Nichts Besonderes - Nicole Flattery - E-Book

Nichts Besonderes E-Book

Nicole Flattery

0,0

Beschreibung

„Ich liebe Nicole Flatterys Schreiben.“ (Sally Rooney) Ihr Debütroman ist eine Coming-of-Age-Geschichte über die Freundschaft zweier Frauen im New York der 1960er Jahre.

Mae ist siebzehn, als sie anfängt, für Andy Warhol zu arbeiten. Sie soll die Gespräche abtippen, die er mit seinen berühmten Freunden führt. Eben erst den tristen Großstadträndern entlaufen, kennt Mae davon nur die wenigsten. Und doch fühlt sie sich zum ersten Mal am richtigen Ort: Zwischen all den exzentrischen Menschen sind ihre sonst so bizarren Sehnsüchte plötzlich originell und willkommen. In dieser schillernden Welt wird die neue Kollegin Shelley zu Maes Kompass, die Schreibmaschine zu einer Verlängerung ihrer selbst und die „Factory“ zu ihrem Zuhause. Bis sie sich in dem surrealen Abenteuer, dessen dunklen Sog sie erst zu spät zu fürchten lernt, vollkommen verliert.
Ein eigensinniger, großartiger Roman über die Grenzen weiblicher Unabhängigkeit und die Unwahrscheinlichkeit guter Kunst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 364

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ist das Cover des Buches »Nichts Besonderes« von Nicole Flattery

Über das Buch

»Ich liebe Nicole Flatterys Schreiben.« (Sally Rooney) Ihr Debütroman ist eine Coming-of-Age-Geschichte über die Freundschaft zweier Frauen im New York der 1960er Jahre.Mae ist siebzehn, als sie anfängt, für Andy Warhol zu arbeiten. Sie soll die Gespräche abtippen, die er mit seinen berühmten Freunden führt. Eben erst den tristen Großstadträndern entlaufen, kennt Mae davon nur die wenigsten. Und doch fühlt sie sich zum ersten Mal am richtigen Ort: Zwischen all den exzentrischen Menschen sind ihre sonst so bizarren Sehnsüchte plötzlich originell und willkommen. In dieser schillernden Welt wird die neue Kollegin Shelley zu Maes Kompass, die Schreibmaschine zu einer Verlängerung ihrer selbst und die »Factory« zu ihrem Zuhause. Bis sie sich in dem surrealen Abenteuer, dessen dunklen Sog sie erst zu spät zu fürchten lernt, vollkommen verliert.Ein eigensinniger, großartiger Roman über die Grenzen weiblicher Unabhängigkeit und die Unwahrscheinlichkeit guter Kunst.

Nicole Flattery

Nichts Besonderes

Roman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Hanser Berlin

Für meine Mutter und meinen Vater, in Dankbarkeit

DU glaubst vielleicht, ich bin nicht auf der Suche, und ER — Drella — glaubt vielleicht, ich bin nicht auf der Suche, aber ich bin auf der Suche. WER … wer von uns ist nicht auf der Suche nach Gott?

Ondine in: Andy Warhol, a: Ein Roman

Schöne Stadt.

2010

Meine Mutter besaß ein Buch, aus dem sie mir gerne vorlas, als ich klein war. Sie muss wohl irgendwo aufgeschnappt haben, dass es gut sein soll, sein Kind zu bilden. Auf diese Tatsache wird sie damals im Nebel vieler anderer Tatsachen gestoßen sein. Vielleicht hat sie ja sogar irgendwann eine Mutter mit ihrer Tochter auf einer Bank sitzen sehen, wie sie sich Seite für Seite durch ein Buch arbeiteten und die Mutter nur innehielt, um die Tochter auf die Stirn zu küssen. Bestimmt sahen die zwei dabei so aus, als hätten sie es besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Von solchen Bildern ließ meine Mutter sich oft ergreifen und wurde sie dann nicht mehr los.

Ich glaube, sie hatte das Buch aus einem Museumsshop. Es hatte genau den Glanz, dieses unerschütterlich Nette und Ansprechende eines Museumsshops. Auf seinen Seiten waren verschiedene Bauernhoftiere abgebildet und ihre diversen Eigenschaften aufgelistet. Meine Mutter hatte wohl ein schlechtes Gewissen, weil sie mich in der Großstadt aufwachsen ließ, umgeben von Lärm und Kriminalität. Den überall hingeschmierten Graffiti, die von der Unzufriedenheit der Massen zeugten.

Der Bauernhof kam spät. Ich war längst zu groß für dieses Buch. Das begriff ich damals schon. Ich war in einem Alter, in dem mir allmählich auffiel, wie unkonventionell unser Leben war — unsere Familienverhältnisse, unsere trostlose, klapprige Wohnung, die Aura, die unser Trio umgab, das Diner, unsere dreckige und düstere Straße. Mein Vater war nicht da, und selbst wenn, behauptete meine Mutter, dann hätte er sich nicht fürs Lesen interessiert. Er sei nicht besonders klug gewesen. Peinlich war ihr das nicht, wozu mussten die Männer, mit denen sie ins Bett ging, auch klug sein? Das sei, befand meine Mutter, reine Eitelkeit. Sie hielt so einiges für Eitelkeit. Als ob man klug sein musste, um auf eine Buchseite zu zeigen. So lernte ich nie meinen Vater kennen und er nie dieses Buch, in dem Schafe eine existentielle Bedeutung annahmen. Auf mich wirkten sie immer unheimlich, wenn ich zusammen mit meiner Mutter auf dem Boden hockte. Irgendetwas ging da noch vonstatten hinter ihrer ruhigen, gutmütigen Possierlichkeit.

Wenn es schon spät war und meine Mutter getrunken hatte, wurde vieles, was sie sagte, unberechenbar. Oft zeigte sie dann auf eine Kuh und sagte: »Das ist ein Schaf.«

»Ein Schaf«, wiederholte ich.

Ich wusste, es war gefährlich, sie zu verbessern. Aber im Herzen wusste ich auch, dass es kein Schaf war. Ein Schaf hätte noch einen wolligen Glorienschein um den gezeichneten Körper gehabt. Das verunglimpfte Tier sah uns aus dem Buch entgegen, als wollte es sagen: Ich habe nichts falsch gemacht. Das ist eine meiner glücklichsten Erinnerungen. Die Anwesenheit und ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Mutter waren besonders, unwiderstehlich. Ich glaube, das spürten alle in ihrer Gegenwart. Ich war so gerne ganz nah an ihrem weichen Gesicht, sah die sanften Falten auf ihrer Stirn, spürte ihren süßen Atem am Ohr, während sie mir Lügen einflüsterte. Stille, nichts — nur meine Mutter, die mit zittriger Hand umblätterte. Dann zeigte sie auf ein anderes Tier, einen Esel etwa, und sagte: »Das ist ein Schaf.«

»Ein Schaf«, wiederholte ich.

