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Kälte und Einsamkeit im Polarwinter sind nicht leicht auszuhalten. Aber zum Glück ist da Herr Joensen, der die Kunst des Tätowierens beherrscht. Während eines langen Winters lassen sich Valfred, Fjordur, Lasselille, der Graf, und viele andere ihre Sehnsüchte unter die Haut malen. Wenn dann ein paar Wochen nach Neujahr die Sonne erstmals am Horizont wieder sichtbar wird, hat manch ein Jäger und Fänger das Bedürfnis, die Hunde vorzuspannen und dem glühenden roten Ball nachzujagen. Sie erteilen außerdem einem Leutnant eine Lektion fürs Leben, nachdem sie die Lust am Exerzieren verloren haben, feiern ein würdiges Totenmahl, bei dem beinahe der Falsche die letzte Reise antritt, und erfahren am eigenen Leib, wann die Liebe einer Schlange ein Ende hat.
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2015
Kälte und Einsamkeit im Polarwinter sind nicht leicht auszuhalten. Aber die Jäger und Fänger finden schon einen Zeitvertreib. Sie erteilen einem Leutnant eine Lektion fürs Leben, feiern ein würdiges Totenmahl, bei dem beinahe der Falsche die letzte Reise antritt, und erfahren am eigenen Leib, wann die Liebe einer Schlange ein Ende hat.
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Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien.
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Jørn Riel
Zu viel Glück auf einmal
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien in zwei Bänden unter den Titeln Den kolde jomfru og andre skrøner und Helvedespræsten og andre skrøner 1974 und 1977 in Kopenhagen.
Originaltitel: Den kolde jomfru og andre skrøner / Helvedespræsten og andre skrøner (1974 und 1977)
© by Lindhardt & Ringhof Publishers, Copenhagen
Published by agreement with Leonhardt & Høier Literary Agency, Copenhagen
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Galen Rowell/Corbis
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30443-7
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
ZU VIEL GLÜCK AUF EINMAL
SüdostAlexanderZu viel Glück auf einmalBjørken und die WeltgeschichteDer TätowiererWie der Leutnant gezähmt wurdeEin feierliches BegräbnisEine absolute BedingungDas SchweinEine gut erhaltene LeicheDer Hund, der verstummteEl dedo del diabloDer kleine PedersenEine literarische GeschichteDer FlohDer HöllenpredigerMehr über dieses Buch
Über Jørn Riel
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Jørn Riel: »Zwei Pferde, die gemeinsam eine Kutsche ziehen«
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Die dunkle Zeit hatte Anton nichts ausgemacht. Der Übergang vom Hellen ins Dunkle war fast so etwas wie ein Segen gewesen, meinte er. Jegliches Tempo wurde im Takt mit dem schwindenden Licht vermindert, und die Zeit vor Weihnachten war eine Zeit der Ruhe mit kurzen Fahrten zu den Fallen und langen, gemütlichen Abenden mit Valfred in der Hütte.
Als es jedoch im Süden rötlich zu leuchten begann, geschah es auch das erste Mal, dass er ein wenig wunderlich wurde. Das blasse Mittagslicht machte ihn unruhig, er wurde von vielen Gedanken bedrängt. Er behielt sie aber für sich, denn Valfred war schon ein rechtes Rindvieh, der mit solchen Dingen nichts anzufangen wusste. Es waren warme und erhebende Gedanken, aber seltsam genug, machten sie ihn stumm und deprimiert. Er ließ sich leicht durch Kleinigkeiten aus der Fassung bringen, fluchte erbärmlich, wenn die Fallen vom Schnee zugeweht waren, schrie hysterisch die Hunde an und reagierte aufgeregt auf die Raben, die dem Schlitten hinterherflogen, um die Exkremente der Hunde zu fressen. Nachdem Anton zum ersten Mal die roten, sonnenbeschienenen Wolken im Süden erblickt hatte, war alles geradezu wie verhext, schlimmer konnte es nicht sein.
Das neue Jahr war gerade einige Wochen alt, als er zum ersten Mal die Hunde vorspannte und gen Süden jagte, um die Sonne einzufangen. Aber er kam nicht weiter als bis zur Ruther-Insel, als das Licht verschwand. Als er zurückfuhr, war sein Kopf voller Gedanken. Weinen stieg in ihm auf, und Anton war nicht jemand, der es zurückdrängte: Die Tränen liefen durch den Bart und fielen als kleine klare Perlen aufs Eis hinunter. Anton dachte an die Sonne und an alles, worauf sie jetzt schien. Am meisten dachte er an Frauen, denn Anton war ganz jung und auf diesem Gebiet nicht weiter bewandert.
Als er zur Fimbulhütte zurückkehrte, spannte er die Hunde aus und fütterte sie mit getrocknetem Fisch. Und dann ging er hinein und legte sich in seine Koje, starrte auf den Boden der oberen Koje und horchte mit zunehmender Gereiztheit auf Valfreds Schnarchen.
Valfred verstand ihn nicht. Denn Valfred war ein Ochse, der ausgezeichnet im Dunkeln gedieh. Er spürte keine Sehnsucht nach dem roten Licht im Süden. Wenn er nur essen und in Frieden schlafen durfte, war er glücklich. Im Grunde liebte Valfred die dunkle Zeit. Es war eine Zeit ohne belastende Verpflichtungen oder störende Anforderungen von außen. Es kamen keine Schiffe, es gab keine Tiere außer dem Fuchs, die unbedingt gefangen werden mussten, und es trafen nur spärlich Gäste ein. Hatte man Essen, Gesundheit und einen guten Schlaf, dann war die dunkle Zeit ganz nach seinem Geschmack.
