Niemand liebt November - Antonia Michaelis - E-Book

Niemand liebt November E-Book

Antonia Michaelis

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Beschreibung

Schatten der Vergangenheit: ein Spiel um Leben und Tod. Kurz vor Ambers sechstem Geburtstag verschwanden ihre Eltern auf unerklärliche Weise. Jetzt ist Amber, die eigentlich November heißt, 17 Jahre alt und glaubt, eine Spur zu haben. Doch was hat es mit dem Jungen auf sich, der in dem erleuchteten Zelt ein Buch liest, sich aber in Luft auflöst, sobald sie sich ihm nähert? Welche Ziele verfolgt der Kneipenwirt, zu dem sie sich immer stärker hingezogen fühlt, und der immer für sie da zu sein scheint? Steckt er vielleicht sogar hinter den anonymen Drohungen, die sie erhält? Amber muss sich entscheiden: zwischen ihrer zerstörerischen Vergangenheit und dem Aufbruch in die Zukunft. Ein großer Roman von Antonia Michaelis: eine starke, zugleich verletzliche Heldin inmitten mörderischer Geheimnisse, soghaft zwischen Traum und Realität und atemlos spannend.

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Für Franzis LächelnUnd für Heike Z., Petra N. und Silke U., die verstehen, warum

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Mit einem Dank an LISA, die mir das Bottled gezeigt hat, welches ein anderes ist

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Zwei Fragen.

Erstens: Ist es sinnvoll, weiterzuleben?

Zweitens: Ist es sinnvoll, alleine Geburtstag zu feiern?

Ein Teil von ihr hatte gedacht, sie würden an ihrem Geburtstag wieder da sein. Mit einem Geschenk. Sie waren jetzt seit einer Woche weg. Sie wusste nicht, was passiert war. Sie hatte geschlafen.

Sie hatte den Kuchen ganz allein gebacken.

Gut, dass sie die Kerzen gefunden hatte. Vier Stück. Zwei zu wenig. Sie war sechs Jahre alt.

Sie sah den Kuchen eine Weile an. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie würde auch gehen. Wenn sie blieb, würde sie nicht überleben. Es gab jetzt nichts Essbares mehr im Haus.

Das Einzige, was sie mitnahm, war die Katze.

Draußen wartete die Welt.

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1.

Der Regen fällt, mein Kind, verborgen vor der Welt.

Nur du und ich, wir hören, wie der Regen fällt.

Die anderen, sie schlafen, im Warmen, fern von hier.

Sie träumen von sich selber und nie von dir und mir.

Der Regen fällt, mein Kind, als Schlaflied auf die Scheiben.

Nur du und ich, wir wissen, dass manche Träume bleiben.

Die anderen, sie glauben, man könnte Grenzen ziehen.

Sie träumen und sie wachen. Nur du und ich, wir fliehen.

Am Anfang war das Licht.

Ein warmes, gelbes Licht in der Dunkelheit.

Vor dem Licht waren da nur die Tropfen an der Scheibe gewesen, beleuchtet von der schmutzigen Resthelligkeit der Großstadtnacht. Die Tropfen sahen aus wie Tränen. Natürlich waren es keine Tränen, es war nur der Regen. Alles war immer nur irgendetwas anderes.

Die Scheibe war kühl. Die Heizung unter dem Fenster war warm. Dieser Hochhausflur war ein Gottesgeschenk, der Flur und die Tatsache, dass die Tür unten offen gestanden hatte. Sie glaubte nicht an Gott. Sie war sich ziemlich sicher, dass er auch nicht an sie glaubte. Niemand hatte je an sie geglaubt, außer der Katze vielleicht. Die Katze lag um ihren Nacken geringelt und schlief.

Die Katze war das Einzige, was sie mitgenommen hatte.

»November«, flüsterte sie in die Nacht. »November.«

Es war nicht nur ein Monat. Es war ein Name. November Lark. Lark wie die Lerche, November wie November. Aber im November sangen die Lerchen nicht. Oder doch? Würde es irgendwann einen November geben, in dem sie sangen?

Die meisten Menschen glaubten ohnehin, sie hieße Amber, so stand es in ihrem Pass. Sie hatte ihnen gesagt, dass sie November hieß, damals, als sie sie gefunden hatten. Aber sie hatten ihr nicht geglaubt. Sie dachte an den Pass, der jetzt in irgendeiner Schublade lag, fern von hier.

Und in diesem Moment sah sie das Licht.

