand, aber sie spürte die Weisheit, die ihnen innewohnte, und hoffte, dass es eines Tages die ihre sein würde.
Auch vom Tod sprach Tewee-soo. Sie sprach von ihm, als wäre er ein lieber und langerwarteter Verwandter, der auf Besuchsreise wäre.
›Der Tod‹, sagte sie zu Itiva, ›ist der Vater der Menschen. Nicht streng und ungerecht, sondern liebevoll und zärtlich und verständnisvoll. Und doch klammert sich der Mensch an seine Mutter, die das Leben ist, das Bekannte und Verständliche. Denn alle fürchten wir das Unbekannte. Wir kennen nichts anderes und können deshalb nichts anderes. Aber die Seele gehört dem Tod. Darum fürchten wir die Seelen der Toten, wie wir alles Unbekannte fürchten. Der Tod trennt das gefangene Leben und die freie Seele. Manito, der Vater der Seele, schenkt uns ein Leben, das kein Ende nimmt. Das weiß ich, obgleich alles andere Wissen verschwunden ist. Denn er ist mir in der Gestalt eines weißen Wolfes begegnet, und ich habe von seinem Fleisch gegessen, als ich jung war.‹ Sie lag ein wenig in Gedanken, bevor sie fortfuhr.
›Ich weiß das alles. Aber ich bin ein Mensch und tue mich wie alle anderen Menschen schwer, zu sterben. Nur weil Manito wollte, dass man älter als die meisten werden sollte, lebt man.‹
Da fragte Itiva sie: ›Wie komme ich zu dem großen Wissen, Ninio?‹
Tewee-soo sah das junge Mädchen lange an. Ihre Augen waren ohne die Glut der Jugend, alt und tiefblickend.
›Nur durch Leiden, Einsamkeit und Entbehrung‹, entgegnete sie. ›Dies lehrte mich Heq, als ich jung war, und später lehrte mich das Leben seine Wahrheit.‹
So redeten sie oft miteinander.«
»Es geschah, dass Tewee-soo ihren Sohn darum bat, weit hinunter in die große Bucht zu fahren, wo sie und Itiva sich in einer Grotte niederließen, die zwischen einem großen Gletscher und einem breiten Fluss lag. Es war eine tiefe Grotte mit vereisten Wänden und einer ganz kleinen Eingangsöffnung. Sie verlor sich im Dunkel weit unter dem Felsen, aber als Taq untersuchen wollte, ob sie ganz bis unter das Inlandeis reichte, verbot es ihm seine Mutter. Sie bat ihn, sich zu entfernen und nie wieder zur Grotte zurückzukommen.«
Kajaka schwieg eine Weile. Arluk bewegte sich etwas unruhig. Kajaka hob den Kopf des Jungen und ließ ihn auf seinem Arm ruhen.
»Danach hörte man lange Zeit nichts mehr von den beiden in der Grotte. Vielleicht war Itiva bei der alten Frau, als diese starb, vielleicht kam der Tod gar nicht zu ihnen. Keiner weiß es.« Kajaka schwieg. Nur das Geräusch ihrer Atemzüge und das Kauen Isserfiks auf der Tierhaut füllte den dunklen Raum. Als er wieder redete, war die jugendliche Stimme verschwunden, und die Kinder wussten, dass das, was jetzt folgte, Oqalualarut war, eine Erzählung, die häufig dem Gespräch oder der Unterhaltung gedient hatte. Kajaka sagte: »So berichtete es mein Großvater, der ein Mann war, der keine Unwahrheit kannte. Angussaq hieß er, und sein Vetter, der auch in dieser Erzählung vorkommt, hieß Ulajuk. Sie waren gleichaltrig und fürchteten nur die Geister, wie es einem Menschen auch zukommt. Oft herrschte zwischen ihnen Wettstreit, da jeder besser als der andere sein wollte. Sie zerstritten sich jedoch nie, weil sie sich wie zwei Brüder liebten.
Schon als Jungen hatten sie die Sage von Tewee-soo und Itiva gehört, und als junge Männer begannen sie, sich nach der Grotte zu sehnen. Aber die Alten in der Siedlung rieten ihnen davon ab, nach Süden zu fahren, da allgemein bekannt war, dass die Frau in der Grotte und ihre Enkelin Reisende töteten, ob diese nun aus dem Norden oder Süden kamen: Darum gab es damals keine Verbindung zwischen den Menschen, die früher nach Süden gezogen waren, und uns nördlich der Bucht.
