Nichtmillionenstadt - Michael Bohl - E-Book

Nichtmillionenstadt E-Book

Michael Bohl

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Beschreibung

Marius ist kein gewöhnlicher Teenager. Verliebt in das Leben, dennoch interessiert am Tod und der Frage, wie er Unsterblichkeit erlangen kann. Keine so leichte Fragestellung für einen Pubertierenden in der Nichtmillionenstadt Frankfurt, den darüber hinaus gerade die erste Liebe mitreißt. Ein Glück, dass er mit seiner Mom eine ausgezeichnete Gesprächspartnerin an der Seite hat, die ihm immer ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Doch während Marius schon für das nächste Jahrtausend plant, holt ihn das reale Leben ein. Er muss erkennen, dass Leben und Tod nicht nur ein gedankliches Experiment sind, sondern von einer auf die andere Sekunde tauschen können. Und dass es auch in der besten Familie Geheimnisse gibt, die seine Welt von Grund auf erschüttern.

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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Michael Bohl

Nichtmillionenstadt

Roman

Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

© 2022 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Satz/E-Book: Julia Desch, Societäts-Verlag

Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag

Umschlagabbildung: vvvita/Shutterstock, Yulia Buchatskaya/­Shutterstock, Elina Li/Shutterstock

Printausgabe ISBN 978-3-95542-431-2

E-Book ISBN 978-3-95542-434-3

Besuchen Sie uns im Internet:

www.societaets-verlag.de

»Ein Buch über die Kraft der Liebe und der Freundschaft, ein faszinierender psychologischer Roman von tiefer Lebenskenntnis, der auch jungen Lesern Mut macht, Verstörungen und ›frühes Leid‹ zu bestehen.«

Gisela Heidenreich, Autorin und Familientherapeutin

»Den jungen Marius zu begleiten, ist wie eine Reise in die eigene Kindheit und Jugend – grandios.«

Christian Setzepfandt, Autor, Historiker und Stadtführer

»Der Autor stattet seine 15-jährige Hauptfigur mit einer Fähigkeit zur Selbstreflektion aus, die erstaunt. Ich bin begeistert von diesem Roman und dem in ihm immer wieder aufblitzenden Humor.«

Prof. Dr. Martin Dannecker, Sexualwissenschaftler und Autor

Draußen, wo die Zeit still steht,

und Worte ihre Bahn verlassen,

wo jede Grenze sich verweht,

bis nichts mehr bleibt uns überlassen.

Wenn nichts mehr ist, was jemals war,

wird nichts mehr sein, was je geschah.

Die Welt, die es gegeben hat,

und die uns einst doch alles war,

wird nichts von ihrem Rückzug wissen,

gewesen sein, unvorstellbar.

Marius (alles muss man selbst machen)

Prolog

Dieses Gespräch habe ich mir oft vorgestellt.

Etwa so:

»Wie fangen wir an?«

»Das muss ich dir überlassen, mein Junge. Es ist deine Idee.«

»Ich weiß. Obwohl ich mir sicher bin, dass du sie mir zugeworfen hast. Im Flug.«

»Wenn du dir sicher bist, ist es gut.«

»Es ist nur ein merkwürdiges Gefühl. Ich meine, wir haben uns mein ganzes Leben miteinander unterhalten und nun weiß ich nicht, ob ich auf etwas zurückgreifen kann.«

»Das kannst du, versprochen.«

»Ich glaube nicht, dass mir das jetzt hilft.«

»Fang einfach an. Du wirst schon sehen, wo es dich hinführt. Du kennst doch die Geschichte, die du mir erzählen willst.«

»Schon.«

»Also musst du nichts mehr erfinden, das erleichtert die Umsetzung doch.«

»Man muss auch erzählen können.«

»Das kannst du.«

»Und schreiben.«

»Das kannst du auch.«

»Und dir dabei in die Augen sehen, obwohl du gar nicht da bist.«

»Das könnte die Herausforderung sein.«

»Es wird mir wehtun. Das kann ich spüren.«

»Wie willst du einen Schmerz überwinden, ohne ihn zu spüren?«

»Immer diese mütterlichen Weisheiten.«

»Finde heraus, ob was dran ist.«

»Ich erzähle dir unsere Geschichte, und damit auch mir? Und der Schmerz wird dann weniger?«

»So in etwa würde ich das zusammenfassen, ja.«

»Und wenn es dir auch wehtut?«

»Das nehme ich auf mich.«

»Na dann.«

»Ich bin gespannt.«

»Dann fange ich so an, wie du es tun würdest. Mit der Liebe.«

»Ich glaube, damit liegst du richtig. Aber einen weiteren Rat solltest du vielleicht auch noch befolgen.«

»Welchen?«

»Erzähl die Geschichte jemandem, der sie noch nicht kennt. Sonst wirst du zu viel weglassen, von dem du meinst, dass es für mich selbstverständlich ist.«

»Dann wird es ein Buch.«

»Ich liebe Bücher.«

»Ich weiß.«

Erster Teil

1 | Krähenrübe

Was mich schon oft verwundert hat, ist, dass ich ziemlich viel über den Tod nachdenke. Sogar ganz gerne. Das wirft doch immer die Frage auf, ob man vielleicht ein bisschen merkwürdig ist, irgendein Sonderling, der bei absoluter Finsternis mit Kerzen auf den Friedhof läuft, um sich mit den Ahnen zu unterhalten. Ich meine, wenn alles einigermaßen in geordneten Bahnen über die Bühne geht, dann liegen mindestens noch sechzig Jahre vor mir, da könnte ich mir doch Zeit lassen. Aber so läuft das nicht. Ich kann nicht anders, als mir Gedanken zu machen. Und es beschäftigt mich, was ich aus meinem Leben machen soll und wie ich das mit den Gedanken an den Tod in Einklang bringen kann. Ich glaube, die Antwort fällt mir so schwer, weil ich irgendwann älter und alt oder ganz alt sein werde. Und andererseits denke ich oft, ich könnte morgen schon tot sein. Weshalb ich ja zum Beispiel den Gurt im Auto anlege, oder diesen dämlichen Helm beim Fahrradfahren aufsetze. Wirklich vorstellen kann ich mir das alles aber nicht. Niemand weiß doch, wie alt er wird. Mir scheint es da an Fantasie zu fehlen. Richtig schwer wird es aber erst, wenn ich versuche, mir vorzustellen, tot zu sein. Ich liege dann in der geöffneten Kiste, etwas blass im Gesicht und mit schicken Klamotten, die mir ansonsten gestohlen bleiben könnten. Die Hände natürlich gefaltet, insgesamt ziemlich unversehrt, nur eben tot. Aber wie schon gesagt, an dieser Stelle fehlt es mir an Fantasie.

Tatsächlich will niemand von mir wissen, was ich aus meinem Leben machen möchte. Es fragt mich auch niemand, ob ich mir schon mal Gedanken über meinen Tod gemacht habe. Das ist alles gar kein Thema, aber es beschäftigt mich trotzdem. Und so habe ich angefangen, meine Gedanken zu sammeln und auf Notizzetteln in einer kleinen Holzschatulle aufzubewahren. Bella hat sie mir aus einem Familienurlaub in Indien mitgebracht. Sie ist ganz fili­gran geschnitzt und hat einen Elefanten im Deckel. Bella sitzt in der Klasse meistens in meiner Nähe, aber nie direkt neben mir, da sitzt immer Max. Zumindest seit er Anfang des Schuljahres zu uns gekommen ist. Oder wenn die Bänke zusammengeschoben sind, dann sitzen Max und Sami neben mir. Sami kam kurz nach ihm zu uns in die Klasse, während ich mit Bella schon seit meiner Ehrenrunde in der Fünften ganz gut befreundet bin. Ich glaube, die Schatulle war so eine Art Liebeserklärung von ihr, zumindest eine hochgradig freundschaftliche Bekundung, aufwendig verpackt und ganz ohne Anlass. Den Grund hat sie nie durchblicken lassen.

Jedenfalls ist mir die Schatulle ans Herz gewachsen, und sie erfüllt eine sehr wichtige Funktion. Ihre ausschließliche Bestimmung ist es, meine Notizen aufzubewahren. Und diese wiederum behandeln nur ein Thema: den Tod. Oder genauer gesagt: die Zeit danach! Aber den Teufel werde ich tun, sie deshalb meine Todesschatulle zu nennen. Ich finde es nur einen ausgesprochen schönen Gedanken, irgendwas auf die Beine zu stellen, was über meinen Tod hinaus von Bedeutung sein wird. Und das gleichzeitig mehr sein soll, als in ewiger Erinnerung derer weiterzuleben, die noch ein paar Jahre länger bleiben dürfen. Vorausgesetzt, da sind dann noch welche. Hast du schon mal versucht, dir vorzustellen, du wärst der Allerletzte in deinem vertrauten Kreis? Das ist doch scheiße. Alle wären schon weg, und am Schluss steht vielleicht nur noch die philippinische Krankenschwester am Grab, die dich zuletzt pflegte und ein gutes Gefühl für den netten Opa hatte, der ihr immer ein paar extra Euro gab. Das wäre doch echt gruselig. Also nicht wegen der philippinischen Krankenschwester, sondern wegen all derer, die nicht dabei wären. Deshalb sollte man wohl Kinder haben. Zwei oder drei am besten. Dann müsste man schon verdammt viel Pech haben oder ein Riesenarschloch sein, wenn der eigene Abgang ohne echte Tränen und längeres Fortleben in der Erinnerung der Liebsten über die Bühne ginge.

