Nichts als die Wahrheit? - Max Steller - E-Book

Nichts als die Wahrheit? E-Book

Max Steller

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Beschreibung

Verhaftet. Vernommen. Unschuldig verurteilt.

Max Steller ist führender Experte, wenn es darum geht herauszufinden, ob Zeugen vor Gericht lügen. Er bringt Täter hinter Gitter und sorgt dafür, dass Unschuldige freigesprochen werden. Mit seiner Hilfe wurde der Holzklotz-Mörder überführt, er fand heraus, dass das vermeintliche Opfer im Fall Andreas Türck log. Würde seine Methode konsequent angewendet, könnten zahlreiche Fehlurteile verhindert werden. Doch steht es Aussage gegen Aussage, läuft bei der Wahrheitsfindung an deutschen Gerichten einiges schief. Vor allem beim Vorwurf Vergewaltigung scheint die Unschuldsvermutung außer Kraft zu treten. Nachdem er jahrelang beobachten musste, wie schändlich an deutschen Gerichten mit der Wahrheit umgegangen wird, klagt Max Steller das System in diesem Buch an. Denn jeder unschuldig Verurteilte und jeder freie Täter ist einer zu viel!

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Zum Buch

Max Steller ist führender Experte, wenn es darum geht, herauszufinden, ob Zeugen vor Gericht lügen. Er bringt Täter hinter Gitter und sorgt dafür, dass Unschuldige freigesprochen werden. Mit seiner Hilfe wurde der Hotzklotz-Mörder überführt, er fand heraus, dass das vermeintliche Opfer im Fall Andreas Türck log. Würde seine Methode konsequent angewendet, könnten zahlreiche Fehlurteile verhindert werden. Doch steht es Aussage gegen Aussage, läuft bei der Wahrheitsfindung an deutschen Gerichten einiges schief. Vor allem beim Vorwurf Vergewaltigung scheint die Unschuldsvermutung außer Kraft zu treten. Nachdem er jahrelang beobachten musste, wie schändlich an deutschen Gerichten mit der Wahrheit umgegangen wird, klagt Max Steller das System in diesem Buch an. Denn jeder unschuldig Verurteilte und jeder freie Täter ist einer zu viel!

Zum Autor

Prof. Dr. Max Steller, geboren 1944, ist emeritierter Professor für Forensische Psychologie an der Charité Berlin. Seit Jahrzehnten ist er an deutschen Gerichten als Sachverständigter für Glaubhaftigkeitsgutachten tätig, unter anderem am Bundesgerichtshof. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Deutschen Psychologie Preis. Max Steller ist verheiratet und lebt in Berlin.

Max Steller

Nichts

als die

Wahrheit?

Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann

Wilhelm Heyne Verlag

München

Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Mitarbeit: Shirley Michaela Seul

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-11410-7

www.heyne.de

Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die Opfer geworden sind: Opfer von sexueller und körperlicher Gewalt oder Opfer von falscher Verdächtigung.

In diesem Buch schildere ich Fälle aus meiner Praxis als Gerichtsgutachter. Namen und Orte und manche für das Thema nicht relevanten Umstände sind verfremdet. Für die Anonymisierung der beteiligten Personen erlaube ich mir, ausnahmsweise vom Weg der Wahrheit abzuweichen, obwohl es in diesem Buch um die Wahrheit geht.

Inhalt

Unschuldig im Gefängnis oder schuldig in Freiheit?

Dichtung oder Wahrheit: Wo beginnt die Lüge?

Inhaltsanalyse: Die heiße Spur zur Wahrheit

Mobbing: Weil du anders bist, quälen wir dich

Ausrede oder Wahrheit: Der Fall Susanne

Prominente: Ruhm lockt Lügner an

Wahrheitsfindung mit Maschinen: Der Lügendetektor lügt

Anstandsregeln: Vom »richtigen« Umgang mit Opfer-Zeugen

Mord aus Frust: Der Holzklotz-Fall

Suggestion: Ich sehe das, was du nicht siehst

Scheinerinnerung: Mangel als Nährboden

Vom richtigen und falschen Denken: Ideologien und ihre Gegenmittel

Trauma: Weil ich mich an nichts erinnern kann, muss da was gewesen sein

Im Namen des Volkes: Wir glauben dir alles!

Das Opferentschädigungsgesetz: Wenn der Vater missbraucht und der Staat zahlt

Aufdeckung im neuen Gewand: Die Verschleierung der Wahrheit durch Erinnerungsarbeit

Realer Mord, fiktive Aussage: Der Mordfall Kern

Gesucht: Work-Life-Balance – Gefunden: Sexueller Missbrauch in der Kirche

Plädoyer wider die Unvernunft!

Danksagung

Unschuldig im Gefängnis oder schuldig in Freiheit?