Es schien sich aus der Dunkelheit zu ihr emporzurecken, gelb und rot, und schmolz lautlos ein Loch in die kalte Nacht.

Die Katze regte sich im Schlaf. November nahm sie von den Schultern und legte sie in ihren Schoß, um sich gerader hinzusetzen. Das Licht kam aus einem Zelt. Dort unten im Hinterhof, der mehr ein Schacht war als ein Hof, stand ein rot-gelbes Igluzelt. Und darin saß jemand mit einer Taschenlampe.

»Das ist irre«, flüsterte sie. »Das ist völlig irre. In einem Hinterhof zu zelten, im strömenden Regen.«

Eine Weile saß sie einfach so da und sah in den Hof hinunter. Die Wärme der Farben floss in ihren Körper, und sie fror nicht mehr so sehr. Die Heizung war, um ehrlich zu sein, nicht wirklich warm. Wenn ich dort sein könnte, dachte November. In diesem Zelt. Mit dem Menschen, der da sitzt.

»Nein«, flüsterte sie dann. »Der dort unten will alleine sein. Er wird sich bedanken, wenn ein zerzaustes fremdes Mädchen im Regen vor der Zeltklappe auftaucht.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht … ist es auch ein Verrückter. Oder jemand, der gesucht wird und sich versteckt hat.« Sie verbarg ihr Gesicht für Sekunden im Fell der Katze. »Ich«, flüsterte sie in das weiche Fell. »Ich werde gesucht. Amber Lark. Siebzehn Jahre alt. Die gesuchte Person trägt einen alten grauen Männerparka, Jeans und sehr alte High Docs. Sie hat schulterlanges, schwarz gefärbtes Haar, zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden, ist eins neunundsechzig groß und wiegt neunundvierzig Kilo. Haben Sie sie gesehen?«

Die Katze reckte ihre Vorderpfoten und öffnete langsam die Augen. November sah ihre Augen nicht, die Katze saß in ihrem eigenen Schatten. Aber sie spürte den Blick der grünen Smaragde auf der Haut.

Wenn man jemanden lange genug kennt, kann man ihn auch im Dunkeln sehen.

Ein Zitat aus einem Buch. Das Leben war dazu da, möglichst viele Bücher zu lesen und möglichst viele Träume zu träumen. Doch in diesem Augenblick ging es nicht um Träume und nicht um Bücher. Es ging um Fakten. Fakt ist, sagte der Blick der grünen Augen, sie suchen dich nicht. Nicht vor morgen früh. Sie kontrollieren nachts nicht.

»Manchmal«, sagte Amber.

Manchmal, sagte die Katze. Meistens nicht. Sie werden erst morgen merken, dass dein Bett leer ist. Und auch dann werden sie sich zuerst keine Sorgen machen. Sie kennen dich.

»Sie kennen mich nicht«, wisperte Amber. »Keiner kennt mich. Vor allem nicht die.«

Mag sein, sagte die Katze mit einem leisen Schnurren. Aber warum sollten sie sich so darum reißen, dich kennenzulernen? Du hast es ihnen nie leicht gemacht. Und du bist nur eine Nummer. Noch eine, um die sie sich kümmern müssen. Bis sie die Polizei einschalten, bleibt dir ein bisschen Zeit. Solange du nicht herumrennst wie eine Irre und Leuten in Zelten erzählst, wer du bist.

Die smaragdenen Augen schlossen sich, aber Amber spürte das schnurrende Vibrieren des Körpers auf ihren Oberschenkeln. Die Katze schlief nicht. Und natürlich hatte sie auch nicht mit Amber gesprochen. Nicht in Worten.

»Für wie blöd hältst du mich?«, wisperte Amber. »Dachtest du, ich erzähle dem nächstbesten Typen, dass ich abgehauen bin, damit er mich bei der Polizei abliefern kann?«

Die Katze rollte herum und sprang aufs Fensterbrett, lautlos, samten. Sie war jetzt vierzehn Jahre alt, alt für eine Katze. Dennoch hatte ihr Körper nie an Schwerelosigkeit eingebüßt; ihr graues Tigerfell war wie Federflaum.

Ich habe lediglich gesagt: Dir bleibt noch ein bisschen Zeit.

»Und das bedeutet …?«, flüsterte Amber.