Das sind so Gedanken, die ständig querschießen. Es geht mir wohl um die eigene Bedeutung, was überhaupt nicht besonders ist, so viel habe ich schon verstanden. Es wimmelt von Leuten, die bedeutsam sein wollen, wahrscheinlich auch über ihren Tod hinaus. Ich behaupte deshalb auch nicht, dass meine Idee irgendwie ausgefallen wäre. Aber für mich ist meine Schatulle doch ein wenig speziell, ich zeige sie auch niemandem. Nicht, weil ich pflege, Geheimnisse zu haben, sondern weil es mir solche Freude macht, sie ganz für mich alleine zu haben. Hin und wieder einen neuen Zettel hineinzulegen, ist ein Akt größtmöglichen Mit-mir-eins-seins. Klingt ein bisschen abgehoben für einen 15-Jährigen, meinst du? Ist mir schnuppe. So selbstbewusst bin ich schon, und dass ich gut geraten bin, denke nicht nur ich selbst.

Ich habe Glück. Es wächst ja nicht jeder so auf. Vor allem nicht mit einer solchen Mom. Soweit ich mich erinnern kann, hat sie alles getan, um mich sein zu lassen, wie ich bin. Sie sagt, das sei eines der größten Probleme der Menschen. Immer aneinander rumzuschrauben, um für irgendeine Überzeugung passend zu sein. Und das sei der falsche Weg. Denn der richtige Weg sei der, auf dem man sich zu dem entwickeln würde, der man ist, und keiner wisse besser als man selbst, was das für ein Weg ist. Nicht, dass sie als Erziehungsperson bei mir ausgefallen wäre, im Gegenteil. Sie hat mich immer gestärkt. Bestimmt hat sie auch manchmal gedacht, ich hätte die eine oder andere Tasse zu wenig im Schrank. Aber spüren, ließ sie mich das nie – oder ich hab’s nicht gemerkt.

Jeder Zettel, den ich in meine Schatulle lege, enthält eine Idee. Und die Idee, oftmals nur eine Ein-Wort-Idee, ist es, etwas zu beschreiben, das mir helfen könnte, über den Tod hinaus von Bedeutung zu sein und zu bleiben. So lange, bis mich dann schon lange niemand mehr persönlich kennt. Eine Notiz mit Krähenrübe liegt zum Beispiel schon länger drin.

Meine Mom nennt Herrn Stanjek, meinen Mathelehrer, eine Krähenrübe, weil sein Gesicht beim Reden so starr ist, als hätte er im Sarg schon mal Probe gelegen. Die Interpretation von Krähenrübe lässt viel Spielraum. Innerhalb dieses Spielraums wird’s allerdings eng. Und so in etwa gestaltet sich ihre Direktheit. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass Mom immer gute Namen einfallen. Mit Krähenrübe bin ich quasi aufgewachsen, es ist ein ganz normales Wort für mich. Und Herr Stanjek ist sozusagen das Urgestein aller Krähenrüben, und alle, die ähnlich doof daherkommen, sind unweigerlich auch welche.

Krähenrübe steht also auf einem Zettel in meiner Schatulle. Und, wie du ja nun weißt, geht es darum, etwas (und damit mich) unsterblich werden zu lassen. Und wenn es mir gelänge, Krähenrübe als Begriff derart bekannt zu machen, dass irgendwann jedes Kind wüsste, was eine Krähenrübe ist, würde sie sich auch früher oder später im Duden wiederfinden. Dabei wäre es noch nicht einmal wichtig, dass ein Verweis auf meine Person mitgeliefert würde. Es wäre genug, dass ich, wenn schon nicht ihr Schöpfer, so doch wenigstens ihre Erfolgsleiter gewesen wäre und somit fortbestehen würde bis … Das wäre mir dann auch wieder egal. Klingt doch nach einem guten Plan, oder?

2 | Familie

Mom ist meine Mutter, aber es wirkt nicht besonders locker, von seiner ›Mutter‹ zu sprechen. Ganz schlimm ist ›Mama‹. Keiner erwähnt im achten Schuljahr seine Mama. Das muss einem auch niemand beibringen. Damit klingst du nach Vorschule, und das steht dir schlecht, wenn du den Rest gerade davon überzeugen willst, dass du der gelassenste Teenager bist, den die Welt seit langem gesehen hat. Erst recht, wenn du ein Junge bist. Einem Mädchen würde man die Mama, allerdings unter Punkte abzug, noch durchgehen lassen, aber Jungs stehen unter absolutem Mamaverbot. Dafür komme ich mit ›Mom‹ ganz gut über die Runden. Einsilbig ist immer besser für die Gelassenheit. Im Übrigen geht Mutter auch deshalb nicht, weil das irgendwie total gebärfreudig klingt. Was schon rein statistisch nicht stimmt. Denn hier in Deutschland bekommen die Frauen zu wenige Kinder. Das haben sie uns sogar schon ganz offiziell im Unterricht erklärt. Wenn ich mich recht erinnere in Sozialkunde, in Religion und sogar in Mathe. Irgendeine Textaufgabe war das wohl. Da bekam die aktuelle deutsche Mutter im Schnitt 1,45 Kinder. Kein Wunder, dass mir Mathe nicht liegt. Wie soll ich mir 1,45 Kinder vorstellen? Meine Mom jedenfalls hat nur 1,0 Kind, und das bin ich.

Mein Name ist Marius, und damit kann ich ganz gut leben. Marius könnte auf den römischen Kriegsgott Mars zurückzuführen sein, was nicht so übel ist, obwohl ich natürlich gegen Krieg bin. Außerdem ist es nicht ausgeschlossen, dass sich aus dem Lateinischen die Bedeutung von männlich sowie auch von Meer in meinem Namen wiederfindet. Beides ist mir sympathisch. Ich meine, welcher 15-jährige Junge würde nicht gerne als männlich gelten? Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, solange ich nicht bei Geschichten, die offensichtlich Mut erfordern, in die erste Reihe geschickt werde. Du glaubst nicht, wie schnell ich mich in Luft auflösen kann. Na ja, und ein Meer erweckt doch sofort angenehme Gefühle. Da sind sich immer alle einig, obgleich ich es am Meer eher etwas langweilig finde. Aber das muss ich ja nicht jedem auf die Nase binden.

Mom sagt bei allerhand Anlässen, das Unbewusste sei viel entscheidender als das Bewusste. Und da hat sie, soweit ich das schon überblicken kann, wahrscheinlich recht. Wenn ich mir dann vorstelle, dass mein Gegenüber in dem Moment, in dem ich mich als Marius vorstelle, unbewusst eine Information aufnimmt, die aus der Kette Rom-Krieg-Gott-Männlich-Meer besteht, dann macht mich das zum einen für den Moment ziemlich selbstbewusst und zum anderen auch ein wenig stolz auf die komplexe Anlage meiner Persönlichkeit. Ein Marius kann nie ein Schwächling sein.

Mom ist klasse. Das möchte ich gleich zu Beginn festhalten. Sie gibt mir das Gefühl, mich total in Ruhe zu lassen, aber in Wirklichkeit ist sie allgegenwärtig. Auf eine Art, die mir gefällt, und ich kann mir den Luxus erlauben, auf die ganzen Widerstände, die in meinem Alter wohl angemessen wären, zu verzichten. Auch deshalb achte ich darauf, dass sie nicht zur ›Mama‹ wird. Von einer ›Mama‹ muss man sich mühsam abgrenzen, vermute ich, bei einer Mom stellt sich ein plausibles Verhältnis aus Nähe und Distanz ganz natürlich ein.

Die Leute lachen viel mit ihr, weil sie sehr unterhaltsam ist und die Menschen mag. Sie kann auch ziemlich direkt werden, aber selbst das klingt in ihrer Sprache nach verdaubarer Kost. Es ist nicht nur so, dass ich sie mag, sie ist definitiv die beste Mom von allen, was wahrscheinlich wenig originell klingt, weil das ja die meisten Kinder von ihren Müttern behaupten. Ich finde aber, dass nur ich damit recht habe. Außer von mir wird sie von so ziemlich allen gemocht. Mein Vater mag sie so sehr, dass in seinem Fall von Liebe die Rede ist. Meine Freunde mögen sie auch alle. Im Kindergarten war sie der Hit unter den Müttern, und das ist sie auch danach eigentlich immer geblieben. Nur bei meinen Lehrern fällt die Bilanz durchwachsen aus. Aber von denen sind einige derart merkwürdig, dass es nicht verwundern sollte.