Das kurze Glück von Ben

Das Lächeln in seinem Gesicht ging gar nicht mehr weg. Ben konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so gut drauf gewesen war. Mann, er war verliebt! Zuerst hatte er nicht in diesen blöden Club gewollt. Aber dann war er mitgegangen, und da stand sie an der Säule. Ein Blitz hatte ihn getroffen. Er hatte sie auf einen Drink eingeladen und dann auf noch einen. Sie hieß Annkathrin, und Ben war seit gestern Nacht kein Single mehr. Sein Opa hatte ihm mal gesagt, dass er es sofort gewusst habe, dass er seine Oma heiraten würde. »Wenn es so weit ist, Junge«, hatte der Opa gesagt, »das spürst du.« Und genau das hatte Ben in dieser Nacht gespürt. Sie war es. Und wie lieb sie ihn danach zugedeckt hatte. Und diese süße Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen. Er würde noch eine Karte für das Konzert am Samstag besorgen. Da musste sie unbedingt mit. Seinen Kumpels würde der Mund offen stehen bleiben. Und wenn er das nächste Mal bei ihr in der Wohnung wäre, würde er die Toilettenspülung reparieren. Da lief ja ständig das Wasser durch.

Sein Handy klingelte. Er kannte ihre Nummer auswendig, obwohl er sie noch nie angerufen hatte. Er war ja erst kurz vor Sonnenaufgang nach Hause gefahren. Da hatte er sie nicht wecken wollen. Vielleicht schlief sie bis abends. Und er wäre auch gern bei ihr geblieben, aber er musste ja leider zur Arbeit. Mit Herzklopfen drückte er auf den grünen Hörer. »Hallo?« Er klang heiser. Mist. Und er war auch viel zu früh rangegangen. Man muss die Bräute zappeln lassen, so predigte es Stefan immer, und der kannte sich aus. Ob das auch für die Richtige galt? Annkathrin wollte ihn treffen. Sofort. Sie sagte ihm, wo. Und dann legte sie auf. Das fand Ben ein bisschen komisch, aber vielleicht war sie auch aufgeregt. Egal, sie konnten ja später reden.

Er war zehn Minuten zu früh am Treffpunkt. Am U-Bahnhof entdeckte er einen Blumenladen. Die Verkäuferin räumte ihre Ware gerade weg, es war schon Ladenschluss. Zuerst wollte sie Ben nichts mehr verkaufen. Dann sah sie sein Lächeln. Alle sahen es. »Verliebt?«, fragte sie. Er nickte und kaufte eine Sonnenblume. Eine. Denn Sträuße verschenkten ja nur ältere Leute. Die Sonnenblume passte zu Annkathrin. Sie war seine Sonne.

Er ging um die Ecke, da stand sie. Er hob den Arm, um zu winken. Plötzlich von hinten ein Schubs, er begriff nicht, was geschah, dann lag er auf dem Boden, und alles, was er sah, war die Blume im Dreck. Er dachte, dass doch jemand ihre zarten gelben Flügelchen aus der Pfütze nehmen müsste. Dann wurde er hochgerissen. Die Arme wurden ihm schmerzhaft auf den Rücken gebogen, und er bekam Handschellen angelegt. Zwei Männer zerrten ihn zu einem vergitterten Polizeiwagen. Niemand redete mit ihm. Auf der Wache erst wurde ihm eröffnet: »Sie stehen im Verdacht, Frau Annkathrin Weber vergewaltigt zu haben.«

Annkathrin hatte Ben angezeigt, er habe sie vergewaltigt. Zwar habe sie ihn in der Nacht von Sonntag auf Montag zu sich eingeladen, aber was dann folgte, sei gegen ihren Willen geschehen. Was von Ben ganz anders geschildert wurde, als er endlich Gelegenheit bekam, sich zu äußern. Er erklärte, der Austausch von Zärtlichkeiten und auch der Geschlechtsverkehr seien einvernehmlich geschehen.

Und was glauben Sie? Ist Ben ein Vergewaltiger? Lügt er oder lügt Annkathrin?

Seit mehr als vierzig Jahren beschäftige ich mich wissenschaftlich mit Lüge und Wahrheit. Nach einem Psychologiestudium spezialisierte ich mich in dem Gebiet der Aussagepsychologie, also der Lehre vom Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen. Von 1988 bis zu meiner Pensionierung 2009 hatte ich die einzige Universitätsprofessur in Deutschland für gerichtliche Psychologie inne: an der Freien Universität Berlin und nach Umorganisation an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Seit Jahrzehnten bin ich darüber hinaus bundesweit tätig als gerichtlich bestellter Sachverständiger für Glaubhaftigkeitsgutachten, unter anderem auch vor dem höchsten Strafgericht, dem Bundesgerichtshof (BGH) … Glauben Sie mir das alles?

Wenn der Herr Professor das sagt, dann wird es wohl stimmen.

Und es stimmt. Denn die Aussagen lassen sich durch Dokumente belegen. Ein Glaubhaftigkeitsgutachten wäre nicht nötig, weil es objektive Belege gibt. Und genau das ist der Unterschied zu vielen Kriminalfällen. Besonders bei Sexualdelikten, aber auch bei Gewaltdelikten gibt es häufig keine objektiven Belege. Nur sich widersprechende Behauptungen, vage Gefühle, Eindrücke, falsche Erinnerungen und vieles mehr, was ein Leben ruinieren kann. Oder mehrere Leben.