Aber eines Tages konnten Angussaq und Ulajuk ihre Neugierde nicht mehr beherrschen. Mein Großvater erzählte, dass er lange Zeit Locktöne in seinem Kopf vernommen hatte. Sie wurden ihm vom Wind zugetragen, sie waren genauso zärtlich wie das erste Piepsen der Schneeammer oder das Murmeln des Baches unter dem Schnee im Frühling. So unwiderstehlich waren diese Locktöne, dass die beiden Männer ihre Schlitten beluden und zur Bucht fuhren.
Es war eine beschwerliche Reise, weil sie erst hinauf übers Land und dort hoch über dem Meer auf schmalen Pfaden fahren mussten, um hinunter aufs Eis zu gelangen. An einigen Stellen waren die Pfade nicht breiter als die beiden Kamiksohlen eines Mannes. In Kurven mussten sie die Hunde einzeln ziehen und danach Ladung und Schlitten Stück für Stück herumholen.«
Arluk lag mit geschlossenen Augen und lauschte. Er sah diese gefährliche Fahrt vor seinen Augen und begriff, dass seines Großvaters Großvater ein großer Schlittenführer gewesen war.
»Als sie endlich hinunter aufs Eis kamen«, erzählte Kajaka weiter, »entdeckten sie, dass die Eisstaus größer als alle Staus waren, die sie bisher gesehen hatten. Selbst die berüchtigten Eisbänke, die sich am Übergang vom alten Land nördlich vom Uummannaq aufbauen können, waren im Verhältnis zu diesen hier klein. Darum wurde es eine langsame Reise. Außerdem gab es auf dem Eis nichts zu jagen, obgleich dort eigentlich Robben und Bären hätten sein müssen. O ja, die beiden kamen nur langsam voran, das könnt ihr euch denken.
Wie lange sie in den Eisstaus fuhren, wird nicht erzählt. Es war, als reichte in diesem Punkt das Gedächtnis meines Großvaters nicht weit genug zurück. So ist es oft, wenn man über unangenehme Dinge berichten muss. Vielleicht war es ein halber Mondwechsel, vielleicht länger, vielleicht auch kürzer. Keiner weiß es. Und sie fingen nichts und hungerten viel. Sie waren sehr erschöpft, als sie endlich glattes Eis erreichten. Hier machten sie Halt, und in zwei Tagen fingen sie so viele Robben, dass sie einen Teil des Fleisches in Depots für die Heimreise lagern mussten. Die Hunde fraßen sich wieder Kräfte an, und die beiden ruhten sich aus und kamen wieder zu Kräften.
Außerhalb der Bucht konnten sie die Küstenlinie sehen, wo ungeheure Gletscher Seite an Seite lagen, ihre langen Zungen leckten auf das zugefrorene Meer. Sie befürchteten, dass sich das Eis im Laufe der Jahre über die Grotte geschoben haben könnte und diese gar nicht mehr sichtbar wäre. Aber als sie dichter unter Land fuhren, sahen sie die Grotte über einem schmalen Küstenstreifen liegen. Auf ihrer einen Seite lag ein Gletscher, auf der anderen ein Flusslauf. Mein Großvater sagte, dass die Grotte vom Strand her wie ein gelbes Auge leuchtete, aber als sie hinaufkamen und in das kleine Loch blickten, das der Eingang war, fanden sie sie leer und dunkel. Sie legten sich vor der Grotte zum Schlafen nieder, wurden aber in der Nacht von Frauengesang geweckt.«
Kajaka hob mit Mühe seinen Oberkörper und zog das Fell über Isserfik, die eingeschlafen war. Er spürte, wie jeder Muskel in seinem Körper schmerzte, und fühlte, dass er nur noch eine kurze Zeit vor sich hatte.
»Es war die Stimme einer Frau«, sagte er, als er sich wieder gelegt hatte. »Mein Großvater und sein Vetter kamen verwirrt aus ihren Fellen, und sie erblickten ein schwaches Licht, das aus der Grotte schimmerte. Furchtsam krochen sie zum Licht hin, so wie man sich an eine schlafende Robbe auf dem Eis anschleicht. Immer tiefer drangen sie in die Grotte ein, von dem flackernden Lichtstreifen geleitet. Sie hatten große Angst, aber die Stimme, die sie vernahmen, war so lockend, dass sie widerstandslos zu ihr hingezogen wurden. Endlich wurde das Licht stärker, und sie merkten, dass es jetzt abwärts ging. Es gab keinen Weg, nur eine schmale Öffnung in der Klippe, eng wie der Gang in einem Schneehaus.
