Nichts für schwache Nerven - Rita Schütte-Heinold - E-Book

Nichts für schwache Nerven E-Book

Rita Schütte-Heinold

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Beschreibung

DREI Fantasy-Abenteuer in einem Buch: 1) Zwei Schulfreunde mit übersinnlichen Fähigkeiten und drei chaotische Teenager mit Herz und Verstand kommen einem Verbrechen auf die Spur: Ein Professor experimentiert auf der Suche nach wirksamen Medikamenten mit Menschen! Sind die Opfer noch zu retten? 2) Der gemeinsame Urlaub von vier Freundinnen beginnt zunächst ganz normal. Doch schon bald geschieht etwas Geheimnisvolles. Ein Sonnenhut, ein Schal und ein Gürtel, gekauft in einem mysteriösen Souvenir-Shop, entfalten ihre Magie. 3) Unheimliches erleben Tim und Lea im Haus der Großeltern. Seltsame Wahrnehmungen und merkwürdige Erlebnisse geben ihnen Rätsel auf. Finden die Seelen von fünf vermissten Kindern keine Ruhe?

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2015

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„Sonjas Jungs“ oder Kein Tag ist ein normaler Tag Zuerst veröffentlicht als Taschenbuch: April 2014

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Ein mörderischer Schal

Zuerst veröffentlicht als Taschenbuch: Dezember 2014

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Die Wunden der Vermissten

Zuerst veröffentlicht als Taschenbuch: April 2015

Inhaltsverzeichnis

„Sonjas Jungs“ oder Kein Tag ist ein normaler Tag

Ein mörderischer Schal

Die Wunden der Vermissten

Rita Schütte-Heinold

„Sonjas Jungs“

oder

Kein Tag ist ein normaler Tag

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - Das Wiedersehen

Kapitel 2 - Geheimnisvolles

Kapitel 3 - Wo ist Julia?

Kapitel 4 - Sonjas Jungs

Kapitel 5 - Warum?

Kapitel 6 - Die Rettung

Kapitel 7 - In Sicherheit?

Kapitel 8 - Es bleibt rätselhaft

1. Kapitel – Das Wiedersehen

Hektischer Betrieb am Frankfurter Flughafen. Menschen mit Gepäck eilten zielstrebig durch die Hallen.

Andere standen abseits und blickten suchend umher. An den Check-in-Schaltern hatten sich lange Menschenschlangen gebildet und in den Gaststätten saßen Reisende, die ihre Zeit bis zum Abflug nutzten, um in Ruhe zu frühstücken.

An diesem Montagmorgen befand sich Sonja auf dem Weg zu ihrem Abflugschalter. Es schien ein sonniger, warmer Frühlingstag zu werden. Sie hatte einen Flug nach London gebucht, um an einem dreitägigen Kongress teilzunehmen.

Sonja war vierunddreißig Jahre alt, Single und hatte keine Kinder. Sie hatte Psychologie studiert und arbeitete in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche. In diesem Beruf hatte sie ihre Erfüllung gefunden. Es faszinierte sie, die Psyche eines Menschen zu erforschen, seine Schwächen und Stärken zu erkennen und tief verborgenes Leid, das in manchem schlummerte, zu ergründen.

Während des Kongresses sollten die neuesten Behandlungsmethoden gelehrt und deren Ergebnisse analysiert werden.

Nachdem das Flugzeug pünktlich gestartet war, entspannte sich Sonja in ihrem Sitz. Ein Mann, der hinter ihr Platz genommen hatte, sprach sie auf halber Flugstrecke an: „Entschuldigung, aber kennen wir uns nicht? Sonja, bist du‘s?“

Sonja drehte sich überrascht um und blickte in das Gesicht eines Mannes, das ihr irgendwie bekannt vorkam.

„Ich bin‘s, Thomas“, sprach der Mann weiter. „Wir sind zusammen aufs Internat gegangen“, meinte er lachend.

Tatsächlich! Sonja traute ihren Augen kaum. Da saß Thomas! Aus dem schüchternen, unscheinbaren Jungen war ein attraktiver Mann geworden.

„Na, das ist ja eine Überraschung! Wie klein die Welt doch ist“, sagte Sonja höchst erfreut.

„Na, das kann man wohl sagen!“, rief plötzlich eine Frauenstimme zwei Reihen vor ihr. „Hallo ihr zwei, ich bin‘s, Julia!“

Eine junge Frau mit kurzen, zerzausten, blonden Haaren hatte sich von ihrem Sitz erhoben und zu Sonja und Thomas umgedreht. Sie schaute freudestrahlend in die erstaunten Gesichter der beiden.

Sonja und Thomas starrten die Frau an. Thomas fand als Erster die Sprache wieder und sagte voller Begeisterung: „Na, wenn das nicht Julia, die Sportskanone der Abschlussklasse ist!“ Mit einem breiten Grinsen sah er Julia an.

Nachdem auch Sonja Julia wiedererkannt hatte, sprach sie lachend:

„Ich fasse es nicht. Man könnte meinen, heute ist Klassentreffen.“

Sonja schüttelte ungläubig den Kopf.

Welch eine Freude! Drei ehemalige Schulfreunde, die vor fünfzehn Jahren dasselbe Internat besucht hatten, trafen sich zufällig in einem Flugzeug wieder.

Leider hatten die Passagiere auf den Nebenplätzen nicht sehr viel Verständnis für ihre lautstarke Wiedersehensfreude. Deshalb beschlossen die drei, nach der Landung in London aufeinander zu warten, um sich auf einen Kaffee zu treffen.

Während des restlichen Fluges hingen sie ihren Gedanken nach.

„Los, erzählt! Was macht ihr so? Was verschlägt euch nach London?“, sprudelte es aus Julia heraus, als die drei nach der Landung in einem Café saßen.

Sonja und Thomas mussten lachen. Ja, so hatten sie Julia in Erinnerung. Neugierig fragte sie drauflos. Sie hatte sich kaum verändert.

Julia war eine kleine, zierliche Frau mit kurzen, blonden, zerzausten Haaren und großen grünen Augen. Es stellte sich heraus, dass sie nach dem Internat Sport studiert hatte und nun als Sportlehrerin an einer Realschule tätig war. Als Nebenfächer unterrichtete sie Kunst und Musik.

„Ich möchte meinen Bruder und seine Frau in London besuchen. Ich habe schon seit mehreren Monaten nichts von den beiden gehört“, erzählte Julia. „Aber nun zu euch. Thomas, was machst du so?“ Julia und Sonja sahen Thomas erwartungsvoll an.