Nur ein einziges Mal in seinem langen arktischen Leben hatte Valfred einer dunklen Zeit mit bangen Ahnungen entgegengesehen. Das war, als er in einem Winter gewisse Schwierigkeiten mit der Blase hatte. Ständig musste er aus seiner Koje heraus, um Wasser zu lassen, und der auf diese Weise allzu oft unterbrochene Schlaf bewirkte, dass er nervös und grantig wurde. Aber zum Glück hatte er in jenem Jahr einen erfindungsreichen Arbeitskollegen. Er hieß der Schwarze William und war ein Streuner aus Norwegen. William hat in der Höhe von Valfreds Koje ein Loch in die Wand gebohrt und den Dickdarm einer Mützenrobbe durchgeführt. Und auf diese Weise konnte Valfred sein Wasserwerk in den Dickdarm stecken und laufen lassen, wenn es sehr dringend wurde. So überstand er den Winter. William war ein prächtiger Arbeitskollege, der die tägliche Arbeit mit den Fallen übernahm. Außerdem konnte er ein ganz hervorragendes Rosinenbrot backen, das seinerzeit Mads Madsen in Kap Thompson veranlasst hatte, ihn von Valfred wegzulocken.
Valfred erwachte, als Anton die Tür zuwarf. Er beugte sich zur Hälfte aus der Koje und guckte hinunter.
»Du bist noch zu früh draußen, lieber Anton«, sagte er freundlich. »Sie geht nicht vor einem Monat wieder richtig auf. Dann kannst du sie draußen bei den kleinen Inseln sehen.«
Anton zuckte mit den Schultern. Er sagte nichts. Er war niedergeschlagen und reizbar und wusste, dass es in diesem Zustand das Klügste war, den Mund zu halten. Im Übrigen war Valfred zu dumm, seine Sehnsüchte zu begreifen. Valfred war eine große, dumme Schlafmütze, die sich nicht für seine Umwelt interessierte. Er ahnte nicht, dass es schönere und bessere Dinge im Leben gab als eine muffige Koje in einem kalten Holzschuppen.
»Hähä«, lachte Valfred leise. »Es lohnt sich nicht, der Sonne hinterherzulaufen, lieber Anton. Sie ist wie alle anderen Frauensleute, man kann nicht mit ihnen rechnen, hähä.« Er rieb sich die Augen und war fast ganz wach. »Ich kannte einmal einen Koch, der sich vergeblich abrackerte. Von ihm hättest du einiges lernen können, denn er war ein ausdauernder Kerl.« Er schwang seine Beine über den Kojenrand. »Er war ein richtig halbverrückter Bengel, sie nannten ihn Chinakoch. Aber er war ein mächtig feiner Mann, denn er spielte Mandoline, das kann ich dir aber sagen. Alle, die Mandoline spielen können, die haben etwas Feines an sich, meine ich. Wer Banjo und Mundharmonika spielt, ist so wie ich und der Schwarze William und Lodvig. Aber er, der Chinakoch, war ein richtig feiner kleiner Kerl. Er konnte hinter dem Nebenschuppen sitzen und vor sich hin klimpern, dass man sich schließlich fast um den Verstand geheult hätte.«
Valfred setzte sich auf und sprang auf den Fußboden. Anton starrte genau auf seine langen, grauschwarzen Unterhosen und legte sich zurück in seiner Koje, um diesem Anblick zu entgehen.
»Es wäre bestimmt nicht unklug, etwas Futter zusammenzurühren«, murmelte Valfred, »es ist schon so, dass man mit vollem Magen am besten schlummert. Möchtest du etwas haben, lieber Anton?«
Anton schüttelte den Kopf und antwortete mit Nein. Er verspürte keinen Appetit und wäre am liebsten ohne Valfreds Gesellschaft gewesen.
Valfred stellte den Kocher auf den Tisch und pumpte die Schale unterm Brenner voll mit Petroleum. Als er ihn anzündete, schlug eine Rußwolke bis unter die Decke, und kleine schwarze Flocken begannen, in der Stube herumzutreiben. Der Brenner wurde warm, und der Kocher brummte gutmütig. Valfred gab etwas Moschustalg in die Pfanne und säbelte einen Streifen von der Ochsenkeule ab, die vom Deckenbalken herunterhing.
»Hähä, ja. Dieser Chinakoch, er war ein Teufelsfänger, das kannst du glauben. Mit ihm hättest du überwintern müssen, lieber Anton. Ihr beiden hättet verdammt einen Stafettenlauf hinter Wind und Sonne her veranstalten können. Verstehst du, obgleich er Mandoline spielte und eine schreckliche Menge von Sachen erzählte, die man nicht kapierte, so war es doch gut, ihn in der Hütte um sich zu haben. Ein Fänger wurde er freilich nie, aber Essen kochen konnte der Bursche. Und das ist fast genauso wichtig wie Fangen. Er war irgendwo da draußen im Osten geboren worden, weil sein Vater etwas bei der Gesandtschaft gewesen war oder was weiß ich. Darum haben sie ihn Chinakoch genannt.«
Valfred wendete das Fleisch in der Pfanne. Er nahm eine Flasche aus dem Eisschrank und maß den Inhalt nach Fingerbreiten.
»Hm … das sieht wirklich ernst aus, Anton«, sagte er bekümmert. »Es sind nur noch drei Fingerbreit in der Flasche. Wir müssen wohl wieder brennen. Vielleicht kommt Bjørken zu Besuch, und dann ist der Teufel los, wenn wir nichts anzubieten haben.« Er drückte seinen dicken Zeigefinger auf das Fleisch. »Uh, das hier wäre genau etwas für den Chinakoch gewesen. Er kam auch mit dem zähesten alten Ochsenfleisch klar, das Messer ging einfach durch. Wie er das gemacht hat, darfst du mich nicht fragen.«
Er warf das Fleisch auf die Wachstuchdecke und löschte den Kocher.