Einen Vater habe ich auch, und den habe ich anders lieb. Ich würde sagen, dass er ziemlich zufrieden mit seinem Leben ohne seinen Sohn und seine Frau ist. Er ist oft ohne uns unterwegs und bestimmt mein Leben deutlich weniger als meine Mom. Mein Vater – der nicht mein ›Dad‹ ist, denn ›Dad‹ klingt dann doch noch einmal einen Zacken amerikanischer, und das kann er überhaupt nicht ab, und ich selbst find’s auch doof – ist irgendwie ein Freak, so einer, der völlig in dem aufgeht, was er tut. Bei ihm klingt Papa zwar nicht ganz so babymäßig wie Mama, vor allem aber empfinde ich Vater als deutlich neutraler als Mutter. Vielleicht, weil Vater nie gebärfreudig klingen kann, keine Ahnung.

Mein Vater arbeitet als Kurator, und das muss ich ziemlich oft erklären. Selbst die Erwachsenen wissen nicht immer, was sie sich darunter vorstellen sollen. Ich mach’s dann kurz und sage, er würde im Museum arbeiten. Das reicht oftmals schon, führt zu einem wissenden Kopfnicken, als ob damit alles gesagt wäre, und dann lass ich’s dabei auch bewenden. In unserer Stadt, also in Frankfurt, gibt’s echt viele Museen, derzeit um die sechzig, und das ist für eine Nichtmillionenstadt doch eine ganze Menge, finde ich. Und für eines dieser Museen ist er zuständig. Was eigentlich überschaubar klingt, aber er ist permanent auf Achse. Vor allem wegen der regelmäßigen Wechselausstellungen. Wenn wieder eine neue kommt, sagt Mom schon mindestens vier Wochen im Voraus, dass mein Vater im Wechselfieber ist. Dann weiß ich, was sie meint. Nämlich, dass er in unserer Wohnung kaum noch gesichtet wird und wenn dann eher abwesend ist.

In seltenen Ausnahmefällen erkläre ich noch, dass er zum Beispiel auch für die Museumspublikationen zuständig ist, und das macht er richtig gut. Ich habe ziemlich viele davon in meinem Regal stehen und fand die bisher meistens interessant. Früher mehr die Bilder, heute durchaus auch die Texte. Leider steht sein Name nie darauf, das macht man nicht bei Kuratoren, da unterscheiden sie sich von Schriftstellern. Ein künstlerisches und pädagogisches Konzept muss er auch oft entwickeln. Was unter anderem bedeutet, dass er erklären können muss, warum er genau diese Bilder und Kunstwerke ausgewählt hat. Oder warum er sie so und nicht anders positioniert hat. Und da erzählt er wirklich spannende Geschichten. Man sieht plötzlich viel mehr, als wenn man ohne seine Erklärungen draufguckt. Ich finde dann, dass mein Vater auch ein wenig wie ein Zauberer sein kann, aber das würde niemand mehr verstehen, und deshalb behalte ich das für mich. Und er verdient ziemlich gut, aber auch das behalte ich für mich. Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist, aber bei uns redet man nicht darüber, was jemand verdient, erst recht nicht, wenn es viel ist. Man weiß das einfach oder merkt es. Dafür redet man darüber, wenn jemand wenig oder gar nichts verdient, also Geld vom Staat bekommt. Obwohl man das auch weiß oder merkt. Mom macht übrigens nichts, hat aber den ganzen Tag etwas zu tun. Das ist viel schwerer zu erklären.

Um dem Klischee einer klassischen Superfamilie zu entsprechen, müsste ich eigentlich noch eine Schwester haben. Was ich, um ehrlich zu sein, auch ziemlich cool fände. Viele Einzelkinder finden den Gedanken an Geschwister wohl irgendwie stark. Mir geht es da nicht anders. Obwohl ich an meiner Kindheit nichts auszusetzen habe. Bis hierhin hat es mir an nichts gefehlt. Also auch nicht an einer Schwester. Aber ich stelle mir vor, dass es mir mit ihr noch besser gegangen wäre. Sie wäre jünger gewesen, und ich ihr großer Bruder. Nur so will ich das sehen, nur in dieser Vorstellung fehlt sie mir. Ich hätte sie beschützt und gedrückt, weil ich sie lieb gehabt hätte. Sie hätte mich angehimmelt, weil ich der tollste große Bruder unter dem weiten Sternenhimmel gewesen wäre. Ich wäre ihr Held gewesen, und sie immer da, wenn ich jemanden zum Spielen gebraucht hätte. Oder zum Ärgern. Toll. Aber es gibt sie nicht außerhalb meiner Vorstellung. Auch nicht außerhalb der von Mom und meinem Vater. Einmal, kurz bevor ich in die Schule kam, bestand die Chance. Wir konnten sie damals alle schon sehen. Daran, dass Moms Bauch plötzlich deutlich zunahm und etwas aufgebläht wirkte. In meinem Kopf hatte sie sogar schon einen Namen: George. Das mag dich verwundern, aber Mom hat ihre Kinderbücher im Keller aufgehoben, und was mich sehr begeisterte, waren die Fünf Freunde von Enid Blyton. Georgina, die in den Büchern immer George hieß, war eine der Fünf Freunde und wollte viel lieber ein Junge als ein Mädchen sein. Dazu war sie ziemlich kauzig, was sie mir sympathisch machte, denn mit ihr war immer was los. Für eine solche George wäre ich gerne ein großer Bruder gewesen. Weshalb sie auch heute noch so heißt, wenn ich an sie denke.

Mom hat sie verloren, was mir damals überhaupt nicht einleuchten wollte. Wie konnte sie George einfach so verlieren? Heute weiß ich, dass George noch in ihrem Bauch gestorben ist. Viele Wochen, bevor sie zur Welt gekommen wäre. In der sie immer noch lebt – mindestens durch mich, bestimmt auch durch Mom und meinen Vater. So ganz genau weiß ich das nicht, aber ich kann es mir nicht anders vorstellen. Wir reden über alles, aber eigentlich nie über George. Mom war damals ganz anders als jemals zuvor oder danach. Sie war eine Zeit lang, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, ganz schweigsam und fing immer und immer wieder ganz plötzlich an zu weinen. Und dann ging ich zu ihr und drückte mich an sie. Oder ich pflückte ihr Löwenzahn von der Wiese am Sportplatz. Obwohl sie so traurig war, hat sie besonders gut gerochen, wenn ich ihr dann ganz nahekam. Die Tränen waren das nicht, die rochen nach nichts.

George hat kein Grab. Was allerdings möglich gewesen wäre. Sonntags beim Frühstück habe ich meine Eltern einmal darauf angesprochen. Es war wie in einem Film, wenn Leute mitten im Kauen innehalten, als hätte man mit der Fernbedienung auf Pause gedrückt. Dann haben sie sich angeschaut und ganz langsam die Kiefer wieder bewegt und geschluckt. Mein Vater war es, der mir die Antwort gab. Was selten vorkam, denn ansonsten war es eher Mom, die mir offensichtlich heikle Fragen zu beantworten versuchte. Mein Vater sagte, und damit hatte ich wirklich nicht gerechnet, sie hätten einen großen Fehler gemacht. Und dann schob er den Teller zur Seite, trank einen Schluck Kaffee und schaute mir zu lange in die Augen. Bis er hinzufügte, meine Schwester hätte ein Grab haben sollen. Er und Mom würden es noch immer bereuen, darauf verzichtet zu haben. Sie hatten gedacht, der Schmerz würde dann nie ein Ende finden, und außerdem standen sie unter Schock, alle beide. Und so hatten sie zugestimmt, meine Schwester, also George, zu entsorgen. Das klang scheußlich, und Mom fing sofort wieder an zu weinen und lief weg ins Schlafzimmer, aus dem sie erst Stunden später wieder herauskam, und nichts weiter sagte. Mein Vater besann sich dann wohl auf seine pädagogischen Fähigkeiten und versicherte mir, dass meine Frage völlig in Ordnung gewesen sei. Ich solle ihn und Mom immer fragen, wenn ich etwas wissen wolle. Und ich sei auch nicht schuld an Moms Tränen, was ich allerdings auch nicht angenommen hatte.

Trotzdem war es mir damals und auch seither nicht mehr danach, noch einmal genauer nachzufragen. Ich bekomme es aber auch nicht mehr aus meinem Kopf. Dass Mom George zuerst verloren hat, und sie dann einfach entsorgt wurde. Vielleicht, so denke ich heute, bin ich auch deshalb auf die Idee mit der Schatulle gekommen, ist mir auch deshalb der Gedanke an den Tod ein wenig vertraut. George lebt, muss leben und hat doch nie geatmet. Zumindest nicht in der Welt draußen. Ich habe sie lieb und kenne sie doch nur von diesen seltsamen Ultraschallbildern und meiner, hinter Moms Kugelbauch verborgenen, Vorstellung. Wenn meine Eltern diesen Fehler gemacht haben, George nicht in ein Grab zu legen, dann werde ich das nachholen und sie nie vergessen. Dieses eine Thema habe ich wahrscheinlich zu früh verstehen müssen: Dass es tote Menschen gibt, die leben und nicht sterben dürfen.