„Nun, ich habe nach dem Internat Volkswirtschaft studiert. Ich arbeite bei einem großen internationalen Unternehmen im Controlling und bin auf dem Weg zu unserer Tochterfirma in London“, berichtete Thomas.

Jung, dynamisch, erfolgreich! So konnte man sich Thomas vorstellen.

Er war Mitte dreißig, groß, schlank und hatte kurze braune Haare. Er trug eine modische Brille, die seine blauen Augen hervorhob. Sein maßgeschneiderter Anzug betonte seine sportliche Figur. Und die Grübchen in seinen Wangen hatte er schon damals, wenn er lächelte.

„Jetzt du, Sonja. Erzähle uns deine Geschichte. Was ist aus dir geworden?“, bohrte Julia weiter.

„Ich habe nach dem Internat Psychologie studiert“, begann Sonja zu erzählen. „Zurzeit arbeite ich in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Jugendliche aus allen sozialen Schichten sind dort anzutreffen.“

Sonja schien in ihrem Beruf ihre Erfüllung gefunden zu haben, denn sie erzählte mit großer Begeisterung und Leidenschaft von „ihren“ Jungs und Mädchen.

Sonja hatte eine besondere Ausstrahlung, die man schwer erklären konnte. Ihr langes, schwarzes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden und ihre rehbraunen Augen strahlten Wärme aus. Die Brille mit dem schwarzen Gestell ließ sie jedoch sehr streng und unnahbar erscheinen. Sie war von normaler, schlanker Statur und trug ein elegantes schwarzes Kostüm mit den passenden schwarzen Pumps.

Damals im Internat war sie der lockere, sportliche Jeanstyp, der sich wenig aus Mode machte.

Ja, die drei besuchten vor vielen Jahren zusammen das Internat und waren auch in derselben Klasse. Aber nicht nur das hatten sie gemeinsam.

Alle drei hatten außerdem eine besondere Gabe, ein außergewöhnliches Talent, über das sie nicht oft sprachen.

Sonja war in der Lage, zu erkennen, ob ein Mensch die Wahrheit spricht oder lügt.

Thomas knackte die schwierigsten Zahlencodes und war zudem sehr sprachbegabt. Er beherrschte mehrere Fremdsprachen in Wort und Schrift.

Aber sein ganz spezielles Talent war die Gabe, Gefühle und Empfindungen von anderen Menschen auf sich zu übertragen. Er spürte die Angst und die Verzweiflung, die ein Mensch in sich trug. Aber auch das Glück und die Freude anderer durfte er empfinden. Er hatte gelernt, seine Gabe nützlich einzusetzen.

Julia war die Sportskanone unter den dreien. Ihr großes Ziel war die Teilnahme am „Ironman“ im nächsten Jahr. Für diesen Triathlon trainierte sie zwei Stunden täglich und an den Wochenenden meistens doppelt so lange. Julias Gabe war etwas ganz Besonderes. Sie konnte, wenn sie wütend war, mit ihrer Gedankenkraft Gegenstände bewegen.

Nach etwa einer Stunde der Wiedersehensfreude bei Kaffee und Kuchen trennten sich die drei Schulfreunde wieder. Sie verabschiedeten sich jedoch nicht, ohne ein weiteres Treffen vereinbart zu haben. Ein gemeinsames Abendessen war in drei Tagen geplant.

An den darauffolgenden Tagen besuchte Sonja den Kongress. Sie hörte Vorträge, nahm an Workshops teil und führte interessante Gespräche. Ihre Erwartungen wurden voll und ganz erfüllt.

Thomas wurde bei der Tochterfirma seines Arbeitgebers einerseits sehr freundlich, andererseits aber auch feindselig empfangen. Sein Ruf als Spürnase eilte ihm voraus. Er war von der Geschäftsleitung beauftragt worden, finanzielle Unstimmigkeiten im Unternehmen zu untersuchen.

Thomas hatte ein untrügliches Gespür für Zahlen und Geschäftsvorfälle, die verdächtig erschienen. So zögerte er nicht lange und machte sich an die Arbeit.

Julia kam am Nachmittag vor dem Landhaus ihres Bruders Marc an. Er wohnte dort mit seiner Frau Miriam. Die Ehe war kinderlos, da Miriam keine Kinder wollte. Sie fand ihre Erfüllung in ihrem Beruf als Designerin. Miriam entwarf Kleider für den Londoner Adel und verkehrte auch in diesen Kreisen.

Julia freute sich darauf, ihren Bruder wiederzusehen, und klingelte gespannt an der Haustür. Miriam öffnete und machte einen überraschten, fast schon entsetzten Gesichtsausdruck, als sie ihre Schwägerin erblickte.

„Julia, du hier? Ist etwas passiert?“, rief sie erschrocken aus.

„Wieso hast du nicht Bescheid gegeben, dass du kommst?“

Miriam war leichenblass geworden und stand starr vor Schreck in der Tür. Sie war groß und schlank, hatte lange rote Haare und große blaue Augen. Sie konnte eine sehr weibliche Figur vorweisen, mit Rundungen an den richtigen Stellen.

„Nein, es ist nichts passiert“, antwortete Julia lachend und machte einen Schritt auf Miriam zu, um sie zur Begrüßung zu umarmen. „Beruhige dich. Alles ist gut.“

Nach einer kurzen Umarmung ließ Julia ihre Schwägerin wieder los und trat einen Schritt zurück.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich seit drei Monaten nichts von euch gehört habe“, meinte Julia vorwurfsvoll. „Und da in der Schule zurzeit Ferien sind und ich nicht arbeiten muss, habe ich mich spontan zu einem Überraschungsbesuch entschlossen.“

Julia sprach weiter: „In den vergangenen Wochen habe ich mehrfach versucht, euch telefonisch zu erreichen, aber leider ohne Erfolg. Habt ihr meine Nachrichten, die ich auf eurem Anrufbeantworter hinterlassen habe, nicht erhalten?“

„Na, jetzt komm doch erst mal rein und setz dich“, entgegnete Miriam mit einem verkrampften Lächeln. Während die beiden langsam ins Haus gingen, kehrte Miriams normale Gesichtsfarbe zurück.

„Marc ist auf Geschäftsreise und ich arbeite fast vierzehn Stunden täglich. Außerdem ist unser Anrufbeantworter defekt. Deshalb konnten wir deine Nachrichten nicht abhören“, erklärte Miriam mit schriller Stimme.

