Der Raub der Stammesmutter - Jørn Riel - E-Book

Der Raub der Stammesmutter E-Book

Jørn Riel

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Beschreibung

Um das Jahr 1000 n. Chr. machen sich die Inuit aus Kanada auf in ein unbekanntes Land: Grönland, das »Land der großen Erwartungen«. Von Generation zu Generation wird die Geschichte der abenteuerlichen Entdeckung des neuen Landes weitergegeben. Im ersten Buch der Grönland-Saga wird erzählt, wie die Stammesmutter Tewee-soo von den Inuit geraubt und wie ihr Mann Heq ein großer und mächtiger Schamane wird.

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über dieses Buch

Um das Jahr 1000 n. Chr. machen sich die Inuit aus Kanada auf in ein unbekanntes Land: Grönland, das »Land der großen Erwartungen«. Im ersten Buch der Grönland-Saga wird erzählt, wie die Stammesmutter Tewee-soo von den Inuit geraubt und wie ihr Mann Heq ein großer und mächtiger Schamane wird.

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Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Jørn Riel

Der Raub der Stammesmutter

Roman

Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel

Mit einer Übersichtskarte

Die Grönland-Saga I

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel Heq im Verlag Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.

Die deutsche Erstausgabe erschien in der Trilogie Gesang des Lebens. Die Grönland-Saga im Unionsverlag, Zürich.

Die Übersetzung aus dem Dänischen wurde unterstützt durch das Danish Arts Council Comitee for Literature.

Originaltitel: Heq

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30915-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 27.05.2024, 20:44h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DER RAUB DER STAMMESMUTTER

Vorwort — Der Polar-Inuit Simigaq erzähltQaerssormiunit 1983Übersichtskarte1 – Die langen, kristallklaren Tage des späten Herbstes waren …2 – Es geschah nach einem großen Schneefall, einige Zeit …3 – Shanuq war viel herumgereist. Ihre Beine hatten sie …4 – Die Kutchin griffen in der Nacht an. Tewee-soo …5 – Ein Mann und zwei kleine Mädchen erlagen den …6 – Sie nahmen neues Land und nannten den Ort …7 – Simutaq war weit umhergestreift, und sie trug ein …8 – Kurz nach den Tötungen beschlossen die Ältesten der …9 – Die Fährte des Bären, tief in die Erde …10 – Das Zusammentreffen mit den Netsilikmiut leitete ein völlig …11 – Wenn es auch nicht das Meer war …12 – Unter den Netsilikmiut war ein junger Mann …13 – Erster Tag. Stürme aus dem Norden bringen selten …14 – Zweiter Tag. Simutaq saß und betrachtete die Kinder …15 – Dritter Tag. Es schien, als würde der Sturm …16 – Vierter Tag. Keiner der zahlreichen Gäste in Inuttiaqs …WorterklärungenDank

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Vorwort

Der Polar-Inuit Simigaq erzählt

»Ach«, sagte sie, »diese Zaubergesänge waren so erbärmlich und unbedeutend, eine Häufung von kurzen, bedeutungslosen Wörtern. Aber was macht das schon? Wir Menschen verstehen nur wenig von all dem Großen, das uns begegnet, wenn wir in Gegenden kommen, in denen man allein ist mit der stummen, schweigenden Welt.« So war ihre Erklärung und Entschuldigung. Und während sie, ergriffen wie eine heidnische Priesterin, mit zahnlosem Mund ihre Lieder murmelte, lag ich neben ihr auf meinem Fell und lauschte. Hier ist der Gesang auf das Leben – für den, der leben möchte.

Der Tag erhebt sich

aus seinem Schlaf.

Der Tag erwacht

mit dem Morgenlicht.

Auch du musst dich erheben,

auch du musst erwachen

mit dem Tag, der anbricht.

So murmelte sie vor sich hin, flüsternd und weit weg in ihrer Ekstase, bis sich ihre Worte in mein Bewusstsein eingebrannt hatten.

Knud Rasmussen

Qaerssormiunit 1983

Viele Tage waren sie nun schon gewandert. Durch üppiges, eisfreies Weideland auf der Jagd nach Großwild. In weiter Ferne zeichnete sich ein dunkler, verheißungsvoller Streifen am Himmel ab, er kündigte ihnen an, dass es auch nach Osten hin eisfrei sein würde.

Die Älteren unter ihnen, die die öde, wilde Landschaft fürchteten, rieten zur Vorsicht. Sie hatten ihr ganzes Leben am Rand des Inlandeises verbracht und wollten am liebsten in die Gegenden zurück, die sie kannten und liebten. Aber die Jüngeren wollten nichts davon wissen. Die hatten die Fährte von Riesenbison und Mammut gesehen, Tieren, die schon vor langer Zeit aus dem alten Territorium des Stammes verschwunden waren, und eine große Jagdlust hatte sie ergriffen.