Ich machte alles mit. Bis ganz zum Schluss. Jedes Mal, wenn ich ins Seniorendorf meiner Mutter kam — sie sagten immer Dorf dazu, als würden dort alle fröhlich auf dem Fahrrad über die Landstraßen kurven — und jemand von den Pflegekräften wissen wollte, worüber ich mich mit meiner Mutter unterhalten hätte, sagte ich schlicht: »Über Schafe.« Mit dieser Art von lauem, sinnentleertem Humor begegne ich inzwischen meinem Alltag. Da, wo ich jetzt seit dreißig Jahren lebe, muss man nicht geistreich sein. Solche Bedürfnisse kennen wir nicht. Es geht eher um Übereinstimmung. Ich habe genauso einen stinknormalen Tag wie ihr, meine Gedanken sind genauso genormt wie eure. Das Lachen hier ist keusch.

Mitte der Neunzigerjahre, als meine Mutter und ich noch nicht wieder miteinander redeten, war ich auf einmal ganz besessen von diesem Bauernhofbuch. Ich hatte ein paar persönliche Probleme, von denen ich, wie alle schwierigen Menschen, glaubte, sie seien direkt auf mein Verhältnis zu meiner Mutter zurückzuführen. War ich fürsorglich genug? War ich verantwortungsvoll? Auf beide Fragen lautete die Antwort Nein, und das lag ziemlich sicher daran, dass meine Mutter mir nicht genug vorgelesen hatte, als ich klein war. Dann fiel mir das Bauernhofbuch wieder ein. Seit Kurzem stand mir das Internet zur Verfügung, und ich machte mich auf die Suche nach Informationen. Schließlich schrieb ich eine Mail an den verantwortlichen Verlag. Ich hielt das für eine höchst gewinnbringende Handlung. Eine spirituelle Mission. Außerdem glaubte ich, es meiner Mutter schuldig zu sein. Damals arbeiteten sich alle erst langsam ins Mailschreiben ein. In den Zeitschriften, die ich abonniert hatte, standen Artikel dazu — wie man E-Mails verschickt, wie man sie empfängt, die richtige Etikette, so lernten wir, eine Sprache zu benutzen, die wir noch nicht beherrschten. Begrüßen, arschkriechen, verabschieden. Alles Liebe. Die Rechner standen noch dick und weiß im Vorzimmer, wo ihre Besitzer sie im Auge behalten konnten. Mit der Tastatur kam ich instinktiv zurecht. Ich bilde mir ein, dass wir uns auf Anhieb erkannt haben.

Ich glaube, anfangs war der Verlag erschrocken, weil ich so viele Mails schickte — etwa alle fünf Minuten schoss eine neue aus mir heraus wie der kreischende, mechanische Vogel aus einer Kuckucksuhr. Eine neue Mail, eine neue Idee, eine neue Vision. Als Empfängerin musste ich mir zwangsläufig ein Mädchen von höchstens Anfang zwanzig denken. Ich sah sie an einem aufgeräumten Schreibtisch sitzen, sorgfältig frisiert, viel kultivierter als ich in dem Alter, mit einem gesunden, sommersprossigen Teint infolge einer Bildungsreise nach Europa, wobei der ganze Aufwand nur eine innere Unordnung überdeckte, eine finstere Ungeduld. Ihr erzählte ich, meine Mutter habe dieses Bauernhofbuch geliebt. Ich hätte keine Ahnung, wo sie es akquiriert habe. Das Wort »akquiriert« wählte ich ganz bewusst, um den Ton zu setzen. Akquiriert. In dieser neumodischen Sprache klang alles hohl. In meiner zweiten Mail erkundigte ich mich, wann das Bauernhofbuch denn erschienen und wer daran beteiligt gewesen sei. In der dritten führte ich aus, es sei ja schließlich nichts Merkwürdiges daran, ein Buch zu lieben. Die Urheber des Bauernhofbuchs — ob sie wohl noch lebten? — hätten ja nicht ahnen können, in welchen Bann sie das Herz meiner stolzen Mutter schlagen würden, als sie die Tiere in genau dieser spezifischen Gruppierung zusammenstellten, als sie sich diese Schafe mit ihren gutmütigen Mienen ausdachten und sie zu Papier brachten.

In jener Zeit, der Zeit meines Mailens, empfand ich die Leere meiner Wohnung wie einen Faustschlag. Ich hatte im Leben etliche lohnende Beziehungen geführt, inzwischen konnte ich mich aber nicht mehr so leicht verlieben wie früher. Was blieb stattdessen zu tun, wohin mit der ganzen Energie und Aufmerksamkeit? Sammeln, Kaufen. Meine Wohnung schien plötzlich Unmengen Zimmer zu haben, und ich hatte den Wunsch, sie alle zu füllen. Meine Besitztümer lächelten mir in frischer Kameradschaft entgegen. Während ich auf Antworten auf meine E-Mails wartete, sah ich mir Websites an, die dafür gemacht waren, mich, eine leicht verführbare Frau von Mitte vierzig, anzusprechen. Wahrscheinlich wusste ich einfach nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Das hatte ich nicht mehr richtig im Griff. Ich brauchte Möbel, die ich stundenlang im Zimmer herumschieben konnte. Ich brauchte die passenden Hosen und Blusen, um am Schreibtisch zu sitzen und zu tippen. Ich musste aussehen wie eine Tippse, das war unerlässlich: grau, gnadenlos und leicht zu vergessen. Eine Rolle, wie ich sie früher einmal so überzeugend gespielt hatte.

Diesem Projekt widmete ich mich etliche Wochen lang. Schätzungsweise habe ich mehr als zweihundert E-Mails verschickt, und fast alle enthielten unverlangte Informationen. Ich berichtete, dass meine Mutter in einem Diner gearbeitet habe, von unserer Wohnung aus ein Stück die Straße hinunter. In dieser Hinsicht habe sie ein eingeschränktes Leben geführt — wobei ihre Arbeit sie keineswegs bemitleidenswert mache. In einer besonders schwatzhaften Mail schilderte ich einen Tag aus dem Leben meiner Mutter. Ich ging tief ins Detail. Ich erzählte von ihrer unersättlichen Lust auf Kaffee. Sie holte sich immer schon unten im Laden einen, den sie dann auf dem Weg zur Arbeit trank. Im Diner brühte sie sich, ein klarer Vorteil ihrer Stelle, noch eine Kanne auf, die sie dann den Tag über leerte. Sie rauchte ununterbrochen. Einmal, erzählte ich, hatte ihr ein Ladendieb im Diner mit dem Taschenmesser eine Schnittwunde im Gesicht verpasst. Da war sie ganz aufgelöst gewesen. Ich kam dazu, als Mikey, der Mann, mit dem wir zusammenlebten, gerade dabei war, mit einem schmutzigen Geschirrtuch die Wunde zu reinigen. Wie so viele Menschen mochte auch sie ihre Arbeit nicht besonders und beklagte sich oft. Unappetitliche Typen, die sie anhusteten, sie betatschten. Manchmal griffen Männer über die Theke und packten sie an ihrem zarten Hals, und eine Woche später bediente sie diese Leute schon wieder, als wäre nichts gewesen. Das gelang ihr nur, wie sie mir und Mikey erklärte, weil sie ein größeres Verständnis für menschliche Schwächen besaß als der Durchschnitt. Ihre Kunden bezeichnete sie immer als ihre »armen Seelen«. Was noch? Das konnte ich nicht genau sagen, weil ich mir längst nicht mehr sicher war, ob meine Erinnerungen sich wirklich auf das Leben meiner Mutter oder auf das einer anderen Frau bezogen, einer Diner-Bedienung aus irgendeinem Film. So löchrig schien mir mein Kopf. Es gab so viele vertraute Bilder. Aber meine Mutter war ein reizbarer Mensch, die wenigen Dinge, die sie wirklich mochte, ließen sich also leicht eingrenzen. Sie mochte die unvergleichliche Abgeschiedenheit im Diner, nachdem sie abends abgesperrt hatte. Und sie mochte das Bauernhofbuch.

