Nichts könnte trügerischer sein - Marta Pérez-Carbonell - E-Book

Nichts könnte trügerischer sein E-Book

Marta Pérez-Carbonell

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Beschreibung

Auf einer nächtlichen Zugfahrt zwischen London und Edinburgh begegnet eine Frau zwei faszinierenden Fremden. Einer der beiden erzählt von seiner Freundschaft zu einem jungen Mann, der ihm seine traumatische Kindheit anvertraut hatte. Und dass er selbst dann einen Bestseller geschrieben hat, der dieser Geschichte vielleicht zu nah kommt ... Getrieben durch ihre eigene Geschichte, beschließt die Heldin dieses Buches herauszufinden, was wirklich zwischen den beiden Männern passiert ist.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Spanischen von Astrid Roth

© Marta Pérez-Carbinell 2024

Titel der spanischen Originalausgabe: »Nada más ilusorio«, Lumen/PRH, Barcelona 2024

© der deutschsprachigen Ausgabe 2025:

Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH Berlin/München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Silvijo Selman / arcangel images

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Erstes Zitat

Zweites Zitat

1

2

I

3

4

II

5

6

III

IV

7

8

V

VI

9

10

VII

11

12

13

Dank

Quelle

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Andrés, der schon an diese Geschichte glaubte,

lange bevor es sie gab,

und für alle, denen Lesen Halt gibt.

Erstes Zitat

Diese Tage werden vergehen

wie alle schlechten Tage des Lebens vergehen

Die Winde, die dich umwerfen, werden sich legen

Das Blut deiner Wunde wird stocken

Die herumirrende Seele wird in ihr Nest zurückkehren

Was gestern verloren ging wird gefunden werden

Die Sonne wird unbefleckt empfangen werden

und wird von Neuem an deiner Seite aufgehen

Und am Meer stehend wirst du sagen: Wie konnte ich

In Tränen aufgelöst ohne Kompass und verloren

in den Hafen gelangen mit kaputten Segeln?

Und eine Stimme wird dir sagen: Das weißt du nicht?

Derselbe Wind der deine Schiffe zerbrach

ist es der die Möwen fliegen lässt

Oscar Hahn

Zweites Zitat

Oui, tout le récit était fait de choses qui se répondaient.

Le commencement créait une situation qui se dénouait

à la fin avec les éléments du commencement.

Donc la fin répétait le commencement

et le commencement permettait déjà de concevoir la fin.

[Ja, die ganze Erzählung bestand aus Dingen, die einander entsprachen

Der Anfang schuf eine Situation, die sich am Ende mit den Bestandteilen des Anfangs auflöste.

Also wiederholte das Ende den Anfang, und der Anfang erlaubte es bereits, sich das Ende vorzustellen.]

Jean-Paul Sartre

1

Die chinesischen Zeichen unterscheiden zwei Arten von Null, die im Grunde zwei Arten von Nichts sind: Eines ist das absolute Nichts, ich stelle es mir so vor, dass es das Außen des Universums formt, wo es niemals auch nur das kleinste Teilchen gab; das andere wird durch das Schriftzeichen ling [零] dargestellt, es deutet auf die zurückgelassene Spur von etwas, wie die Feuchtigkeit, die nach einem Gewitter in der Luft hängt. Eine Abwesenheit, die sich durch den Anschein dessen, was war, definiert.

In diesen wie eingefrorenen Tagen war alles ling; ein Loch, in dem einmal etwas gewesen war. Aber das ist keine Geschichte über die Zeit der Stille, sondern es geht um eine lange Nacht.