Die Katze begann, sich zu putzen, scheinbar gleichgültig. Natürlich, Katzen erklären einem nie, was etwas bedeutet, das sie gesagt haben. Zumal sie, dachte Amber, wenn sie sprechen könnten, sicherlich leugnen würden, dass sie sprechen können.

Amber stellte sich vor, wie es wäre, dort unten in dem warm erleuchteten Zelt auf einer Matratze zu liegen, in einem Mumienschlafsack, eingehüllt vom Geruch nach oft gewaschenem Kunststoff. Sie merkte, dass sie zitterte. Die Heizung war jetzt wie Eis, und der Flur war ein Grab aus Schatten. Sie war so müde, und die fremde Stadt war so groß, und der November sammelte sich im Hausflur wie Schnee.

Sie stand auf. Und in diesem Moment bewegte sich etwas im Zelt. Nein, nicht etwas. Jemand. Amber stand ganz still hinter ihrem Flurfenster, sie hielt den Atem an – obwohl der Schatten sie natürlich nicht sehen konnte. Sie stand im Dunkeln, hier oben, im sechsten Stock, und er, der Schatten, saß im Licht. Es war ein Junge, vielleicht so alt wie sie, siebzehn oder achtzehn.

Natürlich konnte es auch ein Mädchen mit kurzen Haaren sein oder ein alter Mensch, der so aufrecht saß wie ein junger Mensch … Nein. Es war ein Junge, und er hielt etwas in der Hand.

Ein Buch, dachte Amber. Dort unten im Zelt sitzt ein Junge und liest ein Buch, mitten in der Nacht, in einem Hinterhof, in einem rot-gelben Igluzelt.

»Er ist auch abgehauen«, flüsterte Amber.

Sie griff in die Tasche des zu großen grauen Parkas und zog etwas hervor: eine Streichholzschachtel. Eine Streichholzschachtel mit einem aufgedruckten Namen. Diese Schachtel war ihr Strohhalm, ihre Spur, ihr Rettungsseil. Sie drückte sie einen Moment lang an die Stelle, an der ihr Herz unter dem Parka zu rasch schlug. Dann steckte sie sie zurück in die Tasche.

Der Regen ließ nicht nach. Die Nacht wurde lautlos älter.

Und Amber sehnte sich. Sie sehnte sich danach, unten bei dem Jungen in dem Zelt zu sitzen, in der Wärme. Sie könnte ihm über die Schulter sehen. Mit ihm das Buch lesen. Plötzlich war sie sich sicher, dass er nichts dagegen hätte. Dass er – ein verrückter Gedanke – dass er auf sie wartete.

Sie drehte sich um und begann, die Stufen hinabzusteigen. Zuerst langsam, in die Dunkelheit tastend … rascher, zügig jetzt, ihre Füße hatten den Abstand der Stufen gelernt … und schließlich, auf dem letzten Treppenabsatz, rannte sie. Sie flog. Sie wusste nicht, was sie zu dem Jungen im Zelt sagen würde, sie wusste nur, dass sie zu ihm musste, dass sie in dieses Zelt musste.

Sie rannte den Flur entlang bis zur Tür, die zum Hinterhof führte, fürchtete einen Augenblick lang, die Tür wäre abgeschlossen – stieß sie auf. Trat in den Hof. Gleich, gleich würde sie den Reißverschluss des rot-gelben Igluzeltes von außen öffnen, sich bücken, hineintauchen in das warme Licht, geborgen sein. Sicher vor allen Gefahren, vor Hunger und Kälte und Zweifeln.

Sie ging zwei Schritte, drei, vier, torkelte hinaus in den Regen, außer Atem vom Rennen.

Es war heller hier, heller als im Flur. Aber es war nur die gleiche schmutzige Stadthelligkeit, die schon die Regenfäden am Fenster oben beleuchtet hatte.

Sie drehte sich um ihre eigene Achse, den Blick zu den vielfenstrigen Wänden erhoben, die den Hinterhof säumten wie einen Brunnenschacht. Die Fenster waren alle nachtblind. Nur hinter einem saß eine graue Tigerkatze aus Samt und wusste natürlich längst alles.

Da war kein Zelt.

Amber stand ganz alleine im Hof.

 

Sie blieb eine Weile so stehen und ließ den Regen über ihr Gesicht laufen.

Der Regen war wie ein Kuss des niemals vollkommen dunklen Himmels.