Julia beschlich ein komisches Gefühl. Sprach Miriam die Wahrheit? „Wie lange ist Marc denn schon weg? Und wann kommt er wieder? Wohin musste er denn?“, bohrte Julia weiter, während sie auf dem Sofa im Wohnzimmer Platz nahm.

Miriam setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel und meinte genervt:

„Seine Firma hat ihn zur Schwesterfirma nach Paris geschickt. Er ist schon seit vier Wochen dort. Er soll eine neue Marketingstrategie einführen und auch für eine unbestimmte Zeit betreuen. Ich dachte, er hätte dir vor seiner Abreise Bescheid gegeben.“

„Nein, hat er leider nicht“, entgegnete Julia leise mit ungläubigem Blick. Julia und Marc hatten immer einen sehr engen und vertrauten Kontakt gepflegt. Es entsprach so gar nicht Marcs Art, sich nicht von seiner Schwester zu verabschieden. Er hatte ihr stets mitgeteilt, wenn er verreisen musste.

„Komm, lass uns etwas essen. Du musst hungrig sein“, sprach Miriam beruhigend zu Julia. „Anschließend zeige ich dir dein Zimmer. Sicherlich bist du müde und möchtest dich ausruhen.“

„Ja, du hast recht. Das wird wohl das Beste sein“, gab sich Julia geschlagen.

Die darauffolgenden Tage nahm sich Miriam frei und zeigte Julia die Stadt. Sie schleppte ihre Schwägerin von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Abends fielen beide todmüde in ihre Betten. Julia wurde das Gefühl nicht los, dass Miriam alles versuchte, um nicht mit ihr alleine sein zu müssen. Immer, wenn Julia den Vorschlag machte: „Lass uns heute mal zu Hause bleiben“, antwortete Miriam: „Ach was, zu Hause bleiben können wir noch, wenn wir alt und grau sind. Lass uns etwas unternehmen. Du wirst bald wieder abreisen, und dann solltest du doch ganz London in deiner Erinnerung mitnehmen.“ Merkwürdig war, dass Marc nicht anrief. Auch Miriam machte keinen Versuch, ihn zu erreichen. Als Julia ihre Schwägerin darauf ansprach, meinte sie nur, dass Marc bis spät in die Nacht arbeiten muss.

„Sobald er sich meldet, werde ich ihm sagen, dass er dich anrufen soll“, versprach Miriam ihr.

2. Kapitel - Geheimnisvolles

Das gemeinsame Abendessen der ehemaligen Klassenkameraden stand bevor.

Als Julia das Restaurant betrat, saßen Sonja und Thomas bereits am Tisch und unterhielten sich.

„Hallo ihr zwei, wie geht es euch?“, begrüßte Julia die beiden über-schwänglich. Sie umarmte zuerst Thomas und anschließend Sonja. „Habt ihr auch schon so viel von London gesehen wie ich?“, fragte sie lachend, während sie sich auf ihren Stuhl setzte.

Sonja und Thomas freuten sich sehr, Julia wiederzusehen und als Antwort auf Julias Frage schüttelten beide den Kopf.

„Wir sind ja schließlich zum Arbeiten in der Stadt und nicht zum Sightseeing“, meinten sie amüsiert.

Die drei unterhielten sich über alte Zeiten und den einen oder anderen Streich, der den Lehrern und Schülern während der Schulzeit gespielt wurde. Den ganzen Abend wurde gelacht und die Zeit verging viel zu schnell. Gegen später Stunde erzählte Sonja vom Kongress und Thomas von seinem Empfang in der Firma.

Schließlich berichtete Julia von ihrem vergeblichen Versuch, ihren Bruder Marc zu treffen, und auch von ihrem Verdacht, dass ihre Schwägerin etwas verheimlicht.

„Ich mache mir ernsthaft Sorgen um meinen Bruder. Solange ich nicht mit ihm gesprochen habe, werde ich keine Ruhe finden“, sagte Julia besorgt.

„Sonja, könntest du nicht mal mit meiner Schwägerin reden? Du würdest sofort erkennen, ob sie lügt. Ich habe mir auch schon einen Plan ausgedacht: Wir arrangieren ein „zufälliges“ Treffen bei Madame Tussauds, im Wachsfigurenkabinett. Da möchte Miriam morgen mit mir hin. Ich werde dich zu einem gemeinsamen Mittagessen überreden und bei dieser Gelegenheit werde ich Miriam noch einmal über meinen Bruder ausfragen. Du wirst sicherlich erkennen, ob sie die Wahrheit spricht oder ob sie lügt.“

Julia sah Sonja erwartungsvoll an:

„Was hältst du von meinem Plan?“

„Hmm, ich weiß nicht“, antwortete Sonja zweifelnd. „Und was ist, wenn ich mich irre?“

„Bitte Sonja, du musst mir helfen“, bettelte Julia. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Lass es uns versuchen. Bitte“, flehte sie weiter.

Thomas, der still zugehört hatte, sagte: „Ich finde, Julia hat recht. Einen Versuch ist es wert. Nutze deine Gabe, um Julia zu helfen.“

„Also gut“, antwortete Sonja wenig überzeugt. „Wie gehen wir vor?“

„Oh Sonja, du bist ein Schatz!“,

rief Julia freudig aus. „Also, passt auf, ich habe mir Folgendes überlegt...“ Begeistert schilderte Julia ihren Plan.

Als Julia nach dem Abendessen beim Landhaus ihres Bruders ankam, wurde sie von einer lächelnden Miriam empfangen. „Marc hat vor zwei Stunden angerufen. Ich soll dich recht herzlich grüßen und dir ausrichten, dass du dir keine Sorgen machen sollst.

Es geht ihm gut, trotz der vielen Arbeit. Er will versuchen, morgen Abend noch einmal anzurufen“, erzählte Miriam aufgeregt.

„Wirklich?“, rief Julia erstaunt.

„Ausgerechnet heute Abend hat Marc angerufen und ich war nicht da“, meinte sie enttäuscht.

Am nächsten Morgen fuhren Julia und Miriam zu Madame Tussauds. Julia und Sonja hatten ein „zufälliges“ Treffen auf der Besuchertoilette vereinbart. Alles klappte genau so, wie am Abend zuvor besprochen. Julia wusch sich gerade die Hände, als Sonja die Toilette betrat. Miriam kam aus einer Kabine und ging zum Waschbecken.