Als mir die Stelle in London angeboten wurde, war das Schlimmste schon vorbei, und ich befand mich gerade im Bahnhof Atocha. In jenen ersten Sommertagen 2020 war Spazierengehen wie ein neues Spielzeug, dessen wir nicht müde wurden. Jeden Tag lief ich ohne Ziel durch die Gegend, und nicht selten landete ich in einem der Bahnhöfe: in Moncloa, Atocha, Príncipe Pío. In den Bahnhöfen fanden wir all die Bewegung, die uns fehlte: Ströme von Touristen, verspätete Fahrgäste, Kellner, die café servierten, und in dem Teich in der Mitte von Atocha kletterten die Schildkröten die Steine hoch und sprangen ins Wasser. Von der Bank aus, auf die ich mich gesetzt hatte, konnte ich sie sehen, wie langsam und urzeitlich sie waren, einige im Wasser, und andere ließen sich in der Sonne trocknen. Ein Mann mit einem breiten Lächeln und einem Wägelchen voller Faltblätter kam auf mich zu. Er habe mich beobachtet, sagte er und reichte mir einen der dreifach gefalteten Zettel. Darauf das Foto einer Gruppe von Kindern, die, umgeben von weißen Tauben, den Blick auf einen Lichtstrahl in einem bewölkten Himmel gerichtet, auf einer grünen Wiese saßen. Ich sah ihn an, es war eine Frage, und er zeigte auf den Text des Faltblatts: Was ist das Leben. Geschrieben in der Typografie von Telepizza. Er verkündete mir mit der Überzeugung eines Propheten, dass er gekommen sei, um mich zu retten. Ich bedankte mich für seine gute Absicht, aber nein, danke, ich hatte mich schon selbst gerettet und auch er sich und alle sich, die wir an diesem Tag in Atocha waren. Er sah mich verwirrt an, und ich nutzte eine Lautsprecherdurchsage, um aufzustehen und das Handy hervorzuholen. Instinktiv sah ich auf meine E-Mails: Man bot mir die Stelle in London an. Mich in diesem Moment von dem Propheten abzuwenden und Madrid hinter mir zu lassen, war ein und dasselbe. Ich hätte auch einfach nur aufstehen können, aber ich verließ Atocha und damit gleich auch das Land.

Manchmal braucht man für Entscheidungen wie, ob man nach einer Mahlzeit einen Nachtisch isst oder Kaffee trinkt (oder vielleicht, ob man Weiß- oder Körnerbrot dazu isst), länger als für solche, die das Leben maßgeblich verändern. Ich fragte mich, wie sich der Prophet mit dem irrwitzigen Pizzeria-Faltblatt entscheiden würde. Würden wir uns angesichts zweier Optionen nicht automatisch für das entscheiden, was uns in Gang bringt? Eine Gruppe Amerikanerinnen zog schwere Koffer hinter sich her, Touristen drehten sich mit antennenartig erhobenem Handy im Kreis, ein Schwall von Menschen folgte blind einem Regenschirm. Wenn sich etwas bewegt, folgen wir.

Bei meiner neuen Stelle für WorldTrans arbeitete ich hauptsächlich im Firmensitz in London, eine Woche im Monat musste ich allerdings immer in der schottischen Filiale sein. Am vorletzten Sonntag jeden Monats nahm ich den Nachtzug, und am Montag kam ich bei Tagesanbruch in Edinburgh an. Dort wohnte ich in einem kleinen Hotel, das ich am Freitag verließ, um zurück nach London zu fahren. In beiden Städten kam ich immer wie betäubt an; die Beine so angeschwollen wie der Geist geschrumpft, als verlagere sich das Volumen von einem in das andere. Es waren lange Nächte, und anders als einige Jahre zuvor fand ich es alles andere als einfach, ich musste viel dafür tun, dass sich eine gewisse Unbeschwertheit einstellte.

Ich hatte vor einiger Zeit bereits einmal in der britischen Hauptstadt gelebt. Damals hatte ich ein Schreibseminar auf Englisch belegt und als Au-pair gearbeitet. Diese Zeit der Sorglosigkeit mit kalten Sandwiches und alten Teppichböden war wie eine in Klammern gesetzte Geschichte: Sie hatte keine Spuren hinterlassen und keinerlei Bedeutung, es gab sie, und es hätte sie auch nicht geben können.

Ich hatte wie in einem Kokon gelebt, und als ich bald darauf nach Madrid zurückkehrte, war das Leben erneut beschwerlicher. Ich machte meinen Master und arbeitete unter anderem als freiberufliche Übersetzerin; das war finanziell alles andere als einträglich, aber in der Stille dieser einsamen Monate half mir das Übersetzen der Texte dabei, mich nicht allein zu fühlen. In dieser Zeit fegte der stumme und mikroskopisch kleine wirbellose Feind durch die Straßen, verwandelte sie in eine verlassene Filmkulisse. Und wir, die Zuschauer, blieben zu Hause und wurden von dort aus Zeuge dieser Katastrophe, wir griffen zu dem, was notwendig war, atmeten so viel wie nötig, wiegten uns ein wenig, sprachen leise und allein vor uns hin. Alle Welt hielt wie unter Wasser die Luft an; wir taten so, als gäbe es uns nicht, als seien wir nicht da, damit uns die Krankenwagen nicht fänden.