Eines Tages trennten sich die jüngeren Jäger von der Gruppe, die nur langsam vorankam, aufgehalten durch Lasten, Kinder und Alte. Unermüdlich verfolgten die Jäger die Fährte, die sich deutlich in dem struppigen, grünen Gras abzeichnete. Sie drangen rasch weiter in das unbekannte Land vor, jetzt, da sie von nichts anderem als dem langen Speer behindert wurden.

Eines frühen Morgens stießen sie auf das Wild. Sie sahen die Silhouetten der gewaltigen Mammuts im Gegenlicht der aufgehenden Sonne, und sie lächelten einander vor Freude zu und schwenkten ihre Speere gegen den funkelnden, blauen Himmel. Sie sahen auch das andere Wild, das in der Ebene graste, östlich der Landbrücke, die sie gerade passiert hatten. Sie waren glücklich, weil sie in ein gutes Land gekommen waren, in ein neues Land, das zwanzig Jahrtausende später Amerika genannt wurde.«

Ungefähr so mag sich die Entdeckung Amerikas zugetragen haben: die Jäger, die das Wild über die Landbrücke verfolgten, die vor mehr als zwanzigtausend Jahren Sibirien mit Alaska verband. Sie erreichten das Land, das man sehr viel später Beringia nannte, ein eisfreies, paradiesisches Gebiet, das zwischen den Eismassen der letzten Eiszeit eingeklemmt lag. Durch Zufall gelangten sie in einen neuen und unbekannten Teil der Welt – auf der Jagd nach Nahrung. Ein Land so groß, dass mehr als zwanzigtausend Jahre vergehen sollten, bis die Mondstiefel eines Amerikaners ihre Spur im Staub eines entsprechend großen Gebietes hinterließen und einen neuen Planeten in Besitz nahmen.

Die Landbrücke zwischen Asien und Amerika entstand durch eine Absenkung des Meeres um ungefähr hundert Meter, und da die Niederschläge in diesem Teil der Arktis gering waren, blieben die Landbrücke, Alaska und der nördliche Teil des heutigen Yukon von der Vereisung, die das übrige Kanada bedeckte, verschont. Dieses eisfreie Gebiet, Beringia, wurde zu einem Refugium für viele asiatische »Auswanderer«: Mammuts, Säbelzahntiger, Riesenbisons, Pferde, Moschusochsen, Bären und Wölfe. Und den Tieren folgten die Menschen. Diese prähistorischen Menschen ließen sich anfangs in den eisfreien Kesseln nieder, die nach Norden, Süden und Osten von enormen Eismassen umschlossen waren. Vor ungefähr zwölftausend Jahren öffnete sich ein eisfreier Korridor von Alaska entlang der Rocky Mountains bis zu den großen nordamerikanischen Seen. Seitdem zogen Tiere und Menschen südwärts in die Neue Welt, bis der Kontinent innerhalb von ein paar Jahrtausenden vom Nordpolbecken bis zur Südspitze Patagoniens besiedelt war.

Von den Nachkommen dieser frühen Amerikaner erzählt dieses Buch: von den arktischen Jägern, die vor rund tausend Jahren vom Mackenziefluss aufbrachen, dem Tor zur Hocharktis, das schon seit Jahrtausenden offen stand für alle, die nach Norden wollten. Wie ihre Vorväter folgten diese Jäger dem Wild durch unbekanntes Land, durch ein Land eisiger Kälte, gewaltiger Stürme und mit sechsmonatiger Dunkelheit. Bereits um 2500 v. Chr. waren die ersten Menschen nach Grönland gekommen, und um das Jahr 1000 wanderten erneut Inuit aus Alaska nach Grönland ein, widerstandsfähige Jäger, die den heutigen Smith Sound nördlich von Thule überquerten und so die größte Insel der Welt in Besitz nahmen. Kalaallit Nunaat nennen sie heute diesen nördlichsten Teil des amerikanischen Kontinents, der zuletzt bevölkert wurde: Land der Menschen.

Den Nachkommen dieser unbesiegbaren Jäger ist dieses Buch gewidmet.

Jørn Riel

Übersichtskarte

1

Die langen, kristallklaren Tage des späten Herbstes waren voller wohltuender Ruhe. Die aufregenden Rentierjagden waren vorbei, die Depots angelegt. Die Winterhäuser waren errichtet und warteten auf ihre Bewohner, und die Menschen gingen umher, als erwarteten sie etwas Besonderes.

Nach den vielen hellen Tagen senkte sich die Dunkelheit der Nacht wieder auf das Leben und schenkte herrliche Ruhe. Der Herbst, so schien es Shanuq, war wie ein dralles, junges Mädchen, das sich lächelnd darbot, voller Ruhe und Süße.