„Na, so ein Zufall! Sonja, du hier?“, rief Julia laut und spielte die Überraschte.

Sonja antwortete, ebenfalls mit überraschtem Tonfall in der Stimme:

„Julia, kaum zu glauben, dass ich dich hier wiedersehe! Wieso hast du denn gestern nicht erwähnt, dass du heute zu Madame Tussauds gehen wirst?“

„Oh, entschuldige bitte, da habe ich gar nicht dran gedacht“, log Julia weiter.

„Sonja, darf ich dir Miriam, meine Schwägerin, vorstellen. Und Miriam, das ist Sonja. Wir waren zusammen auf dem Internat. Ich habe dir ja schon von ihr erzählt.“ Sonja und Miriam begrüßten sich mit einem Händedruck und Sonja sprach mit einem Lächeln auf den Lippen: „Hallo Miriam, freut mich, Sie kennenzulernen“.

Miriam blieb ernst und antwortete mit kaltem Unterton in der Stimme:

„Hallo Sonja, ich freue mich ebenfalls, Sie kennenzulernen.“

„Wir wollten gerade etwas zu Mittag essen. Möchtest du dich uns anschließen?“, fragte Julia ihre Freundin.

„Ja, gerne“, antwortete Sonja.

„Miriam, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.“

„Aber nein“, erwiderte Miriam mit ausdrucksloser Miene.

„Los, lasst uns gehen, ich habe Hunger“, meinte Julia lachend.

Die drei Frauen verließen gemeinsam das Wachsfigurenkabinett und gingen in ein Restaurant.

Beim Mittagessen lenkte Julia das Gespräch geschickt auf ihren Bruder.

Sie erzählte Sonja von ihrem vergeblichen Versuch, Marc zu treffen oder ihn zumindest telefonisch zu sprechen.

Sonja spielte die Ahnungslose und hörte geduldig zu. Merkwürdig war, dass sich Miriam kaum am Gespräch beteiligte.

„Das hört sich für mich alles sehr verdächtig an“, versuchte Sonja nun, Miriam zu provozieren. „Wenn ihr mich fragt, hat Marc eine Geliebte in Paris.“

Diese Behauptung schlug ein wie eine Bombe. Das hatte gesessen. Miriams Reaktion war filmreif. Sie sprang auf und war außer sich. Mit knallrotem Gesicht und erhobener Stimme erwiderte sie aufgebracht: „So ein Unsinn! Ich glaube, Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch!“

Wenn Blicke töten könnten, hätte Sonja in diesem Moment tot am Boden gelegen. Miriam war sehr verärgert.

Doch plötzlich, von einer Sekunde zur nächsten, schlug ihre Stimmung um. Sie setzte sich wieder und es schien so, als ob sie sich das Lachen verkneifen musste. Sie schmunzelte und meinte mit leiser Stimme zu Sonja: „Wer weiß? Vielleicht haben Sie ja recht.“

Mit dieser Antwort hatte weder Julia noch Sonja gerechnet. Die beiden sahen sich erstaunt an.

„Nun schaut nicht so überrascht“, sagte Miriam. „Ehrlich gesagt, habe ich auch schon an diese Möglichkeit gedacht.“ Kaum hörbar sprach sie weiter: „Vielleicht kommt Marc nie wieder aus Paris zurück.“

Miriam senkte den Blick und saß regungslos auf ihrem Stuhl. Sie wirkte sehr nachdenklich.

Julia und Sonja waren sprachlos.

Julia fand zuerst ihre Sprache wieder: „Aber Miriam, wie kannst du so etwas nur denken?“, meinte sie vorwurfsvoll.

„Ach Julia, lass es gut sein“, sagte Miriam mit leidvollem Blick. „Bitte lasst uns das Thema wechseln.“

Sonja versuchte, die unangenehme Situation zu retten, indem sie drauflos plapperte: „Der Besuch bei Madame Tussauds hat mir wirklich sehr gut gefallen. Ich habe nicht gedacht, dass die Ähnlichkeit zwischen den Wachsfiguren und den Prominenten so groß ist.“

Während des restlichen Essens wurde kaum geredet. Alle drei waren in sich gekehrt und in Gedanken versunken.

Nach dem Essen sagte Miriam: „Ich bin müde und möchte nach Hause, um mich auszuruhen.“

„Oh, selbstverständlich“, antwortete Julia mitfühlend. „Lasst uns gehen.“

Miriam entgegnete schnell: „Nein, Julia, du musst nicht mitkommen. Du kannst dich gerne noch mit Sonja unterhalten, wenn du möchtest. Ich fahre mit dem Taxi nach Hause und du kannst später nachkommen. Ehrlich gesagt, möchte ich jetzt alleine sein.“

„Okay, wenn du das gerne möchtest, respektiere ich selbstverständlich deinen Wunsch“, meinte Julia zu Miriam.

Julia war hin- und hergerissen. Einerseits hatte sie Mitleid mit Miriam, denn sie saß da wie ein Häufchen Elend. Andererseits war sie misstrauisch, denn Miriams Verhalten während der letzten zwei Tage war sehr merkwürdig und verwirrend.

„Julia, was hältst du davon, wenn wir noch einen Spaziergang durch den Park machen? Wer weiß, wann wir uns wiedersehen“, sagte Sonja. Sie zwinkerte Julia bedeutungsvoll zu.

„Ja, du hast recht“, antwortete Julia. „Und außerdem tut uns ein bisschen Bewegung sicherlich gut.“

Kurz darauf verabschiedete sich Miriam erleichtert von den beiden und stieg in ein Taxi.

Als das Taxi losfuhr, konnte sich Julia nicht länger zurückhalten:

„Was war denn das? Hast du Miriams Reaktion gesehen, als du sie mit der Vermutung konfrontiert hast, dass Marc womöglich eine Geliebte hat?

Miriams Verhalten war doch sehr seltsam. Findest du nicht auch?“

Julia sah Sonja erwartungsvoll an.

Sonja blickte ernst zurück, nickte nachdenklich mit dem Kopf und meinte: „Da stimmt etwas nicht. Deine Schwägerin ist eine gute Lügnerin.

Sie hat mit Sicherheit etwas zu verbergen. Nur was? Ich rate dir, vorsichtig zu sein. Miriam macht einen sehr egoistischen und berechnenden Eindruck auf mich.“

Julia und Sonja verbrachten den restlichen Nachmittag zusammen. Sie unternahmen einen schönen, langen Spaziergang in der wärmenden Frühlingssonne. Sonja hatte vor, bald wieder nach Frankfurt zurückzufliegen. Der Kongress war am nächsten Tag zu Ende und sie musste wieder arbeiten.