Mit dem Ende der erstarrten Tage waren auch Verlust, Fieber und Stille vergessen. Die Zeit verlor das Dehnbare, und ich zog, um wieder in Gang zu kommen, so schnell ich konnte erneut nach London.

Alle Geschichten enden, aber bei keiner stimmt das so ganz; manche, wie auch diese, verbinden sich, um zu einem Stoff zu werden.

Von all meinen Zugreisen ist die Geschichte dieser die denkwürdigste. Vielleicht ist das alles passiert, weil ich vergessen hatte, für die Reise ein Buch mitzunehmen. Nachts im Zug zu lesen, hat etwas Heimeliges für die Reisenden; wenn wir in Bewegung sind, bietet uns das Lesen, so Walter Benjamin, Geborgenheit und Schutz wie ein Schirm. Sogar das gefürchtete Flugzeug wird gemütlich, wenn wir ein Buch haben. Das Kabinenlicht geht aus, und die Lampe über uns beleuchtet uns wie eine Zeichentrick-Wolke, aus der es regnet. Wir reisen durch das schwarze Nichts und lesen eine Geschichte, die gleichzeitig erhellt und in Dunkelheit getaucht ist. Aber in jener Nacht hatte ich kein Buch.

Der nächste Halt in einem Bahnhof wurde angekündigt (es war der einzige, den der Zug während seiner nächtlichen Fahrt machte), und ich verließ das Abteil Richtung Bordrestaurant, wo der Kellner an seinen Ponyfransen spielte und sich mit aller Zeit der Welt hinter dem Tresen bewegte, um Miniaturflaschen mit Gin und dazugehörige kleine Dosen zu servieren. Er durchmaß die britische Insel bestimmt häufiger als ich der Länge nach, und vielleicht langweilten ihn die Bahnhöfe und die Bewegung.

Die Waggons waren in Zugabteile unterteilt, deren Sitze man in der Mitte zusammenschieben und so daraus ein Bett bauen konnte, aber damit mussten alle einverstanden sein, und selbst wenn dem so war, war es unangenehm, sich derart nah neben Fremde zu legen. Normalerweise blieben die Reisenden in diesen Nächten sitzen, und man versuchte, in der seltsamen Gemütlichkeit dieses Raums möglichst den Blickkontakt zu vermeiden. In dieser Nacht war ich in meinem Abteil allein, und als ich aus dem Bordrestaurant dorthin zurückging, dachte ich, dass mich ohne ein Buch nur das Halbdunkel draußen und der Gin in mir begleiten würden. Aber ich täuschte mich, weil mich beim Betreten eine Geschichte erwartete, die sich schon bald mit meiner verstrickte.

Zwei gemeinsam reisende Männer waren beim letzten Halt zugestiegen. Sie saßen meinem Platz gegenüber und lächelten mich an, als ich das Abteil betrat. Ich fragte mich, was sie verband. Um verwandt zu sein, war ihr Umgang miteinander zu formell. Sie konnten Freunde sein, auch wenn der eine sehr viel älter als der andere war, aber sie schienen einander auch etwas beweisen zu müssen. Der Jüngere könnte ein Lieblingsdoktorand sein. Ich kannte einige Beziehungen, die nach diesem Erfolgsrezept funktionierten: ein Mann jenseits der besten Jahre auf der Suche nach Publikum, ein junger Mann, der sich danach sehnte, aus einem bereits erlesenen Kreis von Studierenden auserwählt zu werden. Sie waren Amerikaner und sprachen über einen Roman; vor allem der Jüngere redete.