Dann haben wir noch einen schwarzen Kater, und der lebt auch hoffentlich noch eine Weile, obwohl er schon etwas älter ist. Mindestens 12 Jahre, schätzen wir, denn genau wissen wir es selbst nicht. 12 Jahre sind für eine Katze aber schon ein ordentliches Alter. Was ich so akzeptieren muss. Gayle, so heißt unser Kater, ist wohl schon seit längerem im Ruhestand. Was er zumindest überzeugend dokumentiert, indem er die meiste Zeit seines Tages ohne erkennbar schlechtes Gewissen verpennt. Da dies allerdings zu keiner Phase seines Lebens deutlich anders war, mag die Analogie zum menschlichen Ruhestand eher wacklig sein. So oder so, es will mir nicht einleuchten, dass er in der mir vielleicht noch verbleibenden Lebenszeit kaum noch dabei sein wird, und das völlig natürlich. Weil er, obgleich immer jünger als ich, doch schon viel älter ist. Wie gesagt, ich muss das wohl akzeptieren.

Gayle heißt er wegen Gayle Tufts. Das ist eine amerikanische Entertainerin, die schon lange in Deutschland lebt und irgendwie ziemlich witzig ist. Mom hat einige CDs und auch eine DVD von ihr und sie lacht immer ganz beseelt vor sich hin, wenn sie Gayle Tufts sieht oder hört. Ich bin quasi mit ihr groß geworden. Sie war die Einzige, die wir, als ich noch klein war, im Auto hören konnten und an der wir offenbar alle gemeinsam Spaß hatten. Dass meine Eltern Benjamin Blümchen damals nicht so gerne mochten wie ich, wusste ich nicht. Und das galt offenbar für alle meine CDs. Das hat mir Mom erst kürzlich erzählt. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, ich könnte einmal Kinder haben und müsste mir das Kinderzeugs dann wieder stundenlang anhören, dann ist das eines der Argumente, die meiner Meinung nach durchaus dafür sprechen, sich die Sache mit den eigenen Kindern doch genauer zu überlegen. Und bestimmt ist das auch einer der Gründe dafür, warum es in Deutschland nicht mehr so viele Kinder gibt. Es gibt viel zu viele nervtötende Kinderlieder.

Wir fanden Gayle, als wir mit dem Wagen im Urlaub in Italien unterwegs waren. Er lag am Wegrand, ganz friedlich, und wir dachten, er wäre tot, weshalb wir auch nicht anhielten. Der Weg war holprig und sollte zu einer fantastischen Aussicht führen, von der meine Eltern aber nur vermuteten, dass es sie geben würde. So machen wir immer Urlaub. Andere schauen sich tolle Sehenswürdigkeiten an und wissen genau, wo sie hinwollen. Bei uns ist das nicht so. Obwohl wir uns, das muss ich zugeben, auch schon viele tolle Sachen angeschaut haben. Aber zwischendurch haben meine Eltern im Urlaub mitunter seltsame Anwandlungen. Dann fahren sie irgendwo lang, wo in den nächsten drei Jahren wahrscheinlich kein anderer Tourist mehr vorbeikommt. Das hat wohl damit zu tun, dass meine Eltern im Urlaub immer gerne etwas Eigenes entdecken wollen, irgendwelche Orte, die nicht im Reiseführer stehen. Und dies, meiner Ansicht nach, in der Regel durchaus zu Recht. Aber das interessiert meine Eltern wenig. Beharrlich halten sie daran fest, mich für weite Felder, Lichtungen in Wäldern, verborgene Bachläufe, Geröllhänge und Sonstiges, irgendwie Naturgewaltiges, begeistern zu wollen. Und ich tue ihnen den Gefallen, nicht zu genervt zu reagieren, wenn Vater plötzlich den Wagen bremst und nur ›da‹ruft, wobei es auch Mom sein kann, die ›da‹ruft. Jedenfalls war das immer der magische Moment, in dem der Wagen plötzlich zum Stehen kam. In der Regel dort, wo normalerweise nicht daran gedacht ist, einen Wagen abzustellen. Aber das gehört wohl zum Konzept.

Am Tag, als wir Gayle fanden, das erinnere ich bestimmt nur seinetwegen so gut, war es ein Hügel, von dem aus man in ein waldiges Tal mit einer Schneise für Strommasten hinabblickte. Mom überschlug sich, wie eigentlich immer, vor Begeisterung, und schon als kleines Kind habe ich kapiert, dass es nicht nett von mir sein würde, ihr den Spaß zu nehmen. Aber für übertriebene Begeisterung fehlte mir der Antrieb. Und so tat ich, was sich bis heute immer wieder als erfolgreiche Verhaltensweise meinerseits erwiesen hat, und grinste wohlwollend. Ich zeigte mich, wenn ich nicht gerade einen Bärenhunger hatte, oder, je nach Beschaffenheit des Anfahrtsweges, kurz vorm Erbrechen stand, wenig widerständig und teilte die Freude meiner Eltern an ihrer sensationellen Entdeckung eher still und überlegen. Ich wusste ja schließlich, dass sie sich etwas vormachten. Aber erklär das mal deinen Eltern, wenn du vier bist.

Auf der Rückfahrt mussten wir unweigerlich wieder an der Stelle vorbei, wo wir Gayle zuvor gesehen hatten. Tote Tiere auf der Fahrbahn oder am Rand haben mich als kleines Kind schwer beschäftigt und machten mich traurig. All die Vögel und Kaninchen, Igel und Frösche, die noch hätten leben können, wenn diese verkackten Autos nicht einfach über sie hinweggerollt wären. Aber eine tote Katze hatte ich noch nie gesehen, und das fand ich dann außergewöhnlich schlimm. Eine Katze war noch besonderer als die anderen Tiere. Und auf dem Rückweg erinnerte ich mich sofort wieder an sie, lange bevor wir an der Stelle vorbeikamen. Ich saß in meinem Kindersitz, hatte wie immer eine ziemlich gute Aussicht von meinem Thron, und meine Aufregung stieg mit jeder Sekunde. Obgleich erfüllt vom Entsetzen vor dem herannahenden Moment, blickte ich gebannt nach draußen, um den vorbeiziehenden Katzen-Leichnam auf keinen Fall zu verpassen. Und dann konnte ich den schwarzen Punkt vor einer Biegung auch schon aus der Entfernung erkennen und verfolgte, wie er langsam größer wurde. Es war kein schönes Gefühl, und kurz bevor wir an Gayle vorbeifuhren, hob ich meine Hand und winkte ihm wie eine Majestät aus dem Ellenbogen heraus zu. Es war schlimm, dass er tot war, aber einfach wieder an ihm vorbeizufahren und ihn da liegen zu lassen, war fast noch schlimmer. Vielleicht hatte ich die leise Hoffnung, das Ende könnte sich für die arme Katze etwas besser anfühlen, wenn ich ihr nochmal zuwinken würde. Was dann aber folgte, fühlt sich noch heute für mich wie ein Wunder an.

Es ist schon erstaunlich, dass ich mich an so vieles erinnern kann, als ich noch klein war. Wobei es mich nicht wirklich erstaunt, weil ich es ja gar nicht anders kenne. Das ist eher wieder so eine Erkenntnis aus der Welt der Erwachsenen, die ich über deren Umweg irgendwie meinem sicheren Blick auf die Dinge hinzufügen muss. Noch heute erzähle ich ihnen manchmal von Erlebnissen, bei denen sie auch dabei waren. Aber weil ich sie erinnern kann und sie ständig alles Mögliche vergessen, wundern sie sich über mich statt über ihr Vergessen. Das Einzige, was mich wundert: An so etwas Spektakuläres wie meine Geburt kann selbst ich mich nicht erinnern.

Das Wunder, das ich erlebte, und das ich noch heute sehen kann wie ein gestochen scharfes Foto, ist Gayles Kopf, der sich, gerade als ich ihm winkte, hob und nach meiner Hand schaute. Zumindest habe ich mir das immer so vorgestellt, dass er nach meiner Hand geschaut hat, obwohl ich das eigentlich so genau auch wieder nicht sehen konnte. Und in diesem Moment machte ich das, was bei meinen Eltern immer gut klappte. Ich rief ›da‹, deutete aufgeregt auf die Katze, und mein Vater bremste. Der Rest ist schnell erzählt. Meine Eltern stiegen aus dem Auto. Dann hörte ich Mom, die sich vor die Katze kniete, zu meinem Vater sagen, sie würde noch leben. Er drehte sich wieder zum Wagen und dabei fiel ihm auf, dass ich noch drin saß. Er hob mich langsam aus dem Sitz, stellte mich auf die Erde, und ich lief zu der Katze und streichelte ihr Fell. Nicht ohne, dass mich mein Vater zu Vorsicht mahnte, was aber nicht nötig war. Ich hatte nämlich schon viele Katzen gestreichelt. Und obwohl ich noch sehr klein war, liefen sie vor mir nie davon, wie sie es bei anderen Kindern meistens taten. Kurz danach hielt mein Vater der Katze etwas Wasser hin. Sie nahm das Angebot dankend an und schlabberte seine Hand in einem Tempo leer, das ziemlich erstaunlich war.