Aber dazwischen gab es Tage grauer Unwirklichkeit, und sie konnten ein wenig unheimlich sein: Das war, wenn der Winter sich mit dem Sommer um die Herrschaft stritt, ein Kampf, der wie Nebel vom Meer aufstieg, ein rieselndes Grau, dessen heiseres Flüstern von einer fremden Vorzeit erzählte. Dann war es einem sehenden Menschen möglich, das Land auszumachen, welches das Meer schon vor langer Zeit verschlungen hatte – das Land, das zur Zeit der Vorfahren ganz von Eis bedeckt war, außer einem breiten Saum von Felsen. Über diese Landbrücke, die die alte Welt mit einer neuen verbunden hatte, waren die frühen Menschen auf der Suche nach Jagdwild gezogen. Das war damals, als die ganz Alten jung waren und voll großer Reiselust.

Shanuq wusste das, denn sie war Sklavin beim Kutchin-Volk gewesen, das bestimmte Aufzeichnungen auf Birkenrinde aufbewahrte. Seltsame Striche, ganz ähnlich denen, die ihr Herr Shapokee ihr vor seinem Tod gezeigt hatte. Da waren Zeichen, die für Menschen und Tiere standen, und andere, die die Länder auf beiden Seiten eines höheren Bergkammes vorstellten. Diese Aufzeichnungen, so hatte Shapokee erzählt, stammten aus der Zeit, als Tiere und Menschen einvernehmlich zusammenlebten. Sie konnten jeweils die Gestalt der anderen annehmen und in ihrer Sprache reden. Die Itqiliit, die Hundemenschen, denen Shapokee angehört hatte, nannten diese Aufzeichnungen »Walam Olum«, Worte von großer Kraft. Vielleicht war Walam Olum in den ersten magischen Worten, Erinaliuutut, Worten so voller Kraft, dass sie den Tod derer verursachen konnten, die von ihnen getroffen wurden. Diese magischen Worte beschworen in jenen Zeiten auch Licht und Dunkel herauf. Denn zuerst hatte Dunkelheit geherrscht, weil der Fuchs das Wort Taaq, taaq kannte und Dunkelheit wünschte für seine nächtlichen Jagden. So dunkel war es damals, dass die Jäger einen Finger ins Wasser bluten lassen mussten, damit er ihnen leuchtete, wenn sie das Haus verließen. Aber dann geschah es, dass der Hase in den Besitz des ebenso starken Ubloq, ubloq kam. Und als er dieses Wort aussprach, um sein Futter finden zu können, entstand das Licht, und Tag und Nacht wurden voneinander getrennt. All dies war geschehen, das wusste Shanuq. Die Vorfahren hatten davon berichtet, und darum war es die Wahrheit.

Wenn Shanuq am Strand entlangging, um essbaren Tang und Treibholz fürs Feuer zu sammeln, starrte sie hin und wieder hinaus in den Nebel, um einen Blick auf das verschwundene Land zu erhaschen. Und während sie so hinausstarrte mit einer unerklärlichen Sehnsucht, erinnerte sie sich an ihren Vater. Dann erfüllte sie Freude und eine große Sorglosigkeit. Sie spürte seine Nähe, vielleicht, weil sie die Seele seines Namens in ihrem ersten Kind wiedergeboren hatte.

Je älter sie wurde, desto häufiger gingen ihre Gedanken zurück zu allem, was gewesen war. Und obgleich sie wusste, dass diese Erinnerungen nutzlos und auch störend waren – wie Gedanken, die man sich um die Zukunft macht –, fühlte sie sich gedrängt, zurückzublicken und sich zu erinnern. Erinnerungen waren oft angenehm, sie kamen ungerufen, ohne die geringste Anstrengung waren sie da.

Um diese Angewohnheit aber gleichsam zu entschuldigen, gab sie ihren Gedanken Worte und berichtete ihren Kindern von den vergangenen Zeiten: einerseits, was sie von ihrem Vater gehört hatte, andererseits, was sie selbst erlebt hatte. Sie erzählte von »Walam Olum«, der größten aller Einwanderersagen, die noch unter den Menschen lebendig war. Und sie erzählte von entfernten Verwandten, die dorthin gezogen waren, wo das Jahr in Tag und Nacht geteilt war, Verwandte, die man seitdem nicht befragt hatte. So befreite Shanuq ihren Kopf von den sich aufdrängenden Gedanken, und so sicherte sie die Geschichte der Familie. Ihre Kinder nahmen ihre Worte in sich auf, um sie später selbst weitergeben zu können.

Jetzt war Shanuq alt und ohne rechtes Verständnis für die neuen Zeiten. Das Leben war wechselvoll und so reich an Jahren und Ereignissen gewesen, dass sie ganz durcheinander war, wenn die Erinnerungen sie überfielen. Bisweilen war es für sie eine gewaltige Anstrengung, wenn sich mehrere Erinnerungen gleichzeitig aufdrängten, als könnte sie nur mit einem Gedanken allein fertig werden. Ein Gedanke, den sie vorsichtig hervorholte, als würde sie die Rückensehnen eines Rentieres trennen und zu Nähfäden verarbeiten.