Dann sah sie die Mülltonnen, vier große, klobige Schemen. Sie war mit einem Satz dort, riss den Deckel der ersten Tonne auf. Nichts. Nichts außer Dunkelheit. Als hätte jemand versucht, alle Dunkelheit der Welt in diese Tonne zu werfen. Es war aber, dachte Amber, noch genug davon übrig. Zu viel.

Sie öffnete alle vier Tonnen, und in keiner lag ein Zelt. Amber ging zurück zur Tür, der einzigen, die zum Hinterhof führte. Der Junge konnte sie nicht benutzt haben, sonst hätte er Amber im Flur begegnen müssen … Oder war er nur sehr schnell gewesen? Hatte Amber sich noch im vierten Stock befunden, während er durchs Erdgeschoss gerannt war, auf die Haustür zu, das rasch zusammengeraffte Zelt unter dem Arm? Aber warum war er geflohen?

Nicht vor ihr. Sie hatte noch immer das unerklärliche Gefühl, dass er auf sie gewartet hatte.

Wenn sie nur früher die Treppe hinuntergerannt wäre … wenn sie schneller gewesen wäre, weniger lange gezögert hätte!

Vor der Tür lag etwas auf dem Boden. Sie hob es auf. Es waren zwei Bändsel, an den Enden verknotet, eines hell und eines dunkel. Amber steckte sie in die Tasche. In ihrem Kopf hing noch immer der Schattenriss des Jungen mit dem Buch. Und auf einmal wusste sie es mit seltsamer Gewissheit: Sie hatte diesen Jungen schon einmal gesehen. Vor sehr, sehr langer Zeit. Sie wusste nur nicht, wo.

Sie stieg die Treppen langsam wieder hoch; ihre Füße waren jetzt aus Blei. Im sechsten Stock lag die Katze auf dem Fensterbrett. Amber kauerte sich wieder an die kalte Heizung, rutschte dann bis ganz auf den Boden hinab und rollte sich in dem grauen Parka zu einem Ball zusammen, den Kopf auf einen Arm gebettet. Ein weicher grauer Fleck landete auf ihr und schmiegte sich an ihren Hals, und so schliefen sie zusammen ein: ein verloren gegangenes Mädchen und eine alte graue Tigerkatze, irgendwo in einem Hausflur, irgendwo in einer Großstadt.

»Morgen«, dachte das Mädchen. »Morgen …«

Doch der Morgen war weit.

 

Und in der Nacht geschahen Dinge.

Babys wurden geboren, Menschen flüsterten einander im Schutz der Dunkelheit Lügen zu, in Betten, in engen Umschlingungen, Menschen versteckten sich, Menschen saßen schlaflos an Tischen und starrten ins Licht von Lampen. Mütter standen vor Betten und sahen ihren Kindern beim Schlafen zu, in der absoluten Gewissheit, dass sie sie verlieren würden, weil alles auf der Welt letztendlich verloren geht, in irgendeiner Nacht. Nächte gibt es viele.

Irgendwo polierte jemand eine Waffe.

Irgendwo lackierte eine nervöse Frau zum dreizehnten Mal in dieser Woche ihre Nägel.

Und als der letzte Nagel lackiert war, die letzte Mutter zu Bett gegangen, die letzten Lügen geflüstert waren – da saß nur auf einem Balkon noch jemand, auf einem Gartenstuhl, unter einem Regenschirm. Es war ein Mann mit einer Zigarette in der Hand. Er betrachtete die Stadt und zog ab und zu an der Zigarette, und im Aschenbecher neben ihm sammelten sich die Kippen. Drinnen, hinter der Balkontür, schlief ein Hund, der im Schlaf mit den Pfoten zuckte. Vielleicht jagte er im Traum einem Ball hinterher, über eine blühende Sommerwiese.

Der Mann wünschte, er hätte träumen können wie der Hund. Von Sommerwiesen. Aber die schiere Größe der Nacht erdrückte ihn. Wer in einer solchen Nacht die Augen schloss, riskierte zu leicht, zu verschwinden und nie wiederaufzutauchen.

»Ich denke Unsinn«, flüsterte der Mann.

Dann drückte er die Zigarette aus und ging hinein. Der Hund japste leise, als er über ihn stieg.

»Geh ins Bett«, sagte der Mann zu sich selbst.

Er gehorchte sich. Er breitete die Einsamkeit der Nacht über sich wie eine Decke und befahl sich, zu schlafen.

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2.

Dein Schatten in den fremden Straßen,

lächerlich und klein.

Du bist ein Ding, das sie vergaßen,

und kannst mehr nicht sein.