»Joho, tüchtig war er, dieser Kerl. Aber dieser arme Bursche hatte auch seine Probleme. Ja, das kann man sagen. Zuerst hat er sich fast zu Tode gegrübelt darüber, wie die Robben im Winter unterm Eis die Atemlöcher finden. Das hat ihn sehr beschäftigt, den Chinakoch, denn es gab bestimmt keinen, der es wusste. Er ging so weit, dass er selbst unters Eis ging und Robbe spielte. Natürlich mit Seil um den Körper und Bambusrohr und allem. Es war verdammt spannend, beinahe ein bisschen wissenschaftlich, kann man sagen.«
Valfred ergriff das Fleisch mit zwei Fingern und begann es zu verzehren. »Es war im Übrigen zu dieser Jahreszeit, ich erinnere mich, denn als wir von zu Hause wegfuhren, war es so hell geworden, dass man den Unterschied bei den Hunden sehen konnte. Wir fuhren hinaus zur Mündung des Vela-Sundes, wo ein Eisberg lag mit etwas offenem Wasser um den Sockel herum. Der Chinakoch war ganz Feuer und Flamme. Er hatte Ölzeug angezogen und es an Händen und Füßen gut zugebunden, um sich einigermaßen trocken dort unten zu halten. Ich hatte, ums genau zu sagen, etwas Bedenken bei dem ganzen Vorhaben, aber man muss sich ja hin und wieder opfern, wenn der Kamerad dabei ist, einen Rappel zu bekommen.«
Langsam und sorgfältig kaute Valfred das Fleisch mit den drei Zähnen, die seine arktischen Jahre überlebt hatten. Es sah genauso aus, als käute er wieder. Er leckte die Finger ab und nahm einen fingerbreiten Schluck aus der Flasche.
»Ahhhhh … ja ja, du, Anton. Mit diesem Chinakoch war nicht so einfach klarzukommen. Er war empfindlich wie der wahre Satan und hatte auch noch eine lange Angelrute aus Bambus mitgebracht, in der sich passende Löcher befanden, sodass er durchpusten konnte.« Valfred genehmigte sich noch einen halben Fingerbreit aus der Flasche.
»Siehst du, draußen beim Eisloch hielt ich die Hunde ein paar hundert Meter von der Tauchstelle, zur Sicherheit. Man weiß nie, was sich die Viecher ausdenken, wenn sie einen zugebundenen Chinakoch im Wasser sehen. Wir tranken dann einige Schnäpse, um das Blut gleichsam in etwas schnellere Bewegung zu bringen, denn es war ein verdammt kalter Tag mit Eisnebel über dem Wasserloch. Und dann sprang der Chinakoch in den Zuber. Ich gab etwas Leine, und bald war er ganz im schwarzen Wasser verschwunden. Keine Blase stieg hinter ihm auf.«
Valfred rülpste ungeniert und guckte wieder betrübt auf die Flasche. »Hör, Anton, wir sollten besser morgen mit dem Brennen anfangen. Verdammte Mühe.« Er lehnte sich behaglich im Stuhl zurück und blinzelte schläfrig. »Weißt du, was dann passierte, lieber Anton? Nein, man kann wohl kaum verlangen, dass du es weißt. Ja, also, als ich einige Zeit dagestanden und ins Wasser gestarrt und mich gewundert hatte, wo der Chinakoch mit seinem Bambusstock Luft geholt hatte, da fingen die Hunde plötzlich an zu kläffen. Und diese Melodie war gut bekannt. Es war dieses hitzige Blaffen, das wirklich jeder Idiot so gut wie seine Muttersprache versteht. Ich drehte mich erschrocken um und sah, dass ich mich nicht geirrt hatte: Denn da, lieber Anton, kamen die Viecher zum Wasserloch gerannt, einem gewaltigen Bären auf den Fersen. Und wenn ich gewaltig sage, dann meine ich gewaltig. Den Bären hättest du sehen sollen. Der war so groß, dass man fast nicht alles auf einen Blick mitbekam. Wenn du zum Beispiel einen ganz normalen Bären nimmst, wie ihn Herbert im letzten Herbst geschossen hat, vielleicht hier und da ein etwas gelberes Fell, und ihn noch mit drei malnimmst, dann hast du ungefähr die Größe. Ein Teufelskerl, wenn ich ehrlich bin. Und was habe ich gemacht? Hähä, ja, das fragt man sich schon. Hier stand ich mit dem Chinakoch an der Leine, und da kommt ein hungriger Bärenteufel mit elf Hunden am Hintern. Ein vertracktes Durcheinander!«
Valfred schloss die Augen und verfiel in Gedanken. Als sein Kinn die Brust berührte, erwachte er ruckartig.
»Dieser Bär damals«, fuhr er fort, »das war ein verdrießlicher Kamerad, der keinen Winterschlaf hielt. Und diese Burschen, mein Junge, haben einen Heißhunger auf alles, selbst auf ältliche Fänger, hähä. Diesen Bären geht es genauso wie uns Menschen, glaube ich. Wenn ich den Winter nicht verschlafen kann, bin ich auch mürrisch und schwer zu ertragen. Es ist wohl das Schlimmste, was einem hier oben zustoßen kann, Tieren und Menschen, wenn sie über Winter nicht schlafen können.«
Er nahm die Flasche und rollte sie zwischen den Handflächen. »Na ja, es blieb ja nicht so schrecklich viel Zeit, um etwas zu planen. Ich klemmte das Seil zum Chinakoch zwischen einigen Eisschollen fest und warf mich zur Seite. Und das hatte der Bär wohl nicht erwartet. Oder vielleicht wurde er auch durch die Hundeviecher abgelenkt, die ihm auf den Fersen waren. Er machte einen gewaltigen Sprung und fiel genau dort zu Boden, wo ich gestanden hatte, aber er vergaß einfach, die Bremse anzuziehen, hähä. Er rutschte genauso schön ins Eisloch hinein wie der Chinakoch, sage ich dir. Die Hunde zerstreuten sich, so gut sie es mit den Leinen konnten, und einige sausten ins Wasser, wo sie herumpaddelten und von ihrem Gegner angeknurrt wurden.