Obgleich so viele Jahre hinter ihr lagen, war die Erinnerung an den Vater nie verblasst. Sie hatte ihn immer als einen alten Mann in Erinnerung, vielleicht deshalb, weil sie selbst noch so jung war, als er starb. Und vielleicht darum auch war ihr das Alter stets in einer Aura von Sorglosigkeit erschienen, im Gegensatz zu anderen Frauen in der Siedlung, die in großer Unruhe alt wurden. Denn sorglos war ihr Vater gewesen. Heq, der berühmte Geisterbeschwörer, der es verstanden hatte, mit dem alles bestimmenden Nuam-Shua umzugehen, dem Herrn der Macht, dieser magischen Kraft, die allem innewohnt. Jetzt bezeichneten die Menschen diese Kraft mit einem geliehenen Wort, mit Silarssuaq, einem Wort, das Shanuq nicht mochte, weil es neu war. Ein solches Wort war für Nuam-Shua ein Hohn. Worte sollte man nicht ändern, war ihre Meinung. Vieles andere konnte man ändern, aber Worte nicht. Denn das Wort war den Menschen von den Geistern gegeben, und darum enthielten Worte Magie und Zauber. Heq hatte die Sprache der Menschen gesprochen, wie sie von allem Anfang an gesprochen wurde. Er war wortreich und ein großer Erzähler, er besaß Furcht einflößende und magische Worte. Er war vertraut mit Pikna, »dem dort oben«, der den Menschen Verderben bringen konnte, wenn es angebracht war.

Shanuq wurde es warm und froh ums Herz, wenn sie an ihre ersten Jahre dachte. Sie musste nur selten Hunger leiden, denn es gab keinen erfolgreicheren und tüchtigeren Jäger als ihren Vater. Er konnte in der Tundra einen Fuchs müde hetzen und besaß immer noch genug Luft, um laut zu lachen, wenn er ihn mit einem einzigen Fausthieb tötete. Und bei mehr als einer Gelegenheit hatte er Braunbären mit seiner Keule erlegt. Er kannte seine Kräfte und Fähigkeiten, selbst die Hundemenschen in den Wäldern fürchteten und hassten ihn und trachteten ihm nach dem Leben.

Heqs Tod veränderte alles. Es geschah in dem Sommer, als Shanuq ihre erste Blutung bekam, gerade an dem Tag, als sie von ihrer Mutter zum Strand begleitet wurde und fünfmal um das Feuer herumgelaufen war, das man nur für sie angezündet hatte.

Es war das Jahr, an das man sich wegen der großen Rentierherden aus dem Norden noch lange erinnerte. Nie zuvor hatte man so viele Tiere gesehen. Sie hatten einen weißgrauen Strom gebildet, der sich von der Tundra zu den Wäldern hin mit einer Wildheit ergoss, die alles mit sich riss. Gerade in diesem Jahr, als sie noch unrein nach der Blutung war, starb ihr Vater.

Die Indianer hatte nach dem großen Rentierschlachten ein wilder Blutrausch erfasst. Sie konnten mit dem Töten nicht aufhören, es lag in der Natur der Itqiliit. Sie sammelten sich in großen Scharen: Kutchin, Kawchodinne und Thingchadinne. Sie zogen nordwärts, um den Inuit ihre Fleisch- und Felldepots zu rauben. Unaufhaltsam wie Rentiere zogen sie über das Land und ließen die Siedlungen der Menschen verwüstet hinter sich.

Auch die Siedlung ihres Vaters bei Nunivak wurde angegriffen. Und obwohl die Menschen hier gut vorbereitet waren und sich tapfer verteidigten, konnten sie einer solch großen Macht nicht standhalten.

Als der Kampf schließlich vorüber war, lagen hohe Wälle von getöteten Feinden um das Haus ihres Vaters. Ganz oben auf dem Wall lagen ihre beiden älteren Brüder und Heq, Messer aus Biberzähnen steckten zwischen den aus Walrosszähnen gefertigten Rückplatten ihrer Ringpanzer. Shanuq war beim Versuch zu fliehen über die blutigen Körper gekrochen, und es gelang ihr, einen erwachsenen Kutchin-Krieger mit der Lanze ihres Vaters zu töten, bevor sie gefangen genommen wurde. Für diese Tat zollten ihr die Hundemenschen große Anerkennung, sie behandelten sie gut, weil sie Mut bewiesen hatte, wie es sich für eine Tochter des berühmten Heq geziemte. Als sie mit den anderen Frauen und einigen Kindern von Nunivak hinunter zu den Wäldern geführt wurde, hatte sie viele Wunden im Gesicht und am Körper.