So kam also Gayle in unsere Familie. Er hatte zumindest insofern einen günstigen Zeitpunkt für unsere Bekanntschaft gewählt, als dass wir uns auf der Rückfahrt befanden. Es war der Abschlusstag, und es sollte noch eine Fahrt durch die Nacht folgen, von der wir alle hofften, dass Gayle sie gut überstehen würde. Denn irgendwas, so vermuteten wir, hatte er sich gebrochen, weshalb mein Vater ihn ganz vorsichtig ins Auto neben mich legte. Ich habe dann fast gar nicht geschlafen, weil ich mir sicher war, dass meine Wunder-Streichel-Hand ihn auch heil nach Hause bringen konnte. Manchmal miaute er, wirkte aber insgesamt für einen Kater mit möglichem Bruch wenig wehleidig. Und er schaffte es.

Seinen Namen bekam er noch auf der Fahrt. Gayle Tufts lief, als wir anhielten, um ihn zu retten, und sie lief noch immer, als wir wieder fuhren. Mom drehte sich zu mir nach hinten und mit Blick zu meinem Vater und mir sagte sie: »Wir nennen sie Gayle, was meint ihr?« Und wir meinten, das sei eine gute Idee. Obwohl wir uns noch gar nicht sicher waren, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Aber das ist wie mit George. Keiner wird gefragt. Und Tieren ist es egal, wie sie heißen.

Kurz gesagt, habe ich eine Mom und einen Vater, und das passt gut. Zusammen mit Gayle sind wir die Familie Lefner. George ist meine Schwester, von der niemand etwas weiß. So weit, so unspektakulär.

3 | Max

Dass Tage Farben haben, weiß ich schon lange. Es ist ganz eindeutig. Der Montag ist hellblau, ein Dienstag ist lindgrün. Der Mittwoch ist dunkelgrün, und der Donnerstag rotbraun. Der Freitag schließlich ist gelb, der Samstag graugrün (wie manche Augen) und der Sonntag richtig rot. Menschen, die ich kenne, tragen auch diese Farben. Bella zum Beispiel ist schon immer ein Freitag, also gelb. George ist rotbraun. Mein Vater ist graugrün und Mom natürlich rot. Meine Eltern sind zusammen genommen ein Wochenende. Ich selbst bilde eine Ausnahme, denn ich bin weiß. Und Gayle ist schwarz, wegen seines Fells. Sami war schon immer ein dunkelgrüner Mittwoch und Max montagsblau wie ein heller, wolkenloser Himmel.

Max kam zu Beginn des Schuljahres in unsere Klasse. Ich war 15, und der Sommer war so heiß, dass hitzefreie Stunden ein Muss waren. Was die Schulbehörde allerdings anders sah. Kunststück, wenn man selbst eine Klimaanlage laufen hat. Wie zu jedem Beginn eines neuen Schuljahres wurde die Klasse um jene kleiner, die nicht versetzt wurden, und gleichzeitig wieder ergänzt durch die, denen es nicht anders erging, die aber eigentlich schon ein Jahr voraus waren. Ich selbst blieb gleich im fünften Schuljahr kleben, weswegen ich fortan für eine Weile einen gewissen Ruf genoss, der unter Schülern kein Nachteil sein muss. Ich war größer und älter als der Rest. Und weil im fünften Schuljahr keiner so ungeschickt war wie ich und sitzenblieb, war das für ein Jahr, zusammen mit den Erfahrungen, die ich den anderen anfangs voraushatte, ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Ich kannte nicht nur alle Schulgänge, sondern konnte einiges über die Lehrer berichten, die meiner Klasse ansonsten völlig unbekannt waren. Ich konnte ein wenig Schrecken verbreiten, aber auch Trost spenden. Was ein ziemlich gutes Gefühl war, denn die erste Runde auf dem Gymnasium hatte ich mir die Zeit als Ladenhüter vertrieben. Im zweiten Anlauf war ich plötzlich gefragt. In den nächsten Jahren verlor sich diese Besonderheit. Jährlich kamen vier oder fünf Neue von oben nach unten. Mir gab das ein Gefühl von Genugtuung, weil ich jedes Jahr weniger einzigartig in der Kunst des Klebenbleibens war, aber auch ein Gefühl von langsam wieder einkehrender Normalität im Kreise Gleichaltriger. Ein Jahr älter zu sein, ist in diesem Alter ein gefühltes Jahrzehnt.

Zusammen mit zwei neuen Mädchen wurde uns Max von unserer Klassenlehrerin, Frau Wolters, am ersten Schultag des achten Schuljahres kurz vorgestellt. Wobei die Vorstellung im Wesentlichen darin bestand, dass die neuen Namen und die Klassen, aus denen sie kamen, genannt wurden. Dann hielt Frau Wolters Ausschau nach freien Plätzen und wies jedem Neuankömmling einen davon zu. Neben mir war ein Platz frei geworden, weil Simon gerade ein Jahr drunter neu verteilt wurde. Simon war als Nachbar ganz in Ordnung gewesen, aber auch ein wenig nervig, weil er drei Jahre an meiner Seite vor sich hin gezappelt hatte, total unkonzentriert war und nur wie durch ein Wunder so lange die Ehrenrunde hatte verhindern können. Er tat mir schon ein wenig leid, aber ich vermisste ihn nicht. Allerdings wusste ich mit ihm, was mich in jedem neuen Schuljahr erwartete, und das war plötzlich anders.

Max hatte halblanges, glattes, dunkelblondes Haar und war so groß wie ich, also einspaarundsiebzig. Außerdem war er super schlank, trug Jeans und ein dreifarbig gestreiftes Hemd, was auf mich nicht wirklich modern wirkte. Dafür alles hauteng und ohne einen Pickel im Gesicht. Das fiel mir besonders auf, weil ich zu dünn war für hautenge Klamotten, und immer mal wieder mit Pickeln zu tun hatte. Während ich noch dabei war, mir darüber klar zu werden, dass ich ihn irgendwie mega fand, und dafür nicht einmal eine Minute brauchte, wanderte der Blick von Frau Wolters nach der Vorstellung durch die Bankreihen und blieb sogleich an Simons freiem Platz hängen. Erst da begriff ich, was passieren würde, und im gleichen Moment schoss mein Puls unter die Klassenzimmerdecke. Frau Wolters blickte nickend zu Max, zeigte in meine Richtung und sprach dann die legendären Worte, dass das sicher gut passen würde – Max und Marius. Max kam zu meiner Bank, zog den Stuhl zurück, setzte sich, schaute zu mir rüber und sagte ›Hallo‹. Dabei grinste er hauchdünn. Ich ließ mir genug Zeit, um rot anzulaufen, verklemmt einen Mundwinkel zu verbiegen und ebenfalls ›Hallo‹ zu sagen. Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich ziemlich happy war, tatsächlich aber fühlte ich mich beschissen. Jedenfalls weiß ich seitdem, dass es einem ziemlich beschissen gehen kann, wenn man sich sehr freut. Was in mir vorging, war mir so was von überhaupt nicht vertraut, dass es mir in den nächsten 45 Minuten eine komplette Lähmung verpasste, während in meinem Kopf verschiedene Züge aufeinanderzu ratterten. Auf der Suche nach einem ersten Satz und einem blendenden Eindruck. Ich war 15, und es war der erste Tag von etwas außerordentlich Neuem.

Irgendwie muss der Tag ein Ende gefunden haben. Wie an jedem Schultag muss ich irgendwie den kurzen Anstieg nach Hause mit dem Rad gefahren sein. Irgendwie den Schlüssel herumgedreht haben. Moms Begrüßung als gewohnte Selbstverständlichkeit erwidert haben. Irgendwie muss ich mich an den Küchentisch gesetzt haben, um zu essen und satt zu werden. Irgendwie ging es weiter. Musste ja.

Wenn nichts Wichtiges dagegenspricht, ist es Mom heilig, den Abwasch direkt nach dem Essen zu erledigen. Sie besteht darauf, keine Spülmaschine zu kaufen, obwohl der Platz in unserer Küche für drei Maschinen reichen würde. Das Geld hätten wir sicher auch. Aber sie ist dagegen, und so ganz bin ich noch nicht dahintergekommen, warum. Was nicht wirklich entscheidend ist. Denn in der Küche hat alleine sie das Sagen. Ich kann es nicht einmal ausschließen, dass sie das für erzieherisch wertvoll hält. So nach dem Motto, dass ihr Sohn nicht mehr als unbedingt notwendig durch Technik verhätschelt wird. Ich soll mich bestimmt früh daran gewöhnen, dass so ein Tag Strukturen hat, Abläufe, Verantwortung. Dass so ein Tag immer auch ein Miteinander ist. So Sachen vertritt sie halt.

