Nie wieder Opfer sein! - Robin, Dr. Stern - E-Book

Nie wieder Opfer sein! E-Book

Robin Dr. Stern

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Beschreibung

»Das bildest du dir alles bloß ein!« »Du bist zu emotional!« »Wenn ich dir wirklich etwas bedeuten würde...« Das sind allesamt Schlüsselsätze, die so oder so ähnlich auf eine Form von emotionaler Gewalt hindeuten können. Verdrehen die "Täter" Sachverhalte und verbreiten Unwahrheiten einzig mit dem Ziel, dem "Opfer" die eigene Wahrnehmung abzusprechen, spricht man von Gaslighting. Diese perfide Form des seelischen Missbrauchs findet sowohl in Paarbeziehungen und Freundschaften als auch zwischen Eltern und Kindern oder in der Arbeitswelt zwischen Chef und Mitarbeiter:innen oder Kolleg:innen statt. Dieses Buch gibt den Leser:innen Strategien an die Hand, damit sie ihr Leben wieder selbst steuern können und aus toxischen Beziehungen entkommen.

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Die amerikanische Originalausgabe ist 2007 bei Harmony Books erschienen, ein Imprint der Crown Publishing Group, ein Unternehmensbereich der Penguin Random House LLC.

Titel der Originalausgabe: The Gaslight-Effect

© 2007 by Harmony Books

Copyright der deutschen Ausgabe

© Verlag Komplett-Media GmbH

2023, München

1. Auflage

www.komplett-media.de

E-Book ISBN: 978-3-8312-7141-2

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Satz und Layout: Daniel Förster, Belgern

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Bookwire, Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH, Frankfurt am Main

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

MEINER FAMILIE DAMALS

Meinen liebevollen Eltern, Rosalind und David Stern,die mir beibrachten, an Menschen zu glauben.Meinem großartigen Bruder, Eric Stern,dessen Klarheit und Überzeugungmir nach wie vor Kraft geben.

MEINER FAMILIE HEUTE

Meinem Schatz, Frank Moretti, dessenLiebe und Unterstützungmein Schreiben in jeder Hinsicht ermöglicht haben.Meinen geliebten, wunderbaren Kindern, Scott und Melissa,die meine große Freude sind, Tag für Tag!

ALLEN PATIENTEN, STUDENTENUND JUNGEN MENSCHEN,DENEN ICH ALS MENTORIN BEIGESTANDEN HABE …

mit denen ich ein Stück weit gegangen bin,und von denen ich so viel gelernt habe.

INHALT

EinleitungDer Zeitpunkt ist gekommen

Gaslighting in den Medien

Der Gaslight-Effekt – zehn Jahre danach

Kapitel 1Was ist Gaslighting?

Den Gaslight-Effekt verstehen

Wie ich den Gaslight-Effekt entdeckte

Gaslighting: Die Abwärtsspirale

Die drei Phasen beim Gaslighting: Ein verschlungener Pfad

Die drei Typen des Gaslighters

Gaslighting: Die neue Epidemie

Die Kultur des Gaslightings

Einen neuen Weg finden

Kapitel 2Der Gaslight-Tango

Wie läuft der Gaslight-Tango ab?

Warum tanzen wir mit?

Ihre Rolle beim Tango

Die Empathiefalle

Kapitel 3Phase 1: »Wovon redest du eigentlich?«

Der Eintritt in Phase 1: Ein entscheidender Wendepunkt

Wer spinnt hier – die oder ich?

Wenn Kritik zur Waffe wird

Die Erklärungsfalle in Phase 1

Den Gaslight-Tango vermeiden

Den Tanz unterbrechen

Kapitel 4Phase 2: »Vielleicht hast du ja recht?«

Von Phase 1 zu Phase 2

Das Verhalten der drei Gaslighter-Typen in Phase 2

Die Erklärungsfalle in Phase 2

Die Verhandlungsfalle

Wie Sie sich aus Phase 2 befreien

Kapitel 5Phase 3: »Alles meine Schuld!«

Von Phase 2 zu Phase 3

Phase 3: Wenn die Niederlage sich normal anfühlt

Das Verhalten der drei Gaslighter-Typen in Phase 3

Warum bleiben wir?

Die Erschaffung Ihrer neuen Welt

Kapitel 6Den Gashahn zudrehen

Die Entscheidung zum Beenden des Gaslightings treffen

Schreiten Sie zur Tat, beenden Sie das Gaslighting: Ein Sechs-Punkte-Plan

Den Gashahn zudrehen

Welcher Schritt kommt als Nächstes?

Kapitel 7Soll ich gehen oder bleiben?

Sich Zeit nehmen für einen Entschluss

Kapitel 8Ein gaslight-freies Leben

Ihre nächsten Schritte

Schreiben Sie auf, wie Sie zukünftig reagieren wollen

Die Zukunft bedenken

Die richtige Perspektive wahren

Auf zu neuen Ufern!

Anhang ALernen Sie Ihre Gefühle kennen

Eine Liste mit »Gefühlswörtern« erstellen

Finden Sie Ihre Stimme wieder

Zeichnen oder malen Sie Ihre Gefühle

Anhang BMachen Sie sich ein Bild von Ihrer Beziehung

Wie steht es um Ihre gegenwärtige Beziehung?

Wie steht es um Ihre frühere Beziehung?

Wie steht es um Ihre zukünftige Beziehung?

Wie steht es ohne die Gaslighting-Beziehung um Ihre Zukunft?

Wie bewerten Sie Ihre Beziehung?

Anhang CGeben Sie auf sich acht

Welche Ernährung bei Stress und Depressionen?

Nahrungsergänzungen bei Stress und Depressionen

Schlafen gibt Kraft und hebt die Stimmung

Bewegung gibt Kraft und hebt die Stimmung

Hormonelle Schwankungen und Antidepressiva

Danksagung

Einleitung

DER ZEITPUNKT IST GEKOMMEN

Heutzutage vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht auf den Begriff »Gaslighter« trifft. Eine kurze Google-Suche, schon findet man Dutzende von Artikeln: »Diese acht Anzeichen zeigen Ihnen, dass Ihr Partner ein Gaslighter ist«, »Ist sich ein Gaslighter bewusst, was er tut?«, »Gaslighting: Die Tricks, die jeder kennen sollte«. Im Online-Wörterbuch »Urban Dictionary« findet sich ein Eintrag zu »Gaslighter«. Sogar der 45. Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, wurde als Gaslighter bezeichnet.

Doch als ich das Buch Nie wieder Opfer sein! schrieb, war der Begriff noch völlig unbekannt, obwohl das Phänomen an sich weitverbreitet war. Beim Gaslighting, schrieb ich, handelt es sich um eine emotionale Manipulation, bei der ein Gaslighter versucht, Sie davon zu überzeugen, dass Sie Ihr Verhalten oder Ihre Beweggründe falsch erinnern, falsch verstehen oder falsch interpretieren. So sät er Zweifel, weshalb Sie sich verletzlich und verwirrt vorkommen. Der Gaslighter kann ein Mann oder eine Frau sein, ein Ehe- oder Lebenspartner, ein Chef oder Kollege, ein Eltern- oder Geschwisterteil. Wer auch immer es ist, er hat die Fähigkeit, Sie dazu zu bringen, Ihre Wahrnehmung infrage zu stellen, um die Beziehung am Laufen zu halten.

In meinen Augen ist diese gemeinsame Verantwortung das wesentliche Merkmal des Gaslightings. Es ist nicht nur ein emotionaler Missbrauch. Es handelt sich um eine von beiden Seiten erschaffene Beziehung – die ich als Gaslight-Tango bezeichne. Dafür ist die aktive Teilnahme zweier Personen nötig. Es stimmt, der Gaslighter bringt sein Opfer dazu, an seiner eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit zu zweifeln. Aber das Opfer ist auch darauf aus, den Gaslighter dazu zu bringen, es so zu sehen, wie es gesehen werden will.

»Du bist so schlampig!«, sagt der Gaslighter beispielsweise. Statt darüber zu lachen und zu sagen: »Das siehst aber nur du so«, sieht sich das Gaslighting-Opfer gezwungen, sich zu verteidigen: »Bin ich nicht!« Weil ihm der Gaslighter so viel bedeutet, kann das Opfer keine Ruhe finden, bis es ihn davon überzeugt hat, dass es nicht schlampig war.