Sie waren viele Nächte gereist, als sie das Land des Nellagotinne-Stammes erreichten. Es lag weit hinter Tundra und Meer, ein gebirgiges Land, von Seen und Flüssen durchschnitten. So waldreich, dass man lange Zeit nicht gut sehen konnte, weil die Augen daran gewöhnt waren, in die Weite zu schauen. Es war ein trockener, braunverbrannter Wald, und er wirkte genauso unendlich wie die Ebene, in der sie aufgewachsen war.

Alle Kinder starben unterwegs, entweder wurden sie von den Kriegern einfach zum Zeitvertreib getötet, oder sie hatten Verletzungen davongetragen, die nicht heilen wollten. Auch einige der Frauen kamen so ums Leben.

Bei der Ankunft im Lager wurde Shanuq zu Shapokee, dem Oberhäuptling der Nellagotinne, gebracht. Er war ein alter, magerer Mann, dessen Gesicht von der Sonne dunkelgegerbt war, er hatte eine rissige Haut wie mürbes Fell. Shanuqs erste Reaktion, als sie in sein Zelt gestoßen wurde, war Angst gewesen. Shapokee hatte hinter der Glut des Feuers mit zwei älteren Häuptlingen gesessen. Lange und nachdenklich schaute er mit seinen schwarzen, tief liegenden Augen auf die Tochter des großen Heq. Niemand sprach. Nur das Knistern des Feuers und ein schwaches Zischen von feuchtem Holz gesellte sich zu Shanuqs Atemzügen, die deutlich zu hören waren, wie sie beschämt feststellte.

Als Shapokee eine Hand nach ihr ausstreckte, war sie gehorsam nähergetreten. Sie hatte sich dem Tasten seiner Hand über ihren Körper nicht widersetzt, denn sie wusste, obgleich erst seit einigen Tagen zur Frau geworden, dass Männer Frauen begehren, auch solche alten Männer wie dieser Häuptling. Und die Frauen mussten sich mit deren Lust abfinden, die oft stärker als Hunger war. Als ganz kleines Mädchen hatte sie erlebt, wie Männer, die dem Verhungern nahe waren, sich nicht davon abhalten ließen, mit einer Frau ihr Vergnügen zu haben.

Shapokee hatte ihr nichts Böses getan. Aber er hatte sie genau untersucht: ihren Mund geöffnet und gefühlt, ob die Zähne vollzählig oder schadhaft waren. Shanuq hatte gewünscht, schlechte Zähne zu haben, das hätte sie vermutlich das Leben gekostet. Aber ihre Zähne waren ohne Fehl, und der Alte hatte zufrieden genickt und ihren Mund mit seinem Zeigefinger gegen ihre Kinnspitze geschlossen. Dann hatte er sorgfältig ihre Brüste untersucht und konstatiert, dass die Brustwarzen für den Mund eines Kindes empfänglich sein würden. Als er mit ihrem Körper fertig war, starrte er sie wieder lange an mit seinen alten Augen, die ganz ohne jeden Ausdruck waren. Nur der Widerschein der Feuersglut glomm in den schwarzen Pupillen. Eine Welle der Angst durchflutete sie. Sie fühlte sich schwindelig und war dankbar, als der Krieger sie am Arm zum Tipi der Frauen hinausführte.

Es dauerte nicht lange, bis diese unerklärliche Angst vor Shapokee verschwand. Er war ihr gegenüber fast immer freundlich, obschon er auch gewalttätig und brutal auf dem Schlaflager sein konnte. Aber dieser Eindruck rührte vielleicht daher, dass sie das Begehren eines Mannes noch nicht kannte, das offensichtlich stärker war als das der Frauen, aber von kürzerer Dauer. Shapokee war glücklicherweise so alt, dass er die Lust, seine Frauen zu schlagen, verloren hatte. Es konnte geschehen, dass sie, wenn seine Begierde gestillt war, die halbe Nacht bei ihm sitzen durfte. Dann belehrte er sie geduldig über Bräuche, Sitten und Sprache der Kutchin.

Shapokee besaß viele Dinge. Er war ein großer Rentierjäger, und ihm gehörten unzählige Steinwälle, die die Rentiere zu den Seen leiteten, in denen sie dann getötet wurden. Am häufigsten stach man ihnen in die Nieren, sodass die sterbenden Tiere noch an Land schwimmen konnten. Auch hatte er im Laufe der Jahre Dinge von großem Wert als Bezahlung für Medizin oder Heilungen durch Magie entgegengenommen.

Er sprach selten in einem größeren Kreis. Es war, als verberge er eine Weisheit, an der andere nicht teilhaben sollten, oder wusste er, dass keiner diese Weisheit begreifen konnte? Er war ein sehr bekannter Medizinmann und konnte vieles heilen. Sein Ruf war weit verbreitet, bis zum Tatsanotinne-Volk, das ihm hin und wieder große Geschenke brachte, um seinen Rat bei schwierigen Krankheiten einzuholen.