Dein Schatten unter fremden Zweigen,

winzig und verloren.

Die lang vergang’nen Farben schweigen

in den Regenrohren.

Mein Schatten in der fremden Welt

ist nichts als eine Lücke,

mein Schatten fällt und fällt und fällt

und bricht in tausend Stücke.

Ich brauch nichts als den Augenblick

im Licht zwischen den Tagen.

Den Schatten lass ich gern zurück.

Er ist zu schwer zu tragen.

Amber war steif gefroren, als sie erwachte. Dunstgraues Licht lag hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Sie bewegte mühsam ihre Beine, ihre Arme, ihre Schultern. Die Katze schmiegte sich an ihren Hals, und Amber öffnete die Augen.

Vor dem Flurfenster tasteten sich zaghafte Sonnenstrahlen zwischen zerrissenen Wolken hervor. Amber kam auf die Beine und sah hinunter in den Hof. Die vier Mülltonnen standen an derselben Wand wie nachts. Auf dem asphaltierten Boden glänzten Pfützen vom Regen.

Da war kein Zelt.

Sie atmete tief durch, schüttelte den Kopf und griff in ihre Tasche. Eines der Bändsel, die sie ans Licht hielt, war gelb. Das andere rot.

»Er ist nicht da«, sagte Amber.

Natürlich nicht, sagte die Katze und putzte ihre rechte Hinterpfote. Frühstück?

Amber nahm die Katze auf den Arm und stand noch eine Sekunde am Fenster. Sie musste weg von hier. Sobald die ersten Hausbewohner aufwachten, würde jemand sie finden und ihr Schneewittchenfragen stellen: Wer hat sich an unser Heizkörperchen gelehnt? Wer hat unter unserem Fensterchen geschlafen?

»Wir haben kein Geld für Frühstück«, sagte Amber.

Die Katze schloss nur ganz langsam die Smaragdaugen und öffnete sie wieder.

»Schön«, sagte Amber, »da ist ein Portemonnaie in der Tasche des Parkas. Aber es ist nicht meins. Ich werde es zurückschicken. Ich wollte nur den Parka mitnehmen. Ich … die Zugfahrkarte war teuer genug! Und das Geld muss eine Weile reichen.« Sie seufzte. »Komm schon. Gehen wir ein Frühstück suchen.«

Draußen zeigte der Himmel fünf Uhr einundzwanzig. Die Sonne ging ein wenig nach.

Amber prägte sich die Straße genau ein; sie hatte tagsüber ein anderes Gesicht als nachts, ein Gesicht mit Bäumen und einem umzäunten Kinderspielplatz aus kaltem Metall, der zwischen den Wänden der Hochhäuser wirkte wie ein großer Käfig. Der Käfig war leer.

»Die Kinder sind alle entflogen«, flüsterte Amber. »Das ist gut.«

Zwei Straßen weiter fand sie eine Bäckerei und kaufte zwei Wurstbrötchen, eines für sich und eines für die Katze. Sie trank an einem Stehtisch lauwarmen Kaffee, während die Katze sich wieder um ihre Schultern ringelte. Die Bäckereiverkäuferin war vielleicht so alt wie Amber. Sie sah Amber seltsam an. Amber sah seltsam zurück.

Sie holte die Streichholzschachtel aus der Tasche und legte sie vor sich auf den Tisch. Die Schachtel war rot und trug das Wort BOTTLED in verschnörkelten blassgelben Lettern. Darunter sah man eine ebenfalls gelbe Flasche, auf der, in winziger Schrift, eine Stadt und eine Adresse gedruckt waren. Alte Uferpromenade 12.

Es war einfach. Amber brauchte nur ein Ufer zu suchen. In der Nacht hatte sie keines gefunden, aber der Tag hatte mehr Augen. Sie erwog, die Bäckereitype zu fragen. Die Bäckereitype starrte noch immer. War die Suchmeldung schon raus? Mit ihrer Beschreibung?

Sie musste etwas mit ihren Haaren tun. Sie brauchte eine Schere. Sie brauchte eine andere Jacke.

Die Adresse war ihr geringstes Problem.

Als Amber die leere Tasse zurück auf die Theke stellte, sah sie sich in der Scheibe der Tür: die High Docs und die alte Jeans, den Parka, in dem sie halb ertrank, das strähnige, schwarz gefärbte Haar, das Piercing an der linken Schläfe. Ach ja. Und die Katze um ihren Hals.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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