»Ich verstehe nicht, wie du so verschwenderisch mit deinem Geld umgehen kannst«, sagt vielleicht ein anderer Gaslighter. Ein Nichtopfer könnte beiläufig antworten »Jeder wie er will, und außerdem ist es mein Geld«, und sich dann wieder den eigenen Geschäften zuwenden. Ein Gaslighting-Opfer aber würde Stunden mit zermürbenden Selbstzweifeln verbringen und sich verzweifelt fragen, ob der Gaslighter nicht doch recht hat.

Manchmal ist die Strafe, der eine Frau als Gaslighting-Opfer ausgesetzt ist, höher als bloße Missbilligung. Vielleicht ziehen sie und der Gaslighter gemeinsam Kinder groß, und das Opfer fühlt sich finanziell oder emotional nicht in der Lage, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Vielleicht handelt es sich bei dem Gaslighter auch um den Arbeitgeber, und das Opfer fürchtet berufliche Nachteile, wenn es sich dem Chef wiedersetzt oder den Job hinwirft. Vielleicht ist der Gaslighter ein Verwandter oder eine alte Freundin, und das Opfer fürchtet sich vor Auswirkungen in der Familie oder im sozialen Umfeld.

Der Gaslighter kann seinem Opfer auch mit dem drohen, was ich als »emotionalen GAU« bezeichne – dann hagelt es Beleidigungen, wird mit Selbstmord gedroht oder ein schrecklicher Kampf angekündigt – etwas so Furchtbares, dass das Opfer nahezu alles tut, um es zu vermeiden.

Wie auch immer die Strafe ausfällt, das Gaslighting findet nur statt, wenn beide Parteien mitmachen. Der Mensch, der zum Gaslighter wird, ist verantwortlich für sein Handeln. Aber auch eine Frau, die zum Gaslighting-Opfer wird, ist verantwortlich für ihr Handeln. Ihre Verletzlichkeit entspringt dem Bedürfnis, den Gaslighter zu verklären, seine Zustimmung zu erlangen und die Beziehung um jeden Preis aufrechtzuerhalten. (Wenn der Gaslighter körperliche Gewalt androht oder ausübt, hat die betroffene Frau natürlich einen anderen Grund, sich verletzlich zu fühlen. Dann geht es nicht vorrangig darum, das Gaslighting zu beenden, sondern ihre Sicherheit und die ihrer Kinder zu gewährleisten.)

Diese beiderseitige Teilnahme ist die gute Neuigkeit, denn sie bedeutet, dass man als eine solche Frau die Schlüssel zum eigenen Gefängnis in Händen hat. Sobald sie versteht, was vorgeht, kann sie den Mut und den Willen in sich finden, die verzerrten Darstellungen des Gaslighters zurückzuweisen, die einen verrückt machen. Und sie kann sich stur an ihre eigene Realität halten. Denn wenn sie der eigenen Perspektive vertrauen kann, braucht sie nicht länger Bestätigung von außen, ob vom Gaslighter oder sonst jemandem. Wenn man Gaslighting auf den Einzelnen bezogen betrachtet – also in der Liebe, in Freundschaften, am Arbeitsplatz oder in der Familie, bin ich noch immer von dieser Formulierung überzeugt. Der »Gaslight-Tango« ist der Kern des Gaslightings – der Tanz zweier Menschen, von denen jeder die Teilnahme des anderen braucht.

Ausgangspunkt für das Buch war die weite Verbreitung des Gaslightings im Leben meiner Patienten, meiner Freundinnen – und in meinem eigenen. Ich hatte den Gaslight-Effekt immer und immer wieder beobachtet, ein heimtückisches Verhaltensmuster, welches das Selbstwertgefühl auch der selbstbewusstesten Frau aushöhlen konnte – eines, das zum Ende meiner ersten Ehe geführt hatte. Die von Gaslighting betroffenen Frauen – ob nun Patienten oder Freundinnen – waren durchweg kompetent, stark, kultiviert und attraktiv. Aber irgendwie hatten sie sich in Beziehungen verstrickt – ob nun zu Hause, in der Arbeit oder innerhalb der Familie –, aus denen sie anscheinend nicht herauskamen, auch wenn ihre Selbstwahrnehmung immer mehr ausgehöhlt wurde.

In seiner harmlosesten Form führt Gaslighting dazu, dass Frauen sich unwohl fühlen und sich fragen, warum es immer darauf hinauszulaufen scheint, dass sie sich irren. Oder warum sie nicht wirklich glücklich mit ihren Partnern werden, die doch so »gute Kerle« sind. Im schlimmsten Fall führt Gaslighting zu schweren Depressionen. Dann bleiben von einer ehemals starken, energischen Frau nur noch ein Häufchen Elend und jede Menge Selbsthass. Es erstaunte mich jedenfalls immer wieder – sowohl als Therapeutin wie auch im Privatleben –, zu erleben, welch lähmende Selbstzweifel Gaslighting verursachen kann.

Ich suchte nach einem Weg, um das Muster hinter dieser besonderen Form des Missbrauchs zu erkennen, von dem ich bisher weder in Ratgebern noch in der Fachliteratur gelesen hatte. Inspiriert hat mich letztlich der Film Gaslight (zu Deutsch: Das Haus der Lady Alquist) aus dem Jahr 1944, in dem Ingrid Bergmann, Charles Boyer und Joseph Cotton die Hauptrollen spielen. In dem Film überzeugt der romantische Held, gespielt von Boyer, Ingrid Bergmann nach und nach davon, dass sie verrückt ist. So fragt er sie nach einer Brosche, die er ihr geschenkt hat, und beobachtet, wie sie darunter leidet, die Brosche nicht mehr in ihrer Handtasche zu finden, obwohl sie davon überzeugt war, sie dort hineingetan zu haben – dabei hat Boyer sie selbst herausgeholt. »Ach Liebes, du bist einfach zu vergesslich«, behauptet er. »Ich bin nicht vergesslich«, behauptet daraufhin die von Bergmann gespielte Frau. Doch nur zu bald beginnt sie, eher Boyers Version der Geschehnisse Glauben zu schenken als ihrer eigenen. Sie ist unfähig, ihrer Erinnerung und ihrer Wahrnehmung zu trauen.

In dem Film versucht Boyer ganz bewusst, den Wahnsinn herbeizuführen, um an Bergmanns Erbe zu kommen. Sie davon zu überzeugen, dass sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen kann, macht sie allmählich verrückt. Im wahren Leben sind Gaslighter sich des eigenen Verhaltens selten so bewusst. Sowohl Gaslighter als auch Opfer scheinen aus einem Zwang heraus zu handeln. Sie sind in einem todernsten »Gaslight-Tango« gefangen, der von seinem verzerrten Blick auf sie und ihrer wachsenden Überzeugung lebt, er habe recht. Ich konnte kein anderes Buch ausfindig machen, das dieses spezielle Missbrauchsmuster erforscht, zumindest keines, das dieses Muster deutlich aufzeigt und Betroffenen gezielte Ratschläge gibt, um den Bann zu brechen und ihre Selbstachtung wiederzufinden. Also gab ich dem Phänomen einen Namen, schrieb das Buch – und war erstaunt über die vielen Reaktionen.

Eine neue Patientin nach der anderen kam in meine Praxis und bestand darauf, dass mein Buch irgendwie genau ihre Situation erfasste. »Woher wussten Sie, was ich durchmache?«, fragten viele. »Ich dachte, ich sei die Einzige!« Freundinnen, deren Beziehung ich für glücklich gehalten hatte, gestanden mir, dass auch sie unter Gaslighting litten – oder in früheren Beziehungen darunter gelitten hatten, in der Arbeit oder in der Familie. Kollegen dankten mir dafür, diesem Phänomen einen Namen gegeben zu haben, sodass sie jetzt mit ihren Patienten darüber sprechen konnten. Das vormals namenlose Phänomen schien weiter verbreitet zu sein, als selbst ich das angenommen hatte.