Abwasch besteht aus drei Teilen. Das Spülen übernimmt Mom, Teil zwei und drei, Abtrocknen und Wegstellen, in der Regel ich. Weil sonst auch niemand da ist. Außer an den Wochenenden, an denen mein Vater mit uns isst. Dann gehen Teil zwei und drei allerdings trotzdem an mich. Aber er spült dann manchmal.

Nach der Küchenarbeit will Mom sich ausruhen und ein Schläfchen halten. Mindestens eine halbe Stunde, eine ganze ist ihr lieber. Es gibt eigentlich nur eine Ausnahme, die sie nach meiner Einschätzung ohne zu murren akzeptiert. Die greift, wenn ich reden will. Und ich wollte mit ihr reden an diesem Tag. Es gibt wohl solche Mütter, mit denen kann man einfach nicht reden kann, die immer ätzende Bemerkungen machen. Aber Mom ist nicht so, ganz und gar nicht. Ich habe schon immer gerne mit ihr geredet. Manchmal texte ich sie sogar ziemlich zu, aber sie beklagt sich nie. Dafür ist das Essen nach der Schule unsere beste Zeit. Es gibt daher Themen, denen ich heute noch ein ganz bestimmtes Essen zuordnen kann. Heiraten ist so ein Thema. Heiraten ist Kartoffelpüree (nie aus der Packung!), Rotkraut und Bratwurst. An heißen Tagen mit Zitronenlimo. Es war ein sehr heißer Tag. Ich erinnere mich gut.

»Es kann sein, dass ich gerne heiraten würde«, begann ich und nahm die erste Gabel mit Püree und etwas Kraut. Es muss geklungen haben wie von einem Vierjährigen im Sandkasten, der gerade seinen allerbesten Freund für immer gefunden hat, aber es war mir ernst. Ernster, als es Mom im ersten Augenblick kapierte. Ich schnitt die Wurst in Stücke.

»Das finde ich jetzt nicht so überraschend«, sagte Mom. »Wenngleich es mich überrascht, dass dich das beschäftigt.«

»Hat es dich denn nicht beschäftigt, als du heiraten wolltest?«, fragte ich. Da schaute sie mich etwas länger an, und ich musste vom Kraut aufstoßen.

»Doch, das hat es, aber in deinem Alter, ich meine, du bist 15, nichts für ungut, Großer, aber das ist früh.« Großer war immer total lieb gemeint und verfehlte selten seine Wirkung bei mir. So wenig wie Rotkraut. »Wie kommst du darauf?«, wollte sie wissen.

»Wegen Max.«

»Wegen Max?« Ihr Erstaunen konnte sie nicht verbergen. Ich zermatschte etwas von dem Kraut mit dem Püree und schob alles mit einem Stück der Wurst in den Mund. Ich bin ein langsamer Esser.

»Frau Wolters hat Max heute neben mich gesetzt, Simon ist ja nicht mehr da.«

»Aha.«

»Es war schrecklich, aber nicht so schrecklich, wie man es meint, wenn man sagt, dass etwas schrecklich ist … Trotzdem schrecklich.«

»Aha.«

»Hast du Papa eigentlich schon gekannt, als du 15 warst?«

»Nein.«

»Nein?«

»Himmel, Marius, was ist denn los?« Etwas vom Püree plumpste zurück auf den Teller, bevor es in meinem Mund verschwinden konnte.

»Max ist los«, sagte ich, »und ich würde ihn gerne heiraten.« Mom lächelte.

»Und was spricht dagegen?«, fragte sie dann.

»Von mir aus nichts«, antwortete ich, »aber wir kennen uns ja noch nicht. Ich habe ›Hallo‹ zu ihm gesagt und dann wie versteinert neben ihm gehockt.«

»Klingt, als hätte es dich erwischt«, meinte Mom. Ich war sonst nicht so schwer von Begriff, aber der Tag hatte alles in mir sehr verlangsamt.

»Erwischt?«

»Na komm, Schatz. Du willst mit mir reden, also ist es dir wichtig. Du erzählst mir von einem Max, den du heiraten willst, von dem ich aber noch nie etwas gehört habe. Neben diesem Max hast du heute wie versteinert gesessen und bisher nicht mehr als ein ›Hallo‹ mit ihm gewechselt. Was soll ich denn wohl anderes daraus schließen, als dass es dich erwischt hat, oder soll ich dich gleich fragen, ob du verliebt bist? Es wäre mir allerdings lieber, ich müsste mich gerade nicht anhören wie irgendeine Fernsehinspektorin, die eine schlüssige Indizienkette zusammenpfriemelt.«

»Warum hörst du dich dann so an, Mom?« Ich kaute jetzt sicherlich schon zwei Minuten auf einem Stück Wurst herum. Fünfzehnjährige unterhalten sich so nicht mit ihrer Mutter, no way. Und wenn diese Fünfzehnjährigen Jungs sind und gerade festgestellt haben, dass sie sich in einen anderen Jungen verliebt haben, dann rennen sie nicht als erstes zu ihrer Mutter und erläutern neu gewonnene Heiratsabsichten. So absurd war es aber. Also nicht für Mom und mich. Aber jeder normal Denkende kann das nicht glauben.

»Maus«, sagte sie dann, und das war in diesem Moment nicht die optimale Ansprache. Auch wenn sie mir schon vor langer Zeit erklärt hatte, dass ja in jedem Marius eine Maus steckt, und zwar genau im vorderen und im hinteren Drittel. »Maus, du musst schon entschuldigen, aber ich bin einfach völlig überrascht und versuche mir ein Bild von deiner Geschichte zu machen. Während ich, genau wie du, bemüht bin, mein Essen noch halbwegs warm zu mir zu nehmen. Du solltest mildernde Umstände gelten lassen«. Das brachte mich zum Lachen, zumindest ein wenig.

»Okay«, sagte ich. »Ich werde ein Auge zudrücken. Ich bin wohl durcheinander.«

»Das würde ich auch sagen«, sagte Mom. »Und ich würde vorschlagen, du schiebst jetzt mal den Teller zur Seite und erzählst mir, wieso dich die Frage mit dem Heiraten so beschäftigt, einverstanden?«

»Einverstanden, ich versuch’s mal.« Ich schob den Teller zur Seite.

»Max ist sitzengeblieben und neu in unserer Klasse. Er wurde neben mich gesetzt, weil der Platz frei war. Frau Wolters hat dazu gesagt, dass Max und Marius ja gut passen würde. Ich habe mich gefreut, sehr sogar, denke ich, und habe … wie soll ich dir das erklären … ich bin irgendwie … durchgedreht. Mit rasendem Herzklopfen und rotem Kopf. Wie in einer Comic-Sprechblase. Bumm, bumm … glüh. Total peinlich. Worauf die Versteinerung folgte. Und seitdem denke ich nur noch an Max. Er sieht klasse aus.« Heute würde ich sagen, ein bisschen wie Jake Bugg mit längeren und blonden Haaren, aber den kannte ich damals noch nicht. »Vielleicht sieht er auch ziemlich normal aus, so ganz sicher bin ich mir da nicht.«

»Wow«, sagte Mom, »da bin ich jetzt schon neugierig. Ich hoffe, ich werde ihn bald kennenlernen.« Ist sie nicht stark?

»Aber die Überschrift«, fügte sie hinzu, »ist mir noch immer unklar. Ich meine, ich habe durchaus schon etwas von der romantischen Liebe gehört, aber du hast doch nun wirklich genug, worüber du dir Gedanken machen kannst, warum heiraten?«

»Weil ich mir vorstelle, dass ich am liebsten nur noch mit ihm zusammen wäre.« Da lachte sie laut und sagte, da müsse ich mir ja nur sie und meinen Vater anschauen, um zu wissen, dass das nicht unbedingt eine Frage des Verheiratetseins sei.

»Und weil ich mir nicht sicher bin, ob wir das so ohne weiteres tun könnten«, sagte ich. Das beschäftigte mich womöglich tatsächlich am meisten. Manches versteht man ja beim Reden besser. Und die Zitronenlimo tat auch gut.