„Schade, dass du schon so bald abreisen musst“, sagte Julia traurig. „Ich werde vermutlich auch bald nach Frankfurt zurückfliegen. Sobald ich mit meinem Bruder telefoniert habe, packe ich meine Koffer. Sollten Marc und Miriam tatsächlich eine Ehekrise haben, ist das nicht mein Problem.

So, nun werde ich zum Landhaus fahren und auf Marcs Anruf warten. Sollen wir uns morgen Abend noch einmal treffen?“, fragte Julia. „Vielleicht hat Thomas auch Zeit“, fügte sie hinzu.

„Ja, gerne“, antwortete Sonja.

„Prima!“, meinte Julia. Ich rufe dich morgen um die Mittagszeit an, um dir mitzuteilen, wann und wo wir uns treffen.

Die beiden umarmten sich zum Abschied und fuhren in verschiedenen Taxis davon.

Als Julia am Landhaus ihres Bruders ankam, parkte ein großer schwarzer Wagen davor. Beim Betreten des Hauses hörte sie Männerstimmen. Eine davon kam ihr bekannt vor. Julia ging ins Wohnzimmer und blieb erstaunt in der Tür stehen. Miriam saß auf dem Sofa. Ihr gegenüber saßen zwei Männer. Einer davon war Thomas.

„Thomas!“, rief Julia erstaunt aus. „Was machst du denn hier?“ Thomas und sein Begleiter standen auf und begrüßten Julia mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck.

„Ist etwas passiert?“, fragte Julia erschrocken, während sie den Männern zur Begrüßung die Hand reichte.

Miriam sagte: „Die Herren sind von Marcs Firma und behaupten, Marc hätte Firmengelder unterschlagen. Jetzt sind sie hier, um mit ihm zu sprechen.“

„Aber das kann doch nicht sein“, erwiderte Julia fassungslos. „Mein Bruder würde so etwas niemals machen. Und wieso kommt ihr hierher? Ihr wisst doch, dass Marc bei der Schwesterfirma in Paris ist.“

„Leider ist er das nicht“, entgegnete Thomas. „Und bitte, beruhige dich. Wir sind hier, um unsere Untersuchungen fortzuführen. Es ist noch nichts bewiesen. Allerdings muss ich zugeben, dass vieles gegen deinen Bruder spricht.“

Thomas fuhr mit ruhiger Stimme fort: „Wir gehen verschiedenen Spuren nach und eine hat uns hierher geführt.“

„Wir werden jetzt gehen“, entschied der Begleiter von Thomas. „Bitte geben Sie uns Bescheid, sobald sich Ihr Mann meldet“, sagte er zu Miriam. „Wir müssen wirklich dringend mit ihm reden.“

Die Herren verabschiedeten sich und gingen zur Tür. Julia begleitete die beiden zum Wagen. Dort angekommen, nahm Thomas Julia zur Seite und flüsterte ihr zu: „Julia, sei bitte vorsichtig. Hier stimmt etwas nicht.

Deine Schwägerin empfindet Seltsames. Ich kann dir das jetzt nicht erklären. Es passt einfach alles nicht zusammen.“

Sein ernster Gesichtsausdruck machte Julia nachdenklich. Was meinte er nur? Ihre Gedanken überschlugen sich.

Plötzlich fiel ihr das geplante Treffen mit Sonja wieder ein und sie bat Thomas, auch zu kommen.

„Na klar, ich komme selbstverständlich“, meinte er lächelnd. „Ich freue mich auf Sonja und auf dich.“

Die beiden Männer fuhren los und Julia ging zum Haus zurück. An der Haustür kam ihr Miriam entgegen.

„Ich muss kurz weg“, rief sie Julia zu und lief eilig zur Garage.

„Miriam, warte!“, rief Julia ihr nach. Aber Miriam ließ sich nicht aufhalten. Sie fuhr ihr Auto aus der Garage und brauste davon.

Julia sah die Rücklichter von Miriams Wagen in der Ferne verschwinden. Sie kam sich sehr verloren vor.

Als Julia am nächsten Morgen frühstückte, lag Miriam noch im Bett.

Julia hatte kaum geschlafen, weil sie ständig an Marc und die Ereignisse des gestrigen Tages denken musste. Sie las die Zeitung, während sie an ihrem Kaffee nippte. Ein Artikel, der über vermisste Menschen berichtete, fesselte ihre Aufmerksamkeit. In den letzten Wochen waren zwei junge Männer und eine Frau mittleren Alters spurlos verschwunden. Die Polizei tappte im Dunkeln und hatte noch keine Spur von den Vermissten. „Ach, wie traurig“, dachte Julia, „kaum vorstellbar, was die Angehörigen durchmachen müssen.“ Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf.

In diesem Moment kam Miriam ins Esszimmer, nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Sie gähnte herzhaft und war noch total verschlafen. „Mir geht es gar nicht gut“, jammerte sie. „Ich habe furchtbare Kopfschmerzen. Ich gehe gleich wieder ins Bett.“ Sie legte ihre Hand auf die Stirn, drehte sich um und verließ hastig den Raum.

„Was war denn das?“, fragte sich Julia. Sie hatte das Gefühl, dass Miriam ihr aus dem Weg ging. Marc hatte am Abend zuvor auch nicht angerufen. Julia war enttäuscht. „Was ist nur los mit Marc?“, fragte sie sich.

„Ist an dem Verdacht der Unterschlagung womöglich doch etwas dran?“, grübelte sie weiter.

Nach dem Frühstück schickte Julia Thomas und Sonja eine SMS. Sie teilte ihnen mit, wann und in welchem Restaurant sie sich am Abend mit ihnen treffen wollte.

Anschließend beschloss Julia, in einem Wald außerhalb der Stadt joggen zu gehen. Auf einen der schönen Londoner Parks hatte sie keine Lust.

Sie musste auf andere Gedanken kommen, und das gelang ihr beim Joggen immer am besten.

Sie zog ihre Sportbekleidung an, rief ein Taxi und ließ sich zum Waldrand fahren. Dort angekommen, bezahlte sie den Fahrer und bat ihn, in zwei Stunden wieder da zu sein, um sie abzuholen. Das Taxi fuhr davon und Julia joggte einen Weg entlang, in den Wald hinein.