Plötzlich sahen sie die Frau. Sie war alt, so alt, dass sie einem Menschen nicht mehr ähnlich war. Aber sie war freundlich zu ihnen und redete die Sprache der Inuit, jedoch in einem singenden Tonfall.
Sie lud sie ein, zu essen, und sie legten sich jeder auf sein Fell und nahmen das Fleisch, das sie ihnen reichte. Sie selbst sagten nichts, denn sie waren vor Überraschung und Furcht stumm. Nachdem sie von vielerlei Fangtieren gegessen hatten, trat eine junge Frau aus dem Dunkel der Grotte. Auf einmal stand sie vor ihnen mit der großen Lampe, ohne dass sie begriffen, woher sie gekommen war. Auch sie sprach mit ihnen, und sie begriffen, dass sie Itiva war.
Es dauerte nicht lange, da kam eine überwältigende Müdigkeit über sie. Vielleicht war das Fleisch, das sie gegessen hatten, von einer besonders kräftigen Sorte, denn plötzlich mussten sie gähnen und blinzeln. Als Itiva dies sah, teilte sie sich, und je eine Hälfte von ihr legte sich zu einem von ihnen. Es war seltsam, aber überhaupt nicht unangenehm, erzählte mein Großvater, denn die beiden Mädchenhälften hatten alles, was Mädchen zu haben pflegen, und obwohl sie müde waren, schliefen sie in dieser Nacht nur wenig. Sie waren ja lange gereist und hatten fast vergessen, wie herrlich es ist, bei einer Frau zu liegen.«
»Konnte sie sich wirklich zweiteilen?«, fragte Arluk. »Wie machte sie das?«
»Keiner weiß es«, entgegnete Kajaka. »Es gibt so vieles, das wir Menschen nicht erklären können. Und das ist auch gut so. Wir wissen bloß, dass Itiva alt war, wie unsere frühen Vorväter in diesem Land, und darum Wissen über vieles besitzen musste. Hat man das, kann man jedwede Gestalt annehmen und sich zwei- oder dreiteilen, wie man will.«
Arluk nickte. »Was passierte dann, also, nachdem sie sich vergnügt hatten?«
»Ja, als sie bei Itiva gelegen und viel Vergnügen gehabt hatten, fielen sie sofort in den Schlaf. Und beide hatten ihren Traum, aber nur der meines Großvaters ist bekannt. Er träumte von Tewee-soo, die im Traum jung und schön war, obgleich sie nicht wie eine Inuit-Frau war. Ihr Haar war lang und schwarz. Es war zu einem dicken Zopf geflochten, der auf ihrem Rücken lag. Um den Kopf trug sie ein breites, rotes Stirnband, das mit einem Muster aus kleinen Fellstücken verziert war, das wir nicht kennen. Ihr Körper war rank und schlank, sie war größer als unsere Frauen. Ihre Augen waren groß, aber ganz ohne die hinreißenden Fettpolster, die unsere Frauen so schön machen. Sie redete, und so waren ihre Worte, an die mein Großvater sich erinnerte: ›Man hat dich zur Grotte geführt, weil man dir eine Erklärung geben will. Wenn du von hier abreist, sollst du stets wissen, was du erlebt hast. Und du sollst darüber berichten, genauso wie es war, ohne etwas dazuzutun oder etwas wegzulassen. Wahrheitsgetreu sollst du den Menschen vom Zusammentreffen mit uns berichten, weil wir wollen, dass die Vergangenheit mit euch lebt. Wenn du zur Siedlung zurückfährst, sollst du deinen Mitbewohnern sagen, dass sie aufbrechen und in die südlichen Länder reisen sollen. Diejenigen, die von meinem Blut sind, sollen stets die große Unruhe in sich spüren. Und einer von euch soll alle schönen Länder dieser Erde durchreisen. Auf der Rückseite dieser Welt soll er auf die Verwandten stoßen, die nach Norden zogen zu meiner Zeit. So will ich es.‹ Mehr sagte sie nicht.