Ich hatte Annkathrin im Auftrag eines Gerichts hinsichtlich der Glaubhaftigkeit ihrer Vergewaltigungsschilderung zu begutachten. Diese Begutachtung fand ein halbes Jahr nach der vermeintlichen Tatnacht statt. Es ist leider oft so, dass zwischen einer Anzeige und der Begutachtung viel Zeit verstreicht. Das liegt daran, dass die Polizei zunächst in alle Richtungen ermittelt, unter anderem Zeuginnen und Zeugen befragt, in diesem Fall über die Vorgeschichte, das Kennenlernen der beiden in einem Club.

Der Zeitraum, bis es in Deutschland nach einer Anzeige zur Anklage kommt, beträgt in der Regel mindestens ein halbes Jahr. Zeugen wohnen oft an unterschiedlichen Orten, Akten werden hin und her geschickt, Beamte haben Urlaub. Und so lange dauert es auch, bis ein Gutachter bestellt wird. Sind Kinder beteiligt, versucht man allerdings, das Verfahren zu beschleunigen.

Bei der Begutachtung von Annkathrin Weber fiel mir auf, dass sie die Vergewaltigung nur andeutungsweise schilderte und keinen Widerstand von ihrer Seite beschrieb. Des Weiteren war auffällig, dass sie die Frage nach Gewalthandlungen von Ben verneinte. So blieb unklar, was die Vergewaltigung ausgemacht haben sollte. Auf meine gezielte Frage, warum es sich nach Frau Webers Meinung um eine Vergewaltigung gehandelt habe, erwiderte sie: »Ich habe meiner Mutter am Montagnachmittag von meiner neuen Bekanntschaft erzählt und dass wir die Nacht zusammen verbracht haben. Aber das fand meine Mutter nicht gut, weil man so was mit einem Farbigen nicht macht. Und als ich darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass ich den Geschlechtsverkehr eigentlich nicht wollte und Ben ihn gegen meinen Willen durchgeführt hat.«

»Das ist Ihnen im Nachhinein eingefallen?«

Frau Weber schaute mich offen an und nickte. Es lag ursprünglich wohl nicht in ihrer Absicht, Ben zu schaden. Sie hatte ihn angezeigt, weil ihre Mutter das für richtig hielt.

Ben hatte das Glück, nicht allzu lange in U-Haft zu sitzen, denn bei dem jungen Mann, der eine Lehre zum Schreiner machte und mit seiner Mutter und zwei jüngeren Schwestern in einer Wohnung zusammenlebte, bestand keine Fluchtgefahr. Andere falsche Opfer befinden sich sehr lange in U-Haft; ich erinnere an den TV-Meteorologen Jörg Kachelmann. Er ist ein Promi. Doch in deutschen Gefängnissen warten auch vermeintliche Täter auf ihre Gerichtsverfahren, die nicht so bekannt sind. Und wenn sie endlich freigesprochen werden, kann es sein, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war. Freundin weg, Familie entsetzt, Job weg, Kinder entfremdet, Wohnung gekündigt, kein Geld. Und jetzt?

Natürlich kann man sich fragen, ob die Polizei anders vorgegangen wäre, wenn Ben keine dunkle Haut gehabt hätte. Das ist nämlich durchaus vorstellbar, zumindest, was die Art und Weise betrifft, wie er verhaftet wurde. Zumal Annkathrin Webers Schilderung der Vergewaltigung auch bei der Polizei nicht überzeugend klang. Warum fiel es den Beamten nicht auf, dass sie auf genaue Fragen keine Antworten geben konnte, dass sie ständig auswich, wie im Vernehmungsprotokoll dokumentiert?

Was also haben Sie geglaubt? Und wem? Ben oder Annkathrin? Stimmen die Umstände – Ausländer, Hartz IV, dunkle Hautfarbe, Prostituierte, schwul, Vorstrafen, Hilfsarbeiter etc. –, ist Justitia womöglich manchmal nicht blind. Der Anspruch der Justiz ist: gleiches Recht für alle. Einige Fälle, die ich in diesem Buch schildere, werfen die Frage auf, ob die Behandlung durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte nicht doch auch abhängig vom Status des Angeklagten sein kann. Es wäre zu hoch gegriffen, von einem Zwei-Klassen-Recht zu sprechen, doch sicher gibt es manchmal Fälle, die anders beurteilt worden wären, hätte eine Zeugin oder ein Angeklagter anders ausgesehen oder käme sie oder er aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht. Das zeigt auch der nachfolgende Fall.