Kurz nach Erscheinen des Buchs begann ich mit Beratungen für Facebook, zusammen mit meinem Kollegen Marc Brackett, der das Center for Emotional Intelligence leitete, das Zentrum für emotionale Intelligenz, das sich an der Universität Yale befindet. Damals steckten die sozialen Medien noch in den Kinderschuhen, und bei Facebook sorgte man sich, dass sensible junge Menschen der Gefahr von Cyber-Mobbing ausgesetzt sein könnten. Marc und ich befragten Dutzende Jugendliche und junge Erwachsene, um eine Online-Plattform zu entwickeln, auf der man über die vielen verschiedenen Formen von Mobbing berichten konnte. Dazu gehören das Streuen von Gerüchten, fiese oder respektlose Bemerkungen, Stalken und offene Drohungen.

Diese Arbeit und unsere Unterrichtstätigkeit zu emotionaler Intelligenz, die uns in Schulen überall im Land führte, erbrachten noch mehr Beweise für die schädlichen Auswirkungen von Gaslighting. Marc und ich bekamen zahllose Geschichten von Jugendlichen zu hören, die nicht nur unter dem Gaslighting einer Person, sondern Dutzender ihrer Freunde und Facebook-Kontakte litten. Da bezeichnete eine junge Frau ihre Freundin als »überempfindlich«, weil sie sich über eine Kränkung geärgert hatte, und dann »likten« das 20 oder 30 andere oder posteten noch mehr Kritik. Die zerstörerische Wirkung des Gaslightings vervielfachte sich, weil das Opfer sich nicht nur der Manipulation durch den Gaslighter ausgesetzt sah, sondern auch glauben musste, dass »alle Bekannten« und mehrere Dutzend Fremde sie ebenfalls für »überempfindlich« hielten.

Aus unserem Projekt ging Facebooks Bully Prevention Hub hervor, im deutschen Facebook als Hub zur Vorbeugung von Mobbing bezeichnet. Hier haben Jugendliche die Möglichkeit, einen Missbrauch zu melden, und Eltern und Lehrern kann es als Gesprächshilfe dienen. Es machte mich sehr betroffen, wie oft Gaslighting die bevorzugte Waffe beim Mobbing war. Mit das Schlimmste am Gaslighting ist, dass es so schwer zu erkennen ist. Man spürt Selbstzweifel und Verwirrung – aber warum? Weshalb stellt man sich plötzlich so infrage? Wie kommt es, dass ein Mensch, der einem eigentlich zugetan sein sollte, uns dazu bringt, uns wie ein Häufchen Elend zu fühlen?

Beim Gaslighting handelt es sich um eine Art verdecktes Mobbing. Oft ist der Gaslighter der Ehemann, eine gute Freundin oder ein Familienmitglied und besteht darauf, einen zu lieben, obwohl er uns gleichzeitig untergräbt. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt – aber Sie können es einfach nicht benennen. Der Ausdruck »Gaslighting« gibt dieser Art Missbrauch einen Namen. Das befähigt Sie, klar zu sehen, was Ihr Partner, Ihre Tante Martha oder Ihre angeblich beste Freundin wirklich tun. Das sagen Marc und ich auch immer unseren Studenten: Was einen Namen hat, kann bekämpft werden.

Gaslighting in den Medien

In den Jahren nach der Veröffentlichung meines Buchs sah ich gelegentlich Artikel, in denen der Begriff auftauchte. In der Zeitschrift The Week wurden beispielsweise in einer Besprechung des Films Zero Dark Thirty bestimmte Verhörmethoden als eine Art Gaslighting bezeichnet – wenn bei einem Verhör selbstverständlich auf Vorfälle Bezug genommen wird, die nie stattgefunden haben. So wird der Gefangene dazu gebracht, an seiner eigenen Erinnerung zu zweifeln. Der Fragensteller weiß genau, dass kaum etwas einen Menschen so verunsichert wie Zweifel an der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung. Er weiß, dass Gaslighting den Willen eines Menschen schneller brechen kann als körperliche Misshandlung.

In der Zwischenzeit wurden in einer Reihe von Blogs die Begriffe Gaslighting und Mobbing miteinander verlinkt, sowohl im Hinblick auf persönliche Beziehungen als auch auf die Arbeit. »Ist Gaslighting eine geschlechtsspezifische Form von Mobbing am Arbeitsplatz?«, fragt Juraprofessor David Yamada in seinem Blog Minding the Workplace. In zahlreichen Blogs von Selbsthilfegruppen ist darüber zu lesen, wie wichtig es ist, einen Gaslighter zu erkennen und sich ihm zu widersetzen. Der Ausdruck »Gaslighting« ist in der deutschen Wikipedia definiert, wo auch mein Buch als weiterführende Lektüre angeführt wird.

2016 war das Jahr, in dem Gaslighting wirklich ins öffentliche Bewusstsein rückte. Im März dieses Jahres behauptete der Comedian und Moderator John Oliver, der für den Fernsehsender HBO arbeitet, Donald Trump habe ihn mittels Gaslighting manipuliert. Auf den ersten Blick schien die Sache eindeutig. Donald Trump ließ wissen, dass er eine Einladung zu Olivers Late-Night-Talkshow ausgeschlagen habe. »John Oliver hat seine Leute bei mir anrufen lassen, um mich zu seiner sehr langweiligen Talkshow einzuladen, die sich kein Mensch ansieht«, twitterte Trump. »Ich sagte ›NEIN DANKE‹. Reine Zeit- und Energieverschwendung!«

Und jetzt das entscheidende Detail: Es gab gar keine solche Einladung. John Oliver hatte gar kein Interesse daran, Trump als Gast in seiner Talkshow zu haben. Warum hätte er ihn da einladen sollen?

Als Oliver versuchte, das Missverständnis aus dem Weg zu räumen, trieb Trump es noch bunter. In einem Radiointerview behauptete er steif und fest, er sei nicht nur einmal, sondern gleich vier- oder fünfmal eingeladen worden.

Man sollte meinen, dass Oliver daraufhin den Twitter-Eintrag einfach bei der Begrüßung seiner Gäste in der nächsten Sendung erwähnen und mit seinem Team herzlich darüber lachen würde. Stattdessen habe er seine Wahrnehmung der Wirklichkeit infrage gestellt, gestand Oliver. Trump schien sich seiner Sache so sicher zu sein. Vielleicht hatte Oliver ihn ja eingeladen.

»Es hat mich wirklich verunsichert, Ziel einer solch selbstsicheren Lüge zu sein«, sagte Oliver während seiner Talkshow. »Ich habe sogar nachgeforscht, um sicherzugehen, dass niemand ihn versehentlich eingeladen hatte. Hatte aber natürlich niemand.«

John Oliver – Comedian, Talkshow-Moderator und linksliberaler Kommentator – legte keinerlei Wert auf Donald Trumps Zustimmung. Es war ihm egal, was Trump von ihm dachte oder wie sie zukünftig zueinander stehen würden. Trump hatte keinerlei Einfluss auf ihn, weder in emotionaler noch familiärer oder finanzieller Hinsicht. Und nach allem, was man sieht, ist John Oliver ein selbstbewusster Mann, der eine gefestigte Wahrnehmung der Wirklichkeit hat.

Und dennoch war es Trump gelungen, ihn an seiner Erinnerung von etwas so Eindeutigem zweifeln zu lassen wie der Tatsache, ob er Trump nun in seine Show eingeladen hatte oder nicht. Dazu schrieb Melissa Jeltsen, Chefreporterin bei der Huffington Post:

»Trumps Behauptung wurde mit einem solchen Elan vorgetragen, dass Oliver an der Wahrheit zu zweifeln begann, obwohl er wusste, dass Trump log. Eine solche Macht hat Gaslighting.«

Jeltsen hatte für diesen Artikel ein Interview mit mir gemacht. Darin bestätigte ich ihr, dass Trumps Verhalten gegenüber Oliver und anderen Gaslighting wie aus dem Lehrbuch war. »Wenn man nicht die Verantwortung für sein Handeln übernimmt oder die Verantwortung auf andere abwälzt oder versucht, die Glaubwürdigkeit desjenigen zu untergraben, der einen zu diesem Handeln befragt, dann handelt es sich um eine Form von Gaslighting«, hatte ich ihr gesagt.