Während ich die Büchse auf den Schlittenwangen postierte und eine Patrone ins Schloss einlegte, dachte ich etwas wehmütig an den Chinakoch. Selbst wenn er jetzt vielleicht herausgefunden hatte, wie die Robben die Atemlöcher finden, so war doch die Wahrscheinlichkeit gering, dass er es jemandem erzählen konnte.
Der Bär bekam mit der Stahlkappe eins hinter die Ohren und begab sich in den Winterschlaf. Ich dachte ein bisschen darüber nach, wen ich vielleicht zuerst bergen sollte, den Bären oder den Chinakoch, aber da ja sonnenklar war, dass der Chinakoch längst diese Welt verlassen hatte und nun da unten lag mit Wasser in den Kaldaunen, da meinte ich, es wäre am sichersten, all das schöne Fleisch zuerst zu bergen. Also spannte ich die Köter vor den Petz und zog ihn aufs Trockene. Was für ein Bär, Anton. Du hättest ihn sehen sollen. Einer von den Bären, die immer wieder Rückenschmerzen verursachen, wenn man daran denkt, wie schwer er war.«
Valfred versank aufs Neue in Erinnerungen. Er fuhr jedoch fort, bevor er wieder einschlief.
»Die Hunde bekamen die Pfoten unter die Halsbänder, damit sie sich nicht am Fleisch vergreifen konnten, und dann zog ich den Chinakoch aus dem Eisloch. Das tat ich mit schwerem Herzen, du verstehst es sicher, denn er war ein feiner Mann und eine angenehme Gesellschaft.« Valfred lächelte. »Hähä, aber das kannst du glauben, dass das schwere Herz einen gewaltigen Hopser tat, als er auftauchte. Er war putzmunter, kann ich dir sagen, tauchte und schrie. Als er auf dem Eis lag, mit dem Nacken auf dem warmen Bauch des Bären, versuchte er, mir alles zu erzählen, was da drunten im Wasser passiert war. Aber seine Zähne klapperten dermaßen, dass ich kein einziges Wort verstand. Ich hielt es für angeraten, ihm das Gebiss herauszunehmen und in die Tasche zu stecken. Es kann nämlich gefährlich werden, wenn ein Mann seine Zähne nicht in der Gewalt hat, weißt du.«
Mit einem leichten Kopfschütteln blickte Valfred zu seinem jungen Arbeitskameraden hin. Anton lag da und starrte zur oberen Koje hinauf und gab durch nichts zu erkennen, dass er Valfred zugehört hatte.
»Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen dir und dem Chinakoch«, sagte Valfred. »Denn er war trotz allem ein zäher kleiner Bursche, der nicht so ohne weiteres aufgab. Als wir in der Hütte saßen und Bärenfleisch aßen, erzählte er mir eine ganze Menge über schwarze Flecken unter dem Eis und von Strömung und was weiß ich. Und das Bambusrohr – Mann, das hatte er ganz einfach durch ein altes Atemloch nach oben gestochert und so während der ganzen Bärenjagd Luft geholt.«
Mit dem Daumen drückte Valfred den Korken aus der Flasche und trank die Hälfte des letzten Fingerbreits.
»Ein seltsamer Mann, das war er schon«, sagte er. »Ein Mann mit vielen Ideen. Da gab es die Sache mit den Damen, bei denen er sich nicht so richtig auskannte. Und das machte ihn so schrecklich melancholisch, dass er nichts über diese Sache wusste. Genauso wie du, lieber Anton. Du glaubst, die verstecken sich in der Sonne, was? Aber das ist gelogen, mein Freund. Das ist genau das, was ich immer gesagt habe: Bevor ihr hierher kommt, müsst ihr verdammt erst einmal auf einen Studienbesuch in ein ordentliches Freudenhaus. Guck mal, wie es dem Chinakoch ergangen ist. Mit der Zeit wurde es immer schlimmer mit ihm. Er saß nur da und klimperte auf seiner Mandoline und bearbeitete sie so, dass man kaum schlafen konnte. Und das, was mit ihm los war –, er hat nichts von dem bekommen, du weißt schon, und ich glaube, er hat es auch nie bekommen. Wenn man sich aber in dieser Sache auskennt, kann man so etwas leicht entbehren. Dann ist ein Gläschen Branntwein verdammt genauso angenehm. Aber so ein Bursche, der fantasiert herum und denkt sich eine Menge aus.«
Valfred stellte den Petroleumkocher weg. Er kramte ein wenig im Küchenschrank und fand eine Dose Sardinen. »Das hier ist etwas, das den Magen in Ordnung hält«, sagte er und stach zwei Löcher in die Dose. Die Augen auf die rußige Decke gerichtet, saugte er das Öl aus.
»Da gab es einen Tag«, fuhr er fort, »an dem es mit dem Kerl ganz verrückt war. Er nahm seine Mandoline und knallte sie auf den Herd. Pling! Plang! machte es, und für den Rest des Winters war es mit der Musik vorbei. Aber es war ja seine Sache, ich hatte mich nicht einzumischen. Aber so war es nun, er begann zu heulen wie ein mondsüchtiger Fuchs, und diese Musik mochte ich nicht. ›Zum Teufel‹, sagte ich mir, ›jetzt haben wir den Koller.‹ Ich drückte ihn auf einen Stuhl und sprach mit ihm, wie man mit einer Hündin spricht, die ihre Welpen nicht richtig zur Welt bringen kann, du weißt, so ein bisschen beruhigend. ›Was soll ich machen›, heulte er. ›Was soll ich machen, Valfred?‹ Und so ging es am laufenden Band.