Es ist nicht so, dass ich nichts mitbekommen würde. Aber ich bin ziemlich altmodisch. Ich lese Zeitung und schaue auch an den meisten Tagen Nachrichten. Ein Smartphone habe ich nicht, nur ein stinknormales Handy. Was in den Augen aller in meinem Alter kompletter Wahnsinn ist. In mancher Hinsicht bin ich ein wenig aus der Zeit gefallen. Einige in der Klasse finden mich deshalb merkwürdig. Was ja genau genommen nicht so schlimm ist. Soll man sich halt merken, wer ich bin. Der ohne Smartphone. Trotzdem habe ich keinen schlechten Stand in der Klasse. Ich kann mit den meisten ganz gut, anscheinend bin ich witzig, ohne gleich einen auf Klassenkasper zu machen. Ich bin kein Überflieger, weiß aber immer mal wieder Sachen, die mich selbst überraschen und die anderen umso mehr. Ich bin keine Niete im Sport und gelte als einigermaßen gutaussehend, trotz der Pickel. Für ein Casting würde es nicht reichen, aber ich wurde schon nach Dates gefragt. Ich bin ein gut integrierter Freak würde ich sagen, das habe ich mit meinem Vater wohl gemeinsam. Zeitung zu lesen ist für mich ein Genuss, dafür stehe ich sogar früher auf. Und ich habe keine Lust, die Zeitung zu teilen, bevor ich sie ausgelesen habe. Ich leiste mir sogar mein eigenes Abo von meinem Ersparten. Das ist nicht nur wahr, sondern auch noch eine gute Geschichte. Damit lässt sich ein Status festigen. Ich erzähle sie deshalb gerne oder winke lässig ab, wenn sie über mich erzählt wird. Einen, der morgens die Zeitung liest, haben wir sonst nicht.

»Ihr hattet doch auch irgendwann Lust zu heiraten«, fing ich wieder an.

»Gezwungen hat uns keiner, insofern hast du recht.«

»Und warum habt ihr geheiratet?«

»Wegen der Steuer.«

»Waaaas?« Das hatte ich wirklich nicht erwartet.

»Na ja, das klingt jetzt vielleicht ein wenig missverständlich«, sagte Mom. »Wir wollten irgendwann heiraten, ohne Zweifel, wir waren ja auch schon ein paar Jahre zusammen. Kinder wollten wir auch. Aber wir hatten keinen Plan, wann. Und weil es am Ende des Monats mehr Geld gibt, wenn du verheiratet bist, haben wir das einfach vorgezogen. Das machen viele so.«

»Mir wäre das nicht wichtig.«

»Natürlich nicht, mein Schatz.«

»Das brauchst du jetzt gar nicht so dämlich zu sagen.« Sie nahm mich immer noch nicht ganz für voll mit meinem Wunsch. Und ich war auch mit 15 kein Klotz, der gar nichts mitbekam.

»Dämlich? Ich würde sagen für Steuerfragen bist du noch nicht der ideale Gesprächspartner. Du kassierst dein Taschengeld bei uns und beendest kleine Jobs, noch bevor du zum zweiten Mal hingehen musst. Was es heißt von dem, was du hast und verdienst, Steuern zahlen zu müssen, kannst du schlichtweg nicht wissen.«

»Mir wäre es trotzdem nicht wichtig.«

»Na gut«, sagte Mom, »dann hätten wir das ja geklärt.« Sie klang jetzt etwas angestrengt. »Dann weißt du nun also, dass deine Eltern aus niederen Beweggründen geheiratet haben und du das nicht tun wirst. Was interessiert dich noch?«

»Das meiste weiß ich wahrscheinlich«, antwortete ich.

»Was weißt du?«

»In der Zeitung steht ziemlich viel darüber, eigentlich ständig. Und ich lese es auch immer. Ich weiß, dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten können. Es hieß eine Weile anders als bei euch, aber sie dürfen.«

»Das ist richtig.«

»Findest du das gut?«

»Absolut, und ich will mich jetzt nicht bei dir einschleimen.« Sie grinste, ich nicht.

»Ich kapier nicht so ganz, warum das so ein Thema ist. Bei euch ist es doch auch keins.«

»Es ist ein ziemlich neues Gesetz. Ich glaube, es wurde erst kurz vor deiner Geburt verabschiedet. Und in vielen Ländern geht das auch heute noch nicht. Das hast du ja vielleicht auch schon gelesen.«

»Habe ich, aber ich versteh’s nicht.«

»Und jetzt soll ich es dir erklären?«, wollte Mom wissen.

»Kannst du das erklären?«, fragte ich zurück.

»Ich fürchte, es gibt Berufenere dazu als deine Mutter. Aber ja, ein wenig … Ich meine, die Leute hielten das lange für nicht normal, und deshalb hatten Schwule und Lesben nicht die gleichen Rechte. Das ist die absolute Kurzform.«

»Nicht normal?«

»Na ja, darüber haben wir ja schon geredet, erinnerst du dich? Menschen meinen eben oft, dass sie wissen, was richtig und falsch ist. Und dann machen sie Gesetze dazu. Zum Beispiel, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig umbringen.«

Ich hatte die Zitronenlimo fast vergessen, und sie war nicht mehr so schön kalt. Ich nahm trotzdem einen großen Schluck. »Es ist ja auch falsch, andere umzubringen.«

»Das stimmt, und darüber sind sich auch alle einig.«

»Außer bei Juden.«

Mom schnaufte und ging zum Kühlschrank, um sich auch etwas zu trinken zu holen. Sie griff sich die Wasserflasche. Mom trinkt sonst nichts beim Essen, aber auch ihr Teller war ja schon weggeschoben. Sie goss sich ein Glas voll und hob es in meine Richtung. »Prost, Großer.« Und nach einem großen Schluck konnte sie wieder sprechen. »Lass uns einen Moment bei den Schwulen bleiben, einverstanden? Und über Antisemitismus reden wir ein andermal. Beides zusammen packe ich nicht.«

»Einverstanden. Bin ich jetzt schwul?«

»Mein Junge bewegt heute ja wirklich die ganz großen Fragen. Ob du schwul bist? Woher soll ich denn das wissen, Marius?«

»Hätte ja sein können. In einem Interview sagte kürzlich einer, Mütter wüssten immer schon ganz früh, ob ihre Söhne schwul sind. Stand auch in der Zeitung.«

»Dann bin ich wohl die Ausnahme. Ich hatte den Gedanken bisher nicht wirklich. Und ich halte Mütter auch für genauso wenig hellseherisch veranlagt wie andere Menschen.«

»›Nicht wirklich?‹«

»Heute willst du es aber genau wissen.« Sie trank wieder einen Schluck und wollte offenbar ein paar Sekunden gewinnen. »Nein, nicht wirklich. Aber dann gab es diese Phase, in der du bunte Spangen in deine Haare machen wolltest, und dann fragt man sich auch mal, ob das eigene Kind vielleicht anders ist.«

»Nicht normal?«

»Nein, nicht nicht normal … Anders.«

»Klingt nach einem rhetorischen Trick.«

»Mein Gott, wo holst du das denn jetzt her? Nein, ich meine anders.« Was gab es da herzuholen? Es lag auf der Hand.

»Hast du dich das auch gefragt, als ich an Fastnacht Superman sein wollte?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass du einmal Superman sein wolltest.«

»Hättest du?«

»Was?«

»Dich gefragt, ob dein Sohn vielleicht anders ist, weil er Superman sein will.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Warum?«

»Weil Jungs Superman sein wollen, das ist nicht ungewöhnlich. Zufrieden?«

»Aber es ist ungewöhnlich, dass sie Haarspangen tragen wollen.«

»In der Tat, das ist es. Aber es blieb ja nicht lange dabei, und deshalb habe ich mich auch nicht länger gefragt, ob du … anders bist. Herrje.«

»Und wenn etwas ungewöhnlich ist, also anders, also vielleicht auch nicht normal, dann gefällt das den Leuten nicht.«

»Mal so, mal so.«

Jetzt wurde ich langsam ungeduldig. Ständig diese halben Sachen.

»›Mal so, mal so?‹«

»Das heißt, dass es so einfach nicht ist. So gradlinig denken die Leute nicht. Es kann durchaus sein, dass sie etwas geradezu verehren, weil es so ungewöhnlich ist. Ausgefallen, besonders, einzigartig.«

»Haarspangen sind also doch nicht sooo ungewöhnlich?«

»Du hättest es damit nicht auf die Titelseite gebracht.«

»Aber du hättest dir Gedanken gemacht?«

»Gedanken, ja, das trifft es gut. Gedanken, keine Sorgen. Die meisten Menschen sind eben nicht schwul oder lesbisch. Man geht also auch bei den eigenen Kindern davon aus, dass sie das nicht sind. Das bedarf schon einer gesonderten Feststellung.«

»Das klingt wieder nach der Fernsehinspektorin.« Mom gähnte. »Okay, wenn es nicht sooo ungewöhnlich ist, schwul zu sein, aber doch ungewöhnlich genug, um es extra festzustellen, dann wäre doch danach alles gesagt. Fall erledigt.«

»Wahrscheinlich ist es nicht nur eine Frage von ungewöhnlich.« »Sondern?« Ich fand, dass es nun wirklich nicht mehr an mir lag, etwas klarer zu werden.