Plötzlich begegnete einem dieser Begriff überall: beim Fernsehsender CNN, in den Zeitschriften Teen Vogue und Salon und in Dutzenden von Posts im Internet, in den sozialen Medien und in Blogs. Plötzlich war Gaslighting in aller Munde.

Der Gaslight-Effekt – zehn Jahre danach

Als mir der Verlag mitteilte, dass man eine Neuauflage von The Gaslight Effect plane, war das für mich die Gelegenheit, das Buch noch einmal gegenzulesen, das ich zehn Jahre zuvor geschrieben hatte. Wie beurteilte ich das Buch inzwischen – vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen als Therapeutin, meiner Tätigkeit als Beraterin bei Facebook und meiner Arbeit am Yale Center for Emotional Intelligence?

Ich las es noch einmal und bin erfreut, sagen zu können, dass ich es immer noch stichhaltig finde. Ich sehe keinen Bedarf, etwas daran zu überarbeiten. Im Vergleich zu der Zeit vor zehn Jahren fällt mir eines noch mehr auf: Je größer die Überzeugung – und vielleicht auch der Narzissmus – eines Menschen, desto selbstverständlicher hält er an seiner Wirklichkeit fest. Er ist unabhängig davon, wie viele Menschen sein Verständnis der Fakten hinterfragen. Dieser Narzissmus ist ein Schutz dagegen, andere Menschen zu ernst zu nehmen oder sich um ihre Ansichten zu scheren. Ein Narzisst wird vielleicht zornig, wenn andere seine Ansichten nicht teilen – viele Gaslighter reagieren so. Aber er wird nicht zornig, weil er an seiner grundsätzlichen Wahrnehmung zweifelt, sondern weil er es nicht erträgt, nicht die totale Kontrolle zu haben. Mit anderen Worten: Einem Gaslighter kann man nicht mit Gaslighting kommen – zumindest nicht, solange er selbst als Gaslighter auftritt.

Uns anderen jedoch fällt es schwer, unsere Weltsicht aufrechtzuerhalten. Wir stellen infrage, ob wir uns sicher sind darüber, was wir gesehen oder gehört haben. Bescheidenheit und Selbsterkenntnis machen uns auf eine Weise angreifbar, wie es dem Narzissten nicht passieren könnte. Uns wurde von klein auf beigebracht, dass die Ansichten anderer manchmal zutreffender sind als unsere eigenen. Wenn wir jemanden oft genug wiederholen hören, »schwarz ist weiß« oder »oben ist unten«, fällt es schwer, sich nicht zu fragen, ob diese Person nicht doch etwas weiß, das wir nicht wissen.

In meinem Buch verweise ich auf eine Hilfe, die ich noch immer für verlässlich halte: Ich rate dazu, auf die »Flugbegleiter« zu achten. Genau wie das Verhalten der Flugbegleiter uns offenbart, ob das Schlingern des Fliegers nur einer kleinen Turbulenz geschuldet ist oder eine echte Katastrophe ankündigt, so helfen diverse Flugbegleiter Ihnen auch im wahren Leben zu sehen, ob der neue Partner nur einen schlechten Tag hat oder sein Verhalten einem Muster folgt. Wenn Sie damit angefangen haben, Ihre eigene Realität infrage zu stellen, können Ihre Flugbegleiter – Familie, Freunde oder auch ein Therapeut – Ihnen helfen, zu einer genauen Einschätzung zu gelangen.

Genauso können wir vielleicht im Hinblick auf politisches oder soziales Gaslighting zu unseren gegenseitigen Flugbegleitern werden. Es ist an uns, die Nachrichtenquellen zu finden, denen wir vertrauen, die Analysen, auf die wir uns verlassen wollen, die Tatsachen, die einer genauen Prüfung standhalten. Das kann niemand allein leisten – wir brauchen sowohl die »Experten«, denen wir glauben, als auch die Freunde, Nachbarn, Familienmitglieder und Kollegen, deren Ansichten wir schätzen. Gaslighting wirkt zutiefst destabilisierend. Vielleicht braucht es wirklich »ein ganzes Dorf«, um auf solidem Grund zu stehen.

Ringen Sie aber persönlich mit einer Form von Gaslighting in Ihrem Privatleben, wird das Buch Nie wieder Opfer sein! Ihnen dabei helfen, die Hintergründe zu verstehen, zu analysieren und schließlich freizukommen. Das kann bedeuten, dass Sie eine Beziehung von innen heraus umgestalten oder sie ein für alle Mal beenden. Mein gesamtes Berufsleben habe ich dem Ziel gewidmet, Menschen dabei zu helfen, ihr Leben mitfühlend, effektiv, produktiv und erfüllend zu gestalten. Aber das ist nicht möglich, wenn man in einer Gaslighting-Beziehung steckt, sein eigenes Verhalten dauerhaft hinterfragt und sich ständig für angebliches Versagen entschuldigt. Wie ich bereits vor zehn Jahren schrieb:

»Sie haben genug Kraft, um sich von dem Gaslight-Effekt zu befreien. Der erste Schritt besteht darin, sich die eigene Rolle beim Gaslighting bewusst zu machen. Inwiefern führen Ihr Verhalten, Ihre Wünsche und Fantasien dazu, den Gaslighter zu verklären und von ihm anerkannt werden zu wollen?«

So beginnt Ihre Reise. Das Buch Nie wieder Opfer sein! soll Ihnen helfen und Ihnen bei jedem Schritt zur Seite stehen. Es gehört Mut dazu, sich auf diese Reise zu begeben. Ich bin gespannt auf alles, was Sie dabei lernen werden.

Robin Stern,im August 2017

Kapitel 1

WAS IST GASLIGHTING?

Katie ist freundlich und optimistisch. Wer sie trifft, dem schenkt sie ein Lächeln. Als Außendienstmitarbeiterin hat sie oft mit fremden Menschen zu tun, was ihr sehr gefällt. Sie ist eine attraktive Endzwanzigerin, die ihren jetzigen Freund Brian erst nach langem Suchen gefunden hat.

Brian kann der liebe, rücksichtsvolle Beschützer sein, aber er ist auch ein ängstlicher, besorgter Mann, der Unbekannten mit Argwohn begegnet. Wenn beide zusammen ausgehen, gibt Katie sich offen und kontaktfreudig. Sie kommt schnell ins Gespräch, ob mit dem Mann, der nach dem Weg fragt, oder der Frau, deren Hund ihr vor die Füße läuft. Brian aber spart nicht mit Kritik. Sieht sie denn nicht, dass die Leute über sie lachen? Sie denkt, anderen gefallen diese Plaudereien, aber die verdrehen bloß die Augen und fragen sich, warum Katie so geschwätzig ist. Und der Kerl, der nach dem Weg gefragt hat? Der wollte sie doch bloß anbaggern – sie hätte mal sehen sollen, wie er ihr hinterhergegafft hat, kaum hatte sie sich umgedreht. Außerdem ist ein solches Verhalten total respektlos ihm gegenüber. Er ist schließlich ihr Freund. Was glaubt sie denn, wie er sich fühlt, wenn sie jedem Typ, der vorbeikommt, schöne Augen macht?

Anfangs lacht Katie noch über Brians Gejammer. Sie ist doch schon immer so, sagt sie ihm, und sie ist einfach gern freundlich. Aber nach Wochen unerbittlicher Kritik beginnt sie, an sich zu zweifeln. Vielleicht lachen und gaffen die Leute ja wirklich hinter ihrem Rücken. Vielleicht flirtet sie ja wirklich dreist vor den Augen ihres Freundes – wie gemein, den Mann, der sie liebt, so zu behandeln!

Irgendwann weiß Katie nicht mehr, wie sie sich verhalten soll. Sie will nicht auf ihre offene, freundliche Art gegenüber anderen verzichten – aber jedes Mal, wenn sie jetzt einem Fremden zulächelt, fragt sie sich, was Brian wohl denken würde.

Liz arbeitet in einer Spitzenposition in der Werbung. Eine elegante Frau Ende 40, die seit 20 Jahren glücklich verheiratet ist und keine Kinder hat. Sie hat hart für ihre Karriere gearbeitet. Jetzt scheint sie ihrem Ziel nahe zu sein, denn sie steht kurz davor, das New Yorker Büro der Firma zu übernehmen.