Und was zum Teufel macht man, wenn man einige tausend Kilometer vom nächsten Frauenzimmer sitzt? Ich klopfte dem Kerl auf die Schulter und sagte, dass wir das bald geregelt haben würden. ›Du musst die Hose ausziehen‹, sagte ich, ›und dann musst du dich genau nach Südosten aufmachen, das Beste, was ich dir raten kann.‹ Das sagte ich ihm, Anton, und ich habe es ihm immer wieder gesagt, bis ich dann merkte, dass es bei ihm angekommen war. Denn es war das einzige Mittel, das ich kenne, das bei dieser Sache hilft. ›Auf nach Südosten‹, sagte ich, ›du bist ein Teufelskerl, wenn du zurückkommst.‹«
Valfred leerte die Flasche. »Wir müssen diesen Mist bestimmt noch einmal zusätzlich brennen«, sagte er. »Dieses Fuselgesöff können wir unseren Gästen nicht anbieten.« Er ließ den letzten kleinen Schluck über seinen harten Gaumen rieseln und seufzte selig.
»Ja, ja, lieber Anton. So kann es gehen. Einige müssen nach Südosten, andere versuchen, die Sonne zu fangen. Und wir, wir können ein bisschen aus der Flasche genießen. Wenn es nur hilft, kann es sicher auch egal sein, wonach man greift. Der Chinakoch bekam jedenfalls sein Rezept, und er verstand es auch anzuwenden. Er ließ die langen Wollunterhosen fallen und sprang zur Tür hinaus. An diesem Tag blies ein kleiner, warmer Südostwind, und als er ihn fühlte, kann es gut sein, dass er Tempo machte. Hinunter durchs Tal, über den Hundefluss und hinauf zum Fimbulberg, so gings, so schnell, dass ich ihm im Halbdunkel gar nicht folgen konnte.«
Nachdem er sein Messer sorgfältig an der Unterhose abgewischt hatte, stellte Valfred die Sardinendose zu späterem Gebrauch zurück und blies den Ruß vom Brenner des Petroleumkochers.
»Hähä, wie er lief. Er sauste davon, um das Teufelszeug aus dem Körper zu treiben. Und als er zurückkehrte, Anton, da war er so gut wie neu. Ich reparierte die Mandoline, und wenn sie auch nie wieder ihren feinen, spröden Ton hatte, so bekamen wir doch eine erträgliche Musik für den Rest der dunklen Zeit.«
Valfred streckte sich und guckte schläfrig aus dem Fenster. »Nein, dunkel, verdammt dunkel ist es draußen. Davon kann man schon deprimiert werden, wenn man kein guter Schläfer ist. Man wird ganz rappelig im Kopf, wenn man da hinaussieht.« Er drehte sich um und schlurfte zur Koje.
»Und geblasen hat es sicher den ganzen Tag, ein kleiner, flotter Südostwind, Anton.« Er seufzte. »Ja ja, es ist etwas Kluges, wenn man sein Bettgestell wieder umarmt und sich für ein paar Stunden für die Schönheit aufs Ohr legt.« Und er kroch zurück in seine Koje und legte sich unter einigen befreienden Seufzern hin. Er war fast eingeschlafen, als er die Koje seines Arbeitskameraden knacken hörte. Als er hinunterschaute, konnte er erkennen, dass Anton damit beschäftigt war, seine Hose auszuziehen.
Valfred hatte gerade eine Viertelstunde geschlafen, als Anton zurückkam. Es war ein schweigsamer und gequälter Anton, der wieder in seine Hose stieg und ins Bett kroch. Er atmete schwer und starrte verloren auf den Boden von Valfreds Koje.
»Na, hmm«, brummte Valfred, »hat es geholfen?«
»Es … jetzt ist Windstille«, entgegnete Anton mit tränenerstickter Stimme.
Valfred drehte sich auf die Seite. »So sind die Frauen, lieber Anton, man kann nicht mit ihnen rechnen.« Er schmatzte einige Male vor Wohlbehagen. »Ein verdammtes Theater.«
Herbert dachte oft an Alexander. Er konnte stundenlang dasitzen und über dessen Verlust brüten und eine schwer lastende Einsamkeit verspüren. Am schlimmsten war es, wenn die großen Winterstürme ihn in der Hütte gefangen hielten. Dann saß er da und lauschte dem unheimlichen Heulen im Giebel und erinnerte sich an die vielen guten Stunden, die er und Alexander zusammen verbracht hatten. Er sehnte sich fast verzweifelt nach dem Kameraden.
Alexander erschien an einem warmen Augusttag in Herberts Leben. Er verließ es in einer eiskalten Vormittagsstunde im Februar. Die beiden hatten zusammen ein halbes Jahr lang auf der Guess-Grave-Station gelebt, bevor sie sich trennten. Und das war an und für sich schon ungewöhnlich. Denn Herbert hatte es noch nie eine so lange Zeit mit einem Arbeitskameraden ausgehalten. Entweder hatte der Betreffende Herbert satt, dessen Seelenleben kompliziert war und recht ermüdend, wenn man es Tag für Tag unter die Nase gerieben bekam, oder aber er war wegen der Hütte weggezogen – sie war wie ein Blasebalg, und der Bezirk Guess Grave war einer der wildärmsten an der Küste.
Die Station war alt und schlicht gehalten. Dies war eine Tatsache, die alle kannten. Wenn es aus Nordwesten blies, musste Herbert Schirme aus Keksdosen um die Stearinlichter setzen, damit sie nicht ausgeblasen wurden. Und wenn der Wind auch noch Schnee mit sich führte, war er genötigt, den Fußboden von Schneeverwehungen freizuschaufeln, und das mehrmals am Tage.