„Tut das gut“, dachte Julia, nachdem sie die ersten hundert Meter hinter sich hatte. Sie genoss die frische Waldluft und die Bewegung. Sie lief und lief, immer tiefer in den Wald hinein. Julia war überrascht, als sie plötzlich ein Haus entdeckte.

Ein Blockhaus mitten im Wald, versteckt hinter großen, dicht gewachsenen Bäumen. Das Haus machte einen sehr gepflegten Eindruck und an den Fenstern hingen weiße Vorhänge.

Julia bremste ihre Schritte, schaute sich um und ging anschließend langsam auf das Haus zu. Neugierig lauschte sie, ob Stimmen zu hören waren. Dann erschrak sie. Unvermittelt war sie auf etwas Hartes getreten, das unter Laub versteckt lag.

Ein großes Netz, befestigt an vier Seilen, schoss blitzschnell vom Boden hoch und zog Julia mit sich in die Höhe. Sie schrie auf vor Schreck, denn sie wusste nicht, wie ihr geschah.

Nachdem sie die ersten Schrecksekunden überwunden hatte, wurde ihr bewusst, dass sie in eine Falle getreten war. Sie hing in etwa zwei Metern Höhe, gefangen in einem Netz, das hin und her baumelte. Julia schaute sich Hilfe suchend um, aber sie konnte niemanden entdecken. Sie versuchte, sich aus dem Netz zu befreien und an den Maschen hochzuklettern. Aber leider ohne Erfolg, denn das Netz wurde, je höher sie stieg, immer enger. Sie hatte kaum Platz, um sich zu bewegen.

„Hallo! Hört mich jemand?“, rief sie verzweifelt. „Ich brauche Hilfe!“ „Na, was haben wir denn da gefangen?“, sagte plötzlich eine Männerstimme. Julia sah einen Mann am Boden stehen, der zu ihr hochblickte.

„Bitte helfen Sie mir!“, rief Julia. Der Mann hatte ein großes Messer in der Hand und durchtrennte damit das Zugseil des Netzes. Julia plumpste unsanft, samt Netz, zu Boden.

„Autsch, das hat wehgetan!“, jammerte sie.

Der Mann trat auf sie zu und half ihr aus dem Netz. Doch plötzlich und unvermittelt presste er ihr ein übelriechendes Tuch ins Gesicht.

Julia wollte sich wehren, aber die Kräfte verließen sie und ihr wurde schwarz vor Augen.

3. Kapitel – Wo ist Julia?

Wie vereinbart, erschienen Sonja und Thomas am Abend pünktlich im Restaurant.

„Anscheinend kommt Julia etwas später“, bemerkte Thomas nach etwa fünfzehn Minuten mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Die beiden begannen eine Unterhaltung und schilderten sich gegenseitig ihre Eindrücke von London.

Nachdem eine halbe Stunde vergangen und Julia immer noch nicht da war, meinte Sonja nachdenklich: „Sie wird unser Treffen doch nicht vergessen haben? Das würde Julia doch gar nicht ähnlich sehen. Ich rufe sie mal auf dem Handy an und frage, was los ist.“

Sonja holte ihr Handy aus der Tasche und wählte Julias Nummer. Sie ließ es lange klingeln, aber Julia meldete sich nicht.

„Ich schlage vor, wir warten nicht länger und geben beim Kellner unsere Bestellung auf“, meinte Thomas.

„Sollte Julia nach dem Essen immer noch nicht da sein, fahren wir zum Haus ihres Bruders, um nachzusehen, was los ist“, entschied er.

„Gute Idee“, antwortete Sonja. „Ich mache mir langsam Sorgen um Julia, denn ich habe das Gefühl, dass mit ihrer Schwägerin etwas nicht in Ordnung ist.“

Der Kellner trat an den Tisch und die beiden gaben ihre Bestellung auf. Während sie auf das Essen warteten, erzählte Sonja von der Begegnung mit Miriam bei Madame Tussauds.

„Es war sehr merkwürdig. Miriam sprach nicht viel. Aber immer, wenn sie etwas sagte, hatte ich das Gefühl, dass sie etwas zu verbergen versuchte.“

Thomas hörte aufmerksam zu und nachdem Sonja zu Ende erzählt hatte, begann Thomas von seinen Untersuchungen zu berichten.

„Auch meine Begegnung mit Julias Schwägerin war sehr seltsam. Ihre Empfindungen, die sich auf mich übertrugen, waren sehr ungewöhnlich.

Anstatt in Sorge und Angst zu sein, empfand sie Freude. Es schien so, als ob sie belustigt war über unsere Anschuldigungen“, erzählte Thomas kopfschüttelnd.

Kurz darauf wurde das Essen serviert, das keiner von beiden wirklich genießen konnte.

„Ich rufe noch mal bei Julia an“, meinte Sonja, nachdem beide aufgegessen hatten. Sie wählte Julias Nummer. „Jetzt ist das Handy ausgeschaltet“, stellte Sonja überrascht fest.

Thomas und Sonja sahen sich mit besorgten Blicken an.

„Ich möchte bitte bezahlen“, rief Thomas spontan dem Kellner zu und sagte zu Sonja: „Lass uns zum Landhaus fahren. Vielleicht hat Julia tatsächlich unser Treffen vergessen.

Womöglich liegt sie schon im Bett und schläft tief und fest.“ Thomas beglich die Rechnung und die beiden verließen eilig das Restaurant.

Sie fuhren in Thomas‘ Wagen zum Landhaus. Dort angekommen, klingelte Thomas mehrmals, aber niemand öffnete die Tür.

„Was machen wir jetzt nur?“, fragte Sonja verzweifelt.

„Ich fühle deine Angst“, sagte Thomas zu Sonja. „Bitte beruhige dich.

Angst ist kein guter Ratgeber. Wir sollten uns in den Wagen setzen und warten. Allzu lange dürfte es nicht dauern, bis eine der beiden kommt.

Schließlich ist es schon relativ spät.“

Thomas versuchte, Sonja und auch sich selbst zu beruhigen, indem er meinte: „Vielleicht sind Miriam und Julia gemeinsam unterwegs und sie wurden aus einem wichtigen Grund aufgehalten?“

Nach etwa zwanzig Minuten Wartezeit tauchte plötzlich ein Kleinwagen in der Dunkelheit auf und hielt vor dem Haus. Sonja und Thomas rutschten in ihren Sitzen nach unten, um nicht gesehen zu werden. Sie verhielten sich ganz leise und beobachteten, wie ein Mann ausstieg und zum Haus ging. Er sah sich kurz um und öffnete mit einem Schlüssel die Haustür.