Mein Großvater erwachte am nächsten Morgen am Eingang der Grotte. Der lange Gang, der zu Tewee-soo geführt hatte, war verschwunden, und er begriff, dass sich die Frau wieder eingeschlossen hatte. Ulajuk lag in seinen Fellen, während Angussaq die Grotte untersuchte, und mein Großvater ließ ihn liegen, weil es ein Unding war, einen schlafenden Menschen zu wecken. Aber als Ulajuk den ganzen Tag liegen blieb, beugte sich Angussaq über ihn und horchte auf seine Atemzüge. Es lag ein kleines Lächeln um Ulajuks Mund, aber kein Atem war zu spüren, weder aus dem Mund noch aus der Nase. Seine Seele war verschwunden, und Angussaq blieb beim Körper einige Tage, um zu sehen, ob sie zurückkehrte. Aber sie kam nicht.
Er begrub Ulajuk in der Grotte und häufte Steine vor dem kleinen Eingang auf. Und dann reiste er zurück zur Siedlung und erzählte genau, was er erlebt hatte, so wie ich es euch jetzt erzählt habe.« Kajaka zog den Jungen etwas an sich. »Es wäre gut, wenn ihr nie vergesst, was ich gerade erzählt habe. Vielleicht bist du derjenige, der alle Länder bereisen und die Verwandten finden soll, die nach Norden zogen.« Er seufzte. »Man selbst reiste zu wenig, weil man das Land, das man von Sardlia aus sieht, zu sehr liebte. Es war mir nicht bestimmt, die Länder der Welt zu erleben. Aber du sollst aufbrechen und unsere Verwandten finden, wenn ich nicht mehr da bin.«
Arluk lag lange und grübelte über Kajakas Worte. Er verstand nicht, dass er weit herumreisen sollte, denn er kannte sehr wohl seine Untauglichkeit als Fänger. Außerdem war er nicht sonderlich kräftig und überhaupt nicht mutig. Dass ausgerechnet er ausersehen sein sollte, eine so abenteuerliche Reise zu unternehmen, erschien ihm unbegreiflich.
Eines Tages hörte Kajaka auf, zu den Kindern zu sprechen; er war tot. Arluk war untröstlich. Er blieb dicht an dem alten Mann liegen, streichelte seine kalten Hände und bat ihn, zurückzukommen. Isserfik, die wusste, dass der tote Körper so schnell wie möglich begraben werden musste, damit die Seele Frieden fand, stand auf und entfernte den Fensterrahmen mit der Darmhaut. Keine Leiche durfte durch den Hausgang ins Freie gebracht werden. Mit großer Mühe schafften sie und der weinende Arluk es, den schweren Körper durch die Fensteröffnung hinauszuheben. Sie legten ein Fell unter den schon steifen Körper und zogen ihn vom Haus zu einer schneefreien Fläche am Strand. Hier brachen sie Steine aus dem gefrorenen Boden und häuften sie über die Leiche. Es wurde ein klägliches Grab, denn keiner der beiden besaß die Kraft, größere Steine heranzuschleppen. Obgleich Kajaka wohlgelitten und viele Jahre lang Geisterbeschwörer der Siedlung war und deshalb eine bessere Steinbestattung verdient hätte, gab es keinen, der den Kindern half. Man hatte keine Lust, eine Leiche anzufassen, da die Berührung unrein machte und verlangte, dass man danach lästige Regeln einhielt.
Die Steinbestattung erwies sich als zu schwach. In derselben Nacht schlich sich ein Wolfsrudel, das sich in den Bergen über Kullorssuaq aufhielt, hinunter an den Strand und zerrte die Leiche aus dem Grab. Ein Mann namens Usukutoq hatte dies erwartet. Er lag hinter einem niedrigen Eiswall, als die Wölfe anfingen, Kajakas toten Körper zu fressen, und es glückte ihm, einige große Welpen zu erlegen, bevor das Rudel flüchtete. Er behielt jedoch das meiste Fleisch für sich, und da er ein berüchtigter Totschläger war, protestierte niemand. Nur einen Wolfskopf warf er durch Kajakas Hausgang hinein zu den Kindern, die sich mit Heißhunger darüber hermachten. So bewirkte Kajaka doch einen kleinen Nutzen mit seinem Tod.
Drei Tage lagen Isserfik und Arluk allein im Haus. Keiner besuchte sie, solange sie unrein waren. Aber am vierten Tag kam Usukutoq zurück. Er zog das Fell, das vor dem Eingang hing, weg, sodass ein schwaches, graues Licht ins Haus fiel. Bevor sich die Kinder von der Pritsche erheben konnten, zog er Isserfik aus ihren Schlaffellen. Er war wie besessen und brüllte wie ein Tier, als er sie über den Fußboden zog. Arluk sprang auf und ergriff Kajakas große Harpune. Er schlug so hart er konnte über Usukutoqs Rücken, aber es war, als bemerkte der große Mann die Schläge überhaupt nicht. Er trat nach hinten aus und traf Arluk so hart auf der Brust, dass dieser japsend hintenüberfiel und bewusstlos liegen blieb. Dann fassten seine kräftigen Finger in Isserfiks Haar, und er schleppte sie aus dem Haus, soviel sie auch schrie.