Aber Herbert liebte Guess Grave. Denn er war ein romantischer Mann mit der Seele eines Künstlers. Er sah, wofür die anderen Fänger kein Auge hatten, und er erfreute sich an kleinen Dingen, die die Jäger an der Küste als gegeben hinnahmen und deshalb auch meist gar nicht mehr bemerkten.
Guess Grave hatte eine schöne Lage. Es war ganz außer Zweifel, dass es die am schönsten gelegene Station an der Küste war. Sie befand sich an der Mündung des Silberfjords, in einer kleinen Niederung hinter einem breiten Bach. Aus dem Fenster hatte man die herrlichste Aussicht zum Fjord. Man konnte über das eisbedeckte Meer bis zu einem überhängenden Felsen sehen, Svenssons Buckel genannt, der nach Norden verlief und vor dem vorherrschenden Wind abschirmte.
Viele Jahre hatte Herbert hier allein gelebt. Einige Male hatte er Arbeitskameraden gehabt, aber diese waren, wie schon erwähnt, schnell wieder verschwunden – zu besseren Jagdgründen und weniger gesprächigen Kameraden. Aber dann geschah es, dass er Alexander bekam: Einen hübschen italienischen Hahn mit dickem, feuerrotem Kamm, zwei wippenden Schwanzfedern und orangefarbenen Ringen um die Augen.
Man hatte Alexander mit dem Robbenfänger Veslemari in die Arktis gebracht. Er sollte als Stimulator zum Eierlegen auf der Reise nach Ostgrönland dienen und auf der Reise zurück nach Norwegen in die Suppenschüssel wandern. Aber es sollte anders kommen.
Denn als Herbert in einem gewaltigen Rausch aus Skipper Olsens Kajüte wankte, in der Absicht, zu seiner Hütte zurückzurudern, fiel er über Alexanders Käfig, der ganz vorn auf der Back stand. Herbert guckte überrascht auf den Hahn, dieser gluckte genauso überrascht.
»Ach so, du willst reden, lieber Freund«, nickte Herbert. Er stieß etwas nach Whisky auf und setzte sich vor den Käfig. »Dann bist du, Gott seis geklagt, auch der Einzige hier an Bord, der dazu in der Lage ist«, hickste er. »Alle diese Bollwerksmatrosen da unten sind schon längst umgefallen.«
Alexander hielt den Kopf schräg und fixierte Herbert scharf. Dann gluckerte er wieder freundlich.
»Na ja, von diesem Gerede begreift man nicht allzu viel«, räumte Herbert ein. Er schüttelte den Kopf, ließ es aber schnell sein, da ihm schwindelig wurde. Er steckte einen Finger durch den Hühnerdraht und kraulte den Hahn am Hals. »Du zeigst Haltung, kleiner Kerl, du heißt bestimmt Alexander. Man kann es dir beinahe ansehen, dass du Alexander heißt, jedenfalls hast du eine Menge Alexander an dir.« Herbert schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Er döste einen Augenblick ein, wurde aber ruckartig wieder wach, als der Hahn pflichtschuldig die Sonne anzukrähen begann.
»Hör mal, was ist das? Kennst du nicht die Uhr?« Herbert zog seine Taschenuhr hervor und betrachtete sie lange. Dann guckte er auf die Sonne, die im Norden stand, und nickte viel sagend. »Es ist bestimmt nicht so einfach, hier oben Hahn zu sein, das kann ich verstehen. Aber du tust deine Pflicht, Alexander, das muss man anerkennen. Du hast eine gute und treue Natur, das glaube ich.« Er blickte sich um. Dann brachte er seinen Kopf näher an den Käfig heran und flüsterte. »Es gefällt mir gar nicht, dass du in diesem dreckigen Käfig stehen musst. Das ist nichts für einen so feinen Hahn wie dich. Du bist falsch gelandet, Kamerad.« Er klinkte den Haken aus der Käfigtür. »Ich meine, du solltest mit mir nach Guess Grave kommen und in der Erde scharren und picken und mein kleiner Augapfel sein. Was meinst du?« Er öffnete die Käfigtür und nahm den Vogel heraus.
»Du bist ein seltener Hahn, das sieht man schon, ohne genau hinzusehen«, murmelte er. »Du sollst verdammt nochmal nicht dieser Truppe betrunkener Nordlandpferdchen dort unten serviert werden, kommt nicht infrage.« Herbert stopfte den Hahn unter seinen Anorak und schwankte zur Reling, wo seine Jolle vertäut lag. »Jetzt halt bloß die Klappe einen kleinen Augenblick, Kamerad, denn jetzt gehts mit dem alten Herbert nach Hause, dort auf Guess Grave wirst du etwas Einmaliges werden.«
Herbert ruderte Alexander an Land und brachte ihn in der leeren oberen Koje unter, die der Schwarze William einmal bei einem zweimonatigen Aufenthalt benutzt hatte. Das war, bevor er zu Mads Madsen nach Kap Thompson reiste.
Der Herbst verlief ganz normal. Alexander ging es prächtig. Er stolzierte vor dem Haus herum und gluckte und scharrte und hatte allmählich so viel Sonne, dass er morgens und abends krähen konnte. Natürlich vermisste er seine kleine Hühnerschar, aber er war ein vernünftiger Hahn, der schnell mit Herberts Gesellschaft zufrieden war. Er lauschte interessiert Herberts langen Darlegungen über alles Mögliche, und er lief hinter ihm her, wenn dieser draußen beschäftigt war, um nichts zu versäumen.