„Hast du das gesehen? Er hat einen Schlüssel“, sagte Sonja überrascht zu Thomas. „Wer ist der Mann?“ Thomas spekulierte: „Vielleicht ist das Marc, der heimlich ins Haus schleicht?“

Sonja und Thomas warteten geduldig, bis der Mann wieder aus dem Haus kam. Er trug einen gefüllten Sack in den Händen, lud ihn in den Kofferraum des Kleinwagens und fuhr davon.

„Los, hinterher!“, sagte Sonja aufgeregt zu Thomas.

Thomas folgte dem Wagen in großem Abstand. Das Fahrzeug führte sie aus London hinaus, bis zu einem Wald.

Der Wagen fuhr im Schritttempo einen schmalen Weg entlang, in den Wald hinein. Kurz darauf verschwand er in der Dunkelheit.

Thomas fuhr langsam bis zum Waldrand und hielt an. Er und Sonja stiegen aus und schlichen leise ein Stück in den Wald hinein. In der Ferne sahen sie noch schwach die Rücklichter des Kleinwagens.

Thomas schlug vor: „Wir sollten der Sache auf den Grund gehen, sobald es wieder hell ist. Lass uns zu unseren Hotels zurückfahren. Wir sollten schlafen, damit wir morgen früh ausgeruht sind.“

Er dachte kurz nach und sprach weiter: „Ich hole dich morgen um neun Uhr ab. Ich rate dir, gut zu frühstücken und bequeme Schuhe anzuziehen, denn wir haben einen langen Fußmarsch durch den Wald vor uns.“

Thomas stand pünktlich um neun Uhr mit seinem Wagen vor Sonjas Hotel.

Sonja wartete bereits vor dem Eingang auf ihn. Sie stieg ins Auto und begrüßte Thomas kurz mit ernster Miene. Dann meinte sie niedergeschlagen: „Ich habe gerade eben noch einmal versucht, Julia übers Handy zu erreichen, aber leider ohne Erfolg. Ihr Handy ist immer noch ausgeschaltet. Bei Miriam habe ich auch angerufen, ebenfalls erfolglos.“

„Wir fahren jetzt noch einmal zum Landhaus, um nachzusehen, ob jemand da ist“, entschied Thomas. „Sollten wir niemand antreffen, fahren wir zum Wald, um nach dem Fahrer des Kleinwagens zu suchen.“

Am Landhaus war weder von Miriam noch von Julia etwas zu bemerken.

Sonja klingelte mehrmals sehr lange, aber niemand öffnete die Tür. Thomas ging in den Garten und lief um das Haus herum. Dabei rief er immer wieder Julias Namen. Er klopfte an Fenstern und Türen, aber leider umsonst.

„Lass uns keine Zeit verlieren“, meinte Sonja. „Wir sollten zum Wald fahren und anfangen zu suchen.“

Gesagt, getan. Die beiden fuhren zum Waldrand, stiegen aus dem Auto und gingen zu Fuß in den Wald hinein.

Sie folgten dem schmalen Weg, auf dem gestern der Kleinwagen in den Wald gefahren war.

Als sie etwa eine Stunde Fußmarsch hinter sich hatten, sagte Sonja mit trauriger Miene: „Thomas, ich hatte heute Nacht ein seltsames Erlebnis.

Ich glaube, Julia hat mit ihrer Gedankenkraft Kontakt zu mir aufgenommen und versucht, mir etwas mitzuteilen.“

Thomas sah Sonja erstaunt an.

Sonja erzählte weiter: „Ich lag noch wach, als ich plötzlich ein Bild von Julia in meinem Kopf hatte. Sie lag in einem Bett und war an Armen und Beinen festgebunden. Sie war an eine Infusion und an medizinische Apparate angeschlossen. Fast so, wie in einem Krankenhaus. Und ich sah Bäume, viele große Bäume.“

Sonja machte einen tiefen Seufzer.

„Das war alles. Dann sah ich nichts mehr.“

Sie sprach weiter: „Ich habe Angst um Julia. Vielleicht hatte sie auf dem Weg zu unserem Treffen einen Unfall und liegt jetzt im Krankenhaus?“

Thomas sah Sonja mit besorgtem, ernstem Blick an und erwiderte nachdenklich: „Vielleicht hast du recht.

Wir sollten uns in den Krankenhäusern der Stadt nach Julia erkundigen.“

Plötzlich hörten sie ein Motorengeräusch. Sie rannten schnell ins Gebüsch und versteckten sich. Der Kleinwagen von gestern Nacht kam den Waldweg entlang zurückgefahren, mit demselben Mann am Steuer. Als er vorbei war, gingen Sonja und Thomas weiter.

„Was hat der wohl heute Nacht im Wald gemacht?“, fragte sich Thomas stirnrunzelnd.

Nach weiteren dreißig Minuten Fußmarsch blickte Thomas Sonja an und sagte: „Darf ich dich mal etwas Persönliches fragen?“

„Ja, klar“, antwortete Sonja. „Was möchtest du wissen?“

„Wie war das bei dir, als du festgestellt hast, dass du eine ganz besondere Gabe besitzt?“, fragte Thomas schüchtern.

Sonja begann zu erzählen: „Am Anfang dachte ich, dass ich nur rein zufällig erkenne, ob jemand lügt oder die Wahrheit spricht. Aber als ich bemerkt hatte, dass ich mich so gut wie nie irre, habe ich mich intensiver mit manchen Personen befasst.

Und in ganz speziellen Fällen, die mir besonders nahegingen, hatte ich plötzlich Bilder im Kopf. Man könnte von Visionen sprechen. Als ich dies mit sechzehn Jahren zum ersten Mal erlebt habe, hatte ich Angst vor mir selbst. Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Daraufhin vertraute ich mich meiner Mutter an, und die meinte, ich hätte diese Gabe von meiner Großmutter geerbt. Sie gab mir den Rat, mein außergewöhnliches Talent helfend anzuwenden. Sie meinte, ich wäre etwas ganz Besonderes. Von diesem Moment an konnte ich meine Gabe akzeptieren. Ich hatte keine Angst mehr. In meinem Job konnte ich mein spezielles Talent schon öfters anwenden. Ich spürte, wenn die Jugendlichen im Heim mich anschwindelten oder wenn sie ehrlich zu mir waren. Letztendlich konnte ich ihnen dadurch schon oft helfen, schreckliche Erlebnisse zu verarbeiten.“ Sonja machte einen tiefen Atemzug und lächelte Thomas an. „Und wie war das bei dir?“

„Bei mir war es ähnlich“, antwortete Thomas. „Mit vierzehn Jahren bemerkte ich zum ersten Mal, dass ich anders war als die anderen. Es war mir oft sehr unangenehm, die Empfindungen der anderen fühlen zu können.