»Also gut, von mir aus. Wie wäre es mit Homophobie? Patriarchat? Gleichberechtigung von Mann und Frau? Gender? Religion? Macht?«

Das fand ich irgendwie unfair. So nach dem Motto, wer’s genau wissen will, wird mit Schlagworten platt gemacht. Wie beim Arzt. Und nicht ganz neu im Verhältnis von Erwachsenen zu Jugendlichen. Auch ein Zeichen von Machtmissbrauch, oder? Und das war ja noch eines der mir verständlichsten Angebote in Moms Aufzählung: Macht. Mom ist sonst gar nicht so. Ich muss sie wirklich ermüdet haben.

»Mom?«

»Mein Sohn?«

›Mein Sohn‹ ist mir gegenüber vielleicht ihre gefährlichste Anrede. Aber die hatte ich nicht verdient. Denn zum einen lag es nicht an mir, dass jede ihrer Antworten neue Fragen aufwarf, und zum anderen gönnte ich ihr allmählich wirklich ihre Ruhepause. Ich schenkte mir noch etwas Limo nach und machte ihr ein Friedensangebot.

»Klingt so, als wäre die ganze Sache irgendwie vielschichtig, oder?«

»Das kannst du laut sagen.«

»Ist es denn so gar nicht verständlich, wenn ich mir dann Gedanken mache? Ich meine, wenn das alles so vielschichtig ist, dann ist es doch gar kein schlechtes Zeichen, wenn es mich beschäftigt. Du sagst doch selbst immer, dass es wichtig ist, Fragen zu stellen und zu diskutieren.«

»Das sage ich und meine es sogar so. Was nicht heißt, dass es mir nicht auch mal zu viel werden kann.«

»Und jetzt ist es dir zu viel?«

»Darf ich ehrlich sein?«

»Klaro.« Mir tat das Gespräch gut, Max war für eine Weile verschwunden, tauchte aber so langsam wieder auf.

»Mir schwirrt der Kopf ein wenig. Und ich würde jetzt gerne den Abwasch fertig machen, um dann die Füße hochzulegen. Ich möchte dir aber nicht das Gefühl geben, mit dir nicht ausführlicher über alles reden zu wollen.«

»Ist schon in Ordnung, Mom.«

Sie stand auf und fing an, das Geschirr zusammenzustellen. Ich half ihr dabei, und sie stapelte alles auf die Waschmaschine neben der Spüle. Dann ließ sie Wasser ein, um die Teller vom gröbsten Schmutz zu befreien.

»Mom?«

»Hmh?«

»Wir könnten doch bald mal wieder einen unserer Ausflüge machen. Da hätten wir mehr Zeit und könnten länger reden.« Sie kippte Spülmittel in die Spüle und drehte das Wasser auf.

»Gute Idee, Großer.« Sie entspannte sich wieder. »Es würde sogar am Wochenende passen. Ich habe nichts auf dem Programm, was ich nicht verschieben kann, und das Wetter soll gut werden.« Das hellte meinen kompletten Tag mit einem Schlag heftig auf. Die Ausflüge mit Mom sind toll. Ich werde verwöhnt und kann sie stundenlang mit Fragen löchern. Bei ihr lerne ich viel mehr als in der Schule. Mindestens dreimal im Jahr fahren wir zusammen weg. Da wir beide Frostbeulen sind, lassen wir den Winter aus. Aber im Frühjahr, im Sommer und im Herbst ziehen wir gerne miteinander los. In der Regel ist es Mom, die sich etwas einfallen lässt, obgleich ich durchaus ein wenig mitdenke. Im Prinzip schließe ich mich aber allem an, was sie vorschlägt. Das Konzept ist für uns beide optimal.

Sie fing an, das Geschirr abzuspülen, und stellte alles zum Abtropfen in das Gitter auf der Ablage. Die Gläser zuerst, weil dann das Wasser noch am saubersten war. Ich nahm mir ein Handtuch und begann mit dem Abtrocknen.

»Hast du eine Idee, wohin wir fahren sollen?«, fragte sie.

Ich stellte das erste Glas auf den Tisch und überlegte einen Moment. »An einen Fluss«, sagte ich. Flüsse waren immer meine erste Wahl im Sommer.

»Als ob ich es geahnt hätte«, sagte Mom und lächelte vor sich hin. »Dann habe ich eine Idee.«

Das reichte mir völlig. Auch wenn es noch ein paar Tage waren bis zum Wochenende. Nach dieser Klärung schwirrte Max sofort wieder in meinen Gedanken herum. Ich wollte ihn nicht wiedersehen. Am liebsten sofort.

4 | Am Main

Gayle mag es nicht so gerne, wenn ich mit Mom einen Ausflug mache. Er ist dann ziemlich auf sich alleine gestellt, wenn mein Vater auch nicht da ist. Gayle ist eine Wohnungskatze. Und auch wenn unsere Wohnung eine wirklich große Stadtwohnung ist, also quasi mit ausreichend Katzen-Auslauf, so liegt sie doch ganz oben im Haus, was bei uns der vierte Stock ist, und kennt für ihn keinen Ausgang. Dafür haben wir eine schöne Aussicht. Vom Balkon ist der Blick sogar spektakulär, würde ich sagen, denn von dort können wir richtig viel von der Skyline sehen. Was Gayle natürlich egal ist. Er würde lieber um die Blöcke ziehen, aber das geht einfach nicht. Und so endet das Stück Natur, zu dem er ein wenig Bezug hat, in Form einer Baumspitze auf der Höhe unseres Balkons im Frankfurter Ostend. Manchmal sitzt ein Vogel darin, und ab und zu hüpft auch ein Eichhörnchen durch die Äste. Gayle stellt sich dann auf die Brüstung und macht seltsame Geräusche. Als hätte er Helium eingeatmet und müsste Töne mit Hilfe eines zittrigen Krampfleidens durch den Mund entweichen lassen. Das machte uns anfangs Sorgen. Nicht wegen der seltsamen Geräusche, sondern weil er auf der Brüstung in unseren Augen nach unten zu fallen drohte. Zudem waren wir uns auch nicht sicher, ob er den Sprung auf den Baum wagen könnte. Was trotz all seiner Sprungkraft unweigerlich schiefgegangen wäre. Heute wissen wir, dass Gayle das nicht macht. Er fällt nicht und er springt nicht. Er hat sich mit den Quadratmetern unserer Wohnung arrangiert. Im Prinzip ist Gayle ein zufriedener Kater. Vielleicht nicht an jedem Tag gleichermaßen, aber da muss er einfach durch. Mir geht das auch nicht anders.

Damit Gayles Welt durch unsere Abwesenheit jedoch nicht durcheinandergerät, versuchen wir stets nicht länger als zwei Tage wegzubleiben. Diesmal Freitag bis Sonntag. Sein über die Jahre immer gleichbleibend anklagendes Konzert zu unserer Rückkehr nehmen wir gern in Kauf.

Das Wetter war, wie von Mom vorausgesagt, richtig schön. Mom hat da keinen siebten Sinn, sondern eine leidenschaftliche Beziehung zu Wetter.de. Das ist ihre Startseite im Computer, und der bleibt eigentlich den ganzen Tag hochgefahren. Nicht, dass sie immer dransitzt, aber er läuft eben. Und wenn irgendjemand etwas über das Wetter der nächsten Tage wissen will oder falsch einschätzt, dann wird er von Mom entsprechend informiert oder korrigiert. Mein Vater knutscht sie dann manchmal auf die Backe und freut sich über seine, wie er sagt, Wetterfee.

Vor unserer Flusstour nahm er uns zum Abschied kurz in den Arm, wünschte uns ein tolles Wochenende, was wir ihm auch wünschten, und Gayle strich dazu um meine Beine. Der ahnt immer, was Sache ist, und ohne schlechtes Gewissen sollen wir nicht fahren, nie.

Mom hat meist einen Tipp in der Tasche, auf den man sich gut verlassen kann. Dieser Tipp war dieses Mal, zumindest was den Namen des Flusses anbetraf, denkbar wenig originell, denn sie eröffnete mir, wir würden an den Main fahren. Was nun mal der Fluss ist, der bei uns mitten durch die Stadt fließt, und den wir innerhalb von wenigen Minuten bequem zu Fuß erreichen können. Deshalb war ich für einen Moment enttäuscht, aber dann erinnerte mich Mom daran, dass ich den Main doch sehr mögen würde, was stimmt, und dass es deshalb auch sehr gut möglich sei, dass er mir anderswo ebenfalls sehr gut gefallen würde, vielleicht sogar besser. Das konnte zutreffen, denn die Landschaft, durch die er hier bei uns fließt, hat ziemlich viel mit Autobahnen und Industrieanlagen zu tun. Der entscheidende Hinweis zum Zustandekommen unseres Ausflugszieles ergab sich aber erst aus der Information, dass Evi, eine ihrer ziemlich besten Freundinnen, kürzlich dort gewesen sei und begeistert berichtet habe. Evi ist schrill und kreativ. Das konnte was werden und ich freute mich.