Und dann kam der Winter. Zuerst mit einigen kleinen Stürmen, bei denen Alexander verwundert auf der Kante seiner Koje saß und sich aufplusterte, um die Wärme zu halten. Sein dicker Kamm verblasste in der Kälte etwas, er fiel wahllos auf die eine oder andere Seite, ohne dass Alexander etwas daran ändern konnte. Aber er krähte immer noch, denn die Sonne stand weiterhin über dem Meer zur Freude und zum Segen für Mensch und Hahn.
Es begann kälter zu werden. Zuerst fror der Fjord zu, dann kam der Schnee, und danach war immer mehr Eis auf dem Meer, das allmählich zusammenfror. Herbert ging hinaus und stellte seine Fallen auf, denn jetzt begann seine geschäftige Zeit. Daher war Alexander oft allein zu Hause; doch dies machte ihm nicht so sehr viel aus. Eines Tages entdeckte Herbert, dass er schon etwas fetter geworden war.
»Das geht nicht«, schimpfte er. »Du kannst nicht einfach da oben auf dem Kojenrand sitzen und zunehmen. Bewegung muss man haben, mein lieber Alexander, wenn man in Form bleiben will.«
Und so verschaffte er Alexander Bewegung. Herbert flocht ein Halsband aus Angelleinen und fing an, mit dem Vogel spazieren zu gehen. Sie gingen, Herbert und Alexander, um Svenssons Buckel herum, wanderten über die zugefrorenen Seen im Hochland, legten sich in das niedrige gefrorene Gebüsch ganz oben und schauten auf die Fangstation hinab. Abgesehen davon, dass es Alexander kräftig kalt um die nackten Füße war und dass Herbert ihn im Hinblick auf die Hunde, die jetzt von der Hundeinsel zurückgeholt worden waren, an der Leine führte, schienen diesem die Fußwanderungen gut zu gefallen. Wenn sie so auf den Felsen lagen und hinabschauten, war Herbert immer von dem schönen Blick berührt, und seine Gefühle übertrugen sich auf Alexander, der sich liebevoll an ihn schmiegte.
»Sieh das kleine Haus dort unten, Alexander«, konnte Herbert zu seinem gefiederten Freund sagen, »das ist unser Heim. Ist das nicht ein schöner Gedanke? Wir haben ein Heim. Nicht nur vier Wände mit einem Deckel darauf, nein, ein wirkliches Heim, das für unsere Gedanken und Gefühle und Sehnsüchte Raum bietet.« Solche Gespräche bildeten oft die Einleitung für eine gewaltige Vorlesung, eine Vorlesung, der zu lauschen Alexander liebte – eine dieser vielen Vorlesungen, die damals den Schwarzen William vertrieben hatten. Alexander gluckte heiser wegen seiner kalten Füße und steckte den Kopf in Herberts Anoraktasche, wo sich oft einige Brotstückchen fanden. Sie philosophierten gerne zusammen, die beiden.
»Also, dieser Schwarze William«, erklärte Herbert. »Er war ein Norweger, genauso wie du, Alexander, aber hier drinnen hatte er nicht viel.« Er zeigte auf seinen Kopf. »Nicht dass ich über einen Fortgelaufenen Böses reden will, aber du musst mir doch Recht geben, dass William eigentlich nicht nach Guess Grave gehörte. Es ist eine Station für empfindsame Gemüter. Hier müssen Leute wohnen, die über die Dinge nachdenken und ein Auge für all diese Herrlichkeiten haben. William fehlten vollkommen all diese stillen, frei wachsenden Gedanken, wie wir beiden sie entwickeln können.« Herbert zog eifrig an seiner Shagpfeife. »Aber, wie schon gesagt. Ich darf nicht schlecht über William reden. Er wusste es eben nicht besser, der Arme, und er besaß ja auch seine kleinen Fertigkeiten. Vor allem war er flink mit den Fellen, und außerdem backte er das herrlichste Rosinenbrot, das man sich denken kann. Schade, dass er sich selbst gegenüber solch ein Pfuscher war, innerlich sozusagen.«
Mit der Zeit verging der Winter, und an der Küste verbreitete sich das Gerücht, Herbert in Guess Grave überwintere mit einem Hahn. Das Gerücht war interessant und wurde überall gern erzählt. Man hatte schon von vielen besonderen Partnern gehört, und genauso viele hatte man selbst erlebt – aber ein Hahn, der Alexander hieß, das war schon einzigartig.
In Kap Thompson, wo Mads Madsen und der Schwarze William hausten, wurde man ein wenig nachdenklich. Wenn ein Mann allein mit seinen Eigenarten lebte, so war das eine Sache. Wenn er sie aber auf einen Hahn ausdehnte, so war das etwas ganz anderes. Und wenn er obendrein mit ihm an der Leine herumspazierte und ihn Alexander nannte, war dies genug Anlass für seine Freunde, einzugreifen. Der Schwarze William, der ja unter Guess Graves Dach gewohnt hatte, verspürte eine gewisse Verantwortung, und er schlug Mads Madsen vor, sie sollten hinfahren und sehen, wie schlimm es um Herbert stehe.
Sie fuhren vier Tage durch die dunkle Winternacht bei klirrendem Frost. Sie verkürzten ihren Weg übers Romdal, wo der Wind den Schnee hart und uneben wie ein Waschbrett geblasen hatte, und sie folgten den gefrorenen Flussbetten, bis sie einige hundert Meter hinter Herberts Haus ankamen.