Ich stellte mir vor, wie das Mädchen diese E-Mails las — E-Mails, die von meinen Schuldgefühlen handelten, davon, wie ich mit meiner Mutter umgesprungen war, von den Brüchen in unserer Beziehung —, anschließend ihren Mantel überstreifte, im Dunkeln zur U-Bahn ging und über die vielen Dinge nachdachte, die es noch zu erledigen gab, ihre endlose Liste, Hunderte von Dingen. Wie meine Briefe, einer Fata Morgana gleich, verblassten. Vielleicht war sie ja noch neu hier, und die Stadt tat sich vor ihr auf wie ein Traum. All der Lärm, der Zauber fremder Menschen, die Hitze.

Geantwortet hat dann ein unverschämtes Miststück. Die glauben immer, durch ihre geschraubte Ausdrucksweise fällt ihr Charakter nicht weiter auf, aber das stimmt nicht. Man merkt es am schnippischen, arroganten Ton. Solche Leute wollen, dass man auf allen vieren vor ihnen kriecht, am liebsten durch den Computer hindurch. Betteln soll man, das wollen sie. Ich tippte weiter. Ich stellte mir die Sitzung vor, die sie meinetwegen abhalten mussten, einer neuartigen Sorte Mensch, mit der sie nicht recht umzugehen wussten. Sicher, in der Vergangenheit hatten sie oft schräge Anrufe bekommen, von Leuten, die sie mit traurigen Einzelheiten aus ihrem Leben und vor Kummer bebender Stimme an der Strippe hielten. Solche Anrufe lassen sich leicht abtun, man kann die Augen verdrehen und der Kollegin damit signalisieren, dass der Mensch am anderen Ende der Leitung dumm wie Brot ist, man kann Grimassen schneiden, auflegen und sich entfernen. Aber wer wollte schon den Computer einschalten und über das Leben irgendeiner Verrückten lesen? Damals war ich noch in der Minderheit. Jetzt bin ich die Mehrheit.

Sie schrieben mir noch eine Mail, in der sie mir mitteilten, wenn ich nicht aufhörte, sähen sie sich gezwungen, rechtliche Schritte einzuleiten. Ich stellte mir vor, wie ein Richter meine Mails vor einem voll besetzten Saal verlas, ein schwindelerregendes Szenario. Wo sollte ich bloß einen Anwalt herkriegen? So jemanden kannte ich nicht. Es schien mir jedenfalls leicht übertrieben. Eigentlich hatte ich doch nur ein Exemplar des Bauernhofbuchs gewollt, um eine Versöhnung zwischen mir und meiner eitlen, selbstsüchtigen Mutter herbeizuführen. Peinlich war mir das alles damals keinen Moment. Manchmal überfällt mich heute ein Gefühl von Peinlichkeit, in kurzen, unerwarteten Anflügen, wenn mir klar wird, wie mein Leben inzwischen aussieht — die Talkshows, die in Dauerschleife bei mir laufen, die Unterwäsche, die ordinär aus meiner Hose lugt, wenn ich mich im Supermarkt nach einer Müslipackung strecke. Bla, bla, bla. Das ganze banale Zeug, das ich so von mir gebe. Ich sehe mir mein Gesicht von außen an. Es ist längst nicht mehr jung und aufrichtig. Eine gewisse Klassenlosigkeit liegt darin, die er wahrscheinlich amüsant fände. Nicht, dass mich noch interessieren würde, was er amüsant fände.

Das Pflegeheim meiner Mutter war nur eine kurze Autofahrt von mir weg. Ich fuhr fast jeden Nachmittag hin und verhielt mich, als täte ich es aus Pflichtgefühl. Es war ja auch meine Pflicht; ich empfand ihr gegenüber eine Verantwortung, die meinem Aberglauben und meinen Schuldgefühlen entsprang. Nachdem wir wieder zusammengefunden hatten und sie immer älter und hilfloser wurde, hatte ich sie in meine Nähe geholt. Bei meinen Besuchen zeigte meine Mutter sich unberechenbar und machte oft böse Bemerkungen. Die Pflegekräfte, die ich um ihr Können, ihre Geduld und ihre professionelle Distanz beneidete, lächelten mir dann ernst zu. Ich fand es lustig, wie sie ihr jedes Mal vorauseilend verziehen. Sie glaubten, sie sei mit dem Alter bissig und depressiv geworden. Wie sollten sie auch ahnen, dass sie immer schon so gewesen war.

Das Pflegeheim gehörte nicht zu den teuersten, es machte aber insgesamt einen sehr soliden Eindruck, und das gefiel mir. Es gab dort einen nimmermüden Priester, dessen Aufgabe es war, allen auf dem Sterbebett die Beichte abzunehmen, und im Speisesaal ein paar alte Nonnen, die sich Eis in den Mund schaufelten, als wäre es ihre letzte, mickrige Chance auf Genuss. Meine Mutter warf mir Geiz vor, dabei gab ich in Wirklichkeit mehr aus, als ich mir leisten konnte. Ich wollte, dass sie es in ihren letzten Lebensjahren behaglich hatte. Ihre Beschwerden hörte ich mir widerspruchslos an. Ich bemühte mich um einen neutralen Ton. Oft ging sie in den Aufenthaltsraum, um sich mit einem Grüppchen anderer Bewohnerinnen zu unterhalten, die sie »die Mädels« nannte und zu deren Anführerin sie sich ohne große Mühe aufgeschwungen hatte. Blitzschnell ging das mit ihrem Aufstieg. Teilweise wohl, weil sie aus New York kam, was ihr eine künstlerische Aura verlieh, die sie eigentlich nie besessen hatte, teilweise aber auch, weil meine Mutter seit jeher außergewöhnlich gut mit anderen Frauen konnte, die sie ebenso sehr bewunderten, wie sie sich vor ihr fürchteten.