Der Neurologe und die Stimmgabel

Seine Privatklinik lag im Großraum München, und er stand im Ruf, einer der besten seines Fachs zu sein. Wer einen Termin bei dem Neurologen Dr. von Lübtow bekam, konnte sich glücklichschätzen. Die meisten seiner Patientinnen waren Akademikerinnen und privat versichert. Managerinnen, Bankerinnen, Architektinnen. Sie waren aber schwer erkrankt, es bestand Verdacht auf Multiple Sklerose und Ähnliches. Vielleicht war eine krankheitsbedingte Verunsicherung der Grund, dass alle Patientinnen den Anweisungen folgten und sich eine Stimmgabel in die Scheide einführen ließen, mit deren Hilfe der Doktor ihre Reflexe testen wollte, in Hündchenstellung. Nach der Untersuchung kam ihnen das merkwürdig vor, aber die meisten beschlossen, den Vorfall zu vergessen. Es war ja auch irgendwie peinlich, darüber zu sprechen. Andere vertrauten sich einer Freundin oder dem Ehemann an. Und einige wenige erstatteten schließlich Anzeige.

Nach Befragung der Patientinnen gemäß der Patientenkartei durch die Polizei blieben acht Belastungszeuginnen, die unabhängig voneinander ganz ähnliche Vorgehensweisen des Neurologen schilderten, unter anderem, dass er ihnen die Reflexprüfung mit der Stimmgabel in der Scheidengegend als besonders moderne diagnostische Methode vorgestellt habe. Der Neurologe bestritt vehement, solche Handlungen vorgenommen zu haben. Die falschen Aussagen seiner Patientinnen seien ein Resultat ihrer neurologischen Erkrankungen. Er ließ sich auch nicht aus seiner arroganten Ruhe bringen, als alle Zeuginnen unabhängig voneinander mehr oder weniger das Gleiche aussagten. So wurde ich vom Landgericht beauftragt, die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Belastungszeuginnen zu beurteilen, und kam zu dem Schluss, dass alle mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisbegründet, also glaubhaft waren. Wie ich dies herausfand, wie ich als Gutachter die Wahrheit von der Lüge unterscheide, beschreibe ich auf den folgenden Seiten. In diesem Stimmgabel-Fall verlangte die Verteidigerin schließlich, dass sämtliche Tonbandaufnahmen meiner Befragungen vorgespielt wurden, was den Angeklagten allerdings nicht entlastete, denn die Aussagen der Frauen waren sehr überzeugend. In einigen Fällen hatte der Neurologe die Patientinnen angewiesen, sich vollständig entkleidet auf die Untersuchungsbank zu legen, damit er eine sogenannte Sensibilisierung durchführen könne. Dabei fuhr er mit einer Hand, die auffällig zitterte, über ihren gesamten Körper, ehe er die Stimmgabel in die Vagina einführte. Dann wurden die Patientinnen aufgefordert, einen Kniestand einzunehmen, und der Neurologe drang zuerst mit der Stimmgabel, dann mit einem Finger in die Vagina ein. Nebenbei bemerkt: Der Neurologe trug bei der »Untersuchung« keine Handschuhe.

Im Prozess vor dem Landgericht wurde der Arzt wegen sexuellen Missbrauchs von Kranken in Einrichtungen in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Darüber hinaus verhängte das Landgericht ein dreijähriges Berufsverbot für den medizinischen Bereich, soweit es um weibliche Patienten ging. Außerdem musste der Täter an eine Nebenklägerin Schmerzensgeld von einigen Tausend Euro bezahlen. Die Revision gegen das Urteil vor dem Bundesgerichtshof hatte keinen Erfolg. Doch damit war die Sache noch nicht beendet. Durch die Beharrlichkeit der Verteidigung und rechtliche Finessen, die sogar zu einer Verfassungsbeschwerde führten, wurden das Landgerichtsurteil und der bestätigende Beschluss des Bundesgerichtshofes schließlich wegen eines marginalen Verfahrensfehlers aufgehoben. Alles zurück auf null: Die Gabel konnte wieder erklingen.

Opferschutz: Zwei Seiten einer Medaille

Zwei Fälle, zwei unterschiedliche Vorgehensweisen von Polizei und Justiz. Gleiches Recht für alle? Aber warum sollte man sich darum kümmern, wenn es einen doch gar nicht selbst betrifft, wenn die eigene Weste weiß ist? Täuschen wir uns nicht: Was Ben passiert ist, kann jedem Menschen geschehen. Also auch Ihnen. Plötzlich steht die Polizei vor Ihrer Tür. Oder, noch peinlicher, taucht an Ihrem Arbeitsplatz auf und nimmt Sie fest.

»Das muss ein Irrtum sein!«, rufen Sie.

Da werden Sie schon zum Polizeifahrzeug geführt, und jemand legt Ihnen die Hand auf den Kopf, damit Sie beim Einsteigen nicht an den Türrahmen stoßen. Man kennt das aus dem Fernsehen, man hat das Hunderte von Malen gesehen. Und auf einmal ist man mittendrin – als Tatverdächtiger. Wobei man nicht selten schon als Verdächtiger behandelt wird wie ein Täter. Man fühlt sich wie im falschen Film.