Alle konnten die Entführung sehen. Und die meisten in der Siedlung sahen auch, wie er das Mädchen brutal durch den Schnee schleifte und in den Hausgang seines Hauses stieß. Drinnen im Haus ließ er seine Frau frisches Wolfsfleisch servieren, aber es war Isserfik unmöglich, einen Bissen hinunterzubekommen, so hungrig sie auch war. Sie stand an der Pritsche und starrte Usukutoq entsetzt an. Er war nicht besonders groß, wirkte aber so, weil er enorme Schultern und einen gewaltigen Brustkasten besaß. Seine Arme waren lang, und er hatte die Angewohnheit, seine kräftigen Hände ständig zur Faust zu ballen und wieder zu öffnen, wenn er erregt war. Sein Gesicht war breit, der Kopf saß auf einem ganz kurzen Hals, der fast schon zu den Schultern gehörte. Fünf tätowierte Punkte gaben zu erkennen, dass er fünf Menschen ermordet hatte.
»Iss«, befahl er, und sie führte das Fleisch zum Mund und nahm einen Bissen. Aber die Angst verleidete ihr das Fleisch, sie konnte es nicht hinunterschlucken.
Als Usukutoq gegessen hatte, knetete er kräftig seinen Bauch, bis er rülpste. Dann stand er auf und jagte Frau und Kinder hinaus. Er kroch auf die Pritsche, wo Isserfik saß, und warf sie auf die Felle, und dann tat er ihr Gewalt an, ohne sich um ihr Schreien und Jammern zu kümmern, das in der ganzen Siedlung zu hören war.
Keiner wagte einzugreifen. Es handelte sich trotz allem nur um ein elternloses Mädchen. Wenn Usukutoq sie ins Haus nahm, würde sie nicht länger eine Last für die Gemeinschaft sein. Zudem war es nicht ungewöhnlich, dass ein älterer Mann nach einer jungen Frau verlangte. Und auch das war bekannt, dass ein wohlerzogenes Mädchen schrie und Widerstand leistete, wenn es entführt wurde.
Auch Arluk hörte die Schreie seiner Schwester. Er legte sich auf die Pritsche und vergrub seinen Kopf in den Fellen und weinte verzweifelt.
Wegen der Verletzungen, die Usukutoq Isserfik zufügte, weil er mit ihr geschlafen hatte, war sie mehrere Tage lang im Unterkörper gelähmt. Sie, die vorher voller Lachen und Lebensfreude gewesen war, wurde stumm und verschlossen und war völlig außerstande zu arbeiten. Sie lernte schnell, sich Usukutoq zu öffnen, wenn er nach ihr verlangte, aber wegen ihrer schlechten Stimmung und der gelähmten Beine hatte er nur wenig Freude an ihr. Usukutoq, der ab und zu Freundlichkeit aufbringen konnte, holte Arluk, weil er meinte, er könnte Isserfik aufmuntern. Als Arluk seine Schwester sah, wurde ihm schwindelig, und erst später wurde ihm bewusst, dass dieses Schwindelgefühl Wut gewesen war.
Das Wolfsfleisch hatte Usukutoq Kraft gegeben, und er ging wieder auf Fang. Es kam vor, dass er einen Fuchs brachte oder einige Schneehühner, und an einem Tag fing er die erste Robbe des Jahres. Das Licht war nun zurückgekommen: zunächst als ein schmales, rosafarbenes Band im Süden, das Tag für Tag höher und breiter wurde und schließlich den ganzen südlichen Himmel ausfüllte. Eines Tages fielen die ersten Sonnenstrahlen auf die Häuser, und an diesem Tag machte die Siedlung einen Großfang.
Arluk war auf dem Weg zu dem Eisberg, aus dem man Eis für den Wassereimer hackte, als er einen Bären sichtete. Es war ein altes Männchen mit gelbem Pelz und großem, magerem Körper. Rasch lief er zurück zum Strand, und als er bei den Häusern war, schrie er aufgeregt: »Nanoq, Nanoq! Eisbär!«