Sie verbrachte viel Zeit auf ihrem Zimmer und sah sich die Amateurfilme an, die Mikey von ihr gemacht hatte. Zu diesem Zweck hatte sie extra einen Videorekorder verlangt. Sie, wie sie geisterhaft unsere Straße entlang zur Arbeit ging, sie im Diner, sie, wie sie, ihrem ganzen sagenhaften und offen zur Schau getragenen frühzeitigen Zynismus zum Trotz, immer noch daran glaubte, dass ihr Gutes widerfahren würde. Die Filme waren entstanden, als ich schon nicht mehr zu Hause wohnte, und irritierten mich, weil sie mir neue Informationen über ein Leben vermittelten, das ich in- und auswendig zu kennen glaubte. Ich wollte sie immer davon abhalten, diese Filme laufen zu lassen. Mir kam das irgendwie vor wie ein schrecklicher, kranker Akt. Ich konnte es nicht leiden, wenn sie so auf dem Bett lag, den zahnlosen Mund leicht geöffnet, den Blick auf den Bildschirm geheftet, und ihrem Gehirn mit einer Überdosis Nostalgie unermesslichen Schaden zufügte. Die Pflegekräfte versicherten ihr, sie sei wirklich sehr attraktiv gewesen. »Sexy«, wurden sie von ihr verbessert. Mikey hatte genau gewusst, wie er sie filmen musste. Für mich bestätigten diese Videos, dass meine Mutter ihre eigenen Geheimnisse hatte. Ich wusste, dass sie bei ihren männlichen Kunden eine hündische Ergebenheit kultiviert hatte, sich hin und wieder von ihnen zum Essen oder auf einen Drink einladen ließ, schnell wegschaute, sobald das Licht auf einen Ehering fiel, nachsichtig lächelte. Ich wusste, dass meine Mutter grundsätzlich bekam, was sie wollte. Aber ihr Geheimnis lag in ihr selbst, darin, wie sie sich präsentierte. Und das hatte nur Mikey einfangen können. Mikey, der immer auf sie wartete, der oft mit ihr trank, bis sie entweder total hinüber war oder Lust bekam, ihn anzufassen. Ich hasse ihn nicht dafür, halte ihn auch nicht für schlecht oder böse. Ich habe ihn deshalb nicht weniger lieb. Über die Jahrzehnte und die allgemeine Neubewertung männlichen Verhaltens hinweg fing ich an, ihn mit den Augen anderer zu sehen, wie er bei uns auf der Couch campierte und mit meiner Mutter schlief, wenn sie nicht mehr nüchtern war. Ich hätte deswegen gefälligst ordentlich empört zu sein, wurde mir erklärt, müsse ihn öffentlich denunzieren. Aber ich wusste ja, dass meine Mutter ihn genauso ausnutzte, vielleicht auf viel schlimmere Weise — seine Freundlichkeit und seine Naivität, dass sie ihn als Babysitter für mich missbrauchte, damit sie selbst tun und lassen konnte, wonach ihr war. Ich weiß wirklich nicht, wie mich das anstacheln und dazu bringen sollte, nach Rache zu gieren. Mich machte vor allem traurig, dass er die ganze Zeit gehofft hat, ihr besoffenes Gefummel ließe sich in Liebe überführen, während sie ihm jede echte Zuneigung vorenthielt.

Im letzten halben Jahr ihres Lebens fing sie an, Fragen zu stellen, die sie sonst nie gestellt hätte. Ich schob das auf die jüngeren Pflegekräfte, die, um im Angesicht des Todes Gleichmut zu beweisen, überall im Heim ihre Klatschzeitschriften herumliegen ließen. Die Titelseiten wurden von den üblichen Promis mit ihrem fügsamen, festbetonierten Strahlen besetzt, aber hintendrin standen lauter Geschichten über Frauen, die von sich aus die Initiative für Sex im Flugzeug, im Club oder in dem Büro ergriffen, in dem sie, man glaubt es kaum, die Chefin waren. Schilderungen von Gefahr, Lust, eindeutige Stellungen. Meine Mutter und ich hatten uns nie nahe genug gestanden, um über Sex zu reden. Ich war mit achtzehn ausgezogen, wir hatten also kaum Gelegenheit für Gespräche unter Erwachsenen gehabt. Für die damalige Zeit war dieser Auszug fast schon spät, wir folgten alle dem Beispiel unserer Freundinnen, taten, was auch sie taten. Jetzt war meine Mutter auf einmal hungrig, gierig: Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, um mir meine Geheimnisse abzuluchsen. Einmal, am Sonntagmorgen, nach der Messe, die wir manchmal zusammen besuchten, fragte sie mich, ob ich jemals einen Orgasmus vorgetäuscht hätte. Sie saugte dabei an einem Strohhalm, der in einem Fläschchen billigem Orangensaft aus dem Supermarkt steckte.

»Wieso?«, fragte ich. »Ist das wichtig?«

»Frauen machen so was.«

»Ja.« Ich wischte die Spucke weg, die sich in ihrem Mundwinkel gesammelt hatte. »Klar.«

»Auch die, die gut verdienen?«

»Vor allem die, die gut verdienen.«

Sie rümpfte die Nase und legte den Strohhalm weg. Maß mich mit kaltem, entschlossenem Blick. »Warum?«

»Wahrscheinlich hat es was mit Freundlichsein und Gefallenwollen zu tun.«

»Aus Nettigkeit«, sagte sie voller Abscheu.

»Hast du denn nie?«

»Nein«, sagte sie. »So was ist doch kränkend. Ich habe das nie gemacht.«

Sie war sehr zufrieden mit sich. Ich hätte ihr gerne erklärt, warum es mitunter kränkender sein konnte, nicht vorzutäuschen, aber sie hatte das Gespräch und mich schon wieder hinter sich gelassen. Über wenige Wochen hinweg fragte sie mich auf eine Art nach meinem Sexleben aus, die ich gleichzeitig abscheulich und befreiend fand. Ob ich mal fremdgegangen sei? Ja. Wie ich es fände, einem Mann einen zu blasen? Bereichernd, aber nur, weil man sich die ganze Zeit der eigenen Großzügigkeit bewusst ist. Ob mir schon mal eine Affäre angetragen worden sei? Mehrmals, aber dann hatte mich der frotzelnde Ton der Mails und Nachrichten, mit denen die Affäre in Gang gebracht werden sollte, immer dermaßen abgestoßen, dass ich mir eingestehen musste, für so etwas nicht gemacht zu sein. In der Kleinstadt, in der wir wohnten, machte mich mein Ruf als exzentrische Traumtänzerin sogar besonders begehrt für solche Anträge, denn wenn ich ablehnte, trug das männliche Ego kaum Schaden davon. Diese Schlampe etc. pp. Als meine Mutter das hörte, lächelte sie wissend, als wäre das doch schon seit Jahrhunderten bekannt. Ob ich auch mal mit jemandem im Bett gewesen sei, der weniger verdiente als ich? Bei manchen dieser Fragen wusste ich wirklich nicht, wo sie herkamen. Durch die Zeitschriften hatte sie ein seichtes Interesse am finanziellen Aspekt der ganzen Transaktion entwickelt. Ich muss zugeben, ich fand diese Unterhaltungen seltsam inspirierend. Einmal wachte ich mitten in der Nacht auf und stellte fest, dass es mich bei dem Gedanken, wie wenig entgegenkommend meine Mutter gewesen war, vor Lachen schüttelte. Ich malte mir aus, wie sie vollkommen konsterniert eine ganze Parade von Männern beäugte, die vergeblich versuchten, sie zu befriedigen. Während sie es nicht mal über sich brachte, einen popeligen Orgasmus vorzutäuschen. Mir liefen die Tränen herunter. Ich konnte nicht fassen, dass sie allen Ernstes so miesepetrig gewesen war, so standhaft in ihrer Weigerung, anderen zu gefallen. Vielleicht hatte ich sie ja letztlich doch lieb.