»Ich glaube nicht, dass sich dein Buch nur wegen des Skandals verkauft«, sagte der, den ich für den Zögling hielt. »Es gibt viele Gründe, warum ein Buch gelesen wird. Schon in den Wochen vor dem Erscheinen des Artikels von Donovan Seymour hat es sich gut verkauft, und außerdem ist es doch egal. Wichtig ist nur, dass es gelesen wird.«

Seine Begleitung sah mit melancholischem Blick aus dem Fenster, vermutlich machen es viele erfolglose Schriftsteller genauso. Da von draußen kaum Licht kam, konnte er nur sein gespiegeltes Gesicht sehen, vielleicht machte ihn dieses Bild irgendwie traurig. Ich schätzte, dass er über sechzig sein musste, er hatte allerdings etwas Wehleidiges an sich, das ihn älter wirken ließ. Er hatte auf den Versuch des jungen Mannes, ihn aufzumuntern, nicht reagiert, und irgendwann betrachtete er sein eigenes Bild durch meine Augen, wie uns das manchmal mit Fremden geht.

Wir gehen aus, erzählen Geschichten, lachen und entkorken Weinflaschen mit jemandem, der gewillt ist, uns Gesellschaft zu leisten. So vergehen die Tage, bis wir begreifen, dass wir uns in den Augen des anderen spiegeln. Die Blicke der anderen sind Spiegel, die man nicht unterschätzen sollte, einer dieser klaustrophobischen Räume der Vergnügungsparks von früher, wo Konvex- und Hohlspiegel das Bild immer stärker verzerren. Keines dieser Spiegelbilder zeigt die Wirklichkeit, zumal man das eigene Gesicht dabei sowieso nur in umgekehrter Symmetrie sieht. Ich glaubte, dass der Professor einen Hauch dieser Irritation verspürte, als er sich in den Augen einer Unbekannten sah.

Der Student versuchte, ihn zu überzeugen, dass viele Bücher trotz irgendwelcher Skandale, die sie umgaben, überaus bedeutend waren, und in einigen Fällen sei es eben wegen des Skandals so gewesen. Während ich diesem Gespräch lauschte, tat ich so, als würde ich in einer Zeitschrift lesen, die ich in dem Abteil gefunden hatte.

»Ob sich das Buch gut verkauft, ist mir egal. Die ganzen Klatschgeschichten haben den wirklichen Erfolg zunichtegemacht. Als wäre das alles eine Reality Show. Nach dem Artikel von Donovan Seymour wird es nur noch darum gehen.« Er wirkte wirklich bekümmert, und ich dachte, dass diese Niedergeschlagenheit vermutlich wahrhaftiger war als jene, die er in der Rolle als demontierter Autor an den Tag legte.

Der junge Mann sah ihn misstrauisch an.

»Aber, dann stimmt es?«, fragte er ihn.

»Was soll stimmen? Was Seymour in dem Artikel im New Yorker schreibt?«

»Ja«, antwortete der junge Mann. »Ich dachte immer, dass die Anschuldigungen größtenteils erfunden sind. Und wenn dem so ist, könnte man ihn dann nicht sowieso wegen übler Nachrede anzeigen?«

Unwillkürlich sah ich von der Zeitschrift auf. Ich hatte den Eindruck, dass es dem Professor irgendwie zu gefallen schien, bei mir Neugierde wahrzunehmen. In meinem noch verhaltenen Blick lag die Frage, ob jene Geschichte im New Yorker wahr oder unwahr sei. Der junge Mann beobachtete ihn in Erwartung einer Antwort, und mir warf er einen irgendwie wütenden Blick zu; ich hatte mich, wenn auch ohne ein Wort zu sagen, einfach in seine Geschichte eingemischt. Ich hätte die beiden alleine lassen können, damit sie offen und ehrlich sprechen konnten, aber ich hatte bereits begonnen, zuzuhören, die Ohren kann man nicht einfach zumachen. Nur im Schlaf hört man nicht zu. Der Professor sah mir zum ersten Mal in die Augen.