Manchmal konnte er für längere Zeit fort sein, um Kräuter und Wurzeln und Rinde zu sammeln, woraus er draußen in den Wäldern eine wirksame Medizin bereitete. Keiner wusste, wie er es anstellte; die allgemeine Meinung war allerdings, dass er einen Pakt mit dem großen Geist geschlossen habe und darum die Kraft besaß, die den gewöhnlichen Menschen nicht vergönnt war.

Shanuq hatte immer an dieser einzigartigen Verbundenheit mit den Geistern gezweifelt, denn für sie war Shapokee ein mittelmäßiger Geisterbeschwörer. Er war, wie sie rasch herausfand, unwissend in ganz gewöhnlichen Dingen und besaß in keiner Weise die Fähigkeiten ihres Vaters, die Geister anzurufen oder einen Geisterflug zu unternehmen. Seine medizinischen Fähigkeiten waren groß, größer als die eines jeden Inuit, aber Shanuq bekam schnell den Eindruck, dass er sich mit größerer Mystik umgab, als es diese Heilkünste rechtfertigten.

Nein, Shapokee konnte sie nicht so hassen, wie sie alle anderen Itqiliit hasste. Denn er besaß gewisse Eigenschaften, die sie bei ihrem Vater gekannt und geliebt hatte. Und der alte Mann schenkte ihr auch einen guten Teil Aufmerksamkeit, wie sie seinen anderen Frauen nicht zuteil wurde. Er besaß drei Frauen, weil er reich war und zu den Größten des Kutchin-Volkes gehörte. Shanuq war seine Sklavin, und vielleicht, weil sie die Tochter des berühmten Heq war, dessen Geist Shapokee fürchtete, wurde sie besser als die anderen Frauen behandelt. Diese waren in den Augen der Männer unwürdig und völlig unbedeutend.

In der Zeit, die die Inuit als Aujaksaq bezeichnen, den Sommeranfang, stellte Shanuq fest, dass ihre Blutung ausblieb. Sie wusste, was dies bedeutete, und war bedrückt, denn sie wollte kein Kind zur Welt bringen, das halb Inuit, halb Itqiliit war. Solch ein Kind, meinte sie, würde immer von den Indianern verachtet und von den Inuit gehasst werden. Deshalb versuchte sie, die Leibesfrucht abzutreiben. Sie stellte sich ins kalte Flusswasser, bis sie eine schwere Erlahmung im Unterleib spürte und die Beine nicht mehr bewegen konnte. Sie war in Gefahr zu ertrinken – das hätte sie sehr gefreut –, als Shapokees ältester Sohn, Tu-ta-ras, sie fand, an Land zog und sie zwang, sich zurück ins Lager zu schleppen, vor der Spitze seines Speeres.

Shapokee hatte getobt und sie lange mit geflochtenen Lederriemen ausgepeitscht. Sie lachte, als er schlug, denn die Schläge taten ihr gut. Sie trafen eher Shapokees Würde als ihren Körper, den sie hatte ihm gezeigt, wie hoch sie den Bastard einschätzte, den er gezeugt hatte.

Danach strich Shoo-tam-a, die erste Frau des Medizinmannes, Salbe auf die Wunden und sagte, dass Shanuq sich zufriedengeben solle, denn es sei offensichtlich des großen Geistes Wille, dass dieses Kind geboren werde.

Viel später während der Schwangerschaft war Shanuq dem Kind dann doch freundlicher gesinnt. Und als sie die Bewegungen des Kindes spüren konnte, begann sie es gern zu haben.

Sie gebar auf einer Reise, das war normal für die Frauen des Nellagotinne-Stammes. Sie legte ein Stück Biberfell in ein Loch, das sie in den Waldboden grub, und hockte sich darüber, auf Knie und Hände gestützt. Sie konnte immer noch die Geräusche der weiterziehenden Indianer hören, als das Kind sie verließ, und sie stöhnte laut vor Erschöpfung, als sie das Kind aufhob und es mit einem Biss von ihrem Körper trennte. Dann leckte sie es sauber und erhob sich etwas schwindelig. Sie wickelte es in das Fell, indem sie die blutige Seite einfach nach außen wendete, befestigte das Bündel am Stirntragband und folgte dem Stamm. Während sie so ging, überlegte sie die Möglichkeit zu fliehen, verwarf aber den Gedanken gleich wieder. Sie war zu erschöpft nach der Geburt, und der Weg zur Küste, dorthin, wo die Inuit wohnten, war zu weit.