Kurz nachdem ich aufgefordert worden war, die E-Mails an den Verlag einzustellen, und das Leben wieder seinen normalen Gang ging, fand ich ein Buch im Briefkasten. Natürlich war es das Bauernhofbuch. Anscheinend weiß die Welt immer instinktiv, wann man aufgeben will. Ein Anschreiben lag nicht bei. Ich weiß nicht, ob es mich besänftigen sollte oder als Gefälligkeit gedacht war. Ich stellte mir die junge Assistentin vor, diese Kopie meines jüngeren Ichs, wie sie das Buch aus dem Büro schmuggelte und das Porto tapfer selbst auslegte. So oder so rührte mich die Geste. Ich schickte das Buch meiner Mutter, und sie rief mich an. Seit Mikey tot war, hatten wir ein paar Mal telefoniert. Ihre Stimme in der Leitung, vertrautes Gift. Wir kamen beide nicht gut mit seinem Tod zurecht. Für mich war die Zeit seither wacklig geworden, unmöglich. Ich konnte keine Alltagskontakte pflegen, keine Filme mehr sehen, mich nicht auf die Nachrichten konzentrieren. Was in aller Welt redeten die da bloß? Damals waren wir ein Trost füreinander. Das war ein Weg für uns, Mikey am Leben zu erhalten. 1996, als ich ihr das Bauernhofbuch schickte, war sie seit über zehn Jahren trocken und dabei, ihren Platz im Leben neu zu finden. Die Vergangenheit hatte sie lange genug gequält. Sie freute sich auf die Zukunft. Ich konnte das verstehen. Ich besuchte sie in New York; wir verbrachten ein paar gute Stunden. Wir waren beide entspannter. Die Jahre hatten unser Temperament gedämpft. Ich konnte mich nicht mehr so in meinen Zorn hineinsteigern wie früher. Und seit sie nicht mehr trank, hatten viele ihrer Kommentare ihren Stachel verloren: Die Begabung zum Giften war ihr abhandengekommen. »Seit ich nicht mehr an meinen Kunden üben kann, bin ich auch nicht mehr so zänkisch«, sagte sie. Einmal, da war sie schon in ihr Seniorendorf gezogen, sah ich das Bauernhofbuch auf ihrem Nachttisch liegen. Sie hatte es mitgenommen. Als ich das kommentierte, entgegnete sie etwas Abfälliges. So war sie eben. Zu echter Grausamkeit war meine Mutter nie fähig gewesen. All das, was ich als Grausamkeit missdeutet hatte, war im Grunde nur Enttäuschung, Gefühlsüberschwang ohne Ventil, ein Verlangen nach menschlichem Kontakt, den sie nicht bekam. Damals wusste ich noch nicht, was echte Grausamkeit war. Das kam erst noch.

Am Abend bevor meine Mutter starb, saß ich mit ihr und den Mädels im Aufenthaltsraum vor dem Fernseher. Die Ansichten dieser Frauen waren überholt und gingen mir an die Nieren, aber ich mochte die kleinen Kuchen, die es zu den festgesetzten Fernsehzeiten gab. Die Mädels guckten am liebsten Quizshows. Meist gab es einen Wetttopf, um es spannender zu machen. Allerdings waren wir uns selten einig, welche Show die unterhaltsamste war. Dorothy, die Lieblingsgesellschaft meiner Mutter, konnte die Sendung nicht leiden, die von einer strengen Frau mit riesiger Frisur moderiert wurde, die aussah, als hätte sie in die Steckdose gegriffen. Die Bestimmtheit und der zügellose Ehrgeiz dieser Frau verstörten sie. Mir gefiel das. Ich mochte es immer schon, wenn Menschen ihr authentisches Ich zeigen, selbst wenn dieses Ich unfassbar hässlich ist.

»Hexe«, zischelte Dorothy.

»Recht hast du, Dorothy«, pflichtete ich ihr bei. Tendenziell pflichtete ich allem bei, was im Aufenthaltsraum geäußert wurde. Die Show, die wir an dem Abend schauten, wurde von einem Mann moderiert, dessen ganzes Erscheinungsbild von schäbigen Hinterzimmern sprach und der uns angrinste, als führte er gerade ein Wahnsinnskunststück vor. Er schwang auf einer Frequenz, die ich nie für möglich gehalten hätte, mit einem Dauerlächeln, als gäbe es nichts Abwegigeres als Traurigsein. Sein Gast des Abends, der Mann, der Geld gewinnen wollte, sprach mit leiser Stimme. Sein Blick vermittelte, dass diese Quizshow eine neue Erfahrung für ihn war. Er stand bei 16.000 Dollar.

»Ein hübsches Sümmchen«, sagte Dorothy.

»Das bringt man auch im Handumdrehen durch«, entgegnete meine Mutter, pragmatisch wie immer, und seufzte. »Vor allem, wenn man Familie hat.«

Die nächste Frage lautete: »Wer schoss auf den Künstler Andy Warhol?«

Ich schaute unverwandt auf den Bildschirm. Verzog keine Miene. Rund um die richtige Antwort tänzelten drei falsche. An der Reaktion des Kandidaten merkte ich, dass er keine Ahnung hatte. Heutzutage kann niemand mehr richtig zuhören, das ist das Problem. Alle tun immer so, als wären Quizshows ein Spiel des Wissens, und beglückwünschen sich zur eigenen Intelligenz, dabei geht es bei solchen Spielen eigentlich ums Zuhören. Die Antwort ist immer schon in der Frage des Moderators enthalten. Der Kandidat suchte vielsagenden Blickkontakt mit der Kamera. Seine ganze Vorbereitung schien ihm jetzt weit weg. Der Moderator wiederholte die Frage. Die Sprechblasen mit den Antworten blieben, wo sie waren. Der Mann bat um den 50/50-Joker. Zwei Antworten verschwanden.

»Jetzt hat er alle Joker aufgebraucht«, sagte Dorothy. »Ich habe Angst um ihn.«

»Valerie Solanas«, sagte ich, den Mund voller Kuchen.