»Und Sie? Würde Sie es ebenfalls interessieren, ob das, was Donovan Seymour geschrieben hat, stimmt?« Er streckte mir die Hand entgegen und lächelte in einer Weise, die ich nicht sofort deuten konnte. »Terence Milton, schön, Sie kennenzulernen.«

2

Der Zug fuhr weiter durch die Nacht, die nie ganz dunkel wurde. Ich hatte während dieser Reisen oft den Eindruck, dass sich die Nacht schwer damit tat, den Tag zu verdrängen, und wenn die Sonne der Dunkelheit dann endlich wich, schien es schon wieder hell zu werden. Wasserpartikel, eine Spur britischen Regens tränkten die Luft, reines ling.

Ich betrachtete Terence Milton, der, wie er sagte, meistens Terry genannt wurde. Als er mir die Hand gab, achtete ich genauer auf seine Kleidung. Ein grüner, ein paar Nummern zu großer V-Ausschnitt-Pullover, der üppiges Brusthaar erahnen ließ. Auch die beige Leinenhose war ein wenig zu weit. Er war einer dieser merkwürdig schlanken Männer mit erschlafften Gesichtszügen und Gebärden, deren kränkliches Aussehen eher auf einer Willensschwäche, denn auf einem physischen Leiden zu beruhen schien.

Der junge Mann sah aus wie ein amerikanischer Student, der Europa bereiste, auch wenn die Insel immer weniger dazugehörte. Verhalten betrachtete er mich mit honigfarbenen Augen, und als er mich lächelnd ansprach, war seine Verärgerung über meine Anwesenheit trotzdem kaum zu überhören.

»Ich heiße Mick Boulder, werde aber Bou genannt. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus: Ich würde gerne mit meinem Professor unter vier Augen reden.«

Bevor ich antworten konnte, ging Terry dazwischen. Auf keinen Fall! Wir drei säßen im selben Abteil, und sie würden ihre neue Freundin nicht ausschließen. Wenn sie die Geschichte hören wollte, müsste er, Terry, sie in meiner Anwesenheit erzählen. Bou schüttelte den Kopf und hob die Hände, als würde er sich ergeben, wie man das aus Filmen kennt, wenn die Polizei kommt.

Was wollten wir wissen? Terence sah mich an, er war sich darüber im Klaren, dass mir die Zusammenhänge fehlten.

»Ich habe einen kurzen Roman mit dem Titel Rocco geschrieben«, sagte er zu mir. Bou machte zur Bestätigung eine ungeduldige Geste. »Sein Erscheinen hat große Aufmerksamkeit erregt, aber es geht dabei nur darum, was er im Hinblick auf die Wirklichkeit aufdeckt oder verschweigt. Ich hätte nicht gedacht, dass er eine solche Wirkung haben würde, und oft frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich ihn nicht veröffentlicht hätte.«

»Worum geht es?«, wagte ich zu fragen.

Aber Terence schien mich nicht zu hören oder wollte mir nicht antworten, er sprach einfach weiter.

»Alles wäre anders gewesen ohne Rocco. Aber so ist das mit allem, was passiert, oder? Zumindest ist das Grundlage vieler Komödien und Dramen: Was wäre passiert, wenn ich jenen Aufzug genommen hätte, wenn ich mich nicht mit der Nachbarin unterhalten hätte, wenn ich gleich ein Taxi gefunden hätte.«

»Worum geht es?«, fragte er sich selbst. »Rocco erzählt davon, welche Wirkung jemand auf einen anderen haben kann. Ein kleines Stück Leben, bei dem es um einen gefundenen und einen verlorenen Moment geht, so wie es der Held von ›Der Blitz‹, einer Erzählung von Italo Calvino, erlebt. Hast du sie gelesen? Dieser Mann erfährt beim Überqueren einer Straße unerwartet Weisheit; er ist wie vom Blitz getroffen, und diese plötzliche Erkenntnis verändert seine Sicht auf die Dinge fundamental, aber er verliert sie sofort wieder. Das ist die Geschichte von Rocco: die eines gefundenen und verlorenen Moments bei der Begegnung zweier Menschen. Aber keine Angst, ich bin nicht größenwahnsinnig. Weder ist Rocco ›Der Blitz‹, noch halte ich mich für Italo Calvino.«

Als Terry Luft holte, wandte ich den Blick zum Fenster, und in diesem Moment fuhr ein anderer Zug so dicht vorbei, dass unserer erzitterte.