Alexander war eine Enttäuschung. Er blieb auf dem Kojenrand sitzen und interessierte sich nicht im Geringsten für die Reisenden. Herbert dagegen hieß sie begeistert willkommen. Er ließ sie am langen Tisch Platz nehmen, kochte Kaffee und brachte holländischen Genever auf den Tisch. Er war aufrichtig froh über den Besuch. Als sie sich eine Zeit lang über Alltägliches unterhalten hatten, ging das Gespräch zu Alexander über. Der Schwarze William zeigte mit dem Daumen über die Schulter und fragte: »Was soll das da oben vorstellen?«
Herbert ließ Kandis herumgehen und schenkte Genever in den Kaffee. »Das ist Alexander«, sagte er, »eines der begabtesten Tiere, die mir begegnet sind.«
Der Schwarze William drehte sich auf seinem Stuhl herum, um den Vogel näher zu studieren. »Meiner Meinung nach sieht er etwas dümmlich aus«, sagte er, »jedenfalls wirkt er abgestumpft.«
»Haha, dümmlich und abgestumpft, wie?« Herbert lachte etwas angestrengt. »Man kann ja darüber diskutieren, wer hier in dieser Runde diese Eigenschaften hat.« Er blickte liebevoll hinauf zu seinem Schützling. »Alexander strahlt Intelligenz aus, mein lieber William, das sieht man sofort, wenn man nicht selber dümmlich und abgestumpft ist. Was sagst du, Mads Madsen?«
Mads Madsen sagte nichts, er saß da, die Nase dicht über der Kaffeetasse, und schnüffelte die starken Geneverdämpfe.
»Alexander da oben«, fuhr Herbert fort, »hat mehr Verstand als zehn von deiner Sorte, William. Er ist ein Denker, musst du wissen: Er sitzt da oben und grübelt und philosophiert, tage- und nächtelang. Und man kann nun wirklich nicht behaupten, dass du dies jemals getan hast.«
»Ich lag da oben, weil ich schlafen und nicht weil ich spekulieren wollte«, maulte William. Er sah ein, dass es schwer werden könnte, sich in einem Wortgefecht mit Herbert zu behaupten.
»Ja, genau. Du hast da oben gelegen und geschnarcht und gegähnt, dass man deine Polypen sehen konnte. Aber Alexander, der sitzt und denkt all die Dinge durch, von denen du nichts verstehst. Denn weißt du, was Alexander hat? Nein, das weißt du nicht, denn du weißt so gut wie nichts. Alexander hat innere Werte, Kamerad, und genau die fehlen dir.«
Der Schwarze William nahm dies hin, ohne eine Miene zu verziehen. Ihm war nicht an einer Diskussion mit Herbert gelegen, denn Herbert hatte eine Art, die Worte zu drehen und zu wenden, dass einem ganz schwindelig wurde; er konnte sie bis in die Unendlichkeit kneten. William versuchte, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. »Ein Hahn kann die dunkle Zeit nicht überstehen«, sagte er. »Weder das Genie da oben noch irgendein anderer Hahn. Er überlebt die dunkle Zeit nicht. Und ich an deiner Stelle, Herbert, würde dem Kerl den Hals umdrehen und Suppe aus ihm kochen, bevor er völlig ungenießbar ist. Solche alten Hähne, die trocknen aus, weißt du, und sie schmecken dann wie der reinste Hühnerdreck, wenn man sie nicht rechtzeitig isst. Stimmt es etwa nicht, Mads Madsen?«
Mads Madsen grunzte in sein Glas. Ein diplomatisches Grunzen, das sowohl Herbert als auch William zum eigenen Vorteil auslegten. Der Schwarze William fuhr fort. »Man kann ja deutlich sehen, dass ihm die Sonne fehlt. Genau das ist es, was mit ihm nicht stimmt. Wenn man einem Hahn die Sonne nimmt, siecht er dahin, genauso, wie wenn man einem Menschen die Arbeit nimmt.«
»Unsinn«, fertigte ihn Herbert ab. »Alexander befindet sich im Winterschlaf. Er hat sich auf den Winter eingerichtet, ihm fehlt es an gar nichts. Er gebraucht seine Tage vernünftig, denn er nimmt sich die Zeit, alles ordentlich zu durchdenken. Übrigens gibt es gewisse andere, die es genauso halten sollten.« Er blickte viel sagend auf William, aber der war eine ungehobelte und gleichgültige Person, die diese Art Andeutungen nicht verstand.
»Und außerdem ist das Gute an Alexander«, stichelte Herbert weiter, »dass er sich nirgends einmischt. Hier im Hause kann jeder so frei und lange reden, wie er Lust hat, und er geht auf Fang, wenn es ihm passt, und macht im Ganzen genommen das, was er für gut hält. Alexander und ich, wir kümmern uns nicht um die Angelegenheiten des anderen.«
»Er überlebt den Winter nicht«, protestierte William, und ungeachtet der Argumente, die Herbert im weiteren anführte, beharrte er fest auf seiner Meinung.
Der Besuch wurde kein Erfolg. Mads Madsen und der Schwarze William übernachteten nur einmal, was weit unter dem lag, was sonst für Gäste angebracht war. Sie verließen Guess Grave in der sicheren Überzeugung, dass es mit Herberts Verstand ein schlimmes Ende nehmen würde, wenn er sich nicht von dem Hahn trennte. Auf ihrem Weg nach Norden stießen sie auf Valfred und Anton, und William ging mit Anton eine Wette über den Hahn ein; dies wiederum veranlasste die Jäger von der Fimbulhütte, ihre Schlitten in Richtung Guess Grave zu wenden. Anton hatte fünfzehn Kronen verwettet und brannte darauf, den Hahn zu sehen, dessen Leben er so wagemutig verteidigt hatte.
Beim ersten Blick auf den Vogel hatte Anton das Gefühl, dass ihm das Geld zerrinne. Dieser Vogel würde Schwierigkeiten haben, bis zur Rückkehr der Sonne am Leben zu bleiben. Allmählich aber, nachdem Herbert Alexanders zahlreiche positiven Seiten herausgestellt hatte – die prachtvolle Haltung, den Kamm, der sich bei bestimmten Anlässen immer noch mit eigener Hilfe aufrichtete, die schönen orangefarbenen Ringe um die Augen – schöpfte Anton wieder Hoffnung für seine Wette.
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