»Wie bitte, Mae?«, fragte meine Mutter. »Sprich laut und deutlich.«

»Das ist die richtige Antwort. Valerie Solanas.«

Wir sahen weiter dem Mann auf dem Bildschirm zu. Er brummelte ein bisschen. Wackelte mit dem rechten Fuß. Blickte flehentlich ins Publikum. Verbarg vor Beschämung sein Gesicht. Er wählte die falsche Antwort, wie es sein Schicksal war. Ich sah die Enttäuschung in der Miene des Moderators: Nie waren seine Gäste so kaltschnäuzig wie er. Der Kandidat wurde hastig entfernt und ersetzt.

»Solanas«, sagte meine Mutter. »An die erinnere ich mich. Man sah sie öfter in der Stadt. Hatte ein paar gute Ideen, wie so viele unattraktive Frauen.«

»Ich gehe nach Hause.« Ich stand auf. »Es wird Zeit.«

»Aber du hast doch gewonnen.« Dorothy hielt mir den Topf hin. »Dein Geld.«

»Behalt es, Dorothy.« Ich tätschelte ihr liebevoll den Kopf.

Der Name hatte mich aufgerüttelt. Auf dem Weg nach draußen gab ich meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Sie war immer noch ganz auf den Fernseher konzentriert. Sonderlich aufmerksam war sie nie gewesen, ständig hauste sie im Keller ihrer eigenen Enttäuschungen und blickte kaum jemals auf. Ich wünschte, ich hätte etwas Denkwürdigeres getan, ein bisschen länger ihre Hand gehalten, ihr in die Augen geschaut. Aber nein, ein rasches Küsschen, schon zog ich weiter nach Hause. Streng genommen war sie keine schlechte Mutter. Am nächsten Morgen rief mich der Arzt an und teilte mir mit, dass sie in der Nacht gestorben war. Jetzt blieben mir nicht mal mehr ihre Beleidigungen. Als ich antwortete, erkannte ich meine Stimme nicht. Sie klang, als wäre sie jahrelang weggesperrt gewesen, als hätte man sie gerade erst aus ihrer Kiste geholt. Es bringe ja nichts, mir etwas vorzumachen, sagte der Arzt: Richtig leicht sei es nicht gewesen. Nein, pflichtete ich ihm bei, leicht war es nicht.

Der Pfarrer war freundlich und von einer spirituellen Gelassenheit, die mir auf die Nerven ging. Die Trauermesse fand in der Kirche neben dem Seniorendorf statt. Es kamen nicht viele. Ihre Freundinnen aus dem Heim saßen alle in der ersten Reihe, um sich als Haupthinterbliebene in Stellung zu bringen, als ob ihnen das jemand streitig gemacht hätte. Ein paar Bekannte von mir kamen, ein paar von den Pflegekräften, die immer über die schmutzigen Witzchen meiner Mutter gewiehert hatten. Sie hatten sie gemocht. Ich vergaß immer wieder, wie unfassbar anziehend sie gewesen war. Mir fiel es oft schwer, sie so zu sehen, wie andere sie sahen. Ich versuchte, mich ganz im Gebet zu verlieren, murmelte die eine oder andere sakrale Zeile vor mich hin, die ich noch im Kopf hatte. Gesichter aus dem Leben meiner Mutter tauchten vor mir auf und verschwanden wieder, dann löste sich ihr eigenes müdes Gesicht aus dem Dunst eines Gullygitters, ihr Rücken in seiner Kellnerinnenkluft, als sie eine vermüllte Straße entlangging. Meine Mutter hatte zahllose Menschen verpflegt und dabei immer kultiviert ausgesehen. Wo waren diese ganzen Leute jetzt? Alle hatten sie ihr erlaubt, ihnen Essen in die feuchten, nimmersatten Mäuler zu schaufeln, und sie dann einfach stehengelassen.

Hinterher wollte der Pfarrer mich dazu bringen, mich ihm zu öffnen, und sagte, ich könne ihn alles fragen. Alles, was mit Religion zu tun habe, ergänzte er hastig. Eine Fortführung der Quizshow.

»Glauben Sie, sie ist jetzt im Himmel?«, fragte ich.

Er räusperte sich. »Ja.«

Ich lachte. »Was sind Sie für ein heilloser Lügner, Hochwürden.«

Ich fuhr zurück nach Hause. In der Einfahrt blieb ich sitzen, ohne den Gurt zu lösen, und genoss die Stille. Ich fasste an mein kaltes, nasses Gesicht. Am nächsten Tag ging ich wieder hin, um die Sachen meiner Mutter zu holen, und fand die Pflegekräfte dabei, wie sie eins von Mikeys Videos schauten. Jemand weinte. Warum konnte ich sie nicht so sehen wie andere auch? Sie wirkten besorgt, dass ich verärgert sein könnte, weil sie an das Andenken meiner Mutter rührten. Aber das war ich nicht. Was gab es Schöneres, als von jemandem gefilmt zu werden, der einen liebt? Spielen Sie’s ruhig weiter, sagte ich. Spielen Sie’s weiter, bis zum Schluss.

Eine hochelegante junge Frau.

1966

Mit siebzehn fuhr ich nach der Schule in den Warenhäusern Rolltreppe. Bei Macy’s, bei Bloomingdale’s, lauter Orte, an denen mich nie jemand finden oder auch nur suchen würde. Meine Mutter war arbeiten, und nach der Arbeit hatte sie ihre privaten Dienstschluss-Abenteuer, ich musste mich also irgendwie beschäftigen. Wenn sie zu Hause war, stritten wir sowieso nur. Geschrei, Tobsuchtsanfälle. Wir lebten in einer kleinen Wohnung über einem Waschsalon. Da war nicht viel Platz für uns drei. Ich hatte mitbekommen, dass ein paar Mädchen aus der Schule unsere Straße dreckig und gefährlich nannten. Na und? Mir war das egal, und ihr Leben war ja kaum besser. Ich hielt auch nicht mehr viel davon, allein mit Mikey in der Wohnung zu bleiben. Ich verbrachte zwar weiterhin gerne Zeit mit ihm, mochte seine ungehemmte Begeisterung, aber ich war es leid, dass er immer versuchte, sich vor mir als Autoritätsperson aufzuspielen. Eigentlich stellte ich nie etwas Schlimmes an, aber man musste mich wohl im Auge behalten: mit meiner ruhelosen Energie, den sporadischen, tief verletzenden Beleidigungen. Oft war ich kläglich nah dran, zu Mikey zu sagen: »Du bist nicht mein Vater.« Das stimmte, er war nicht mein Vater, aber so ein Mensch wollte ich nicht sein — verklemmt und mit einem Familienbild wie direkt aus der Fernsehwerbung. Damals galt es, auf alles cool zu reagieren. Ich hatte mir eine Liste gemacht, wie ich sein wollte, ein ganzer Einkaufswagen voll Eigenschaften. Mein einziges Problem war, dass Mikey die Vaterrolle so schlecht spielte, er krittelte ständig, hatte mich die ganze Zeit im Blick. Ich wusste, dass diese Auftritte auch ihm enorm viel abverlangten. Warum tat er uns das beiden an? Also mied ich ihn und fuhr stattdessen Rolltreppe, mit rituellem Eifer. Freundinnen hatte ich zu der Zeit keine mehr. Jedes Mal, wenn ich etwas sagte, maßen mich meine Mitschülerinnen und Mitschüler mit höhnischen Blicken. Sie wussten, wie erbärmlich ich war, aber in Wahrheit wusste ich eben auch, wie erbärmlich sie selber waren.