In letzter Minute bekommt jedoch ein anderer den Job. Liz schluckt ihren Stolz herunter und bietet sich an, ihm beizustehen. Zuerst scheint der neue Chef auch charmant und dankbar zu sein. Doch bald merkt Liz, dass sie bei wichtigen Entscheidungen außen vor gelassen und nicht mehr zu den wichtigen Meetings eingeladen wird. Gerüchten zufolge wird den Kunden erzählt, sie wolle nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten. Man solle sich lieber direkt an den neuen Chef wenden. Als sie sich bei den Kollegen beschwert, schauen die sie nur befremdet an. »Aber er lobt dich immer in den Himmel«, heißt es. »Warum sollte er so was Nettes sagen, wenn er dich auf dem Kicker hat?«

Schließlich stellt Liz ihren Chef zur Rede, der eine plausible Erklärung für jeden Vorfall hat. »Hör mal«, sagt er am Ende des Treffens, »ich glaube, du nimmst dir das viel zu sehr zu Herzen – das ist ja fast schon paranoid. Willst du dir ein paar Tage freinehmen, um den Stress abzubauen?«

Liz kommt sich total unfähig vor. Sie weiß, dass sie sabotiert wird – aber warum ist sie die Einzige, die das zu merken scheint?

Mitchell ist Mitte 20 und studiert Elektrotechnik. Er ist groß, schlaksig und obendrein schüchtern. Er ist seit Langem auf Partnersuche, aber endlich hat er eine Frau kennengelernt, die er wirklich mag. Eines Tages weist seine Freundin dezent darauf hin, dass Mitchell sich immer noch wie ein kleiner Junge kleidet. Mitchell ist gekränkt, doch er versteht, was sie meint. Schon ist er im nächsten Kaufhaus, wo er sich von einem Personal Shopper eine komplette Garderobe zusammenstellen lässt. In dieser Kleidung fühlt er sich wie ein neuer Mensch – weltgewandt und attraktiv –, und er genießt die bewundernden Blicke der Frauen auf der Busfahrt nach Hause.

Doch als er die neuen Kleider zum sonntäglichen Abendessen bei seinen Eltern trägt, platzt seine Mutter fast vor Lachen. »Ach, Mitchell, das ist ja gar nichts für dich – du siehst lächerlich aus«, sagt sie. »Wenn du das nächste Mal einkaufen gehst, Kind, dann sag mir bitte Bescheid.« Als Mitchell verletzt reagiert und eine Entschuldigung verlangt, schüttelt sie traurig den Kopf. »Ich wollte dir nur helfen«, sagt sie. »Und ich finde, du solltest dich entschuldigen für diesen Tonfall.«

Mitchell ist verwirrt. Ihm gefällt seine neue Kleidung – aber vielleicht sieht er wirklich lächerlich aus. Und war er tatsächlich grob zu seiner Mutter?

Den Gaslight-Effekt verstehen

Katie, Liz und Mitchell haben eins gemeinsam. Sie alle leiden unter dem Gaslight-Effekt. Zu diesem Effekt kommt es zwischen zwei Menschen: einem Gaslighter, also »Gasanzünder«, der einwandfrei funktionieren muss, um den Sinn für sein eigenes Selbst zu bewahren und sich weiter seiner Macht über andere zu versichern. Und dem Gaslightee, also »Angezündeten«, der dem Gaslighter erlaubt, Einfluss auf seine Wirklichkeitswahrnehmung zu nehmen, weil er ihn verklärt und seine Zustimmung sucht. Diese zwei können beiden Geschlechtern angehören, und Gaslighting kann in jeder Art Beziehung vorkommen. Aber ich werde den Gaslighter mit »er« bezeichnen und den Gaslightee mit »sie«, weil ich diese Konstellation am häufigsten in meinem Berufsleben antreffe. Wir werden eine ganze Reihe von Beziehungen näher betrachten – zu Freunden, Familie und Kollegen. Aber im Zentrum wird doch die Beziehung zwischen Mann und Frau stehen.

So besteht Katies Freund zum Beispiel darauf, dass es auf der Welt gefährlich zugeht und dass Katies Verhalten unangemessen und taktlos ist. Wenn er gestresst ist oder sich bedroht fühlt, dann muss er in diesen Punkten recht haben, und er muss Katie dazu bringen, ihm zuzustimmen. Katie legt Wert auf ihre Beziehung und will Brian nicht verlieren. Also fängt sie an, die Dinge von seinem Standpunkt aus zu betrachten. Vielleicht lachen die Leute ja wirklich über sie. Vielleicht flirtet sie wirklich zu gern. So fängt es an mit dem Gaslighting.

Auch Liz’ Chef beharrt darauf, dass er ihr wirklich zugetan ist. Bedenken habe sie nur, weil sie paranoid ist. Liz möchte, dass ihr Chef eine gute Meinung von ihr hat. Schließlich geht es um ihre Karriere. Also zweifelt sie allmählich an ihrer eigenen Wahrnehmung und versucht, sich seine zu eigen zu machen. Aber die Ansichten ihres Chefs ergeben für Liz keinen Sinn. Wenn er wirklich nicht versucht, sie zu sabotieren, warum verpasst sie dann all die Meetings? Warum rufen ihre Kunden sie dann nicht mehr zurück? Warum ist sie dann so verwirrt und besorgt? Liz ist so treuherzig, dass sie sich einfach niemanden vorstellen kann, der so offenkundig manipuliert, wie ihr Chef es anscheinend tut. Es muss also an ihr liegen, denn was sonst könnte eine solch fürchterliche Behandlung rechtfertigen? Sie wünscht sich verzweifelt, ihr Chef möge recht haben. Eigentlich aber weiß sie, dass es nicht so ist. Liz ist völlig verunsichert darüber, was sie sieht und zu wissen meint. Bei ihr ist das Gaslighting in vollem Gang.

Mitchells Mutter beharrt auf dem Recht, ihrem Sohn alles sagen zu dürfen, was sie will. Und wenn er widerspricht, ist das unhöflich. Mitchell möchte in seiner Mutter gern einen guten, liebevollen Menschen sehen und nicht jemanden, der gemeine Sachen zu ihm sagt. Wenn sie ihn verletzt, dann gibt er sich die Schuld daran, nicht ihr. Mutter und Sohn sind sich einig: Die Mutter hat recht, Mitchell hat unrecht. Zusammen arbeiten sie so am Gaslight-Effekt.

Natürlich hätten Katie, Liz und Mitchell andere Möglichkeiten. Katie könnte die negativen Kommentare ihres Freundes einfach überhören oder ihn bitten, sie zu unterlassen. Als letzte Möglichkeit könnte sie auch mit ihm Schluss machen. Liz könnte sich sagen: »O Mann, der neue Chef ist ein hartes Stück Arbeit. Mit seinem Geschleime hat er vielleicht alle anderen hier hinters Licht geführt – aber nicht mich!« Mitchell könnte seelenruhig verlangen, »Sorry, Mom, aber du schuldest mir eine Entschuldigung.« Alle drei könnten beschließen, dass sie im Grunde bereit wären, mit dem Missfallen der Gaslighter zu leben. Selbst wissen sie schließlich, dass sie gute, tüchtige und liebenswerte Menschen sind, und das ist ja wohl entscheidend.

Wären unsere drei Betroffenen in der Lage, diese Haltung einzunehmen, dann gäbe es kein Gaslighting. Die Gaslighter würden vielleicht immer noch schlecht handeln, doch ihr Verhalten hätte nicht länger solch schädliche Auswirkungen. Gaslighting funktioniert nur, wenn man glaubt, was der Gaslighter sagt, und wenn man will, dass er gut von einem denkt.