Furcht, Trauer und Verzweiflung sind keine schönen Gefühle, Freude und Glück dafür umso mehr. Ich dachte am Anfang, ich werde verrückt, und sah mich schon in der Irrenanstalt. Aber als ich älter wurde, habe ich gelernt, mit meiner Gabe umzugehen.

Ich konnte sehr gut auf Menschen eingehen, weil ich wusste, wie ihnen zumute war. Auch habe ich sehr schnell bemerkt, dass ich Lügnern und Betrügern auf die Schliche komme, was vor allem in meinem Beruf sehr nützlich ist.“

„Wann hat Julia ihre Gabe wohl entdeckt?“, überlegte Sonja laut.

Thomas antwortete: „Ich glaube, sie hat bereits in der Grundschule erste Erfahrungen damit gemacht. Das hat sie mir im Internat einmal erzählt.“

Thomas sprach weiter: „Als Kind war sie auf ihren Bruder sehr wütend, weil er ihre Puppe kaputt gemacht hatte. Und während sie sich mit ihm deswegen stritt, rutschte ihrem Bruder völlig grundlos die Brille von der Nase und fiel zu Boden. Von diesem Moment an kam es immer häufiger vor, dass immer dann Gegenstände herunterfielen, wenn Julia sehr wütend war. Wir sollten sie mal fragen, wie sich das Ganze weiter entwickelt hat“, meinte Thomas belustigt.

Aber im nächsten Augenblick war er auch schon wieder sehr ernst und meinte: „Wo steckt Julia bloß?“ Sie gingen immer tiefer in den Wald hinein.

Plötzlich sagte Sonja leise: „Sieh nur, dort ist ein Haus, hinter den Bäumen.“

Thomas sah das Blockhaus ebenfalls und flüsterte Sonja zu: „Lass uns in großem Bogen um das Haus herumgehen, um auch den hinteren Bereich sehen zu können. Wenn keine Gefahr droht, gehen wir näher ran.“

Sonja nickte zustimmend und Thomas ging in geduckter Haltung mit leisen Schritten voran. Sonja folgte ihm.

Die beiden schlichen zur Rückseite des Hauses und hörten schließlich Stimmen. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander, aber leider konnten Sonja und Thomas nicht verstehen, was gesprochen wurde. Sie konnten auch niemanden sehen.

Sie versteckten sich im Gebüsch und warteten. Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Hintertür des Blockhauses und zwei Männer mit Pistolen in den Händen kamen heraus.

Einer der Männer ging vor das Haus, sodass Thomas und Sonja ihn nicht mehr sehen konnten. Der andere Mann setzte sich auf die Verandatreppe und blickte aufmerksam umher.

Thomas flüsterte Sonja zu: „Mist, die beiden sind bewaffnet und halten Wache. Wir sollten zusehen, dass wir verschwinden.“

Plötzlich stand der Mann auf und ging ins Haus. Diese Gelegenheit nutzten die beiden und schlichen leise davon. Sie liefen, so schnell sie konnten, zum Wagen zurück. Dort angekommen, setzten sie sich ins Auto und verriegelten die Türen.

Außer Atem sagte Thomas zu Sonja: „Ich möchte bloß wissen, was in dem Haus vor sich geht. Wieso wird es so gut bewacht?“

Sonja antwortete, ebenfalls völlig außer Atem: „Ich finde, wir sollten zur Polizei gehen und melden, was wir gesehen haben.“

Thomas nickte mit dem Kopf und sagte: „Ich bin deiner Meinung.“

Daraufhin startete er den Motor und fuhr zurück nach London, direkt zur Polizei.

Sonja und Thomas erzählten den Polizeibeamten von ihren Erlebnissen im Wald. Die Polizisten nahmen die Aussagen auf und baten die beiden, einen Moment zu warten.

Kurze Zeit später wurden sie in ein Büro gebeten, in dem ein großer, korpulenter Mann hinter einem massiven Schreibtisch aus Holz saß. Er war der zuständige Inspektor und schüttelte den beiden zur Begrüßung die Hände.

„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte er freundlich und machte eine Handbewegung in Richtung zweier Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.

Thomas und Sonja setzten sich.

„Ich habe gehört, dass Sie am Blockhaus von Professor Krüger seinen Leibwächtern begegnet sind“, begann der Inspektor das Gespräch. Thomas und Sonja sahen sich mit überraschtem Gesichtsausdruck an.

Der Inspektor sprach weiter: „Professor Krüger lebt schon seit vielen Jahren sehr zurückgezogen in seinem Haus im Wald. Er ist ein berühmter Wissenschaftler und hat sich vor etwa fünf Jahren zur Ruhe gesetzt. Er meidet den Kontakt zu anderen Menschen und hat Angst vor Einbrechern. Deshalb bewachen zwei Leibwächter sein Haus. Sie beschützen den Professor vor unwillkommenen Besuchern. Sie können beruhigt sein“, fügte der Inspektor hinzu, „in seinem Haus geht alles mit rechten Dingen zu.

Die Pistolen der Leibwächter sind nicht mit scharfer Munition geladen. Es handelt sich nur um ungefährliche Betäubungspistolen. Allerdings würde die Dosis ausreichen, um einen Eindringling für kurze Zeit außer Gefecht zu setzen.“

Damit hatten Thomas und Sonja nicht gerechnet. Sie sahen sich ungläubig an und äußerten ihre Bedenken. Aber der Inspektor wollte nicht weiter zuhören. Er schien gelangweilt und meinte mit Nachdruck: „Bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe noch einen wichtigen Termin.“ Er stand auf und reichte beiden zum Abschied die Hand, mit den Worten: „Sie können beruhigt sein, wir haben alles unter Kontrolle. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt in London. Auf Wiedersehen.“

Er begleitete Sonja und Thomas zur Tür, öffnete diese und schloss sie sofort wieder, als die beiden den Raum verlassen hatten.