Das Schuljahr hatte schlecht angefangen. Ich hatte nur eine Freundin, Maud, die ich von klein auf kannte. Wir wohnten nicht weit voneinander weg und hatten uns über unsere ähnlichen Namen angenähert: Maud und Mae. Damals schien das Alphabet noch wie eine gute Grundlage für dauerhafte Freundschaft. Nach dieser langen gemeinsamen Zeit war es unvorstellbar, dass Maud sich jemals von mir weglotsen lassen würde, obwohl ich sie gar nicht mehr besonders mochte, keine Zuneigung oder Verbundenheit mehr empfand. Schule war öde. Die Jungs waren distanziert und unerreichbar, und die anderen Mädchen wurden auf eine Weise erwachsen, die ich so langweilig wie abstoßend fand. Sie standen dekorativ auf der Schultoilette herum und schauten in den Spiegel, die reglosen Gesichter zugekleistert mit der Schminke, die sie ihren Müttern geklaut hatten. Wir waren siebzehn. Ich merkte, wie klein und adrett sie sich bereits machten, wie sie ihren inneren Kreislauf neu verschalteten, ihr Leben zurückfuhren. Mir erschien diese Angewohnheit, plötzlich mit klarer, ausdrucksloser Miene auf das eigene Spiegelbild zu starren, wie eine Krankheit. Ich galt weder als atemberaubend noch als besonders intelligent. Ich wollte keine Rolle gegen eine andere eintauschen, schacherte nicht, wie Frauen das so tun, empfand auch keinen gewaltigen Hass auf das Blatt, das mir zugeteilt worden war. Ich wusste längst, dass weibliche Aufmerksamkeit und weiblicher Neid tödlich sein können.

Zu Beginn jedes neuen Schuljahrs gab es eine Tanzaufführung. Das sollte die allgemeine Moral fördern, denn die meisten von uns kamen aus verarmten Familien ohne jede Hoffnung. Viele Mädchen zeigten bereits die ausgelaugte Blässe der Schlaflosen, manche hatten zu Hause schon die Rolle der seit langem abwesenden Mutter übernommen. Ich war allein mit meiner Abneigung gegen die Tanzaufführung — ich fand sie frömmlerisch, und die Lehrer wirkten alle viel zu begeistert davon, als könnten sie uns für die schrecklichen Zustände zu Hause entschädigen, indem sie uns auf der Bühne herumhüpfen ließen. Die Jungs schauten einfach nur zu. Maud — damals war ihr noch daran gelegen, mich zu retten — erklärte mir, ich wisse einfach nicht, wie man Spaß hätte. Ich entgegnete, sie sei unfähig, originelle Gedanken zu entwickeln. Die Tanzaufführung war das einzig Spannende, was wir erlebten. Diesen September traten gleich mehrere der Mädchen, die begabt waren und deren Begabung und Gelenkigkeit mit ebenso viel Bewunderung wie Verachtung besprochen wurde, auf die kleine Holzbühne und bewegten sich synchron zu »Reach Out I’ll Be There« von den Four Tops. Sie gaben das Thema als religiöses aus, erblickten Gott und wurden von ihm zurückgeliebt. Wir sahen, wie ihre schwarzen Gymnastikröckchen, genau wie unsere und doch verwandelt, flogen und wirbelten, während sie sich im Kreis drehten. Das Publikum bewegte sich als ein Ganzes, vereint in der Musik und gänzlich überzeugt von der Kraft heilender Liebe und Fürsorge. Es war, als fänden zwei Aufführungen parallel statt, so wie ich manchmal das Gefühl hatte, dass in mir zwei Herzen schlugen. Als ein Mädchen mit roten Locken, das ich nur flüchtig vom Sehen kannte, zusammenbrach, war ich erleichtert. Die zierliche Gestalt krachte auf den Bühnenboden und zitterte wie wild, ohne jeden Rhythmus. Möglich, dass sie auch Schaum vor dem Mund hatte. Viel von dem, was geschah, ging in der allgemeinen Hektik unter. Später sah ich das Mädchen noch einmal durch den Zerrspiegel der Glastür vor dem Büro der Schulleitung, wie es mit einem Taschentuch sein Nasenbluten stillte. Ich erzählte Maud im Vertrauen, ich hätte den Anfall aufregend gefunden, mich gefreut, dass die Aufführung vorzeitig endete. Sie sei so abgeschmackt und unkünstlerisch gewesen. Maud erzählte es den anderen Mädchen. Wir waren in einem Alter, in dem wir Vertraulichkeiten feilboten, in der Hoffnung, dafür auf irgendeine schwammige Art belohnt zu werden. Es ging blitzschnell. Ich wurde umgehend geächtet.

Ich hatte mich nie als Spinnerin gesehen, aber nachdem ich zu einer erklärt worden war, dachte ich mir, konnte ich mich auch darauf einlassen. Anfangs war ich noch aufgewühlt über meinen Fehler, als hätte ich mich mit einer achtlosen Bemerkung zum ewigen Alleinsein verdammt. Mir war klar, dass an vielen meiner Sehnsüchte etwas falsch war, dass sie irgendwie erschreckend und bemitleidenswert waren und auf keinen Fall laut geäußert werden durften, damit so etwas wie das mit Maud nicht wieder vorkam. Dann fing ich an, das Ganze anders zu betrachten. Das war doch genau die Freiheit, die ich brauchte, um mich neu zu erfinden. Maud wusste zu viel über mich: dass meine Mutter trank, dass Mikey sich so exzentrisch verhielt. Mit Maud hatte ich nicht wachsen können. Ich suchte Orte auf, an denen ich andere Sonderlinge vermutete: Cafés, Kinos, Museen, die keinen Eintritt verlangten. Viel Glück hatte ich nicht. An den Nachmittagen scharten sich Familien um die Gemälde. Ich hatte es immer für unmöglich gehalten, in eine solche Familie hineingeboren zu werden, aber siehe da, anderen Mädchen war genau das passiert. Ich sah sie täglich. Ich mochte die Stille dort. Oft saß ich alleine auf einer Bank, ließ die Beine baumeln und reckte das Kinn hinauf zur Kunst. So konnte ich eine ganze Zeit lang sitzen. Ich wartete auf ein wirklich tiefgreifendes Erlebnis. Stattdessen träumte ich nur davon, eines Tages eine Galerie zu betreten und ein teures Gemälde zu kaufen. Ein handelsüblicher Tagtraum. Vielleicht war meine Mutter ja gar nicht meine Mutter, im Krankenhaus war ein Fehler passiert, und der Bundesstaat New York würde mich irgendwann dafür entschädigen. Ich könnte ein reiches Waisenkind werden. So etwas kam vor, ich hatte schon davon gehört, und genau so ein Wunder brauchte ich.