Aber Gaslighting ist heimtückisch. Es spielt mit unseren schlimmsten Ängsten, unseren furchtsamsten Gedanken, unserem sehnlichen Wunsch danach, verstanden, geschätzt und geliebt zu werden. Wenn jemand, den wir respektieren oder lieben, sehr sicher in seinen Aussagen ist – insbesondere wenn ein Körnchen Wahrheit in seinen Worten steckt oder wenn er einen wunden Punkt bei uns trifft, dann kann es sehr schwer sein, ihm nicht zu glauben. Und wenn wir den Gaslighter auch noch verklären – wenn wir in ihm die Liebe unseres Lebens, einen bewundernswerten Chef oder ein wunderbares Elternteil sehen wollen –, dann fällt es noch schwerer, am eigenen Sinn für die Wirklichkeit festzuhalten. Der Gaslighter muss einfach recht haben, und wir wollen seine Anerkennung erlangen. Und so geht das Gaslighting immer weiter.

Es kann durchaus sein, dass keiner von beiden sich bewusst ist, was da abläuft. Der Gaslighter mag aufrichtig jedes Wort glauben, das er an sein Opfer richtet, oder ernsthaft überzeugt sein, es vor sich selbst zu schützen. Vergessen Sie nicht, dass er von seinen eigenen Bedürfnissen angetrieben wird. Der Gaslighter mag wie ein starker, mächtiger Mann erscheinen, oder er wirkt wie ein unsicherer kleiner Junge, der einen Trotzanfall kriegt. Auf jeden Fall fühlt er sich schwach und machtlos. Um sich stark und sicher zu fühlen, muss er beweisen, dass er recht hat. Er muss sein Gegenüber dazu bringen, ihm zuzustimmen.

Das Opfer dagegen hat ihn längst verklärt und sehnt sich nach seiner Anerkennung, obwohl ihm das vielleicht gar nicht bewusst ist. Aber wenn auch nur ein kleiner Zweifel daran besteht, für sich genommen nicht gut genug zu sein – wenn nur ein klitzekleiner Teil des Opfers den Eindruck hat, es brauche die Liebe und die Anerkennung des Gaslighters, um glücklich zu sein, dann ist es empfänglich für das Gaslighting. Und ein Gaslighter wird diese Verletzlichkeit ausnützen, damit man an sich zweifelt, immer und immer wieder.

SIND SIE OPFER VON GASLIGHTING?

Schalten Sie Ihr Frühwarnsystem ein. Achten Sie auf diese 20 verräterischen Anzeichen. Um von Gaslighting sprechen zu können, müssen nicht all diese Erfahrungen oder Gefühle zutreffen. Aber wenn Sie sich in einem der Punkte wiederfinden, schauen Sie genauer hin.

1.Sie kritisieren sich ständig im Nachhinein selbst.

2.Sie fragen sich ein Dutzend Mal am Tag: »Bin ich zu empfindlich?«

3.Bei der Arbeit sind Sie oft konfus oder überdreht.

4.Sie entschuldigen sich ständig bei anderen, ob Mutter, Vater, Freund oder Chef.

5.Sie fragen sich oft, ob Sie als Partnerin, Ehefrau, Mitarbeiterin, Freundin oder Tochter »gut genug« sind.

6.Sie können nicht verstehen, warum Sie nicht glücklicher sind, obwohl Ihr Leben doch eigentlich gut läuft.

7.Sie kaufen sich Kleidung, Möbel oder andere Dinge für den persönlichen Gebrauch, denken dabei ständig an Ihren Partner und fragen sich, was ihm wohl gefallen würde, statt zu fragen, was Sie selbst toll finden.

8.Sie entschuldigen das Verhalten Ihres Partners ständig gegenüber Freunden und Familie.

9.Sie halten Neuigkeiten vor Freunden und Familie zurück, damit Sie nichts erklären oder sich entschuldigen müssen.

10.Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht, das wissen Sie. Aber Sie können es nicht benennen, auch nicht vor sich selbst.

11.Lieber lügen Sie, als Sticheleien und verdrehte Wirklichkeit zu ertragen.

12.Es fällt Ihnen schwer, einfache Entscheidungen zu treffen.

13.Sie denken zweimal nach, bevor Sie bestimmte, scheinbar harmlose Gesprächsthemen anschneiden.

14.Bevor Ihr Partner nach Hause kommt, checken Sie in Gedanken eine Liste, ob Sie an diesem Tag etwas falsch gemacht haben.

15.Sie haben das Gefühl, früher ein anderer Mensch gewesen zu sein – zuversichtlicher, lebenslustiger, entspannter.

16.Sie sprechen lieber mit der Sekretärin als mit Ihrem Mann, damit Sie ihm nicht Sachen sagen müssen, die ihn aufregen könnten.

17.Sie haben das Gefühl, nichts richtig zu machen.

18.Ihre Kinder versuchen, Sie vor Ihrem Partner zu schützen.

19.Sie sind plötzlich wütend auf Leute, mit denen Sie immer gut ausgekommen sind.

20.Sie sind verzweifelt und deprimiert.

Wie ich den Gaslight-Effekt entdeckte

Als Therapeutin betreibe ich seit 20 Jahren eine Privatpraxis. Außerdem bin ich in der Lehre tätig, coache Führungskräfte, arbeite als Beraterin und bin Mitglied des Woodhull Institute for Ethical Leadership. Dort entwickle ich Förderprogramme für Frauen jeden Alters. In allen Bereichen treffe ich ständig Frauen, die stark, klug und erfolgreich sind. Aber immer wieder die gleiche Geschichte: Irgendwie steckten viele dieser selbstbewussten, leistungsorientierten Frauen in zermürbenden und destruktiven Beziehungen fest. Kollegen und Freunde fanden sie tüchtig, doch sie hielten sich irgendwann für inkompetent – sie trauten ihren Fähigkeiten und ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr.

Diese Geschichten hatten etwas unangenehm Vertrautes. Nach und nach merkte ich, dass sie mich nicht nur beruflich betrafen. Sie waren auch das Echo von Erfahrungen, die meine Freundinnen und ich gemacht hatten. Dabei ging es immer um die Beziehung einer anscheinend starken Frau zu einem anderen Menschen, ob Partner, Ehemann, Freundin, Kollege, Chef oder Familienmitglied. Der oder die andere brachte sie dazu, ihren Sinn für die Realität infrage zu stellen. Und das ängstigte, verwirrte und deprimierte die Frauen. Diese Beziehungen waren umso auffälliger, als die Frauen ihr Leben eigentlich im Griff zu haben schienen. Aber immer gab es da einen bestimmten Menschen – Partner, Chef oder Verwandten –, dessen Anerkennung sie zu erlangen versuchten, auch wenn er sie schlecht und schlechter behandelte. Irgendwann fand ich eine passende Bezeichnung für diesen schmerzlichen Zustand: Gaslight-Effekt, nach dem Film Das Haus der Lady Alquist, der im Original Gaslight heißt.

In dem Filmklassiker von 1944 geht es um Paula, eine junge Opernsängerin (gespielt von Ingrid Bergmann). Sie heiratet Gregory, einen charismatischen, geheimnisvollen älteren Mann (gespielt von Charles Boyer). Ohne dass Paula es merkt, versucht ihr Ehemann, sie in den Wahnsinn zu treiben, damit er an ihr Erbe kommt. Ständig redet er ihr ein, sie sei krank und schwach. Er verändert Dinge im Haushalt und gibt ihr die Schuld daran. Besonders hinterhältig ist, dass er die Gaszufuhr manipuliert, woraufhin das Gaslicht ohne erkennbaren Grund flackert. Unter dem Bann dieses teuflischen Plans glaubt Paula allmählich, sie sei verrückt. Aus Verwirrung und Angst reagiert sie hysterisch und wird damit genau zu der zerbrechlichen und orientierungslosen Person, die sie laut ihres Mannes ist. Eine tückische Abwärtsspirale: Je stärker sie an sich zweifelt, desto verwirrter und hysterischer wird sie. Sie will unbedingt, dass ihr Mann ihr glaubt und ihr sagt, dass er sie liebt. Doch er weigert sich und beharrt darauf, sie sei wahnsinnig. Sie erlangt ihre Durchsetzungskraft erst wieder, als ein Inspector von Scotland Yard ihr versichert, dass auch er das Flackern des Gaslichts sieht.