Am selben Abend holte sie den Stamm ein und zeigte das Kind, das von ungewöhnlicher Größe war, ihrem Herrn. Shapokee untersuchte es gründlich, lächelte und lobte sie vor den anderen – das war erstaunlich. Er entschied, dass das Kind Haeto heißen sollte, »der Führende«; er sollte frei sein und in den Stamm als sein Sohn aufgenommen werden. Shanuq hatte ihn nicht angesehen, während er sprach, denn ihre Augen hätten vermutlich ihre Gedanken verraten. Der Knabe, so hatte sie kurz nach seiner Geburt entschieden, sollte Heq nach seinem Großvater heißen, und er sollte mit den Inuit aufwachsen und ein richtiger Mensch werden.

In der Zeit, die sie bei den Kutchin verbrachte, hörte, sah und lernte sie viel. Obgleich diese Menschen in manchem den Inuit ähnelten, war ihre Natur und Lebensweise anders. Sie waren stolz, sich ihrer Ehre sehr bewusst, und sie liebten Streitigkeiten. Ganz anders als die Inuit, die gerne um jeden Preis Frieden bewahrten. Sie hatte die Indianer gehasst, aber nie gefürchtet, denn sie wirkten in vieler Hinsicht kindlich und auch unwissend.

Die Erde war ihre Mutter, und die konnte keinem gehören. Das war so selbstverständlich für Shanuq, dass sie jedes Mal lächelte, wenn sie es hörte. Natürlich konnte ein Mensch weder Erde noch Himmel oder das Meer besitzen. Der Krieg war ihr Vater, und er führte sie ständig in den Kampf.

Die Kutchin kämpften um ganz unwichtige Dinge, um Frauen und vergängliche Habe, sie kämpften um Waffen und Gerätschaften, Felle und Fleisch und darum, Herz und Leber aus gefallenen Feinden herausschneiden zu können, die sie roh verzehrten. Das böse Blut des Krieges rollte schnell in ihren Adern, und ihre Grausamkeit war groß. Sie konnten durchaus im Streit mit Menschen leben, die doch eine Art Verwandte waren und sich ebenfalls vom Fleisch wilder Rentiere ernährten. Sie schlugen sich mit den Dogrib, Cree und Nahani, wenn sie aufeinandertrafen. Konnten sie keine Leute des Athabasker-Stammes töten, zogen sie gegen die Inuit im Norden. Völlig unberechenbar waren diese Menschen.

Der Stamm beherrschte ein gewaltiges Waldgebiet, in dem es reichlich Wild und fischreiche Flüsse gab. Dennoch erlebte Shanuq, dass sich große Scharen aufmachten, um neues Land zu finden und neue Menschen, die sie bekämpfen konnten. Sie verließen ohne weiteres das Land, das ihre Vorväter ihnen geschenkt hatten, so groß war ihre Mordlust. Shanuq war froh, dass Shapokee schon alt und sesshaft war und ihn keine Wanderlust mehr trieb. Sie wollte sich nicht noch weiter vom Küstengebiet entfernen, nach dem sie sich so sehnte.

Die Kutchin beachteten viele Tabus, mehr als die Inuit. Sie kannte selbst einige, die beiden gemeinsam waren, und bald lernte sie auch die übrigen kennen. Die Itqiliit töteten demnach nie Raben oder Hunde und zu bestimmten Zeiten des Jahres auch keine Wölfe und Bären. Aber die freigegebenen Tiere töteten sie mit großem Blutdurst. Bei den Rentierjagden geschah es oft, dass ein Jäger so lange tötete, bis er vor Ermattung den Speer nicht mehr heben konnte. Man glaubte, dass es unmöglich war, die Tiere auszurotten, und meinte, wenn man viele Rentiere tötete, dann hätten die Füchse viel zu fressen, sie würden sich sehr vermehren und im folgenden Jahr viele Felle geben.

Den Vielfraß hassten sie zutiefst. Denn der Vielfraß war stärker als ein Hundemensch. Er konnte mit Leichtigkeit die großen Baumstämme hochheben, die über den Fleischvorräten lagen, und er konnte auf die höchsten Bäume klettern und gefrorenes Fleisch und Knochen zerkauen, die sicher vor Wolf und Bär dort aufgehängt waren. Hin und wieder fingen die Jäger einen Vielfraß, dann rissen sie ihm die Augen aus den Höhlen und ließen ihn blind laufen. Oder sie schnitten ihm die Zunge heraus und ließen ihn laufen. Ein anderes Mal behielt man einen auf Shapokees Befehl im Lager, damit alle sein Leiden aus nächster Entfernung betrachten konnten: Shapokee öffnete mit seinem Messer den Bauch des armen Tieres und band es mit seinem Gedärm an eine junge Birke. Die Grausamkeit dieses Volkes war größer als alle Grausamkeiten, die Shanuq bei ihrem eigenen Volk gesehen hatte.