Die Idee mit den Rolltreppen kam wie aus dem Nichts. Eines Nachmittags war ich einfach in ein Warenhaus gegangen und fand das unerwartet aufregend. Weil meine Mutter so wenig verdiente und Mikey alles hasste, was hübsch, falsch oder oberflächlich war, hatte ich einen solchen Ort kaum je betreten. Beim ersten Ausflug kam ich mir noch vor wie ein unerwünschter Klumpen in zivilisierter Umgebung, aber das änderte sich. Mir fiel auf, wie gelöst die Frauen hier aussahen, dass sie sich im Warenhaus anscheinend wohler fühlten als draußen auf der Straße. Ich mochte den Blick von der obersten Rolltreppe, der das ganze Gebäude in mehrere Stücke teilte. Mit zärtlichen Gefühlen schaute ich auf die Menge, die sich da unten drängte, Geld ausgab, Cocktailkleider kaufte, ihren Geschmack ergründete, dem Tod trotzte. In dieser Woche strich ich mir jeden Tag auf der Toilette das T-Shirt glatt, kämmte mir die Haare und trat dann auf die Rolltreppe. Im Dahingleiten hatte ich das Gefühl, viel konsumierbarer für die Öffentlichkeit zu sein als in der Schule. Die Erwachsenenatmosphäre kam mir entgegen. Ich wollte von Männern bemerkt werden, und ich wollte, dass etwas passierte, etwas Umwerfendes und gänzlich Unwahrscheinliches. Mein Blick begegnete dem von Männern im Anzug, die in die Gegenrichtung fuhren. Wir tauschten uns wortlos aus. Ich habe dunkle Sehnsüchte, die nie befriedigt werden können, sagten sie. Ich auch, erwiderte ich, ohne einen Ton zu sagen.

Ich hätte es niemals zugegeben, aber es gefiel mir, meine Routine zu haben, während meine Mutter die ihre hatte. Ich wusste, während ich Rolltreppe fuhr, deckte sie resolut die Tische ein, faltete Servietten, bewegte sich genauso zielsicher und mechanisch wie ich. Und beide vibrierten wir vor verborgener Energie.

Ich probierte Handschuhe an. Die Verkäuferin zeigte sie mir ohne weitere Fragen, nachdem ich ihr erklärt hatte, mein Vater werde sicher bald hier sein. »Die perfekten Hände«, sagte sie und hielt sie ins Licht. Der routinierte Spruch einer Verkäuferin. So blöd war ich nicht, mir einreden zu lassen, ich hätte perfekte Hände. Die Handschuhe waren weich wie junge Kätzchen. Als mein Vater nicht auftauchte, warf mir die Verkäuferin einen kaum merklichen, aber schrecklichen Blick voller Traurigkeit zu.

»Wollen Sie vielleicht noch ein bisschen warten?«, fragte sie. »Lange dauert es sicher nicht mehr.«

»Doch«, sagte ich. »Es dauert schon mindestens sechzehn Jahre.«

Ich klaute einen Lippenstift. Es hätte mich interessiert, wie das Kaufhaus gegen mich vorgehen würde, falls ich erwischt wurde, wie es die Zähne fletschte. Aber ich wurde nicht erwischt.

Die Rolltreppen bei Macy’s am Harold Square waren hölzern und eng und vermittelten einem ständig das Gefühl, dass die Katastrophe kurz bevorstand. Im Lauf weniger Wochen im Oktober wurden sie zu meinen Lieblingen. Ich mochte das Stufenweise dieser Fortbewegungsart, die Gesprächsfetzen, die ich auf meinem knarzenden Weg nach oben mitbekam. So fühlte ich mich weniger alleine. Etliche Wochen nachdem ich damit angefangen hatte und einige Zeit nachdem mir der Grund, aus dem ich es machte, zu großen Teilen aufgegangen war, traf ich einen Mann, der in die Gegenrichtung abwärtsfuhr. Äußerlich hatte er nichts Bedrohliches, nichts Verdorbenes an sich, aber als er an mir vorbeifuhr, drückte er meine Hand. Ein fester Griff. Eine herzliche Geste, obwohl der Kontakt nur kurz war — seine Hand auf meiner unter den heißen Kaufhauslampen, die Begegnung unserer Finger auf dem Rolltreppengeländer.

Nachdem der Mann mich das erste Mal berührt hatte, kehrte ich Tag für Tag auf die Rolltreppen von Macy’s zurück. Ich beschäftigte mich sehr viel länger mit meinem Äußeren und redete mir ein, dass es sich um eine wichtige Aufgabe handelte. Das Kaufhaus hatte mich eitel werden lassen. So viel Macht besaß es. Mein Gesicht im Spiegel war breit und trug eine wenig ansehnliche, dauerhaft verschreckte Miene, als stünde ich die ganze Zeit im Behandlungsraum einer Arztpraxis, halb ausgezogen und auf schlechte Nachrichten gefasst. Ich hatte ein paar Pickel an Wangen und Kinn, schwere Hüften und Beine, die sich kaum als wohlgeformt bezeichnen ließen. Mein auffälligstes Merkmal waren meine Augen, braun, groß und fordernd. Am ersten Morgen, an dem ich mich für ihn herausputzte, drehte ich mir Lockenwickler in die Haare, aber das Ergebnis gefiel mir nicht. Es sah zu aufgetakelt aus, und ich wollte entspannt und hip wirken. Wütend kämmte ich die Locken mit den Fingern wieder aus. Ich untersuchte genauestens meine Poren und kleisterte sie mit Puder zu. Trug den neuen Lippenstift auf und machte einen Schmollmund. Tanzte herum. Jeden Morgen verbrachte ich beschämend viel Zeit vor dem Spiegel, für einen Mann, den ich bloß eine Sekunde lang gesehen hatte. Weil ich nicht die richtigen Kleider hatte, musste ich an meinem Gesicht arbeiten. Ich war nicht wie manche Mädchen aus der Schule, deren Aufmachung ganz darauf ausgelegt war, Erwachsenenwissen zu vermitteln. Mein Gesicht war mein einziges Werkzeug, und ich musste lernen, davon Gebrauch zu machen. Ich verzog es auf alle möglichen Arten, um zu sehen, wie es in Bewegung wirkte, ob es vielleicht riskante Varianten gab. Ich wusste bereits, dass Männer immer eine Variation ihrer Fantasien erwarten, es war also wichtig, auf alle Perspektiven zu achten. Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder, klimperte mit den Wimpern, starrte mich an, das Werk, das ich erschaffen hatte. Auf einmal verstand ich die Mädchen aus der Schule. In unserem Bad roch es nach Schimmel und Feuchtigkeit, aber es war der einzige Ort, an dem ich an meiner Schöpfung arbeiten konnte. Wäre Mikey hereingekommen, er hätte mich wohl für verrückt erklärt, und womöglich war ich das auch.