Ich habe viele Menschen in Prozessen erlebt, denen genau das passiert ist. Sie wurden in den meisten Fällen keines Mordes bezichtigt, sondern einer Sexualstraftat oder einer Körperverletzung. Denn bei solchen Taten gibt es häufig keine Sachbeweise und keine Zeugen außer den anzeigenden Personen. Keine Tatwaffe, kein Fluchtfahrzeug, keine Beute und auch keine Kamera, die das Verbrechen gefilmt hat. Zwei Zeugen, zwei konträre Aussagen. Einer sagt: Ich habe nichts gemacht. Der andere schildert das Gegenteil. Dann steht Aussage gegen Aussage. Wer sagt die Wahrheit? Und wie findet man sie heraus? Wie verhindern wir, dass unschuldige Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt werden oder dass Täter frei herumlaufen? Können wir das überhaupt? Ich behaupte: ja. Wenn wir gründlich arbeiten und uns nicht beeinflussen lassen von Laienmeinungen über angeblich todsichere Anzeichen von Lüge und Wahrheit, wie sie derzeit kursieren. Sondern stattdessen genau zuhören. Denn der Lügner verrät sich. Meistens. Er verwickelt sich in Widersprüche. Komisch, dass anderen diese Widersprüche nicht aufgefallen sind, denke ich mir so manches Mal bei einer Begutachtung. Zum Beispiel bei der Vernehmung durch die Polizei oder später bei der Staatsanwaltschaft.

Bitter ist das für diejenigen, die lange Zeit unschuldig im Gefängnis sitzen, weil jemand eine falsche Behauptung aufgestellt hat, die nicht gründlich genug überprüft wurde. Wie viele Menschen unschuldig in Haft sind, weiß niemand, sonst wären sie ja frei. Man weiß auch nicht, wie viele Täter frei herumlaufen. Umso sorgfältiger müssen wir vorgehen, um Opfer und Täter klar voneinander zu trennen. Und das bezieht sich auch auf Sexualstraftaten. Man schätzt, dass 30 Prozent aller Vergewaltigungsanzeigen unbegründet sind.

Der Minirock ist schuld?

Opfer eines Sexualdeliktes werden heutzutage in Deutschland ernst genommen, und das ist auch gut so. Lange Zeit war das anders. Da wurde solchen Opfern häufig die Schuld zugesprochen, wenn man ihnen überhaupt glaubte. Wir alle kennen die Sprüche. Wer im Minirock herumrennt, muss sich nicht wundern. Das war doch nur Spaß. In Wirklichkeit wollte die das doch. Sie hat sich nicht gewehrt und so weiter. Und nur mal zur Erinnerung: Erst seit der Strafrechtsreform 1997 ist die Vergewaltigung in der Ehe strafbar.

Aber von der Neigung, eine »Schuld« beim mutmaßlichen Opfer zu suchen, sind wir nun dort gelandet, wo wir dem vermeintlichen Opfer nahezu blindlings glauben und es breite Unterstützung erhält. Dadurch kann die Gefahr entstehen, dass wir Menschen zu Tätern erklären, die tatsächlich Opfer falscher Anschuldigungen sind.

Nach wie vor gilt bei uns die Unschuldsvermutung. Diese Errungenschaft verhindert, dass vorschnelle Urteile gefällt werden, die früher flugs zum Verlust eines Kopfes führen konnten. Wir leben in einem Rechtsstaat. Doch zuweilen entsteht der Eindruck, dass der gesellschaftliche Konsens über die Unschuldsvermutung bei Sexualdelikten untergraben wird. Ich bin kein Täterschützer. Viele Täter sitzen aufgrund von Gerichtsurteilen hinter Gittern, bei denen meine Gutachten eine Rolle gespielt haben. Bei anderen, nämlich »falschen« Tätern konnte ich helfen, sie aus dem Gefängnis herauszuholen. Ich bezeichne es als Kollateralschäden des Opferschutzes, dass falsche Verurteilungen wegen Sexualdelikten immer wieder vorkommen. Manchmal entsteht der Eindruck, dass die Beweislast in diesem Bereich umgedreht wird. Ein Beschuldigter gerät in eine Situation, in der er seine Unschuld beweisen muss. Und das widerspricht sämtlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen.

Die Aussagepsychologie, die ich in diesem Buch vorstelle, hat seit Langem wissenschaftlich begründete Methoden entwickelt, mit denen tatsächliche Opfer gestützt werden können und die gleichzeitig helfen können, falsche Opferbehauptungen zu erkennen. Es handelt sich um rationale Prüfmethoden, die zu richtigen Entscheidungen in einem hoch emotional besetzten Feld beitragen können. Wenn Aussage gegen Aussage steht oder Sachbeweise fehlen, sollte jeder Mensch das Recht auf diese Prüfmethode haben. Doch obwohl sie seit mehr als fünfzehn Jahren zu den Standards zählt, die das höchste deutsche Gericht, der Bundesgerichtshof vorschreibt, wird sie bis heute immer noch zuweilen sträflich vernachlässigt. Das führt dazu, dass Unschuldige im Gefängnis sitzen und Schuldige ihre Freiheit genießen. Diesen Missstand möchte ich mit meinem Buch benennen. Teile der Gesellschaft, Teile der Politik und Teile der Justiz klage ich an, in den letzten Jahrzehnten vermeidbare Fehlurteile begünstigt oder gefällt zu haben und von diesen auch bei gegenteiligen Beweisen nicht rechtzeitig abgerückt zu sein. Solche Taten sind als Vergehen oder Verbrechen vielleicht nicht nach Paragrafen des Strafgesetzbuches verfolgbar, aber sie sind in jedem Fall ein Verstoß gegen Vernunft und vorhandenes Wissen.