»Das Problem von Rocco ist«, fuhr Terry fort, »dass der Roman angeblich die Wahrheit über einen jungen Mann namens Hans Haig erzählt. Viele haben ihn so gelesen, als eine Art Schlüsselroman, in dem wichtige Informationen über reale Personen enthalten sind. Als solchen bezeichnet ihn jedenfalls Donovan Seymour, der Journalist vom New Yorker, von dem mein junger Freund gesprochen hat.« Bou rutschte bei der Erwähnung von Hans Haig auf seinem Sitz hin und her, und Terry sah uns beiden in die Augen. »Mina Lint hat mir Hans vorgestellt. Bou, du kennst ja Mina, und du weißt, dass sie im Sommer immer in ihrem Haus in Soho zu Partys einlädt«, sagte Terence, und an mich gerichtet: »Wir leben in New York. Ich bin Professor für Literatur am Graduate Center, und Bou war mein Doktorand.«

Bou machte eine zustimmende Geste, und Terry erzählte weiter über diese Begegnung, die vielleicht die Grundlage für den Blitz war, über den er später schrieb.

»Mina Lint hätte mir Hans auch nicht vorstellen können, und in einer anderen Version der Geschichte wäre es auch sicher so«, sagte er achselzuckend, um dann weiterzuerzählen. »Bei dem Nachnamen, der an Schweizer Schokolade erinnert, und dem geheimnisvollen Flair, das sie umgibt, fragt man sich, woher wohl ihr Vermögen stammt, das ihr erlaubt, ein derart unbeschwertes und sorgenfreies Leben zu führen, das immer mit den Künsten und der New Yorker Bohème verknüpft ist; ein Leben, das, auch wenn es nicht gerade luxuriös ist, eine Menge Geld kostet. Ich bin in diesen Kreisen als amüsanter Professor akzeptiert, sie dagegen spielt in der Gesellschaft, mit der sie sich umgibt, eine zentrale Rolle. Mina mit ihrer langen, hellrot gelockten Mähne und dem hemmungslosen Lachen ist eine Frau voller ansteckender Lebensfreude. Darüber hinaus hat sie ein ernsthaftes Interesse an denen, die sie umgeben, auf diese Weise sind wir sehr schnell Freunde geworden. Mit ihren drei kleinen italienischen Windhunden stand sie auch bei diesen Soiréen immer im Mittelpunkt. Die Hündchen folgten ihr auf Schritt und Tritt, und wie viele der Eingeladenen waren sie von der Gegenwart der Gastgeberin vollkommen gebannt. An diesem Abend war ich sehr spät, und als sie mich auf der Treppe sah, die zur Terrasse führte, kam sie mir mit ausgebreiteten Armen und einem Glas Champagner in der Hand entgegen.«

Bei Terrys Schilderung musste ich an Sylvia aus Das süße Leben denken und auch an die Frau von Roger Rabbit, die verführerische Jessica Rabbit mit ihren roten Haaren. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Mina eine dieser Frauen war, die allein durch ihre Anwesenheit bezaubern.

»Sie war in Begleitung eines jungen Mannes, den ich noch nie gesehen hatte, und nach dem Begrüßungsküsschen stellte sie uns einander vor: ›Terence Milton, ein alter Freund, den ich nicht so oft sehe, wie ich mir wünschen würde; Hans Haig, ein neuer Freund, der erst seit Kurzem in der Stadt ist und den ich hoffentlich oft sehen werde.‹ Hans lächelte, und nachdem er sich ein paar Krümel vom Revers gewischt hatte, reichte er mir die Hand mit einem angedeuteten Kopfnicken, das ich für seine Generation altmodisch fand. Er roch gut, und ich nahm an, dass er Anfang zwanzig war. Mina erzählte uns von der Ausstellung eines Fotografen, dem man begann nachzusagen, ›der neue Richard Avedon‹ zu sein. Er bearbeitete seine riesigen Bilder in der Weise, dass er die Augen der fotografierten Personen durch Seepferdchen ersetzte. Der Effekt sei überwältigend, versicherte Mina, die wusste, dass der junge Mann diese kleinen Meerestiere liebte. Dann schaute sie sich betont gelassen um: ›Wie viele gekommen sind, oder? Nächste Woche melde ich mich, und wir gehen zusammen in die Ausstellung, sie ist überwältigend‹, wiederholte sie und entfernte sich, um weitere Gäste zu begrüßen. Es war die erste Ausstellung, die wir zu dritt besuchten«, sagte Terry gedankenverloren. »Viele waren es allerdings nicht.«