Hier hatte sie auch den Gesang kennengelernt. Nicht den Gesang, den ihr Vater kannte – den Gesang der Geister –, sondern einen erzählenden Gesang, der ihr sehr gefiel und ihr Vergnügen bereitete. Wenn sie heute, viele Jahre später, an der nebligen Eismeerküste entlangging und Holz fürs Feuer sammelte, konnte sie ohne weiteres diese Gesänge für sich zurückholen.

Hi-he-hae he-he-ho, Gesänge vom Fleisch, von der Hoffnung, von Reisen, Liebe und Krieg. Frohe Gesänge, klagende Gesänge und wilde Gesänge.

Nur selten hörte sie, dass die Nellagotinne zu den Geistern sangen. Es geschah bei einigen Gelegenheiten, etwa wenn Shapokee Krankheiten heilte. Aber diese Gesänge klangen in Shanuqs Ohren nur wenig überzeugend, und sie konnte an Shapokee sehen, dass sie ohne Magie waren. Sie waren beeindruckend und unterhaltend, aber nur wenig heilkräftig. Hin und wieder sprach Shapokee von bestimmten Geistern, die alle böse und grausam waren. Doch er versuchte nie, sie zu beschwören, wie ihr Vater es getan hätte. Er wusste überhaupt nichts über Pikna und wusste auch kaum, wohin die Menschen nach dem Tode gingen.

Es war sein Glauben, dass die Seelen der Toten in ein Kanu aus Stein gesetzt würden und ihnen befohlen werde, flussaufwärts gegen eine reißende Strömung zu paddeln. Sie kamen zu einer Insel, die mitten im Fluss lag, einer Insel mit sehr viel Wild. Aber sobald sie die Insel entdeckten, kenterte das Kanu, und nur die mutigsten Krieger schafften es, das Land zu erreichen. Die anderen ertranken erbärmlich und waren für immer verloren. Das Leben auf dieser Insel unterschied sich im Übrigen nicht sonderlich von dem, das man vor dem Tod geführt hatte.

Als Shapokee ihr dies alles mit großem Ernst anvertraute, damit sie es nach seinem Tod ihrem gemeinsamen Sohn weitergeben konnte, hatte sich Shanuq von ihm abgewandt und heimlich gelächelt. Sie hatte sich gewundert, dass sie, die doch eine Frau war und dazu die Sklavin eines berühmten Medizinmannes, so vieles besser wusste als dieser alte Häuptling.

Oft tanzten die Indianer. Sie hatten eine unglaublich große Freude am Tanz. Aber nur selten geschah es, um Geister anzurufen oder alte Geschichten zu erzählen. Man tanzte, um Krieg auszudrücken, Jagdfreude oder großen Mord und Totschlag. Dabei benutzten sie eine Trommel, die auch Shanuq belustigte, denn deren Geräusche erinnerten an einen Hasenfurz, verglichen mit dem polternden Dröhnen der Inuit-Trommel.

Einige Zeit nach der Geburt des Kindes schien es, als kehrte die Kraft der Jugend in die Lenden Shapokees zurück. Er verlangte Shanuq öfter auf seiner Lagerstatt, und sie begann sogar, eine gewisse Freude zu empfinden, wenn der alte, harte Körper auf ihr lag. Vielleicht war dieses Gefühl einer gewissen Gewohnheit zuzurechnen, denn der Mensch gewöhnt sich an vieles, sogar an das, was anfangs beschwerlich ist. Der Alte war nie unfreundlich und gab weitaus mehr als nur einmal seine Zufriedenheit mit ihren Leistungen zu erkennen. Seine Männlichkeit war zu dieser Zeit erstaunlich stark und bereitete ihr große Schmerzen. Es konnte geschehen, dass er in einer Nacht mehrmals mit ihr schlief, und sie spürte eine Art Hingabe für ihn, die sie früher für unmöglich gehalten hätte. Dieses Gefühl dauerte eine kurze Weile an, in der sie ihre Beine um seinen Rücken klammerte und sich von etwas Unbegreiflichem erschüttern ließ.

Danach wurde Shapokee krank. Shanuq und seine jüngste Frau, die noch nicht im heiratsfähigen Alter war, hatten dicht bei ihm liegen müssen, um seinen Körper zu wärmen. Shanuq hatte aus einem Rentierknochen das Mark entfernt und ihm gezeigt, wie er Wasser aus der Schöpfkelle saugen konnte, ohne Eisstücke in den Mund zu bekommen. Nicht einmal etwas so Einfaches wie ein Saugrohr war diesen Hundemenschen bekannt.

Eines Morgens lag Shapokee tot zwischen den beiden Mädchen, es war an einem Herbstmorgen, zu der Zeit, die die Menschen Ukiuksaq nennen, Winterbeginn. Der Stamm hatte sein Lager am Waldrand zur Tundra hin aufgeschlagen und auf die letzten heimkehrenden Rentiere aus dem Norden gewartet.