Im Besonderen klage ich an, dass Personen, die andere Menschen beschuldigen und anzeigen, in Protokollen der Polizei vorschnell und ohne Prüfung als Geschädigte und von der Gesellschaft und der Justiz als Opfer bezeichnet werden. Außerdem wird immer wieder behauptet, Opfer von Straftaten seien rechtlos, das Interesse gelte allein den Tätern und Opfer würden durch Gerichtsverhandlungen traumatisiert. Wenn Belastungszeugen oder -zeuginnen sich widersprüchlich äußern, wird zuweilen behauptet, Opfer würden sich an traumatisierende Taten nicht gut erinnern. Daher wird gefordert, ihre Erinnerung durch Aufdeckungsarbeit oder durch Erinnerungstherapie wieder zu erwecken. So ist besonders in Fällen mit Sexualdelikten eine gesellschaftliche Stimmung entstanden, in der die Nachweispflicht, Opfer einer Straftat geworden zu sein, als inhuman angesehen wird. Das hieße aber, Beschuldigte müssten ihre Unschuld beweisen. Und das widerspricht der Unschuldsvermutung, die in einem Rechtsstaat jedem zusteht.

Alle hier angeklagten Behauptungen und Forderungen haben gemeinsam, dass sie einen wahren Anteil haben. Damit sind sie nur zum Teil wahr und eben auch zum Teil unwahr. Trotz gegenteiliger wissenschaftlicher Erkenntnisse werden Zeugenaussagen häufig nach unwissenschaftlichen Kriterien beurteilt. Wenn Halbwahrheiten wie Regeln gehandhabt werden und wenn wissenschaftliche Erkenntnisse vernachlässigt werden, ist die Gefahr für Fehler der Justiz groß. Um diesen Missstand zu beseitigen, muss der erste Schritt darin bestehen, die Lüge von der Wahrheit zu trennen.

Dichtung oder Wahrheit: Wo beginnt die Lüge?

Jeder Mensch lügt. Wenn Sie das abstreiten, lügen Sie. Vielleicht hat Sie heute schon jemand gefragt, ob es Ihnen gut geht. Sie haben Ja gesagt, und Sie haben dabei gelogen. Das ist nicht weiter schlimm, mögen Sie denken, und wahrscheinlich haben Sie damit recht. Es gibt allerdings Lügen, die sind schlimm. Wenn Sie ein Gerücht in die Welt setzen, das sich zu einem Verdacht auswächst und Konsequenzen für denjenigen hat, den Sie denunzieren, Stichwort Mobbing. Oder wenn Sie vor der Polizei und Staatsanwaltschaft fälschlicherweise behaupten, jemand habe eine Straftat begangen. Lügen können fatale Folgen entwickeln. In diesem Buch geht es um Lügen in ihrer extremsten Form: Wenn sie das Leben der Betroffenen stark verändern, vielleicht sogar zerstören.

Lügen können in verschiedenster Verkleidung auftauchen. Vom falschen Verschweigen – Ich erzähle nichts – über das falsche Verneinen – Nein, ich habe nichts gesehen – bis zur Falschaussage, also der ausgestalteten Schilderung eines Geschehens, einer Handlung, die nie stattgefunden hat. In meinem Spezialgebiet, der Aussagepsychologie, definiert man die Lüge durch zwei Eigenschaften: Sie wird bewusst vorgetragen und soll eine Absicht erfüllen, ist also zweckgerichtet. Die Absicht liegt in der Regel darin, sich selbst zu nutzen oder einem anderen zu schaden, was manchmal dasselbe ist.

Es gibt vielerlei Arten von Lügen wie beispielsweise Höflichkeitslügen: O ja, danke, es hat sehr gut geschmeckt; Angstlügen: Ich hab das nicht genommen; Ausredelügen: Der Bus kam zu spät; Schonungslügen, Notlügen und viele andere mehr. Sie sind eher harmlos im Vergleich zu beispielsweise Kriegslistlügen oder Politikerlügen, die wiederum die Leben vieler Menschen zerstören können. Eine besonders charmante Not- oder Höflichkeitslüge möchte ich kurz erwähnen:

Spiegel online berichtete 2014 unmittelbar nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft der deutschen Mannschaft von einer ausländischen TV-Reporterin, die den bayerischen Torjäger Thomas Müller auf Englisch fragte, wie es sich anfühle, den Titel als bester Torjäger der WM knapp verpasst zu haben. Müller antwortete in seiner Muttersprache: »Des intressiert mi ois ned, der Scheißdregg. Weltmeista samma, den Pott hamma. Den Scheißdregg Goidna Schua konnst dir hinta d’Ohrn schmiern.« Und weg war er. Die Journalistin fragte Müllers Teamkollegen Bastian Schweinsteiger, was Müller da eben gesagt habe, und er übersetzte höchst kreativ: »Er sagte, dass du schön aussiehst und er glücklich ist, den Titel gewonnen zu haben.«