Beim Zuhören hätte ich gerne ein Foto von Hans Haig oder von Mina Lint gesehen; ich wusste nicht, wie ich die Geschichte, die gerade begonnen hatte, einordnen sollte. Ich hätte nur sagen müssen, dass ich auf die Toilette muss, um dann im Internet nachzuschauen. Ich hätte auch herausfinden können, wer Terence Milton ist und worin der Skandal bestand, den Rocco ausgelöst hatte. Aber ich war zu träge, um das Abteil zu verlassen; das gelbliche Licht erinnerte mich an ein Kaminfeuer, und vielleicht weil das andere, das mich zurückhielt, eine Geschichte war, und im Allgemeinen stellt man sich ja beides zusammen vor.

»Mina erzählte, dass ein paar Freunden bei der Ankunft am Flughafen LaGuardia die Koffer abhandengekommen waren. Sie hätten leider deshalb nicht zur Party kommen können. Hans sagte, dass er in demselben Flughafen eine erstaunliche Szene gesehen habe, an die er noch lange habe denken müssen.«

Bou und ich schauten ihn erwartungsvoll an, und Terry begann zu lachen.

»Genauso haben Mina und ich ihn angesehen, voller Erwartung, die Geschichte zu hören, so wie ihr jetzt. Ich weiß noch genau, wie Hans in dem Moment aussah, als er die Geschichte erzählte. Ich begriff, was in ihm vorging, als sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn richtete. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber damit sie ihm nicht herunterliefen, blinzelte er, sodass sein Blick flüssiges Blau wurde.«

Terry sprach langsam, er zog die Wirklichkeit jenes Abends bis in die Gegenwart. Er hoffte vielleicht, dass, indem er an sie erinnerte, Hans’ Blick unseren nächtlichen Zug treffen würde.

»Hans erzählte, dass er, während er auf seinen Koffer wartete, eine Gruppe von Stewardessen inmitten eines Gepäckbandes stehen sah. Vielleicht hatten sie sich dort hinbegeben, als es noch nicht lief (aber warum), und später wussten sie nicht mehr, wie sie bei laufendem Band, das voller Gepäckstücke war, von dort wegkommen sollten. Einige Passagiere wollten behilflich sein und die Hand reichen, damit sie springen konnten, einen Fuß auf den Rahmen des Gepäckbandes setzten und den anderen über die Koffer hoben, aber da sie die Grenzen ihrer Uniform kannten, lachten sie angesichts des Vorschlags nur. Sie würden Haltung bewahren, sich nicht die Röcke aufreißen, auch wenn die nur von der Stange waren.«

Terry hatte sich zum Fenster gewandt, und Bou warf mir angesichts der plötzlichen Unterbrechung einen fragenden Blick zu, aber ich zuckte nur die Schultern und wies mit dem Zeigefinger auf Terry, damit Bou ihn aus seinen Gedanken holte.

»Und was erzählte Hans, was die Stewardessen machten?«, fragte Bou.

»Nicht viel mehr als das. Er sagte, dass sie die Situation mit Humor nahmen und sich damit abfanden, inmitten des Gepäckbandes zu stehen, zumindest bis er an seinen Koffer kam. Dann ging er, und er hat nie erfahren, wie lange sie dort standen.«

Keiner von uns hatte diese Stewardessen gesehen, aber wir drei betrachteten sie vor unserem inneren Auge. Vereint durch Hans’ Geschichte, die Terry uns erzählt hatte, sahen wir sie, unbegreiflicherweise inmitten dieses Gepäckbandes festgesetzt, vergnügt lachend.

»Auch wenn ich später mehr über Hans wusste«, sagte Terry, »das Erste, was ich aus seinem Mund hörte, war diese eher uninteressante Geschichte. Aber seine Schilderung amüsierte mich, ich sah, wie er mit diesem wässrigen Licht in den Augen lächelte, und so wie ihr jetzt, wollte auch ich ihm weiter zuhören.«