Wie der Film zeigt, sind beim Gaslighting immer zwei Personen involviert. Gregory muss Paula verführen, um Macht und Kontrolle über sie zu haben. Aber Paula will auch verführt werden. Sie verklärt diesen starken, gut aussehenden Mann, und sie versucht krampfhaft zu glauben, er werde sie umsorgen und beschützen. Anfangs will sie seine Bosheit nicht wahrhaben. Sie will lieber das romantische Bild des perfekten Ehemanns behalten. Ihre Unsicherheit und ihr Wunsch, ihn zu verklären, sind der perfekte Nährboden für seine Manipulationen.

Im Film ist der Gaslighter auf etwas Konkretes aus. Er will seine Frau bewusst in den Wahnsinn treiben, weil er an ihr Erbe kommen will. Im echten Leben ist kaum ein Gaslighter so diabolisch – obwohl die Folgen seines Verhaltens wirklich schlimm sein können. Aus seiner Sicht geht es jedoch nur darum, sich zu schützen. Ein Gaslighter hat eine solch schadhafte Wahrnehmung seiner selbst, dass er es nicht ertragen kann, wenn man seine Sichtweise infrage stellt. Wie auch immer er die Welt sieht, so müssen auch andere sie sehen – sonst ist er das Opfer unerträglicher Ängste.

Stellen Sie sich vor, Sie lächeln einen anderen auf einer Party an, und dem Gaslighter an Ihrer Seite behagt das nicht. Ein Mann, der nichts mit Gaslighting am Hut hat, würde vielleicht sagen: »Ich bin halt schnell eifersüchtig« oder »Ich weiß, dass du nichts gemacht hast, Liebling, aber ich flippe aus, wenn ich sehe, dass du mit anderen Kerlen flirtest«. Er ist bereit, wenigstens in Betracht zu ziehen, dass sein Unbehagen von der Situation oder seiner eigenen Unsicherheit herrührt. Selbst wenn Sie geflirtet hätten – hemmungslos geflirtet hätten –, könnte ein Nicht-Gaslighter vermutlich erkennen, dass Sie ihn mit Ihrem Verhalten, so anstößig er es auch finden mag, nicht verletzen wollten, auch wenn er Sie vielleicht bitten wird, damit aufzuhören.

Der Gaslighter dagegen wird nie auf die Idee kommen, dass seine Eifersucht, Unsicherheit und Paranoia eine Rolle spielen könnten. Er hält an seiner eigenen Erklärung fest: Er muss darunter leiden, dass Sie einem anderen schöne Augen machen. Es reicht ihm nicht, das erkannt zu haben. Er muss Sie auch dazu bringen, ihm zuzustimmen. Tun Sie das nicht, müssen Sie stundenlang Wut, Kälte, verletzte Gefühle oder auch scheinbar berechtigte Kritik ertragen (»Warum kannst du denn nicht sehen, wie sehr du mich verletzt? Sind dir meine Gefühle etwa total egal?«)

Dennoch bedarf es beim Gaslighting immer eines willigen Opfers. Gebraucht wird jemand, der den Gaslighter verklärt und verzweifelt um seine Anerkennung ringt. Sollten Sie für Gaslighting nicht anfällig sein, tun Sie die Kritik Ihres eifersüchtigen Freundes vermutlich achselzuckend und lachend ab, wenn er Ihnen fälschlicherweise vorwirft, ständig zu flirten. Aber was, wenn Sie es nicht ertragen, dass er Sie in einem so schlechten Licht sieht? Dann fangen Sie vielleicht an, sich zu rechtfertigen, um ihn dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern. (»Ich habe nicht geflirtet, Schatz. Das war ein ganz neutrales Lächeln.«) So sehr der Gaslighter will, dass seine Freundin sich entschuldigt, so sehr bemüht sie sich um seine Anerkennung. Irgendwann ist sie vielleicht zu allem bereit, um es ihrem Freund recht zu machen – und akzeptiert dann sogar seine negative, kritische Haltung ihr gegenüber.

Gaslighting: Die Abwärtsspirale

Gaslighting entwickelt sich oft schrittweise. Anfangs ist es meist relativ harmlos – vielleicht bemerkt man es nicht einmal. Angenommen, Ihr Freund wirft Ihnen vor, Sie lassen ihn absichtlich schlecht dastehen, weil Sie zu spät zum Empfang seines Arbeitgebers kommen. Dann führen Sie das auf seine Nervosität zurück oder nehmen an, er meine es nicht ernst. Vielleicht fragen Sie sich auch wirklich, ob Sie versucht haben, ihn schlecht dastehen zu lassen. Aber dabei belassen Sie es.

Irgendwann aber nimmt das Gaslighting einen größeren Raum in Ihrem Leben ein. Es beschäftigt Sie gedanklich und bestimmt Ihre Gefühle. Schließlich stecken Sie in einer tiefen Depression und sind unfähig, sich an den Menschen zu erinnern, der Sie einst waren und der eigene Standpunkte und Ansichten hatte.

Natürlich müssen Sie nicht zwangsweise alle drei Phasen durchlaufen. Aber viele Frauen erleben das Gaslighting als eine Abwärtsspirale.

Phase 1: Unglaube

In dieser ersten Phase will man es nicht wahrhaben. Der Gaslighter sagt etwas Ungeheuerliches: »Dieser Typ, der nach dem Weg gefragt hat, wollte dich nur ins Bett kriegen!« Sie trauen Ihren Ohren nicht. Haben Sie ihn falsch verstanden? Oder vielleicht er Sie? Oder hat er nur einen Witz gemacht? Die Bemerkung ist so lächerlich, dass Sie sie vielleicht einfach ignorieren. Oder aber Sie versuchen, den Fehler richtigzustellen, aber ohne großen Elan. Oder Sie verwickeln sich in einen langen Streit, sind sich aber Ihres eigenen Standpunkts nach wie vor sicher. Obwohl Sie gern hätten, dass der Gaslighter Ihnen zustimmt, sehnen Sie sich noch nicht verzweifelt danach.

Katie befindet sich wochenlang in dieser Phase. Sie versucht immer wieder, ihren Freund davon zu überzeugen, dass er falschliegt mit seinem Urteil über sie und andere, dass sie mit niemandem flirtet und niemand mit ihr flirtet. Manchmal hat Katie das Gefühl, ihn fast so weit zu haben, sie zu verstehen – aber so richtig tut er es nie. Sie macht sich Sorgen: War er es? War sie es? Er kann so lieb sein, wenn alles gut läuft. Warum ist er dann manchmal so komisch? Sie sehen, dass diese relativ leichte Form des Gaslightings verwirren, frustrieren und verunsichern kann.

Phase 2: Abwehr

In der zweiten Phase überwiegt das Bedürfnis, sich zu verteidigen. Sie suchen nach Beweisen, um dem Gaslighter zu zeigen, dass er falsch liegt. Sie streiten wie besessen mit ihm, oft in Gedanken. Sie versuchen verzweifelt, seine Anerkennung zu erlangen.

Liz befindet sich in dieser Phase 2. Sie kann nur an eins denken: Ihr Chef soll die Dinge so sehen wie sie. Nach dem Meeting geht sie jedes Gespräch mit dem Chef immer wieder durch – auf dem Weg zur Arbeit, beim Mittagessen mit Freunden, vor dem Einschlafen. Sie muss einen Weg finden, um ihn zu überzeugen. Vielleicht hält er dann mehr von ihr, und alles wird wieder gut.

Auch Mitchell ist in Phase 2. Weil er seine Mutter so verklärt, will ein Teil von ihm wirklich, dass sie recht hat. Also gut, denkt Mitchell sich nach der Auseinandersetzung mit der Mutter. Ich war wohl wirklich ein bisschen grob. Er fühlt sich elend, weil er so ein schlechter Sohn ist. Aber wenigstens muss er sich nicht elend fühlen, weil er eine schlechte Mutter hat. Er kann weiter versuchen, ihre Zustimmung zu erlangen, ohne sich ihr gemeines Verhalten eingestehen zu müssen.

Dass man die zweite Phase erreicht hat, erkennt man, wenn man sich häufig wie besessen fühlt, manchmal auch verzweifelt. Man ist sich nicht länger sicher, die Zustimmung des Gaslighters erlangen zu können – aber man hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Phase 3: Depression

Gaslighting der Phase 3, also Gaslighting dritten Grades, ist am schwierigsten, hier herrscht die Depression. Man versucht mit aller Macht zu beweisen, dass der Gaslighter richtig liegt. Dann kann man es ihm vielleicht recht machen und endlich seine Anerkennung gewinnen. Allerdings ist Phase 3 anstrengend, weshalb man oft zu erschöpft zum Streiten ist.