Irrtum oder Wahrheit: Wer die Wahrheit sagt, kann sich dennoch täuschen

Wenn ein Zeuge bei der Polizei oder vor Gericht eine Aussage macht, berichtet er über ein Geschehnis, das in der Vergangenheit liegt. Dieser Bericht kann zutreffend oder falsch sein, denn Menschen können sich irren. In der Erinnerung verschwimmen die Eindrücke oder werden verwechselt oder teilweise ganz vergessen. Am Ende steht ein Irrtum, der aber nicht so wahrgenommen wird, weil man ja selbst gar nicht weiß, dass die Erinnerungen verschwommen sind oder man etwas vergessen oder verwechselt hat.

Aussagen über Vergangenes stellen eine geistige Leistung dar. Sowohl Irrtum als auch Lüge haben Bezug zu unserer geistigen Leistungsfähigkeit. Im ersten Fall gibt man ein Erlebnis wieder. Der Bericht wird je nach geistiger Leistungsfähigkeit mehr oder weniger gut gelingen, mehr oder weniger anschaulich und zutreffend sein – je nachdem, wie hoch der Anteil des Irrtums ist. Auch im zweiten Fall, also bei der erfundenen Handlungsschilderung, hängt die Qualität der Lüge maßgeblich von der geistigen Leistungsfähigkeit ab. Der eine kann besser lügen, der andere hat Schwierigkeiten, etwas zu erfinden.

Zum Thema Irrtum hat die Aussagepsychologie in vielen Studien wissenschaftliche Erkenntnisse erbracht. Vor rund einhundert Jahren, als die Aussagepsychologie begründet wurde, ging man davon aus, dass Menschen, die über ein vergangenes Ereignis berichten, automatisch viele Fehler machen. Man hielt die fehlerhafte Aussage für die Regel und die zutreffende Aussage für eine Ausnahme. Doch Gerichte müssen sich in vielen Fällen auf Zeugenaussagen verlassen, weil sie keine anderen Beweismittel haben. Umso wichtiger ist es, klar bestimmen zu können, welche Zeugenaussage wahr und welche falsch ist, ob bewusst oder irrtümlich falsch wiedergegeben.

Wie unterscheiden sich wahre und erlogene Aussagen?

Die Suche nach der Wahrheit schützt einerseits Menschen vor der Lüge anderer – tatsächliche Opfer vor der Lüge des Täters, fälschlich Beschuldigte vor der Lüge des nur vermeintlichen Opfers. Wie nun unterscheiden sich wahre und erlogene Aussagen?

Erfolgreiches Lügen bedarf einer erhöhten geistigen Leistung. Einem Menschen, der über ein tatsächliches Erlebnis spricht, fällt es normalerweise leichter, anschaulich und detailreich zu berichten, als einem, der ein erfundenes Erlebnis erzählt. Denn wer die Wahrheit sagt, bezieht sich ja auf seine eigene Erinnerung, ein konkretes Geschehen. Er wird also vielleicht nicht nur die Haupthandlung darstellen, sondern auch Besonderheiten und Nebensächlichkeiten berichten. Außerdem wird er seine Gefühle bei dem Geschehen beschreiben. Im Gegensatz dazu ist ein Mensch, der lügt, für gewöhnlich so beschäftigt damit, am Hauptstrang seines Lügengebildes zu spinnen, dass dies seine gesamte geistige Leistungsfähigkeit beansprucht. Da ist kein Platz für Nebensächlichkeiten, Besonderheiten, Gefühle. Es gibt allerdings hin und wieder auch höchst gewiefte Lügner, die fast so klingen, als würden sie die Wahrheit erzählen. Doch letztlich nur fast, wenn man weiß, wie man ihnen beikommen kann. Denn es ist sehr schwer für einen Lügner, seine eigenen Gedanken und Gefühle bei dem Geschehnis zu schildern, das er verfälscht oder komplett erfunden darstellt. Er müsste diese ja ebenfalls erfinden, wo er doch bereits mehr als ausgelastet damit ist, den Handlungsstrang der Lüge fortzuführen.

Bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung wird also der Inhalt, die Qualität einer Aussage geprüft. Die Qualität wird in Bezug gesetzt zur geistigen Leistungsfähigkeit der Person. In der Aussagepsychologie spricht man von einem Qualitäts-Kompetenz-Vergleich. Dieser Qualitäts-Kompetenz-Vergleich allein reicht allerdings noch nicht aus. Er muss ergänzt werden durch die Analyse der Vorgeschichte der Aussage: Wenn nämlich ein Zeuge Zeit zur Vorbereitung hatte, zum Beispiel durch Lesen von Büchern oder heute häufig durch Recherchen im Internet, so sind höhere Anforderungen an die Qualität zu stellen, als wenn es sich um eine relativ zeitnahe und spontane Aussage handelt. Bei einem Kind muss geprüft werden, ob es vor seiner Aussage von Erwachsenen beeinflusst wurde. Nur wenn die inhaltliche Qualität einer Aussage auch dann, also bei Berücksichtigung der Vorgeschichte, über der Erfindungskompetenz der Aussageperson liegt, kann sie als glaubhaft angesehen werden. Wenn eine Person wiederholt ausgesagt hat, kommt noch die Prüfung hinzu, ob die Aussagen übereinstimmen oder Widersprüche aufweisen. Das aussagepsychologische Vorgehen besteht also aus den Analysen von drei Bereichen: Aussageperson, Aussagequalität und Aussagegeschichte.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Grundsatzurteil aus dem Jahre 1999 die aussagepsychologische Aufgabe treffend zusammengefasst: »Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist – wie sich bereits aus dem Begriff ergibt – nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen.« In diesem Urteil wurde die aussagepsychologische Begutachtungsmethodik überprüft, und ihr wurde ausdrücklich Beweiswert zuerkannt.

Leider lassen sich trotz dieses BGH-Urteils aus dem Jahr 1999 immer noch viele Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte und auch Gutachter bei der Wahrheitssuche dazu verleiten, personale Eigenschaften, also den vermeintlichen Charakter einer Person, zu bewerten. Dabei können Vor- und Fehlurteile vorkommen – und manche Verdächtige haben aufgrund ihrer Lebensumstände schlechte Karten. Es geht bei der Wahrheitsfindung aber nicht um Täter- oder Zeugenpsychologie, sondern um Aussagepsychologie.

Scheinerinnerungen: Es ist nicht alles wahr, woran man sich erinnert

Ich erwähnte das schon: Wenn Zeugen die Wahrheit sagen wollen, können sie trotzdem etwas Falsches sagen, weil sie sich irren. Wenn wir das Wort Irrtum hören, denken wir als Erstes vielleicht an eine Verwechslung. Ein Zeuge sagt, das Fluchtfahrzeug der Bankräuber sei rot gewesen, ein anderer schwört Stein und Bein, es sei blau gewesen, und ein dritter spricht von Grün. Zeugen berichten, ein Stoppschild gesehen zu haben, obwohl an dieser Stelle seit Jahrzehnten ein Vorfahrtschild steht. Es gibt aber auch Vorstellungen, die überhaupt keine Erlebens- oder Beobachtungsgrundlage haben wie in den beiden genannten Beispielen, wo es immerhin ein Auto und ein Schild gab. Wenn bei einem Menschen fiktive Vorstellungen entstehen und diese dann als Erinnerungen erlebt werden, sprechen Aussagepsychologen von Scheinerinnerungen oder Pseudoerinnerungen. Aussagen, die auf Scheinerinnerungen basieren, stellen keine Lügen dar, obwohl sie falsch sind. Denn es fehlen ja die Absicht zur Täuschung und das Bewusstsein der aussagenden Person, etwas Falsches zu berichten. Dennoch gehören Scheinerinnerungen eigentlich auch nicht zu den Irrtümern, da sie sehr umfangreich sein können und häufig gar kein Erlebnishintergrund besteht, der irrtümlich verändert wird. Aber Scheinerinnerungen sind näher beim Irrtum anzusiedeln als bei der Lüge.

Scheinerinnerungen können alle Lebensbereiche betreffen. Wenn irgendwo eine Bürgerinitiative gegen die Strahlung eines Funkmastes demonstriert und dadurch die öffentliche Aufmerksamkeit weckt, werden mehr Menschen Beeinträchtigungen durch Handystrahlung wahrnehmen, als wenn das Thema nicht öffentlich diskutiert wird. Wenn irgendwo mal wieder die Landung eines Ufos gemeldet wird, gibt es auch Menschen, die dazu passende Beobachtungen gemacht haben wollen. Hätten sie nichts von der vermeintlichen Landung gewusst, hätten sie ihre Beobachtungen anders bewertet. Es gibt natürlich auch Menschen, die bezeichnen Ufos als Spinnerei. Andere lügen, sie hätten da was gesehen, um sich vielleicht interessant zu machen, wieder andere sind leicht beeinflussbar und glauben, was ihnen andere erzählen; womöglich behaupten sie dann im Anschluss sogar, selbst etwas gesehen oder gehört zu haben – und glauben das auch noch.

Quellensuche: Wo die Erinnerung entspringt

»Hast du schon gehört, dass Laura nicht mehr mit Sven zusammen ist?«, fragt Diana ihre beste Freundin und wundert sich, weil die nicht auf den Knaller reagiert. Stattdessen schaut die Freundin Diana komisch an und sagt dann: »Aber das habe ich dir doch letzte Woche erzählt.«

»Nein!«, ruft Diana sofort. Doch dann erinnert sie sich dunkel. Da war doch was? Und dann ist ihr das wahnsinnig peinlich. Und deswegen beharrt sie darauf: »Nein, hast du nicht.«