Meine Patientin Melanie steckte tief in Phase 3. Melanie war eine hinreißende Frau von etwa 35 Jahren, die Marktanalysen für ein großes New Yorker Unternehmen erstellte. Als sie das erste Mal zu mir kam, hätte ich sie jedoch kaum für eine leitende Angestellte gehalten. In einem sackartigen Pulli kauerte sie auf der Sofakante und schluchzte unkontrollierbar.

Der Vorfall, der zu ihrem Besuch bei mir geführt hatte, war ein Einkauf im Supermarkt. Sie war die Gänge entlanggehastet und hatte Lebensmittel für die Dinnerparty kaufen wollen, die sie am Abend für ihren Mann und seine Kollegen geben wollte. Jordan hatte sie gebeten, ihre Spezialität zuzubereiten, gegrillte Lachssteaks. Er hatte betont, dass seine Freunde gesundheitsbewusst seien und Wildlachs erwarten würden. Doch als Melanie zur Fischtheke kam, gab es dort nur Lachs aus Aquakulturen. Sie hatte zwei Möglichkeiten: den minderwertigen Fisch kaufen oder einen anderen Hauptgang planen.

»Ich fing einfach an zu zittern«, erzählte sie mir, als das Schluchzen nachließ. »Ich konnte nur daran denken, wie enttäuscht Jordan sein würde. Sein Gesicht, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich keinen Wildlachs finden konnte, dass es einfach keinen gab. Die vorwurfsvollen Fragen: ›Warst du mal wieder zu spät dran, Melanie? Du hast das doch schon mal gekocht, du weißt doch, welche Zutaten man braucht. Ist dir dieser Abend so egal? Ich hab dir doch gesagt, wie wichtig er für mich ist. Was war dir denn wieder so wichtig, dass du dich nicht richtig um das Essen kümmern konntest? Das würde ich wirklich gern wissen.‹«

Melanie atmete tief ein und griff sich ein Kleenex. »Diese Fragerei hört einfach nicht auf. Ich habe versucht, darüber zu lachen, alles zu erklären, ich habe mich sogar entschuldigt. Ich habe versucht zu beweisen, dass es manchmal anders kommt – aber er glaubt mir einfach nicht.« Sie sank noch tiefer in sich zusammen und zog den Pulli fest um sich. »Wahrscheinlich hat er recht. Ich war immer so organisiert und so souverän. Aber selbst ich kann sehen, was für ein Chaos ich immer anrichte. Ich weiß nicht, warum ich nichts mehr auf die Reihe kriege. Nichts klappt mehr!«

Melanie war ein extremes Beispiel für den Gaslight-Effekt – sie hatte den negativen Blick des Gaslighters auf sie so vollständig übernommen, dass sie keinen Zugang mehr zu ihrem wahren Selbst hatte. In gewisser Weise hatte Melanie recht: Sie war wirklich zu der hilflosen, inkompetenten Frau geworden, die ihr Mann in ihr sah. Sie hatte ihn zu sehr verklärt und zu sehr versucht, seine Anerkennung zu gewinnen. Sie ergriff nun sogar für ihn Partei, wenn er ihr etwas vorwarf, das definitiv nicht stimmte – im vorliegenden Fall, bei den Vorbereitungen geschlampt zu haben. Es war leichter, nachzugeben und Jordan beizupflichten, als der Tatsache ins Auge zu sehen, dass er mies war und sie seine uneingeschränkte Anerkennung wohl nie erlangen würde. Dabei brauchte sie die doch für ihr Selbstwertgefühl – oder meinte, sie zu brauchen.

Die drei Phasen beim Gaslighting: Ein verschlungener Pfad

Die drei Etappen sind keineswegs obligatorisch. Es gibt Menschen, die ihr Leben lang in Phase 1 verweilen. Entweder tun sie das in einer einzigen Beziehung oder in einer Reihe frustrierender Freundschaften, Beziehungen oder Arbeitsverhältnisse. Sie erleben immer und immer wieder die gleiche Art Auseinandersetzung. Und wenn eine Beziehung zu unerträglich wird, beenden sie sie einfach. Und schon geht die Suche nach einem anderen Gaslighter los, um das Ritual von Neuem zu beginnen.

Andere Menschen ringen dauerhaft mit den Dämonen der zweiten Phase. Sie funktionieren vielleicht noch, aber gedanklich und emotional sind sie durch das Gaslighting ausgebrannt. Wir haben vermutlich alle mindestens eine Freundin, die über nichts anderes reden kann als ihren durchgeknallten Chef, ihre nervige Mutter oder ihren gefühllosen Freund. Wenn sie in Phase 2 feststeckt, kann sie diese Gespräche immer und immer wieder führen. Selbst wenn all ihre anderen Beziehungen großartig sind, wirkt das Gaslighting doch wie ein stetes Gift.

Manchmal alterniert eine Beziehung – insbesondere in Phase 2. Die Partner wechseln sich in der Rolle des Gaslighters ab oder tauschen die Rollen ganz. Dann hat der eine vielleicht die »Erlaubnis«, den Partner im emotionalen Bereich unter Druck zu setzen. Er legt dann beispielsweise fest, was der Partner »wirklich meint«, wenn er etwas sagt oder tut, was Ersterem nicht passt. Der andere darf dafür vielleicht über das soziale Verhalten bestimmen und Ersterem vorwerfen, er rede zu viel auf Partys oder berühre die Gäste unangenehm mit seinen politischen Ansichten. Beide versuchen ständig, recht zu behalten oder die Zustimmung des jeweils anderen zu erlangen – aber in verschiedenen Bereichen.

Manchmal läuft eine Partnerschaft auch monate- oder jahrelang gut, bevor das Gaslighting einsetzt. Oder es kommt nur gelegentlich zum Gaslighting. Es mag auch die eine oder andere Krise geben, aber im Grunde ist die Beziehung stabil. Dann verliert der Mann seinen Job, der Freund lässt sich scheiden oder die Mutter leidet unter dem Älterwerden. Jetzt setzt das Gaslighting ernsthaft ein, denn jetzt fühlt der Gaslighter sich bedroht und verlegt sich aufs Gaslighting, um Einfluss auszuüben. Vielleicht fühlt man sich aber auch selbst bedroht, weshalb man sich plötzlich noch verzweifelter nach der Zustimmung des Gaslighters sehnt. Diese Verzweiflung gibt dem Gaslighter aber das Gefühl, machtlos zu sein. Also unterstreicht er seinen Machtanspruch, indem er Sie als sein Opfer zwingt einzusehen, dass er recht hat und Sie unrecht – mit was auch immer. Und so fängt das Gaslighting an.

Vielleicht haben Sie eine Freundin, die ihren Mann, ihr Kind oder eine andere Freundin jahrelang durch Gaslighting drangsaliert hat, nicht aber Sie. Da Sie nicht bemerkt haben, was in dieser anderen Zweierbeziehung vor sich ging, haben Sie womöglich Partei für Ihre Freundin ergriffen und sich ihr verbunden gefühlt, indem Sie ihr zustimmten. Dann verlässt der Ehemann sie, das Kind wächst heran, oder die andere Freundin wird der Sache überdrüssig. Und plötzlich hat Ihre Freundin kein anderes Opfer für das Gaslighting mehr als Sie. Da Sie es gewohnt sind, sich ihren Klagen anzuschließen, vergehen vielleicht Wochen oder sogar Monate, bevor Sie merken, dass dieses neue Verhalten Ihnen gar nicht gefällt.

Wenn das Gaslighting von jemandem ausgeht, dem man seit Jahren vertraut, höhlt einen das noch stärker aus als eine Beziehung, die von Anfang an unter diesen Vorzeichen steht. Wenn das Vertrauen eine solide Basis hat, ist es umso befremdlicher, wenn man plötzlich schlecht behandelt wird – und man wird noch anfälliger für Selbstkritik. Denn wie könnte der oder die andere das Problem sein? Es muss schon an einem selbst liegen.